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3

Von ihrem elften bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr hegte und pflegte Ann eine romantische Neigung zu Adolph Klebs. Nicht etwa, daß sie sich mit Träumereien über ihn lächerlicher machte, als normal und gesund war, oder daß sie nichts anderes zu tun hatte. Sie war geschäftig – wie ein junger Hund. Jeden Tag gab es damals Abenteuer: Schlittschuhlaufen, Schliddern, Fischen, Schwimmen, ein Kaninchen fangen – nur ein einziges Mal, und es nachher mit mitleidigen Ausrufen wieder freilassen; Hunde und Katzen und Entlein aufziehen, oft zu deren großem Kummer und Unbehagen; Virgil und Lord Macaulay und Hamlet entdecken und die gewaltige neue Kunst des Films und das Automobil. Einen reizenden Deklamator mit welligem schwarzem Haar bei dem Vergnügen der Morgenstern-Loge Kipling rezitieren hören. Backen und Fegen und Plätten – das Plätten liebte sie; es machte alles so flaumig und glatt. Die ganze Hausarbeit in den nicht seltenen Pausen zwischen zwei Dienstmädchen versehen. Immer für ihren in einer anderen Welt lebenden Vater sorgen, der viel mehr von einer Waise zu haben, viel mehr durcheinandergeraten und außer sich zu sein schien als sie: ihm sein Taschentuch zurechtlegen, ihm das Halstuch umbinden, ihn zum Sonntagnachmittagsspaziergang fortschicken. Sie kam dahin, das Geschlecht der Männer so sehr vom Standpunkt der Beschützenden aus zu sehen, daß es fraglich wurde, ob sie jemals imstande sein würde, ein männliches Wesen zu lieben, das sie nicht tyrannisieren und pflegen konnte.

Aber täglich hatte sie Adolph und sein großmächtiges Wesen vor Augen.

Sie waren in der gleichen Schulklasse, und obwohl seine ganze Gelehrsamkeit darin bestand, daß er herablassend lächelte, wenn er keine Antwort wußte, wirkte er überlegen. Er konnte besser schwimmen, besser raufen, besser Schlittschuh laufen und besser Ball werfen, als alle anderen Jungen in der Bande. Er hatte keine Angst vor dem Stadtpolizisten, nicht einmal am Abend vor Allerheiligen, als die Bande unter großen Gefahren gewisse Hintergebäude stahl und, mit Ladenschildern aus der Main Street, als Miniaturstraße im Schulhof aufbaute, was am nächsten Morgen ein großes Gaudium für die Wüstlinge war. Und er konnte besser tanzen – aber das hatten noch andere Mädchen als Ann in Erfahrung gebracht, und manchmal kam es bei einer Kindergesellschaft vor, daß sie einen ganzen öden Abend hindurch nach seinem »Darf ich um den nächsten Tanz bitten?« bangte.

Wohl die großartigste Gesellschaft, die Ann in jener Zeit mitmachte, gab Mrs. Marston T. Evans, die Gattin des Präsidenten der Lincoln & Douglas Bank, Präsidenten der Midstate Plow & Wagon Works – des Lorenzo di Medici, des J. P. Morgan, des Barons Rothschild von Waubanakee – als Geburtstagsfeier für ihre Tochter Mildred, die genau zwei Monate später fünfzehn Jahre alt wurde als Ann Vickers.

Ann hatte das Haus Evans immer bewundert, ein wenig beneidet. Es war weiß, sehr hoch und hatte ein grünes Türmchen; es gab in ihm sowohl einen Salon wie eine Bibliothek. Der Salon hatte einen dunklen, heftig polierten Parkettboden mit einem echten Tigerfell, und an der Wand hingen zwei echte handgemalte Bilder, sehr antik, wohl schon fünfundsiebzig Jahre alt, von denen jedes Hunderte von Dollars wert sein sollte. In der Bibliothek standen Reihen von Büchern in Gold und Ledereinbänden hinter verschlossenen Glastüren.

