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VI.

Das Durcheinander der Mobilmachung.
Proklamation.


»Bürger von London!

Die Nachricht von dem Bombardement der Stadt Newcastle und der Landung des deutschen Heeres in Hull, Weybourne, Yarmouth und anderen Städten der Ostküste hat sich leider bestätigt.

Der Plan des Feindes, auf London zu marschieren, muß durch Tapferkeit und Entschlossenheit vereitelt werden.

Das britische Volk und die Bürger von London müssen angesichts dieser ernsten Ereignisse alles aufbieten, um die Eindringlinge zu besiegen.

Jeder Fußbreit englischen Bodens muß aufs äußerste verteidigt werden. Das ganze Volk muß aufstehen für seinen König und sein Land!

Großbritannien ist noch nicht verloren, denn je ernster die Gefahr, desto stärker wird sein einmütiger Patriotismus sein.

Gott schütze den König!

Mansion House, London, 5. September 1910.

Harrison, Lord-Mayor.«

 

Diese Proklamation wurde mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Der letzte Absatz flößte Begeisterung ein, aber das übrige war düster genug – eine offizielle Bestätigung des furchtbaren Unheils.

Überall herrschte finstere Schwermut; langsam verstrichen die Stunden, und die Sonne, die in dichten Qualm versank, goß ein blutiges Abendrot über die Riesenstadt aus.

Überall stand das Volk und las die Maueranschläge, darunter eine Proklamation des Königs, kurz aber würdig, die jeden Briten aufforderte, seine Pflicht zu tun, an der Verteidigung von König und Vaterland teilzunehmen und das Banner des Britischen Reiches zu entfalten, das bis heute Frieden und Gesittung in alle Teile der Welt getragen habe! Deutschland, dessen Unabhängigkeit England nie angetastet habe, sei, ohne herausgefordert zu sein, zum Angriff geschritten, Feindseligkeiten also leider nicht mehr zu vermeiden! ...

Im Verlaufe des Abends ward eine andere Proklamation in jeder Stadt, jedem Flecken und Dorfe des Landes angeschlagen – die Mobilmachungsorder, welche die Armeereserven zu den Fahnen rief.

Diese Order ward erlassen in einem Augenblick, da unser ganzes Eisenbahn- und Postwesen desorganisiert, und im Norden bereits die Linientruppen von Schottland zur Konzentration nach Sheffield transportiert wurden. Die Unordnung war furchtbar. Es stellte sich heraus, daß nicht ein Regiment seine volle Ausrüstung und Marschbereitschaft besaß. Es mangelte an Offizieren, an Ausrüstungsgegenständen, an Pferden, kurz an allem. Einige Regimenter existierten überhaupt nur in den Listen. Seit dem Burenkriege hatte die Regierung mit sträflicher Nachlässigkeit alles verabsäumt, was das Heer brauchte, obwohl sie die eindringliche Lektion des russisch-japanischen Krieges vor Augen gehabt hatte.

Vielfach wurden die wohlmeinenden Anstrengungen der Freiwilligen zu einem lächerlichen Gaukelspiel. Freiwillige aus Glasgow fanden heraus, daß sie verpflichtet waren, sich nach Dorking in Surrey zu begeben; die von Aberdeen nach Caterham, die von Carlisle nach Reading. Das wiederholte sich in Hunderten von Fällen: Alles Verwirrung und Durcheinander! Dazu eine Kette von nutzlosen Verordnungen – alles schien darauf berechnet, die Bewegung der Truppen nach ihren Konzentrationspunkten zu hemmen und so die bedeutsamen Warnungsrufe der vergangenen Jahre zu rechtfertigen ...

Nichts war fertig. Die Leute bekamen Gewehre ohne Munition, die Kavallerie und Artillerie war ohne Pferde, die Pioniere nur halb ausgerüstet, die Freiwilligen ganz ohne Transportmittel, die Luftschifferabteilungen ohne Ballons, die Scheinwerferabteilungen vergeblich bemüht, die nötigen Apparate zu erlangen.

Überall wurden Pferde requiriert. Die paar Pferde, die im Zeitalter der Automobile noch auf den Straßen Londons zu sehen waren, wurden schnell als Zugtiere verwandt, und alle Pferde, die zum Reiten taugten, der Kavallerie überwiesen.

