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Trübe und naß brach der 23. September an. Über London war der Himmel noch durch dichten Qualm verdüstert, obwohl während der Nacht ein großer Teil der Brände sich selbst verzehrt hatte.
London erwachte, um gewahr zu werden, daß es eine deutsche Stadt geworden war.
Überall auf den Straßen sah man müßige Gruppen kampfgewohnter Söhne des »Vaterlandes«, und an allen Ecken und Kanten hörte man deutsch sprechen. Auf den Themsebrücken standen deutsche Wachen, und niemand durfte ohne Erlaubnisschein hinüber und herüber.
Bald nach Tagesanbruch ritt von Kronhelm mit seinem Stabe und einer starken Kavallerieabteilung Haverstock Hill herunter und hielt seinen feierlichen Einzug in die Stadt; nach einer kurzen Begegnung mit dem Lord Mayor schlug er sein Hauptquartier im neuen Kriegsministerium zu Whitehall auf.
Lustig flatterte die Fahne des Höchstkommandierenden über dem imposanten Gebäude, das zwar äußerlich deutliche Spuren der Beschießung trug, im Innern aber, von einigen Zimmern abgesehen, durchaus bewohnbar geblieben war.
Ohne Verzug wurden die telegraphischen und telephonischen Verbindungen nach allen Seiten wieder hergestellt, so daß der Generalfeldmarschall auch von seinem neuen Quartier aus nicht nur in direktem Kontakt mit Berlin und Potsdam war, sondern je nach Wunsch und Bedarf sogar mit den englischen Zentralbehörden in Bristol Anknüpfung finden konnte.
Zugleich wurde auf dem zerschossenen Stumpf des Big-Ben eine Station für drahtlose Telegraphie errichtet, – für den durchaus nicht unmöglichen Fall, daß die englisch-deutschen Kabel in der Nordsee aufgefischt und durchschnitten werden sollten. Die junge deutsche Seeherrschaft stand ja nicht auf besonders festen Füßen, und selbst wenn darüber nicht schon eingehende Nachrichten vorgelegen hätten, wäre es ohne weiteres sicher und selbstverständlich gewesen, daß auf die erste telegraphische Kunde von der deutschen Invasion aus allen Meeren der Welt, aus allen, auch den entlegensten Flottenstationen des seegewaltigen Albion jedes Schiff, das den Union Jack trug, sich nach der vergewaltigten Heimat aufmachte.
Ganz England hatte keinen anderen Gedanken, keine andere Hoffnung, als: Unsere Flotten werden kommen und diesen heimtückischen Eindringlingen ein nasses Grab bereiten! Nur noch ein wenig Geduld, ein paar Wochen, nein, ein paar Tage noch, und sie sind da ...
Sobald aber die deutschen Seeräuber vom Meere weggefegt und von den englischen Blockadegeschwadern in ihren schwer zugänglichen Flußmündungen zusammengepfercht und bewacht waren, mußte auch dem siegreichen Invasionsheere die letzte Stunde schlagen: denn ohne Zufuhr aus dem »Vaterland«, ohne die Möglichkeit, in einem Lande, das für sich selber auf ausländisches Schlachtvieh und Brotkorn angewiesen war, den Krieg durch den Krieg zu nähren, und rings umflutet und umtobt von dem Massenaufgebot des erbitterten britischen Volkes, nein, der ganzen angelsächsischen Welt, konnte der Feind zwar weiter siegen, immer wieder nur siegen, aber zuletzt, durch Hunger und die unaufhörlichen Strapazen ausgemergelt und erschöpft, mußte er entweder die Waffen wegwerfen, oder endlich seinen letzten Mann an der wohlverdienten englischen Kugel sich verbluten sehen! ...