An jenem Sonnabend im Mai hätte Ann, während das Dienstmädchen ihr beim Anziehen des Abendkleides half, etwas darum gegeben, zu wissen, ob Adolph Klebs bei der Gesellschaft sein würde. Ihn zu fragen, hatte sie sich nicht getraut, und die Gerüchte widersprachen einander. Adolph beantwortete persönliche Fragen nicht; er hatte eine witzige Art, stets zu erwidern: »Wer hat die Angelrute geklaut?«

Es war schwer vorstellbar, daß Mr. und Mrs. Marston T. Evans den Sohn eines sozialistischen Schusters eingeladen haben sollten. Aber andererseits hieß es, Mildred sei »verrückt nach ihm«.

»Wenn er nicht da ist, sterbe ich – und mein Kleid ist so hübsch!« stöhnte Ann, die vor dem Plättbrett scheinbar so kräftig und selbständig war.

Ihr neues Abendkleid war kein neues Abendkleid. Im vergangenen Sommer war es ein neues weißes Musselinkleid mit roter Schärpe, etwas Herrliches für Sommerabende gewesen. Nun hatte sie es mit eigenen Händen (die eine Woche lang aussahen wie die Hände eines Eingeborenen von den Salomonsinseln) hellblau gefärbt, und den ganzen Tag hindurch hatten die Köchin und sie eine kleine weiße Garnitur aus Manschetten und einen Kragen darangenäht und das Kleid geplättet, bis es schimmerte und frisch war wie ein neues.

Für den Kopf hatte sie einen Spitzenschal von ihrer Mutter, und ihr Vater hatte ihr von sich aus kobaltblaue Tanzpumps gekauft. (Viele Jahre später dachte sie manchmal darüber nach, ob ihr Vater, der Professor, der so nüchtern über seinen Schulberichten und Carlyle und der Educational Review saß, wirklich ein so unverbesserlich erwachsener Vater gewesen war, wie sie geglaubt hatte. Sie entbehrte ihn, als er tot war, und für immer war das Lachen verklungen, das sie einst so in Wut versetzt hatte.)

Die Gesellschaft sollte lange dauern – manche behaupteten, man erwarte, daß die Gäste bis elf Uhr blieben, und sie war auch erst für acht Uhr gebeten, nicht für sieben oder halb acht wie bei einer gewöhnlichen bürgerlichen Gesellschaft in Waubanakee.

Als sie, ein wenig verspätet nach ihrer Schneiderei, zur Gesellschaft eilte, war nichts vom Mond zu sehen. Aber über dem Himmel lag ein Nachtglanz, der wärmer und zärtlicher war als das Mondlicht, das trotz all seiner Berühmtheit eine etwas kalte und ironische Beleuchtung ist, gemacht aus dem Atem sterbender Liebender. Die dicken Platanen in der Nancy Hanks Street hoben ihre plastischen Laubmassen gegen den Schimmer am Himmel empor, und die rindenlosen Wunden auf ihren Baumstämmen waren rätselhafte Lücken in der Dämmerung. Die Luft war angefüllt von Dorfgeräuschen, fernem Lachen, dem Klappern von Pferdehufen und dem Bellen eines Hofhundes – Schatten von Geräuschen. Und Ann war glücklich.

Sie war aufgeregt, ein wenig eingeschüchtert, als sie um die Ecke kam und von fern die übergroßen Herrlichkeiten der Gesellschaft sah. Brennende japanische Lampions hingen über dem Rasen der Evans, und zwar nicht nur ein oder zwei Reihen wie bei einem Kirchenfest, nein, an den Ahornbäumen längs des Staketenzauns an der Vorderfront hingen Lampions, an jeder Tanne und an jedem Rosenbusch auf dem Rasen hingen Laternen, und die ganze, riesengroße Vorderveranda war mit Laternen behängt! Das war Paris! Und als Ann nähergekommen war, sah sie, daß auf dem Rasen – richtig draußen, nicht im Haus, am Abend! – ein Büfett stand, auf dem sich alle bekannten Delikatessen der Welt häuften. Verschiedene Arten von Kuchen, zahllose Krüge mit Limonade und anderen köstlichen Getränken, drei sichtbare Eismaschinen mit Eiscreme, und ein Dienstmädchen – nicht das gewöhnliche Dienstmädchen der Evans, sondern eines, das eigens für diesen Abend da war – reichte bereits jungen Damen und Herren, die zitternd Tellerchen vor sich hin hielten, Eiscreme aus diesen Eismaschinen.