Während des Durcheinanders am Montag abend waren dreiste deutsche Spione südlich von London bei der Arbeit: sie zerstörten die Eisenbahnlinie nach Southampton, indem sie die Brücken über den Wey und den Mole in die Luft sprengten; die Linie nach Reading ward bei der großen Themsebrücke, die zwischen Guildford und Waterloo aber dadurch unpassierbar gemacht, daß halbwegs zwischen Wansborough und Guildford der Nachtzug in die Luft gesprengt wurde; an mehreren Orten der Londoner Umgegend hatte man die Brücken durch Absprengen der Bekrönung der Bogen unbrauchbar gemacht.

Die etwa hundert Spione, alles zuverlässige Soldaten, waren unter den Tausenden der Londoner Deutschen unbeachtet geblieben; aber indem sie einander in die Hände arbeiteten, hatte jede kleine Gruppe von zweien oder dreien ihr eignes Stück Arbeit verrichtet, nachdem vorher das Terrain und die schnellsten und wirksamsten Mittel zur Ausführung auf das sorgsamste studiert worden waren.

In der Nacht von Sonntag auf Montag waren sämtliche Eisenbahnen nach der Ost- und Nordostküste von der feindlichen Vorhut unterbrochen worden, und dieses Werk der Zerstörung war nun in der Montagnacht im Süden fortgesetzt worden, mit dem Plan, die Truppen an dem Marsch nordwärts von Aldershot zu hindern. Diese Absicht hatte der Feind erreicht, denn nur auf weitem Umwege konnten die Truppen jetzt nach den nördlichen Verteidigungslinien Londons geschafft werden, und während am Dienstage ein Teil der Truppen per Bahn transportiert wurde, benutzte ein anderer die Londoner Motoromnibusse, die ihnen hierzu zur Verfügung gestellt wurden.

Überall in London und Umgegend, sowie überhaupt in allen größeren Städten, wurden die Automobile und Kraftwagen von den Militärbehörden requiriert, da man der Meinung war, daß sie bis zu einem beträchtlichen Grade die Reiterei würde ersetzen können.

Die erste authentische Kunde über den Feind ward den verschiedenen Zeitungen am Dienstag morgen zehn Uhr durch die Central News übermittelt.

Der Bericht des Augenzeugen lautete, wie folgt:

Chatham, 3. September, 11. 30 pm.

Um acht Uhr abends ereignete sich heute ein außerordentlicher Unfall auf dem Medway. Der Dampfer Pole Star, zwölfhundert Registertons, mit einer Ladung Zement von Frindsbury, kollidierte bei seiner Ausfahrt nach Hamburg mit der Frauenlob aus Bremen, einem etwas größeren Schiff, das herein wollte, auf einer Enge des Kanals etwa halbwegs zwischen Chatham und Sheerneß.

Über diesen Unfall sind verschiedene Berichte im Umlauf, aber welches der beiden Fahrzeuge für das schlechte Steuern oder die Mißachtung der gewöhnlichen Ausweichbestimmungen auch verantwortlich sein mochte, so viel ist sicher, daß die Frauenlob vom Vordersteven der Pole Star auf der Backbordseite gerammt wurde und dwars durch den Kanal sank. Die Pole Star drehte nach dem Zusammenstoß längsseits der Frauenlob und sank sehr bald darauf in beinahe paralleler Lage. Schlepper und Dampfer, mit einer Anzahl von Marineoffizieren und Hafenbehörden an Bord, haben sich an den Schauplatz des Unfalls begeben, und wenn, was wahrscheinlich ist, keine Aussicht vorhanden ist, die Fahrzeuge zu heben, so wird man sie ohne weiteres sprengen.

In dem gegenwärtigen Stande unserer auswärtigen Beziehungen ist solche Sperre quer durch die Einfahrt zu einem unserer Hauptkriegshäfen eine nationale Gefahr und darf nicht einen Augenblick länger, als durchaus nötig ist, belassen werden.