Und sie waren bereits auf der Anfahrt, die englischen Kriegsschiffe, einzeln und in ganzen Geschwadern, um Rache zu nehmen für die meuchlerische Schlacht von North Berwick und die brutale Beschießung Londons! Die telegraphischen Berichte eilten ihnen voraus – Kein patriotisches Herz, das nicht höher schlug bei dieser tröstlichen Gewißheit: ein paar Tage noch, und sie sind da und erdrücken das Häuflein zerschossener deutscher Schiffe, die ihre Wunden von neulich noch nicht einmal ordentlich haben ausflicken und verheilen können! ...
Kein einziges englisches Schiff hatte sich damit abgegeben, etwa unterwegs in den deutschen Kolonien wertlose alte Stationsschiffe in den Grund zu bohren, Faktoreien und Handelsplätze zusammenzuschießen. Ohne eine Stunde zu verlieren, strebte alles, was einen Kiel unter sich hatte, was überhaupt flott war und Fahrt machen und einen Schuß abgeben konnte, von allüberall der Nordsee zu, und schon, hieß es, war es zu Zusammenstößen mit den deutschen Kreuzern und Torpedobooten gekommen, die im Ärmelkanal und nördlich von Schottland Wache hielten.
Wir wissen heute aus den amtlichen Veröffentlichungen des deutschen General- und Admiralstabes, daß die Männer, die vom Kaiser mit der Ausarbeitung der ersten Entwürfe für die Invasion betraut worden waren, diese Gefahr, die unausbleiblich mit der zweiten Phase des Krieges aktuell werden mußte, in ihre Berechnungen mit einbezogen hatten. Und nach reiflicher Überlegung aller Für und Wider hatten sie sich nicht abschrecken lassen von diesem va banque-Spiel, denn wer im voraus sicher ist, daß Kopf und Herz ihm dabei kühl bleiben werden, schreckt auch vor gewagtem Spiel und hohem Einsatz nicht zurück.
»Legen Sie die Hand auf London und die großen Städte des Nordens, setzen Sie sich in den Besitz eines hinreichenden Faustpfandes!« – Das war der Sinn der dem deutschen Generalissimus mitgegebenen Instruktionen – »Dann hat Deutschland die englische Flotte nicht zu fürchten. Auf jeden Schuß gegen eine unserer Küstenstädte antworten Sie mit der Brandschatzung einer englischen Stadt. Die Friedensverhandlungen aber überlassen Sie der Diplomatie, und seien Sie versichert, daß diesmal die Feder nicht verderben wird, was das Schwert gewonnen hat.«
Nach diesen Instruktionen hatte von Kronhelm gehandelt. Die verlangten Faustpfänder waren jetzt da, der siegreiche Feldherr hatte seinem Kaiser melden dürfen, daß er bis auf weiteres seine Mission für vollendet halte und sein Schwert in die Scheide zurückgestoßen habe, bereit, es jederzeit wieder herausfliegen zu lassen, – möge also nunmehr die Feder ihr Werk beginnen!
Einstweilen hatte er dem Lord Mayor kundgetan, daß er das besiegte London, die reichste Stadt der Welt, zu kränken fürchte, wenn er ihm eine geringere Kontribution als 25 Millionen Pfund auferlege; diese Summe sei binnen acht Tagen zu entrichten, und für den Weigerungsfall habe er seine Ingenieure angewiesen, unverzüglich zu sämtlichen Londoner Banken, deren Privatwachen bereits durch deutsche Soldaten abgelöst seien, den Zugang mit den Hilfsmitteln der modernen Sprengtechnik zu eröffnen ...
Trotz der beweglichsten Vorstellungen erreichte Sir Claude Harrison, der Lord Mayor, von dem stahlharten Krieger weder eine Mäßigung dieser horrenden Forderung, noch auch nur eine Stunde Aufschub, sondern allein die Erlaubnis, sich von dem Kabinett zu Bristol die nötigen Autorisationen und Befehle telegraphisch zu erbitten.