Erfrischungen gleich zu Anfang der Gesellschaft, vielleicht ununterbrochen während der ganzen Gesellschaft, und nicht erst am Ende!

Aber, so sorgte sich die gewissenhafte Seele, die stets in Ann an der abenteuerlichen Seele herumnörgelte, wird nicht manchen übel werden, wenn den ganzen Abend hindurch so viel zu essen da ist?

Plötzlich und strahlend wie eine Rakete setzte die Musik ein, und sie sah, daß getanzt wurde – auf der Veranda, im Freien, im Freien! – und nicht zu Grammophonmusik, nein, ein ganzes, vollständiges Orchester war da: Klavier (direkt auf die Veranda hinausgestellt!) Geige und Klarinette; und die Klarinette wurde von keinem Geringeren gespielt als von Mr. Bimby aus dem Stoff- und Herrenartikelgeschäft Heureka, dem Dirigenten des Waubanakee-Orchesters!

Das war zu viel. Ann floh. In ihr – die tauchen und auf Dachfirsten gehen konnte – erweckte die Gesellschaft Platzangst; sie stürzte hinaus in die Dunkelheit und stand da, an ihrem Zeigefinger herumbeißend. (Später einmal machte sie ganz die gleiche Empfindung durch: sie hatte bei einer großen Versammlung wohlhabender, edelmütiger und vollendet langweiliger Damen, die sich voll Wichtigkeit zur Beratung unmöglicher Reformen zusammengefunden hatten, in aller Gemütsruhe den Vorsitz geführt und wurde dann plötzlich in einen lauten Nachtklub in New York geführt.)

Ohne rechte Freude, lediglich von ihrem Pflichtgefühl getrieben, marschierte sie zu dem Haus der Evans zurück und durch das Pförtchen hinein. Es wurde noch schlimmer. Sie kam sich vor, als hätte sie ein altes Kalikokleid an. Die anderen Mädchen waren so zierlich geputzt: Midred Evans in Spitzen über rosa Atlas; Mabel McGonegal in rubinrotem Samt mit einer Halskette aus Bergkristall; Faith Durham in duftiger japanischer Seide – so zierlich, so weiblich, so anziehend; und sie selbst so gewöhnlich und plump.

(Sie merkte nicht, daß die meisten von den zwanzig anderen Mädchen noch viel mehr abgetragene und bedeutend weniger aparte Kleider anhatten als sie selbst. Mildred, Mabel und Faith brachten es bei jeder Gesellschaft zuwege, sich aufzuplustern und sich mit ununterbrochenem Gekicher in den Vordergrund zu drängen. Beim Lateinunterricht und beim Kochen taugten sie nichts, aber sie waren dazu geboren, zu glänzen, litauische Grafen zu heiraten, Filmstars zu werden oder in Pracht und Herrlichkeit von Alimenten und Cocktails zu leben.)

Wie ein stämmiger alter Bauernhund, den der Anblick eines hochbeinigen Windspiels verblüfft, sah Ann starren Blickes zu, wie sie zum Klang der himmlischen Melodien dahinwirbelten. Aber Mrs. Evans segelte so anmutig zu ihr heran und gackerte so wohlwollend: »Aber Annie, mein liebes Kind, Sie haben uns schon so gefehlt – wir haben sehr gehofft, daß Sie uns nicht im Stich lassen – kommen Sie, Sie müssen eine gute Fruchtlimonade trinken, bevor Sie tanzen!« daß Ann sich wieder wohler fühlte. Und was für eine Limonade das war! Die prächtige Sodafontäne hatte noch nicht ihren Morgenglanz über die abendländische Welt ausgegossen; in der Drogerie nahm man entweder einen Vanille-Icecream-Soda, oder man nahm ein Vanilleeis. Die Fruchtlimonade, mit der Mrs. Evans Ann bekannt machte (ohne ihr zu erklären, was eine Limonade ohne Frucht wäre) schäumte, es waren Eisstückchen in ihr, Ananasscheiben, Orangenscheiben und zwei rote Kirschen! Ann schlürfte sie, als wäre sie im Paradies, bis sie merkte, daß Mrs. Evans gegangen war.

