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Dritter Abschnitt.
Der ethische Materialismus und die Religion.

Es hätte nahe gelegen, gleich den Naturwissenschaften auch die Volkswirtschaft und verwandte Zweige einer eingehenden Prüfung zu unterwerfen; allein hier gleiten wir bereits unwillkürlich hinüber in das Gebiet der praktischen Fragen, deren Lösung das Resultat unsres kritischen Versuches bildet. Wir prüfen eine Wissenschaft, und wir finden in ihren Lehren nur den Spiegel gesellschaftlicher Zustände; wir wollen sehen, wo in der Gegenwart der ethische Materialismus steckt, und wir finden ihn zu einer Dogmatik ausgebildet, wie sie Aristipp und Epikur nicht kannten. An die Stelle der Lust hat die Neuzeit den Egoismus gesetzt, und während die philosophischen Materialisten in ihrer Ethik schwanken, entwickelte sich mit der Volkswirtschaft eine besondere Theorie des Egoismus, die mehr als irgend ein andres Element der Neuzeit den Charakter des Materialismus an sich trägt.

Die Wurzeln dieser Erscheinung greifen zurück bis in die Zeit vor Kant und vor der französischen Revolution. In Italien, in den Niederlanden, in Frankreich hatte der forschende Geist der neueren Jahrhunderte schon längst den Handel, den Verkehr der Nationen, die Wirkungsweiße der Steuern und Abgaben, die Quellen des Wohlstandes oder der Verarmung ganzer Völker einer theoretischen Prüfung unterworfen; allein erst in England entwickelte sich mit der steigenden Blüthe der Industrie und des Welthandels die Volkswirtschaftslehre zu einer Art von Wissenschaft. Adam Smith, der in seiner Moraltheorie einen glücklichen Gedanken sehr schwach ausführte, gewann mit seiner Untersuchung über den Reichthum der Nationen den ausgedehntesten Ruhm. Sympathie und Interesse waren ihm die zwei grossen Triebfedern menschlicher Handlungen; allein während er die Sympathie als Quelle der Moral nur oberflächlich in ihren augenfälligsten Erscheinungen auffasste, brachte er das Spiel der Interessen, den Marktverkehr von Angebot und Nachfrage auf Regeln, die noch heute ihre Bedeutung nicht verloren haben. Ihm war immerhin dieser Markt der Interessen nicht das ganze Leben, sondern nur eine wichtige Seite desselben. Seine Nachfolger jedoch vergassen die Kehrseite und verwechselten die Regeln des Marktes mit den Regeln des Lebens, ja mit den Grundgesetzen der menschlichen Natur. Dieser Fehler trug übrigens dazu bei, der Volkswirtschaft einen Anstrich von strenger Wissenschaftlichkeit zu geben, indem er eine bedeutende Vereinfachung aller Probleme des Verkehrs mit sich brachte. Diese Vereinfachung besteht nun aber darin, dass die Menschen als rein egoistisch gedacht werden, und als Wesen, welche ihre Sonderinteressen mit Vollkommenheit wahrzunehmen wissen, ohne je durch anderweitige Empfindungen gehindert zu werden.

In der That wäre nicht das mindeste dagegen einzuwenden, wenn man diese Annahmen offen und ausdrücklich zu dem Zwecke gemacht hätte, den Betrachtungen über den gesellschaftlichen Verkehr durch Fingirung eines möglichst einfachen Falles eine exakte Form zu geben. Denn gerade durch die Abstraktion von der vollen, mannigfach zusammengesetzten Wirklichkeit sind auch andre Wissenschaften dazu gelangt, den Charakter der Exaktheit zu erhalten. Exakt ist ein für allemal für uns, die wir die Unendlichkeit der Naturwirkungen nicht zu übersehen vermögen, nur Dasjenige, was wir selbst exakt machen. Alle absoluten Wahrheiten sind falsch; Relationen dagegen können genau sein. Und, was für den Fortschritt des Wissens am wichtigsten ist: eine relative Wahrheit, ein Satz, der nur auf Grund einer willkürlichen Voraussetzung wahr ist, und welcher von der vollen Wirklichkeit in einem sorgfältig bestimmten Sinne abweicht – grade ein solcher Satz ist ungleich eher fähig unsre Einsicht dauernd zu fördern, als ein Satz, welcher mit einem Schlage dem Wesen der Dinge möglichst nahe zu kommen sucht, und dabei eine unvermeidliche und in ihrer Tragweite unbekannte Masse von Irrthümern mit sich schleppt.

