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Die ersten vagen Nachrichten über die furchtbare Niederlage der englischen Flotte und die gleichzeitig ausgeführten Landungen deutscher Truppen an der englischen Küste hatten die ganze Nation wie in einen Starrkrampf versetzt. Die Katastrophe war zu entsetzlich, um sofort geglaubt, nein, um überhaupt gefaßt zu werden. England brauchte Zeit, um den Alb von sich abzuschütteln, sich die Augen zu reiben und um sich zu blicken, – und da half es nichts: die Wahrheit war da, sie drängte sich auf, man mußte sie glauben, so unglaublich, so benehmend, so niederschmetternd sie auch war!
Und nicht nur glauben, auch handeln mußte man, das ganze Land wie jeder einzelne seiner Söhne, einerlei, ob die Behörden ihre erste Kopflosigkeit schon überwunden hatten oder nicht. Das waren Augenblicke, in denen nicht nach Regierungsdekreten gefragt werden durfte, sondern wo die Initiative und Energie des einzelnen ans Licht treten mußte, um womöglich wieder einzubringen, was die Apathie und der Schlendrian der Allgemeinheit verabsäumt hatte.
Und da darf der Name eines der Männer, die sich zuerst auf ihre Pflicht besannen, nicht unerwähnt bleiben: es war Charles Hammerton, Leutnant im Ipswicher 1. Freiwilligen-Bataillon des Suffolker Regiments. Ohne irgendwelche Order abzuwarten, rief er auf die erste Nachricht von den Vorgängen an der Küste hin noch am Montag abend seine Kompagnie freiwilliger Radfahrer zusammen und unternahm es, die Stellung des Feindes bei Lowestoft zu erkunden.
Nach seiner Rückkehr fragte ihn der Ipswicher Korrespondent der Preßassoziation aus, und er berichtete:
»Um acht Uhr verließen wir Ipswich. Wir wußten, daß das Land etwa die ersten zwölf Meilen weit frei von Feinden war; aber als wir – es war unterdessen vollständig dunkel geworden – vorsichtig nach Saxmundham hineinfuhren, erfuhren wir von einer Gruppe erschreckter Männer und Frauen, daß ein Trupp deutscher Reiter, etwa zehn Ulanen und ein Sergeant, den ganzen Tag in der Stadt gewesen wäre, um die Straße nach Ipswich zu bewachen. Dort an der Hausmauer hinge noch die Proklamation des deutschen Generals, die sie angeschlagen hätten ... Drei von ihnen aber wären auf den viereckigen alten Kirchturm gestiegen und hätten den ganzen Tag gegen Norden zu Signale gemacht. Erst bei Einbruch der Nacht, nachdem die Ulanen sich im Wirtshaus erfrischt, wären sie wieder davongetrabt, daß die schwarzweißen Fähnchen an ihren Lanzen geflattert hätten ...
In der Schenkstube der ›Glocke‹ zu Saxmundham besprachen wir uns noch mit einem Polizeisergeanten und ein paar Schutzleuten und entschlossen uns, vorsichtig nach Norden weiterzufahren und auszukundschaften, in welche Stellung die Ulanen sich für die Nacht zurückgezogen hatten, und womöglich über die feindlichen Vorpostenlinien etwas in Erfahrung zu bringen. Ich hatte zwölf Mann mit mir; unserer neun, mich eingeschlossen, waren in Uniform, die anderen vier hatten vorgezogen, in Zivil zu gehen, obwohl ich sie über das Risiko, als Spione behandelt zu werden, nicht im ungewissen gelassen hatte.
Leise und ohne einer Menschenseele zu begegnen, fuhren wir in das Dorf Poxford ein, wo die aufgeregten Bewohner uns berichteten, daß den ganzen Tag fremde Soldaten und Motorradfahrer hin und her gefahren wären, sich aber bald nach sieben Uhr sämtlich auf dem Wege nach Haw Wood zurückgezogen hätten.
Trotz der Gefahr, der wir uns aussetzten, entschlossen wir uns, noch näher an Lowestoft heranzufahren. Wir wollten durchaus herausbringen, wo die feindlichen Vorposten stünden. Still fuhren wir am Saume von Thorington Park entlang und langten gerade an der Blyth-Brücke an, als wir plötzlich eine kleine Infanterieabteilung erblickten, deren Silhouetten sich schwarz von dem Sternhimmel abhoben; die Gewehre hatten sie am Wegrande zusammengestellt, ganz dicht bei uns aber standen zwei Mann auf Posten.
Sofort riefen sie uns auf deutsch an. Wir sprangen von den Rädern und bargen uns hinter einer Hecke. Der mürrische Anruf ward mehrmals wiederholt, und da ich keine Möglichkeit sah, über die Brücke zu kommen, so drehten wir verstohlen unsere Räder um und schickten uns an, aufzusteigen. Man mußte uns aber schon gesehen haben, denn auf einmal umpfiffen uns die Kugeln der Deutschen, und der arme Maitland fiel tot vornüber in den Weg. Drüben schrien die Deutschen laut durcheinander, es war, als ob sie überall aus dem Boden wüchsen, und wir hatten gerade soviel Zeit, um auszusteigen und rückwärts davonzusausen.