Allein! Am liebsten hätte sie sich weggeschlichen.

Dann sah sie unter einer Tanne Adolph Klebs auf einem Klappstuhl sitzen und gleichfalls Fruchtlimonade trinken.

»Hallo, Annie. Komm rüber und setz dich zu mir«, rief er in aufrichtig bittendem, schmeichelndem Ton.

Daß Ann ihre Limonade auf dem Büfett absetzte, ohne sie ausgetrunken, ja, ohne die zweite Kirsche gegessen zu haben, war ein Kompliment, das ihm wohl kaum noch einmal in seinem Leben gemacht wurde. Neben Adolph stand ein zweiter Klappstuhl, auf diesen hockte sich Ann und stützte das Kinn in die Hände.

»Warum tanzt du nicht?« fragte sie.

»Ach, die soll der Teufel holen! Die sind zu fein für mich. Ich bin der Junge von dem verrückten alten Schuhmacher! Aber warum tanzt du nicht? Dein alter Herr ist reich, so wie die!«

Sie hatte nicht die falsche Bescheidenheit, das zu leugnen; es war natürlich richtig – ihr Vater verdiente Zweitausendachthundert im Jahr. Aber: »Ach, du bist ja verrückt! Die sind alle verrückt nach dir! Du, Dolph, du bist doch der beste Tänzer in der ganzen Stadt! Die Mädels sind alle verrückt danach, mit dir zu tanzen!«

»Zum Teufel mit denen! Paß mal auf, Ann, du und ich, wir sind die einzigen hier, die richtig sind. Die Mädels da, die sind ja alle Poussierstengel und nichts weiter. Die können nicht auf die Jagd gehen und nicht schwimmen und überhaupt nichts, was du kannst, und in der Schule sind sie nicht halb so gescheit, und – und du lügst nie, und die sind ja alle so verlogen und so weiter. Aber du bist ein feines Ding, Annie. Du bist mein Mädel!«

»Ja? Wirklich? Bin ich wirklich dein Mädel?«

»Da kannst du Gift drauf nehmen!«

»Ach, Dolph, das ist fein! Ich wär sehr gern dein Mädel!«

Sie hielt ihn bei der Hand. Er küßte sie schüchtern auf die Wange. Das waren alle Zärtlichkeiten, die sie austauschten. Damals, in den letzten Tagen des Zeitalters der Unschuld, gab es zwar auch schon lange Küsse und noch größere Intimitäten, aber das »Knutschen« war noch nicht ein öffentlicher und anerkannter Sport.

»Komm, gehen wir tanzen. Jetzt wollen wir's ihnen mal zeigen!« sagte sie entschlossen.

Als sie über den Rasen in das hellere Licht kamen, merkte sie, daß ihr »Mann« ebenso großartig gekleidet war wie Morgan Evans – er hatte einen richtigen blauen Cheviotanzug an, dazu einen ungeheuer hohen Kragen mit einer eleganten grünen Schleife, die ein Muster aus winzigen weißen Kleeblättern hatte, und – ganz feudal – ein dazu passendes grünes Seidentaschentuch, das aus der Brusttasche heraushing.

Allerdings war es sonderbar, daß er, der Sohn des Schuhmachers, nicht wie einige der Aristokraten Pumps anhatte, sondern bloß seine hohen, derben schwarzen Schuhe.

Eine Quadrille war eben zu Ende, und als Ann und Adolph trotzig und keck zur Veranda hinaufstiegen, setzte ein Twostep ein. Ach, diese schäumende Mondscheinmusik, zu der die entzückten Romantiker sangen:

»Oh, heute gibt man Babies weg
Mit einem halb–ben Pfünd–chen Tee!«

In Adolphs Armen wurde ihr Gemüt leicht. Ihre Kraft strömte über in seine, und mühelos wurde sie immer wieder in der Runde herumgetragen. Sie war eine Seifenblase, ein Schmetterling, ein Abendschwälbchen. Sie vergaß ihre Rivalinnen mitsamt deren Eleganz; sie brauchte ihnen nicht einmal beim Tanzen auszuweichen. Adolph führte sie mit zauberhafter Sicherheit. Sie tanzten wohl sehr keusch, zwanzig Zentimeter voneinander entfernt, aber seine liebe, starke, kräftige Hand lag, mit Elektrizität geladen wie eine Batterie, an ihrem Rücken.

