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XXXVI.

Der Feind vor den Toren.


Der Tag brach an. Der schwach violette Anhauch im Osten, jenseits von Temple Bar, ward allmählich rosa und verkündete das Kommen der Sonne. Nach und nach füllten sich auch die Straßen, je heller die Dämmerung wurde, mit aufgeregten Bewohnern. Die fieberhaft durchwachte Nacht machte dem Tage Platz – einem Tage, der für das englische Reich ein bitterer Gedenktag werden sollte.

Beunruhigende Nachrichten waren im Umlauf, daß man Ulanen habe durch Snaresbrook und Wanstead reiten sehen, ja sogar durch Forest Road und Ferry Lane bis nach Waltham Stow und von da durch Tottenham High Croß die High Street entlang und durch Hornsey Priory Road und Muswell Hill. Die Deutschen waren tatsächlich also schon in London! ...

Aus den zunächst bedrohten nördlichen Vororten waren die meisten Bewohner in Todesfurcht südwärts in die angrenzenden Quartiere der inneren Stadt geflohen; die riesige Bevölkerung von Groß-London drängte sich also jetzt faktisch auf die verhältnismäßig kleine Fläche von Kensington bis nach der Fleet Street und von Oxford Street bis an das Themse-Ufer zusammen.

Während der letzten drei Tage hatten Tausende von freiwillig sich darbietenden Händen an den verschiedensten Punkten der Hauptstraßen, die von Norden und Osten nach London hineinführen, gewaltige Barrikaden errichtet. Pioniere hatten die meisten Brücken, über die der Anmarsch des Feindes zu erwarten war, in die Luft gesprengt.

Nicht bloß in der City, sondern in ganz London lag das Geschäftsleben vollständig danieder, und für die unentbehrlichsten Nahrungsmittel wurden Hungernotpreise bezahlt. Aber erst, als man deutsche Kavallerie hatte durch die nördlichen Vororte sprengen sehen, empfanden die Londoner den ganzen Umfang ihrer Hilf- und Wehrlosigkeit.

Es hieß, daß von Kronhelm am gestrigen Tage Parlamentäre an den Lord Mayor gesandt, und daß letzterer sie im Mansion House empfangen habe, um mit ihnen in geheimer, länger als eine Stunde währenden Sitzung zu verhandeln. Aus Besorgnis, in London eine Panik hervorzurufen, hatten die Zeitungen von dieser Beratung nichts erwähnt, und die deutschen Boten sollten die Stadt nächtlicherweile ebenso heimlich wieder verlassen haben, wie sie sie betreten hätten.

Bedeutete das etwas anderes, als daß der Feind die Übergabe der Stadt verlangt, der Lord Mayor sie aber abgelehnt hätte?

Die Stadt war in Gärung und Tumult. An Hunderten von Punkten wuchsen die Barrikaden aus dem Boden; Hunderte von Leuten türmten in atemloser Hast nicht nur die aufgerissenen Pflastersteine übereinander, sondern auch Wagen, Karren, Warenballen aus den umliegenden Geschäften und Lagerhäusern und schwere Möbelstücke aller Art, die sie aus den Häusern mit Gewalt geraubt und herbeigeschleppt hatten.

Alle Waffenläden waren geplündert, jede Büchse, jedes Jagdgewehr, jeder Revolver mit Beschlag belegt worden. Selbst die Waffenvorräte der Arsenale und Kasernen hatte die verzweifelte Bevölkerung sich angeeignet. Sehr viele waren auf diese Weise in den Besitz einer Schußwaffe gekommen, hatten aber keine Munition; andere hatten für Militärgewehre nur Jagdpatronen, noch andere Patronen, aber keine Gewehre.

Diejenigen, die beides besaßen, hielten Wache an den Barrikaden, oft in Gemeinschaft mit den Freiwilligen, die sich aus Essex nach London geflüchtet hatten, und auf mehr als einer Barrikade in den nördlichen Stadtteilen standen Maximgeschütze bereit, um den Feind bei seinem Vorrücken zu begrüßen.