In Haw Wood beschloß ich, auf einem mir bekannten Nebenwege über den Fluß zu gehen; bis nach Chediston Green war alles ruhig, aber als wir nordwärts nach Wissett einbogen, sahen wir an dem Kreuzwege jenseits des Gasthofes drei Leute sich entlangschleichen. Waren es Bauernknechte oder feindliche Vorposten?
Wir stiegen ab, und ich kroch mit einem meiner Leute auf sie zu; wir kamen ihnen so nahe, daß wir hören konnten, was sie sprachen: es war eine fremde Sprache – also Deutsche!
Wir kehrten zu den Unsrigen zurück. Da erbot sich Plunkett, einer der Leute in Zivil, sich zu Fuß bis nach Aldus Corner durchzuschleichen und so die ganze Gegend bis Beccles, wo das Hauptquartier des Feindes war, zu erkundigen.
Flüsternd wünschten wir ihm gute Verrichtung, und einen Augenblick darauf verschwand er im Dunkeln. Was sich hinterdrein ereignete, können wir nur mutmaßen. Wahrscheinlich ist er über ein Stück Stacheldraht, das über den Weg gespannt war, gestolpert – die drei Deutschen rannten plötzlich in die Gegend, wohin er sich geschlichen hatte, fort, wir hörten ein Handgemenge, ein Gestampfe und deutsches Triumphgeschrei – – Atemlos standen wir da: der arme Plunkett war als Spion in Gefangenschaft geraten!
Zu seiner Rettung konnten wir nichts unternehmen; das hatte auch für uns nur Gefangenschaft oder Tod bedeutet. Uns blieb nichts, als zurückzugehen. Auf Nebenwegen gelangten wir glücklich nach Rumburgh, indem wir mit knapper Not ein Zusammentreffen mit den Posten vermieden, die auf der Straßengabelung nach Redisham aufgestellt waren. Rumburgh war der Geburtsort Wheelers, eines meiner Leute; so war ihm hier jede Hecke, jeder Zaun, jeder Graben und jedes Feld bekannt, und unter seiner Führung verließen wir die Landstraße und kamen auf viel gewundenen Fußsteigen bis an die Lisiere von Redisham Park, wo wir das Lager einer starken Infanterieabteilung entdeckten, offenbar eins der Piketts der Vorpostenlinie.
Hier blieben wir unschlüssig stehen, bis Wheeler mir den Vorschlag machte, daß er mit zwei anderen, die gleich ihm in Zivil waren, versuchen wolle, nach Beccles durchzukommen; wir hätten ja jetzt die Vorposten glücklich passiert und befanden uns tatsächlich innerhalb der feindlichen Linien.
Ich hatte nichts dagegen einzuwenden; so versteckten Wheeler und seine beiden braven Genossen ihre Räder und Gewehre in dem Außengraben des Parks, wechselten ein paar leise Abschiedsworte mit uns und marschierten nordwärts davon. Wir aber mußten nun auf unser Entkommen bedacht sein und gingen auf Nebenwegen nach Bungay zurück.
Bei Methingham Castle gewahrten wir wieder deutsche Fußtruppen, die hier den Morgen abwarteten, und Reiter und Motorradfahrer, die sich gerade zum Aufbruch zu rüsten schienen, um die Gegend zu durchstreifen. Wir gewannen ihnen aber einen Vorsprung ab und setzten ungefährdet, wenn auch völlig durchnäßt, über den Waveney-Fluß. In der Nähe von Harleston, vier Meilen nach Südwesten, trafen wir auf zwei unserer Leute, die wir in Woodbridge gelassen hatten, und erfuhren von ihnen, daß wir endlich außer dem Bereich der Feinde waren. Um drei Uhr morgens waren wir wieder in Ipswich und machten unverzüglich dem Regimentsadjutanten Meldung.
Sehr besorgt waren wir Wheelers wegen. Würde auch er wieder seinen Rückweg finden? Wenn es ihm gelungen war, bis nach Beccles zu kommen, so konnte er über die Deutschen, ihre Stärke, ihre Stellungen und Bewegungen die wertvollsten Erkundigungen einziehen. Aber unter welch schrecklicher Gefahr! Es gab ja für Spione keine andere Strafe als den Tod! ...
Stunde auf Stunde harrten wir auf Nachricht von den drei braven Burschen, die ihr Leben für ihr Vaterland aufs Spiel gesetzt hatten; endlich, nach acht Uhr, hörte ich Rufe auf der Straße, und schweißtriefend, mit Schmutz bedeckt und aus einer häßlichen Stirnwunde blutend, stürzte der triumphierende Wheeler herein.