4. September.

Über den Zusammenstoß auf dem Medway, von dem mein Telegramm von gestern abend berichtete, ist eine Enthüllung erfolgt, die unglaublich genug klingt, uns aber doch zu dem Schlusse zwingt, daß die Affäre keine zufällige gewesen sein kann: Alles läuft darauf hinaus, daß die ganze Geschichte vorher überlegt und das Resultat eines organisierten Komplotts gewesen sein muß, welches zum Ziel hatte, die zahlreichen Kriegsschiffe, die augenblicklich in aller Geschwindigkeit auf der Werft von Chatham zum Auslaufen ausgerüstet werden, dort einzusperren! Es kann auch nur geringer Zweifel über die Seite herrschen, von der dieser bösartige Streich gekommen ist. Statt bösartiger Streich sollte man lieber sagen: Akt offener Feindseligkeit mitten im tiefsten Frieden, denn wir haben noch Frieden, so sehr auch der politische Horizont von tief herabhängenden Kriegswolken verdüstert sein mag. Wir leben unter einer Regierung, deren Leiter gleich von vornherein ankündigte, daß keine Furcht, als Kleinengländer verhöhnt zu werden, ihn abschrecken solle, den Frieden zu suchen und durch Reduktion unserer Rüstungen zu Wasser und zu Lande zu sichern, obwohl diese Rüstungen bekanntermaßen den Ansprüchen nicht entsprechen, die an sie gestellt werden würden, sobald es gälte, unser Reich aufrecht zu erhalten. Wir sind der Überzeugung, daß sogar dieser pfarrerhaft gesinnte Staatsmann ohne Verzug der Verschwörung bis in ihre äußerste Tiefe nachspüren und sofort Genugtuung verlangen wird, so hochgestellt und mächtig diejenigen auch sein mögen, die diesen Verstoß gegen die Gesetze der Zivilisation begangen haben! ...

Sobald die Nachricht von der Kollision nach der Werft gelangte, erhielt der älteste Offizier zu Kenthole Reach telegraphische Order, kein Schiff mehr stromaufwärts fahren zu lassen; auf der Stelle schickte er mehrere Pikettboote nach der Einfahrt, um hereinkommende Schiffe von der Blockierung des Kanals in Kenntnis zu setzen, während ein paar andere Boote, die in der Nähe der Sperre postiert wurden, die strenge Einhaltung des Verbotes überwachen sollten. Auf Garrison Point hißte man die Hafensignale: »Jede Fahrt einstellen!«

Unter den Schiffen, die infolgedessen stoppen mußten, war die Van Gysen, ein großer Dampfer, der als Herkunftsort Rotterdam und als Ladung Stahlschienen für Port Viktoria angab; er erhielt deswegen die Erlaubnis zum Weiterfahren und legte sich vorm Eisenbahnkai dieser Stadt vor Anker oder tat wenigstens so. Zehn Minuten später meldete der wachhabende Offizier an Bord S. M. S. Medusa, daß ihm vorkomme, als ob die Van Gysen wieder abfahre; da es bereits ziemlich dunkel war, richtete man einen elektrischen Scheinwerfer auf den Dampfer und entdeckte, daß er in der Tat flußaufwärts fuhr, und zwar mit beträchtlicher Schnelligkeit. Die Medusa telegraphierte dem Flaggschiff, und dieses gab sofort einen Schuß ab, hißte das Signal »Zurückrufen« sowie die Nummer der Van Gysen im internationalen Verzeichnis, und schickte seine Dampfpinasse mit dem Auftrage ab, um jeden Preis den Holländer zu überholen und anzuhalten; die Pinasse hatte einige Seesoldaten der Wache mit Ober- und Untergewehr an Bord genommen.

Die Van Gysen aber, die das Fahrwasser sehr gut zu kennen schien, steigerte fortwährend ihre Geschwindigkeit, so daß sie nur noch eine halbe Meile vom Schauplatz des Zusammenstoßes entfernt war, als das Dampfboot sie einholte. Der Offizier, der auf der Pinasse das Kommando hatte, forderte den Schiffer durch sein Megaphon auf, zu stoppen und ihm ein Seil zuzuwerfen, da er an Bord zu kommen wünschte. Der Schiffer tat eine Weile, als verstände er den Befehl nicht, und verringerte dann seine Fahrt, indem er zurückrief: »Kommen Sie längsseits ans Fallreep!«

Die Pinasse hakte am Fallreep an, – da fiel von oben, vom Deck der Van Gysen, ein schwerer Eisenblock auf sie, der ihren vordersten Mann über Bord warf und krachend ein großes Loch vorne durch die Backbordseite schlug. Sie drehte im Winkel ab und stoppte, um den Mann wieder aufzufischen. Das gelang auch, aber das Wasser strömte mit Macht durch das Leck ein, und ihr blieb nichts anderes übrig, als auf dem Ufer aufzulaufen. Der Leutnant ließ einen Gewehrschuß auf die Van Gysen abgeben, um sie zum Beidrehen zu bringen; aber, wie zu erwarten, kümmerte sie sich nicht im geringsten darum, sondern setzte mit verstärkter Geschwindigkeit ihre Fahrt fort.