Dann hörte die Musik auf, sie stürzte aus dem Himmel, sie stand entsetzt da, während Mrs. Evans mit ihrer hellen, lauten, christlichen Stimme schrie: »Und jetzt, Kinder, wollen wir ›Spring nach Malloo‹ spielen!«

Ann und ihr Beau wurden getrennt. Seine Scheu vor den Erhabenheiten dieser neuen Versailler Fete schien verschwunden zu sein. Niemand sprang lustiger, niemand sang lauter beim Spiel als er. Adolph war älter als die anderen, aber er konnte sich anpassen. Am Abend vorher hatte er mit zwanzigjährigen Weltmännern ausgiebig Bier getrunken; heute führte er die Kinder an. Als wieder getanzt wurde, sah Ann nach Adolph aus, ihr Blick griff nach ihm wie mit ausgestreckten Armen, aber er tanzte erst mit Faith, dann mit Mabel McGonegal, der mondänen Tochter des Doktors (sie konnte Banjo spielen und französisch-kanadische Dialektgedichte rezitieren) und schließlich mit Mildred Evans selbst.

Mrs. Evans, die zusah, sagte in kluckenden Tönen zu ihrem Herrn und Gebieter: »Siehst du, der Klebs-Junge ist ein ganzer Gentleman.«

»Ja. Schließlich haben wir ja auch eine Demokratie. Schließlich bin ich selber auf einer Farm auf die Welt gekommen«, erklärte Mr. Marston T. Evans verwundert.

Ann Vickers aber beobachtete den wirbelnden Walzer, den Adolph und Mildred tanzten, wieder mit den Augen eines gekränkten alten Bauernhundes.

Sie war »Mauerblümchen«. Einen Twostep hatte sie mit ihrem getreuen Waffenkameraden Winthrop getanzt, aber nach der quecksilbrigen Lebendigkeit Adolphs war das eine Marter. Sie hatte das Gefühl, Winthrop wie einen schweren Wagen mit sich zu schleppen. Sie stießen mit allen Paaren zusammen. Und obgleich Winthrops herzhaftes und irritierendes Summen der Musik folgte, protestierten seine ehrlichen Füße gegen alle Leichtfertigkeit und zertrampelten den ganzen Unsinn

Sie spielten »Postamt«.

Als der Postmeister, der an der Tür der verdunkelten Bibliothek stationiert war, während Adolph drin als glücklicher Empfänger der Küsse wartete, die Mädchen musterte, um seine Wahl zu treffen, sahen sie mehr als verlegen aus. Adolph war gleichzeitig ein Ausgestoßener und König der Gesellschaft; er war ein Robin Hood, der den kleinen Hof in Erregung versetzte.

»Äh – äh – Ann!« rief der Postmeister.

Gekicher.

»Sie ist ganz verrückt wegen ihm«, flüsterte Mabel Mildred zu.

Ann hörte nichts davon, und das war ein Glück für Mabel.

Anns Rache war in ihrer bescheidenen Weise so furchtbar wie die des Herrn.

Sie hörte nichts. Auf Flügeln schwebte sie in das verdunkelte Zimmer. Es war keine elegante Bibliothek mehr, es wurde eine Grotte der Wunder und der Ekstase. Sie stieß gegen Gegenstände, die vorher bestimmt nicht dagewesen waren. Sie war verloren und froh. Sie griff mit ausgestreckten Händen – wonach? Von körperlichen Gluten hatte sie in ihrer Unschuld keine Vorstellung. Wonach sie jetzt verlangte, war der Kern der Liebe, nicht ihre Schale … wenn sie auch später eines Tages ganz realistisch die Erfahrung machte, daß das Fleisch nicht der Feind, sondern der Mittler der Liebe ist.

»Komm schon!« hörte sie Adolph knurren.