Von den beiden Genossen hatte er nichts mehr gesehen, seit er sie auf dem Marktplatz von Beccles verlassen hatte; aber als er sich auf dem Rückwege sein Rad wiedergeholt hatte, waren auch die zwei anderen noch in dem Graben gewesen. Auf Feldwegen war er südlich von Wisset wieder auf die Straße gekommen, und im Morgengrauen hatte seiner dort ein grauenvoller Anblick geharrt: an einem Telegraphenpfahl aufgeknüpft der arme Plunkett! ... So hatte die deutsche Proklamation doch nicht nur ein Schreckschuß sein sollen, – mit ihren Drohungen war es den Deutschen bitterer Ernst, und der unglückliche Plunkett hatte die Unerbittlichkeit ihres Kriegsrechtes durch seinen schimpflichen Tod erproben müssen! ...
Zweieinhalb Stunden hatte Wheeler sich in Beccles aufgehalten; er hatte Augen und Ohren weit aufgemacht und sich bei allen möglichen Leuten, besonders bei einem Fuhrmanne, den der Feind zu Materialtransporten aus Lowestoft gepreßt hatte, verstohlen nach allem erkundigt. Indem ich seinen höchst wertvollen Bericht mit meinen eigenen Beobachtungen kombinierte, war ich imstande, eine ziemlich umfassende Meldung aufzusetzen und die genaue Stellung des bei Lowestoft gelandeten deutschen Armeekorps in die Karte einzuzeichnen.
Diese meine Meldung lautete im Auszuge wie folgt:
Am Sonntagmorgen, eben vor drei Uhr, entdeckten die Küstenwachen zu Lowestoft, Corton und Beach End, daß ihre telephonische Verbindung unterbrochen war; eine halbe Stunde später näherte sich ein geheimnisvolles, bunt zusammengesetztes Geschwader dem Hafen, innerhalb einer Stunde waren bereits viele dieser Fahrzeuge aufs Trockene gezogen, während andere am alten Dock, an den neuen Fischdocks des Great Castern Railway und vor den Werften vertäut waren und starke Abteilungen deutscher Infanterie, Kavallerie, Motorinfanterie und Artillerie ausschifften. Sofort nach der Landung requirierte der Feind in der überrumpelten Stadt alle Vorräte, deren er habhaft werden konnte, sowie auch alle Autos und Pferde. Dann setzte die Infanterie sich auf der Straße nach Beccles in Marsch. Es war die erste Sorge der Eindringlinge gewesen, die Bewohner von Lowestoft an der Zerstörung der Drehbrücke zu hindern und eine starke Wache auf ihr zu postieren; die Landung selbst war mit solcher Ruhe und Ordnung vor sich gegangen, daß man deutlich sah, alles, auch die geringste Kleinigkeit, war genau vorüberlegt gewesen.
Um sechs Uhr morgens hatte General von Kronhelm, der Oberstkommandierende der deutschen Armee, sich den Mayor kommen lassen und ihm in Kürze erklärt, daß jetzt, wo die Stadt Lowestoft besetzt worden, jeder bewaffnete Widerstand mit dem Tode bestraft werde. Und zehn Minuten später flatterte schon an mehreren Punkten der Stadt die deutsche Fahne von den Flaggenstangen.
Die flache Sandebene zwischen der oberen Stadt und der See verwandelten die Deutschen in einen Lagerplatz, und auch in der Stadt selbst wurde ein großer Teil der Truppen einquartiert.
Die Einwohner wußten sich vor Schrecken nicht zu helfen. London um Hilfe anzugehen, war unmöglich, da Telegraph und Telephon abgeschnitten und rings um die Stadt bereits eine starke Vorpostenkette gezogen war, die niemanden durchließ.
Die Landung dauerte den ganzen Sonntag hindurch fort. Die deutsche Vorhut aber war schleunigst auf der Straße nach Beccles vorgegangen und hatte auf der Westseite des Höhenzuges, der sich östlich von Lowestoft erhebt, eine starke Stellung inne, deren Gesamtfront von der Beccles-Brücke im Norden ungefähr fünf Meilen beträgt und die ganze Fläche westlich bis Norwich beherrscht. Ihre Südflanke lehnt sich an den Waveney-Fluß, ihre Nordflanke auf die Thorbe-Sümpfe. Die Hauptartilleriestellung befindet sich auf Toft Monks, dem höchsten Punkte der Gegend. Auf dem hohen Kirchturm von Beccles ist eine Signalstation eingerichtet, welche die ständige Verbindung mit Lowestoft aufrecht erhält, bei Tage durch den Heliographen, bei Nacht durch Azetylenlicht.
Die feindliche Stellung ist von großer natürlicher Stärke, und solange sie stark genug besetzt ist, um Lowestoft gegen jeden Angriff von Westen zu verteidigen, kann die Landung ohne Unterbrechung vor sich gehen, denn der Strand und die Docks von Lowestoft sind jetzt völlig außer Tragweite irgendwelchen englischen Feuers.
Nach Angaben verschiedener Gewährsmänner in Lowestoft und Beccles kann man schätzen, daß bis Montag mittag schon annähernd ein Armeekorps mit Artillerie, Munition und anderem Kriegsbedarf gelandet worden ist. Es laufen aber auch noch Meldungen von Landungen zu Yarmouth und an einem weiter nördlich gelegenen Punkte ein; Einzelheiten hierüber fehlen noch.«