Der Knall jedoch zog die Aufmerksamkeit der zwei Pikettboote, die den Fluß hinaufpatroullierten, auf sich. Als die Van Gysen um eine Krümmung des Stromes bog, schossen sie beide aus der Dunkelheit heraus, kamen längsseits und gaben ihr den peremptorischen Befehl, zu stoppen. Aber die einzige Antwort, die sie bekamen, war das plötzliche Erlöschen aller Lichter auf dem Dampfer. Sie hielten längsseits, oder vielmehr, nur eins von ihnen tat es, allein sie hatten nicht das geringste Mittel, den hochbordigen großen Dampfer aufzuhalten. Das schnellere der Pikettboote schoß voraus, um die Leute, die mit der Untersuchung der Wracke beschäftigt waren, zu warnen. Aber die Van Gysen, die mit voller Kraft lief, war ihm hart auf den Fersen, eine kaum zu unterscheidende schwarze Erhöhung in der Finsternis; eben hatte der Führer des Pikettbootes seine Warnung ausgesprochen, da war die Van Gysen auch schon dicht herangekommen: Ein paar Yards von den beiden Wracken ab verringerte sie ihre Fahrt und glitt langsam auf sie zu, unhemmbar wie das Verhängnis: ein lauter Krach, und sie stieß mitten auf die Frauenlob auf, ihr Bug schrammte am Schornstein der Pole Star vorbei. Dann erfolgten nicht weniger als ein halbes Dutzend gedämpfter Knalle; ihre Maschinen gingen einen Augenblick zurück, und sie begann zu sinken, quer vor den beiden anderen Dampfern, indem sie sich nach Backbord überlegte.

Alles war Verwirrung und Durcheinander. Keines der Werft- und Marineboote, die zur Stelle waren, war mit Scheinwerfern ausgerüstet. Der Hafenmeister, der Werftkapitän, sogar der Admiral, der soeben in seiner Dampfbarkasse hergekommen war, alle schrien sie ihre Befehle. Lichter blitzten auf, und Laternen schwangen auf und nieder, in dem eitlen Bemühen, von dem, was sich ereignet hatte, mehr zu sehen. Zwei gleichzeitige Rufe: »Mann über Bord!« kamen auf beiden Seiten des Flusses von den Schleppern und Booten. Als die Ordnung einigermaßen wieder hergestellt war, entdeckte man, daß ein großer Werftschlepper kopfüber in die Tiefe ging. Es schien, als ob die Van Gysen, als sie gegen die Sperre anlief, ihn geschrammt und gegen eins der gesunkenen Fahrzeuge gedrängt, und er dabei ein Leck unter der Wasserlinie erhalten hatte. In der allgemeinen Aufregung hatte man die Beschädigung nicht bemerkt, und nun sank er rasch. Mit der größtmöglichen Eile wurden Trossen an ihm festgemacht, um ihn von dem zusammengetürmten Wrackwerk klar zu bringen, aber es war zu spät. Man hatte gerade noch Zeit, die Mannschaft zu retten, dann ging auch er unter, um die Unterwasserbarrikade noch zu verstärken.

Was die Mannschaft der Van Gysen anlangte, so mußte man annehmen, daß sie mit untergegangen war, denn trotz des eifrigsten Suchens war keine Spur von ihr zu finden; – verwunderlich genug, daß bei einem so sorgfältig geplanten Anschlage keinerlei Anstalten für das Entkommen der Besatzung sollten getroffen worden sein!

Alle, die sich an den Schauplatz des Unfalls begeben haben, erachten es für unmöglich, selbst mit allen Hilfsmitteln der Werft den Kanal in weniger als einer Woche oder zehn Tagen wieder frei zu machen ...