Wie die Geometrie mit ihren einfachen Linien, Flächen und Körpern uns vorwärts hilft, obwohl ihre Linien und Flächen in der Natur nicht vorkommen, obwohl die Maasse des Wirklichen fast immer incommensurabel sind; so kann auch die abstrakte Volkswirthschaft uns vorwärts helfen, obwohl es in Wirklichkeit keine Wesen giebt, welche ausschliesslich dem Antrieb eines berechnenden Egoismus folgen, und welche diesem mit absoluter Beweglichkeit folgen, frei von allen etwaigen hemmenden Regungen und Einflüssen, die von andern Eigenschaften herrühren. Freilich ist die Abstraktion bei der Volkswirthschaft des Egoismus viel stärker, als in irgend einer andern bisherigen Wissenschaft, da sowohl die entgegenstehenden Einflüsse der Trägheit und der Gewohnheit, als auch diejenigen der Sympathie und des Gemeinsinnes höchst bedeutend sind. Dennoch darf die Abstraktion dreist gewagt werden, so lange sie als solche im Bewusstsein bleibt. Denn wenn erst gefunden wird, wie jene beweglichen Atome einer dem Egoismus huldigenden Gesellschaft, die man hypothetisch annimmt, sich der Voraussetzung gemäss benehmen mussten, so wird damit eben nicht nur eine Fiktion gewonnen sein, die in sich selbst widerspruchslos ist, sondern auch eine genaue Erkenntniss einer Seite des menschlichen Wesens und eines Elementes, welches in der Gesellschaft und namentlich in Handel und Wandel eine höchst bedeutende Rolle spielt. Man könnte wenigstens erkennen, wie der Mensch sich verhält, insofern die Bedingungen seines Handelns jener Voraussetzung entsprechen, wenn dies auch niemals vollständig der Fall sein wird.

Der Materialismus auf dem volkswirthschaftlichen Gebiete besteht nun eben darin, dass diese Abstraktion mit der Wirklichkeit verwechselt wird, und diese Verwechslung erfolgte unter dem Einfluss eines ungeheuren Vorwaltens der materiellen Interessen. Die Pfleger der englischen Volkswirthschaft gingen zum grossen Theil von durchaus praktischen Gesichtspunkten aus; »praktisch« nicht in dem Sinn der alten Griechen genommen, in welchem das rüstige Handeln nach sittlichen und politischen Motiven vor allen Dingen jenen Ehrennamen verdiente. Der Charakter dieser Zeiten brachte es mit sich, alle wahren Zwecke des Handelns in den Interessen des Individuums zu suchen. Der »praktische« Gesichtspunkt in der Volkswirthschaft ist derjenige eines Mannes, dem seine eignen Interessen obenan stehen, und der deshalb bei allen andern Individuen dasselbe voraussetzt. Das grosse Interesse dieser Periode ist aber nicht mehr, wie im Alterthum der unmittelbare Genuss, sondern die Kapitalbildung.