Er faßte nach ihr; sein Kuß beleckte eine Ecke ihres Kinns; er brummte: »Jetzt bist du dran!« und schon öffnete ihr Ritter hastig die Tür und war weg.

Als nächster kam Ben. Schon als ganz kleines Kind hatte er Ann angebetet, war er ihr nachgelaufen, hatte er ihr Äpfel gebracht und sie niemals geküßt. Jetzt, da er im Begriffe stand, Mann zu werden, mußte es viel für ihn bedeuten, ihr einen Kuß zu geben. Er kicherte also ziemlich idiotisch, während er nach ihr tastete. »Herrje, ich hab Angst!« gackerte er. Er fand sie in einem Lehnstuhl, und als er sie schüchtern umarmte, rief er aus: »Nanu, Herrgott, Annie, du weinst ja.«

»Ach, ach, bitte, küß mich nicht, Ben!«

»Aber du weinst ja! War Adolph gemein zu dir?«

»Ach nein, nein, es ist bloß – ich bin im Dunklen gegen einen Tisch gerannt.«

Still saßen sie da, Ben klopfte ihr ununterbrochen auf die Schulter, bis sie flüsterte: »Jetzt ist es wieder gut. Ich werde lieber hinausgehen.«

Als sie sich in der Tür zeigte, kam ein wahrer Lachsturm von den jungen Leuten, die in einem Halbkreis vor der Tür zur Bibliothek standen. »Na, was ihr beide da gemacht habt! Na, das war aber allerhand Küssen, Annie!«

Und Adolph sah sie böse an.

Nur mit Aufbietung ihrer ganzen Willenskraft gelang es ihr, nicht fortzulaufen und nach Hause zu gehen. Sie hatte ausgesprochene Mordgelüste; alle wollte sie umbringen. Sie zwang sich dazu, sich niederzusetzen und nichts zu sagen. Sie wußte gar nicht, welches Mädchen nun in die Bibliothek ging, um sich den lauen Zärtlichkeiten Bens auszuliefern.

Als aber Adolph aufgerufen wurde, um Mabel McGonegal im Dunkel zu beglücken, merkte sie es nur zu gut.

Man hatte sich schon längst in Flüstertönen erzählt, daß Mabel ein »Poussierstengel« sei, daß sie »sich schrecklich mit den Jungens habe.« Alle außer Ann blickten fünf Minuten lang verlegen kichernd, mit dem ganzen Zittern der Pubertät, auf die Bibliothekstür.

»Und mit mir ist er nur fünf Sekunden geblieben!« tobte es in Ann.

Mabel kam, ihre leicht zerzauste Frisur zurechtschüttelnd, heraus. Aber sie war im Gegensatz zu Ann weltklug. Bevor die anderen sie aufziehen konnten, rief sie: »Das war vielleicht ein Kuß, den ich gekriegt hab!«

In Anns Herzen war kalter Tod.

Als dann aber Adolph stolz und großtuerisch erschien, litt sie nicht, wie sie erwartet hatte, sie mußte vielmehr plötzlich lachen, während es ihr durch den Kopf ging: »Nanu! Er ist ja ganz einfach ein Kater! Er geht ja genau so!«

Und in diesem Augenblick war ihre Liebe zu dem Helden weg, so daß es ihr gar nicht weh tat, als sie hörte, wie Adolph Mabel McGonegal das traditionelle: »Darf ich dich nach Haus bringen!« zumurmelte.

Sie selbst wurde von Ben »nach Hause gebracht«, der albern neben ihr einhertrottelte und alles, was er sagte, mit den Worten: »Ach herrje« oder »Paß mal auf« einleitete.

Der schimmernde Nachglanz stand nicht mehr am Himmel.

An Anns Gartentür winselte Ben: »Ach herrje, Ann, warum hast du keinen, mit dem du gehst? Du hast nie einen gehabt, mit dem du gehst. Ach ja, ich wollte, du wärst mein Mädel!«

Ben war überaus erstaunt und geriet in Verlegenheit, als ihm ein herzhafter Kuß aufgeknallt wurde, und noch mehr verblüffte es ihn, daß Ann dann sagte: »Du bist lieb, aber ich werd niemals das Mädel von jemand sein!« und ins Haus flitzte.


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