Ein grimmiges Lächeln flog über die hageren Züge des Generalfeldmarschalls, als in überraschend kurzer Zeit der Lord Mayor ihm melden konnte, daß er von Bristol die Anweisung erhalten habe, im Interesse der seiner Fürsorge anvertrauten Stadt allen Anordnungen nachzukommen, deren Befolgung der Feind zu erzwingen in der Lage sei.
Das war die Sachlage um die Mittagszeit, wo die Evening News imstande war, ein Interview Sir Claude Harrisons zu veröffentlichen und dem großen Publikum die unerhörte Höhe der auferlegten Kontribution, von der bisher nur die Bankiers erfahren hatten, sowie den Wortlaut der Antwort des britischen Kabinetts bekannt zu geben.
Und wenige Stunden später wußte ganz England, daß der Lord Mayor auf Ersuchen von Kronhelms seinen Sekretär nach Bristol abgesandt hatte, um dem Premierminister das Originaldokument zu überreichen, das in der Handschrift des Generals die ihm soeben von Berlin telegraphisch übermittelten deutschen Friedensbedingungen enthielt.
Es ist noch in aller Welt Erinnerung, wie schnell auf Grund dieser Bedingungen der Vorfriede in der Tat zustande kam.
Unbeschreiblich aber war damals in London, in ganz Großbritannien, ja, in der ganzen Welt, wo immer Menschen englischer Zunge hausen, die Spannung: Was wird die Regierung in Bristol tun? ...
Den Rest des Tages und die lange, bange Nacht hindurch harrte die südlich von der Themse zusammengedrängte Bevölkerung der Riesenstadt mit Herzklopfen auf die Antwort von Bristol und auf neue Mitteilungen von der Nordseite des Flusses, wo inmitten dieser menschenleeren, finsteren, stillen Stadtteile jetzt nur der deutsche Generalissimus und seine Legionen hausten. – Umsonst, – das Kabinett hüllte sich in Schweigen, von Kronhelm auch.
Dafür liefen die ersten Nachrichten von der für beide Teile verlustreichen Kreuzerschlacht vor Dover ein, infolge deren die deutschen Geschwader es für angezeigt erachtet haben mußten, die Ankunft der mächtigen kombinierten englischen Schlachtflotte, die jetzt jeden Tag noch Verstärkungen erhalten würde, nicht erst abzuwarten, sondern sich nach Helgoland und Cuxhaven zurückzuziehen. Offenbar wollte Deutschland seine Flotte nicht nutzlos gegen die englische Übermacht hinopfern und vertraute darauf, daß von Kronhelm mit den in seinen Magazinen angehäuften Vorräten sich so lange würde halten können, bis die Millionen der verdienst- und brotlosen englischen Arbeiterbevölkerung ihre Regierung gezwungen hätten, den ihr angebotenen billigen Frieden anzunehmen.
Denn billig war er, das mußte selbst der verbissenste Befürworter des Krieges bis zum bitteren Ende zugeben. Und wer es dennoch nicht zugeben wollte, der wurde bald sehr eindringlich darüber belehrt, als unter den Augen, den Kanonen und Flinten der deutschen Besatzungen in den Städten des Nordens die Brotkrawalle losbrachen und die hungernden Volksmassen zwischen Sheffield und Manchester und Liverpool keinen Laden, kein Haus, keinen Speicher und Keller unerbrochen ließen, worin sie Lebensmittel vermuteten für sich und ihre blassen, darbenden Weiber und Kinder ...
Der englische Nationalstolz begrüßte zwar mit Befriedigung die Wiedererlangung der Seeherrschaft – zwischen Helgoland und Rosyth war jetzt kein deutsches Kriegsschiff mehr zu sehen außer gelegentlich vorstoßenden Torpedobooten und hin und wieder einem der schnellen deutschen Hilfskreuzer, die rings um die britischen Inseln auf Handelsfahrzeuge Jagd machten; aber dafür spürte England am eigenen Leibe die Fänge des deutschen Adlers, den es auf keine Weise abzuschütteln und zu verjagen vermochte.