Die vielgescholtne Genusssucht unsrer Zeiten ist vor dem vergleichenden Blick über die Culturgeschichte bei weitem nicht so hervorragend, als die Arbeitssucht unsrer industriellen Unternehmer und die Arbeitsnoth der Sklaven unsrer Industrie. Ja, vielfach ist das, was als lärmende und sinnlose Freude an eitlen Vergnügungen erscheint, eben nur eine Folge der übermässigen, aufreibenden und abstumpfenden Arbeit, indem der Geist durch das beständige Hetzen und Wühlen im Dienst des Erwerbs die Fähigkeit zu einem reineren, edleren und ruhig gestalteten Genusse einbüsst. Es wird dann eben auch die Erholung unwillkürlich mit der fieberhaften Hast des Gewerbes betrieben und das Vergnügen nach den Kosten bemessen und gleichsam pflichtmässig in den dazu bestimmten Tagen und Stunden abgemacht. Dass ein solcher Zustand nicht gesund ist und auf die Dauer schwerlich bestehen kann, scheint einleuchtend, allein nicht minder klar ist, dass in der gegenwärtigen Arbeits-Epoche ungeheure Leistungen vollbracht werden, welche in einer späteren Zeit wohl dazu dienen können, die Früchte einer höheren Cultur den weitesten Kreisen zugänglich zu machen. Was an dem gebildeten und durchgeistigten Genuss eines Epikur und Aristipp die Schattenseite bildete, die selbstgenügsame Beschränkung auf einen engen Freundeskreis oder gar auf die eigne Person, das tritt heutzutage selbst unter begüterten Egoisten nicht oft hervor, und eine Philosophie, die sich darauf gründete, würde schwerlich irgend eine allgemeinere Bedeutung gewinnen können. Die Mittel zum Genuss zusammenraffen, und dann diese Mittel nicht auf den Genuss, sondern grösstenteils wieder auf den Erwerb und nochmals auf den Erwerb verwenden: das ist der vorherrschende Charakter unsrer Zeit. Würden alle Diejenigen, welche ein mehr als mittelmässiges Vermögen erworben haben, sich aus dem Geschäftsleben zurückziehen und fortab ihre Musse den öffentlichen Angelegenheiten, der Kunst und Literatur, und endlich einem gebildeten, mit massigen Mitteln unterhaltenen Lebensgenuss widmen, so würden nicht nur diese Personen ein schöneres, würdigeres Dasein führen, sondern es wäre auch eine hinreichende materielle Basis vorhanden, um eine edlere Cultur mit allen ihren Anforderungen dauernd zu unterhalten und dadurch unsrer gegenwärtigen Geschichtsperiode einen höheren Gehalt zu geben, als der des classischen Alterthums. Vermuthlich aber würden dadurch den Geschäften grössere Kapitalien entzogen als jetzt durch den unsinnigsten Luxus, und vielleicht könnte diese Cultur nur einem geringen Theil der Bevölkerung wahrhaft zu gute kommen. Allerdings liegt auch jetzt die Sache für die grosse Masse der Bevölkerung betrübend genug. Wenn all die riesige Kraft unsrer Maschinen und die durch Theilung der Arbeit so unendlich vervollkommneten Leistungen der Menschenhand darauf verwandt würden, um Jedem das zu geben, was erforderlich ist, um das Leben erträglich zu machen und dem Geist Musse und Mittel zu seiner höheren Entfaltung zu bieten, so wäre vielleicht schon jetzt die Möglichkeit vorhanden, ohne Beeinträchtigung der geistigen Aufgabe der Menschheit, die Segnungen der Cultur über alle Stände zu verbreiten; allein dies ist bisher nicht die Richtung der Zeit. Es ist wahr, dass Kräfte über Kräfte erzeugt, stets neue Maschinen erdacht, neue Mittel des Verkehrs ersonnen werden; es ist wahr, dass die Kapitalisten, welche über alle diese Mittel gebieten, unablässig weiter schaffen, statt die Früchte ihrer Arbeit in würdiger Musse zu geniessen; allein trotzdem zielt die stets vermehrte Thätigkeit direkt auf nichts weniger ab, als auf die Förderung des Gemeinwohls. Wo die geistige Genussfähigkeit fehlt, da stellen sich Bedürfnisse ein, welche immer schneller wachsen, als die Mittel zu ihrer Befriedigung.