Etwas später entschloß ich mich, selbst nach der Werft zu gehen, in der entfernten Hoffnung, genauere Nachrichten aufzulesen. Die Torwache wollte mich um diese Stunde unter keiner Bedingung passieren lassen, und ich dachte schon ans Umkehren, als mein gutes Glück es fügte, daß ich auf Commander Shelley stieß.

Ich war während der Manöver des vorigen Jahres als Korrespondent an Bord seines Schiffes gewesen; so nahm ich mir jetzt die Freiheit, ihn zu fragen, ob er mir über den Zusammenstoß der drei Dampfer auf dem Medway weitere Auskunft geben könne.

»Ja,« sagte er, »Sie werden nichts Besseres tun können, als mit mir zu kommen, man hat mich eben aus dem Bett gerufen, um die Taucherarbeiten, die beginnen sollen, sobald ein bißchen Tageslicht da ist, zu überwachen.«

Unnötig zu sagen, wie sehr mir das paßte; ich nahm sofort sein freundliches Anerbieten mit Dank an.

»Schön,« sagte er, »aber ich muß Ihnen eine kleine Bedingung stellen.«

»Und die ist?«

»Nur, mich Ihre Telegramme zensieren zu lassen, ehe Sie sie absenden,« erwiderte er. »Denn die Admiralität, sehen Sie, möchte vielleicht über diese Affäre nicht soviel gesprochen haben, ich aber hätte keine Lust, mich selbst in die Nesseln zu setzen.«

Obwohl ich mit Mißvergnügen an die Möglichkeit dachte, daß mir die besten Sätze weggestrichen werden könnten, mußte ich anerkennen, daß die Bedingung vernünftig war, und ihr meine Zustimmung geben. So schritten wir durch die hallenden Räume der fast verödeten Werft dahin, bis wir am Thunderbolt-Ponton ankamen; hier lag eine Pinasse unter Dampf; der diensthabende Polizist leuchtete uns mit seiner Laterne, wir gingen an Bord und schossen mitten in den Strom hinaus. Wir pfiffen auf der Dampfpfeife, und der Bootführer schwang eine Laterne, worauf ein kleiner Schlepper, der ein paar Werftleichter hinter sich hatte, mit heiserem Tuten antwortete und uns stromabwärts folgte. Wir fuhren gegen den starken Flutstrom in die Dunkelheit hinein, bis wir an einem Gewirre von Morastbänken und grasbewachsenen Inselchen angelangt waren. Hier schrillte, mitten durch das dumpfe Lärmen der Maschine und das Plätschern des Wassers, ein dünner, langgezogener Schrei durch die Nacht.

»Jemand preit das Boot, Sir,« meldete vorne der Mann am Ausguck. Wir hatten es alle gehört.

»Langsam fahren!« befahl Shelley, und kaum noch Fahrt machend gegen den fliegenden Flutstrom, lauschten wir auf eine Wiederholung des Schreis.

Wiederum erhob sich die Stimme in zitterndem Flehen.

»Was zum Kuckuck sagt er?« fragte der Commander.

»Es ist deutsch,« antwortete ich; ich verstehe nämlich gut deutsch. »Er schreit nach Hilfe, darf ich ihm antworten?«

»Natürlich. Vielleicht gehört er zu einem von diesen Dampfern.« Derselbe Gedanke lag auch mir im Sinn. Ich preite zurück, indem ich fragte, wer er wäre und was er wollte. Er erwiderte, daß er ein schiffbrüchiger Seemann wäre, kalt, naß und elend, und bat uns, ihn von der Insel, auf der er saß, von Wasser und Dunkelheit ringsum abgeschnitten, aufzunehmen. Wir setzten den Schnabel des Bootes auf die Morastbank und holten glücklich ein elendes Individuum an Bord, das durchnäßt und von Kopf bis zu Füßen mit schwarzem Medway-Schlamm bedeckt war; die zerfetzten Reste eines Rettungsgürtels aus Kork hingen ihm um die Schultern. Ein Tropfen Whisky erfrischte seine Lebensgeister einigermaßen.

»Jetzt nehmen Sie bitte ein Kreuzverhör mit ihm vor,« sagte Shelley. »Vielleicht kriegen wir etwas aus dem Burschen heraus.«

Der Ausländer, der sich in einen gelben Wachstuchmantel, den eine mitleidige Blaujacke ihm übergeworfen hatte, einwickelte und vor Frost mit den Zähnen klapperte, schien mir, als das Licht einer Laterne auf ihn viel, nicht nur an Kälte, sondern auch an Furcht zu leiden. Wenige Augenblicke des Gesprächs mit ihm, und mein Verdacht war bestätigt. Ich wendete mich an Shelley.