So wurden die Kriegsrufe derer, die von Frieden überhaupt nichts wissen wollten, immer leiser und vereinzelter. Und als die Zeitungen von einem eigenhändigen Schreiben des Kaisers an den König in Bristol berichten konnten, erhob sich in der Presse des ganzen Landes fast keine einzige Stimme mehr, die diesen Schritt unsres Feindes als Zeichen der Schwäche, der Verzagtheit auszulegen wagte. Der Kaiser bot ritterlich die Hand zum ehrenvollen Frieden, und alle Bedingungen, auf denen er bestand, hatten nur den Zweck, die Zahlung der zwar hohen, aber nicht unerschwinglichen Kriegsentschädigung, sowie die ungefährdete Heimkehr des deutschen Landheeres zu verbürgen.
Das Land, das dem Kaiser nicht vergessen mochte, daß er nicht müde wurde, seinem Volke einzuprägen: unsere Zukunft liegt auf dem Wasser –, mußte, wenn auch noch so widerwillig, seines andern Ausspruchs sich entsinnen: Blut ist dicker als Wasser ... Gerade in England aber gibt es keinen Willen, keine Macht, keine Entscheidung, außer in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung: sobald sie den Frieden wünschte, war keine Instanz da, ihn ihr zu verweigern. Das deutsche wie das englische Volk atmete auf, als die Regierungen der beiden kriegführenden Mächte die Mittelung der Vereinigten Staaten annahmen, und die Bevollmächtigten im Haag zusammentraten.
Weniger die Höhe der Kriegsentschädigung – 300 Millionen Pfund Sterling –, noch auch die Zahlungsbedingungen und Fristen – das reiche England hätte der Fristen überhaupt kaum bedurft! – sondern eigentlich nur die Garantien, die Deutschland forderte, bildeten den Gegenstand der Kontroverse.
Daß Deutschland bis zur Entrichtung der letzten Rate im Besitze der ganzen von ihm besetzten Zone bliebe, war selbstverständlich; aber wie sollte England je darein willigen, ihm seine unbezwungenen Kriegsflotten auszuliefern, sei es auch nur zeitweilig, bis zur Ausschiffung des Invasionsheeres in den deutschen Häfen, ohne daß es für immer sein Prestige eingebüßt und auf seiner Flagge einen untilgbaren Flecken davongetragen hätte?
Da war es ein glücklicher Griff, daß der vermittelnde Staat den einfachen Vorschlag machte, England solle seine ganze Marine, vom größten Schlachtschiff bis zum winzigsten Torpedoboot, bis hinter Malta zurücknehmen, so daß Deutschland in Ruhe und Sicherheit die Räumung durchführen könne.
Von Abtretung von Land und Leuten, sei es in Europa, sei es in den übrigen Weltteilen, war in den deutschen Friedensbedingungen überhaupt nicht die Rede gewesen. Das britische Volk konnte sich der Einsicht nicht verschließen, daß die Invasion des Jahres 1910, wohl das blutigste Kapitel seiner ganzen Geschichte, keinen anderen Zweck gehabt hatte, als ihm zu zeigen, wo sein Panzer verwundbar wäre, und daß es am besten täte, dem Vetter jenseits der Nordsee fortan nicht mehr mit dem altgewohnten Hochmut und der erbitternden kleinlichen Eifersucht entgegenzutreten.
Ein harter Lehrmeister ist er England gewesen, der deutsche Kaiser, und eine bittere Zuchtrute sein kalter, unerbittlicher Feldherr. Noch blutet es aus allen Wunden und vermag die empfangene Lehre nicht ruhig zu überdenken. Wird es dereinst dem altenglischen Sprichwort dieselbe Auslegung geben wollen, wie der Kaiser:
Blut ist dicker als Wasser ...?
Text- und Umschlagdruck Von
C. Schulze & Co., G. m. b. H.
Gräfenhainichen