Die Frauen und Kinder der nördlichen Vororte waren so gut wie alle nach Süden geschickt worden. Die Hälfte der Häuser in diesen ruhigen, erst eben bebauten Straßen war verschlossen, ihre Besitzer davongegangen. Man kann sich vorstellen, was für eine Katastrophe eine Erstürmung Londons für diese in den Vororten wohnenden Geschäftsleute der City bedeutete: rücksichtslose Zerstörung des lang ersehnten, endlich gewonnenen Heims, Flucht in die lärmende, hungernde City, Verlust des gesamten Eigentums ... Meist nahm bereits der Familienvater mit Flinte oder Spaten an der Verteidigung der Hauptstadt teil oder half am Herbeischleppen schwerer Gegenstände für die zu errichtenden Barrikaden; die Hausfrau aber hatte einen letzten Blick auf das Besitztum zu werfen, das sie mit solcher Freude ihr Heim genannt, dann die Haustür zu verschließen und mit ihren Kindern sich dem langen, traurigen Zuge zuzugesellen, der seit Tagen schon ununterbrochen südwärts nach Londons Häuserwüste hineinstrebte – wohin, wußte keiner der Flüchtenden. Obdachlose Frauen, oft mit zwei oder drei Kleinen, wanderten die weniger belebten Straßen entlang, um die Hauptverkehrsadern mit ihrem Lärm, ihrer Erregung und ihren Barrikaden zu vermeiden, und suchten westwärts über Kensington und Hammersmith zu entkommen, wo jetzt der Hauptausgang aus der Hauptstadt war.

Seit drei Tagen waren sämtliche Züge, die aus London herausführten, auf das unglaublichste überfüllt gewesen; besorgte Väter kämpften um Plätze für ihre Frauen, Mütter und Töchter, einerlei, wohin der Zug gerade fuhr, wenn er ihre Lieben nur mit fortnahm, fort aus der Stadt, die nach ein paar Stunden von der eisernen Ferse des Eroberers zertreten werden sollte ...

In der ganzen weiteren Umgebung der Riesenstadt war jedes Haus, jede Scheune oder Schule, überhaupt jedes Gebäude, das für die Nacht ein wenn auch noch so dürftiges Obdach gewähren konnte, gedrängt voll von Menschen, hauptsächlich Frauen und Kindern.

In der City hieß es, das Kabinett hielte in Bristol einen Kronrat ab, von dessen Ausgang alles abhinge. Die Minister sollten geteilter Meinung sein: die einen wären dafür, demütig um einen schmachvollen Frieden zu bitten, die anderen wollten den Kampf fortsetzen bis zum bitteren Ende ...

Auch in London gab es natürlich viele, die nach Beendigung des Krieges schrien; aber sie verschwanden unter der Masse der begeisterten Patrioten, deren Blut zum Sieden gekommen war, als sie untätig hatten zusehen müssen, wie der Feind das Land erdrückte; die ganze glühende Vaterlandsliebe, die verborgen in ihnen gelegen hatte, trat jetzt zutage. Überall war die englische Fahne gehißt, erschallte laut das » God save the King«.

Die Bankhäuser, die großen Juweliere, die Diamantenhändler, die Depositenkassen, überhaupt alles, was Wertsachen im Gewahrsam hatte, sah den Ereignissen mit der größten Besorgnis entgegen. Unter jenen düsteren Gebäuden in Lothbury und Lombard Street, hinter den schwarzen Mauern der Bank von England und in den Kellern jeder Zweigbank durch ganz London lagerten Millionen in Gold und Banknoten, die Reichtümer der größten Stadt, die die Welt je gekannt hat; ihre Gewölbe waren wohl das Stärkste, was die moderne Technik hatte ersinnen können, und zum Teil ließ sich der Zugang zu ihnen sogar durch einströmendes Wasser verhindern, aber vor Dynamit bleibt nichts bestehen, und so gab es den scharfsinnigsten Vorkehrungen zum Trotz in ganz London nicht ein Gewölbe, nicht eine Stahlkammer, die den organisierten Angriff deutscher Ingenieure hätte aushalten können. Woran ein Dieb Tag und Nacht hämmern und raspeln könnte, ohne den geringsten Eindruck zu machen, das mußte sich ergeben vor einer einzigen Dynamitpatrone; die stärksten Stahltüren mit den festesten und kompliziertesten Schlössern schmetterte ein einziger Sprengschuß auseinander!

Zwar waren die Direktoren der meisten Banken zusammengetreten, um über gemeinsame Maßregeln zu beraten; sie hatten auch wirklich ein kleines Korps von Bewaffneten gebildet, das Tag und Nacht in allen Banken zu wachen hatte. Aber was konnten die paar Mann ausrichten, sobald die Deutschen sich über London ergossen? Von der eignen erregten Bevölkerung selber war nur wenig zu fürchten, denn in einer so furchtbaren Lage, wo es faktisch sehr wenig käufliche Dinge mehr gab, hatte selbst das Gold seine Anziehungskraft verloren; Proviant kam ja nur in äußerst geringen Massen aus den offenen Häfen des Westens nach der Stadt. Es war der Feind, den die Banken fürchteten, denn warum sollten die Deutschen nicht ebensogut die Hauptstadt brandschatzen, wie sie die Provinzstädte gebrandschatzt hatten, die sich geweigert hatten, die ihnen auferlegte Kontribution zu zahlen? ...


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