Es ist ein Lieblingssatz des ethischen Materialismus unsrer Tage, dass der Mensch um so glücklicher sei, je mehr Bedürfnisse er habe, bei gleich ausreichenden Mitteln zu ihrer Befriedigung. Das ganze Alterthum war einmüthig entgegengesetzter Ansicht. Epikur suchte nicht minder wie Diogenes das Glück in der Freiheit von Bedürfnissen, nur dass jener das Glück, dieser die Bedürfnislosigkeit hauptsächlich in's Auge fasste. Nun ist allerdings in unsrer Zeit durch die genauere Kenntniss des Volkslebens und namentlich durch die Statistik der Todesfälle, Krankheiten u. s. w. das alte Mährchen von dem zufriednen und gesunden Armen und dem stets hypochondrischen und schwächlichen Reichen glücklich widerlegt. Man misst den Werth der irdischen Güter an der Scala der Mortalitätstabellen und man findet, dass selbst die Sorgen gekrönter Häupter bei weitem nicht so nachtheilig auf das Wohlbefinden wirken, als Hunger, Kälte und schlecht gelüftete Wohnungen. Anderseits sind aber auch die Wissenschaften hinlänglich vorgeschritten, um einen Wahrscheinlichkeitsschluss zu erlauben, der jenem materialistischen Satze schlechthin widerspricht. Die Culturgeschichte zeigt uns, dass zu den Zeiten, wo Fürstinnen in gemauerten Wandnischen schliefen, weite Reisen zu Pferde machten und ihr Frühstück mit Speck, Brod und Bier besorgten, das Glück dieser Personen den Zeitgenossen nicht geringer schien, als heutzutage, wo sie in prachtvollen Salonwagen Europa durchfliegen und auf jedem Punkte über die Produkte aller Zonen gebieten. Die Analogieen der Psychophysik machen es uns sehr wahrscheinlich, dass die Empfindung persönlichen Glückes so relativ ist, wie die Empfindungen der Sinne: es ist der Unterschied der wahrgenommen wird; es ist der Zuwachs der empfunden, und der mit der Masse des bereits Vorhandenen gemessen wird. In der That wird kein Vernünftiger glauben, dass die physische Beschaffenheit reicher Brüsseler Spitzen mehr zum Wohlbefinden einer damit behängten Person beitragen könne, als irgend ein andrer bequem sitzender und dem Auge wohlgefälliger Schmuck von vergleichsweise verschwindendem Werthe. Und doch kann der Besitz dieser Spitzen »Bedürfniss« werden; die Unmöglichkeit, sie zu beschaffen, kann den lebhaftesten Aerger hervorrufen; ihr plötzlicher Verlust kann die Ursache von Thränen werden. Es ist klar, dass hier der Vergleich, der Kampf um den Vorrang bei dem Bedürfniss die wesentlichste Rolle spielt, und daraus ergiebt sich sofort, dass wenigstens diese eine Art von Bedürfniss, das Bedürfniss Andre zu übertreffen, einer Steigerung in's Unendliche fähig ist, ohne dass für das Wohlbefinden irgend eines Betheiligten etwas gewonnen würde, was nicht für den andern verloren ginge. Hieraus ergiebt sich ferner unwiderleglich, dass eine beständige Steigerung der Gütererzeugung und der Mittel zur Gütererzeugung denkbar ist, ohne dass der Genuss irgend eines Menschen wesentlich erhöht wird, und ohne dass die arbeitende Masse sich dem Ziele der Erringung des Nöthigsten zu einem menschenwürdigen Dasein auch nur um einen Schritt nähert. Eine solche Steigerung der Bedürfnisse aller derer, welche sie befriedigen können, in Folge mangelnden Gemeinsinns und überwuchernder Pleonexie, gehört in der That zu den Charakterzügen unsrer Zeit. Die Statistik des Handels und der Industrie der meisten Länder zeigt unwiderleglich, dass ein ungeheurer Aufschwung von Macht und Reichthum stattfindet, während die Verhältnisse der arbeitenden Klasse keinen entschiednen Fortschritt verrathen, und ohne dass die Hast und Gier des Erwerbs in den besitzenden Klassen sich auch nur im mindesten mässigte. Man lebt in der That nicht dem Genuss, sondern der Arbeit und den Bedürfnissen; allein unter diesen Bedürfnissen ist dasjenige der Pleonexie so überwiegend, dass alle wahren und dauernden, alle der Masse des Volkes zu gute kommenden Fortschritte versäumt oder gleichsam nur nebenbei gewonnen werden.