»Er sagt, er will alles bekennen, wenn wir sein Leben schonen –«

»Na, totschießen will ich den Burschen nicht,« erwiderte der Commander. »Ich nehme an, er ist mit an dieser Sperraffäre beteiligt, und dann würde er's allerdings reichlich verdienen; aber es liegt uns auch daran, die Wahrheit herauszukriegen, und so mögen Sie ihm sagen, daß ich beim Admiral ein gutes Wort für ihn einlegen werde, wenn er bekennt!«

Ich redete auf den Mann ein, und es dauerte nicht lange, so hatte ich folgendes aus ihm hervorgelockt: Er war Matrose an Bord der Van Gysen gewesen; als sie Rotterdam verließ, wußte er nicht, daß es mit der Expedition was Besonderes auf sich hätte. Da war ein neuer Kapitän, den er noch nie gesehen hatte, und auch zwei neue Steuerleute und ein neuer erster Maschinist. Ein anderer Dampfer folgte ihnen den ganzen Weg bis nach dem Nore. Unterwegs hatte der Kapitän ihn und mehrere andere Matrosen beiseite genommen und gefragt, ob sie freiwillig sich an einem gefährlichen Geschäft beteiligen wollten, das 1000 Mk. pro Mann abwerfen würde, wenn es gut abliefe? Er und fünf andere waren einverstanden, ebenso zwei oder drei Heizer; sie bekamen die Order, achtern zu bleiben und von den anderen Leuten sich fernzuhalten.

Auf der Höhe des Nore wurden alle übrigen auf den Begleitdampfer geschafft, der ostwärts abdampfte. Den ausgewählten Leuten aber eröffnete man, daß die Offiziere alle zur Kaiserlich Deutschen Marine gehörten und vom Kaiser den Befehl bekommen hätten, die Sperrung des Medway zu versuchen.

Ein Zusammenstoß zwischen zwei anderen Schiffen war bereits arrangiert worden; das eine hatte als Ladung eine Masse alter Stahlschienen, zwischen die flüssiger Zement gegossen worden war, so daß der Schiffsraum einen festen, undurchdringlichen Block bildete. Die Van Gysen führte eine ähnliche Ladung und war mit einer Vorrichtung versehen, um Löcher in ihren Boden zu sprengen. Die Mannschaft trug Rettungsgürtel bei sich und hatte die Hälfte des versprochenen Geldes bereits erhalten, und alle, außer dem Kapitän, dem Maschinisten und den beiden Steuerleuten, sprangen, gerade bevor sie bei den gesunkenen Fahrzeugen anlangten, über Bord. Man hatte ihnen den Rat gegeben, sich nach Gravesend durchzuschlagen und sich dann, so gut jeder könnte, weiter davon zu machen. Er aber hatte aus seinem Inselchen nicht Mut genug aufgebracht, um in der Finsternis wieder in das kalte Wasser zu tauchen.

»Zum Teufel, Mann! Das bedeutet Krieg mit Deutschland – Krieg!« rief Shelley aus.

Um zwei Uhr heute nachmittag erfuhren wir, daß es das wirklich bedeutete, denn von der Werft her wurde die Nachricht von der Landung des Feindes in Norfolk signalisiert! Und von den Tauchern erfuhren wir, daß es sich mit der Ladung der gesunkenen Dampfer in der Tat so verhielt, wie der aufgefischte Matrose angegeben hatte. – Der Kanal war also herrlich zugekorkt!

Diese erstaunliche Enthüllung zeigte, wie schlau die Deutschen den Ausbruch der Feindlichkeiten vorbereitet haben. Alle unsere prächtigen Schiffe in Chatham waren in jener kurzen halben Stunde eingesperrt und völlig nutzlos gemacht worden! Dennoch waren die Behörden in dieser Sache nicht ohne Tadel, denn im November 1905 war ein fremdes Kriegsschiff tatsächlich bei helllichtem Tage den Medway hinauf gefahren und erst wahrgenommen worden, als es dwars vor der Werft seine Salutschüsse zu feuern begann!


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