Man kann nun diese an sich sehr unerfreuliche Thatsache unter einen versöhnenden Gesichtspunkt bringen, wenn man sich denkt, dass früher oder später sich auf diesem oder jenem Wege eine veränderte Geistesrichtung Bahn bricht, während die Kräfte der Gütererzeugung grösstenteils erhalten bleiben. Es könnte sich wieder die Ansicht geltend machen, welche der Grundstein der classischen Bildung war, dass es ein gewisses Maass giebt, welches in allen Dingen am heilsamsten ist, und dass der Genuss nicht von der Masse der befriedigten Bedürfnisse und von der Schwierigkeit ihrer Befriedigung abhängt, sondern von der Form, in welcher sie erzeugt und befriedigt werden, gleichwie die Schönheit des Körpers nicht durch massenhafte Stoffanhäufung, sondern durch die Einhaltung bestimmter mathematischer Linien bedingt wird. Ein solcher Umschwung der Ansichten würde vom ethischen Materialismus zum Formalismus oder Idealismus hinüberleiten; er wäre ohne Beseitigung der wuchernden Pleonexie nicht denkbar und würde somit wohl aus einer grossartigen Belebung des Gemeinsinns entspringen müssen.

Die Volkswirtschaft hat es sich bisher noch nicht zur Aufgabe gemacht, die Vertheilung der Güter auf richtige Grundsätze zurückzuführen; vielmehr nahm sie in dieser Beziehung das aus dem Verhältniss von Kapital und Arbeit hervorgehende Resultat als gegeben an und beschäftigte sich nur mit der Frage, wie überhaupt die grösstmögliche Masse von Gütern erzeugt wird. Diese materialistische Auffassung des Gegenstandes harmonirt vollständig mit der Anerkennung des Egoismus und mit der Vertheidigung oder Beschönigung der Pleonexie. Man sucht zu beweisen, dass der durch das rastlose Streben des Egoismus hervorgebrachte Fortschritt doch auch die Lage der gedrücktesten Schichten der Bevölkerung stets einigermassen bessert, und man vergisst hier jene Bedeutung der Vergleichung mit Andern, welche bei den Reichen eine so grosse Rolle spielt. Angesichts der schreiendsten Missstände träumt man sich eine Art prästabilirter Harmonie, vermöge welcher das günstigste Resultat für die Gesammtheit herauskommt, wenn Jeder rücksichtslos seine eignen Interessen verfolgt. Geschieht dies auch heute meist mit dem Sünderbewusstsein aller Apologeten, so geschah es doch zur Zeit der ersten Ausbildung der Volkswirthschaft mit unverkennbarer Naivetät. Es war im vorigen Jahrhundert allgemein üblich, das Wohl des Ganzen aus dem Zusammenwirken aller egoistischen Bestrebungen abzuleiten. So sehr man auch gegen die Uebertreibungen in Mandeville's berüchtigter Bienenfabel (1723) zu protestiren bereit war, so war doch der Grundsatz, dass selbst die Laster zum Gemeinwohl beitragen, gewissermassen ein geheimer Artikel der Aufklärung, der selten erwähnt, aber nie vergessen wurde. Und auf keinem Gebiete ist der Schein der Wahrheit so sehr für einen solchen Satz, als grade auf dem der Volkswirthschaft. Die Sophismen eines Helvetius sind in dem schimmernden Gewande der Rhetorik doch leicht zu durchschauen, und jeder Versuch, sogar die Tugenden der Vaterlandsliebe, der Aufopferung für den Nächsten und der Tapferkeit aus dem Princip der Selbstliebe zu erklären, musste daran scheitern, dass in diesem Falle der natürliche Verstand mit der wissenschaftlichen Kritik übereinstimmend widerspricht. Anders in der Volkswirtschaft. Ist doch die Tendenz derselben von Haus aus auf die Förderung des materiellen Volkswohls gerichtet, und da liegt es so nahe anzunehmen, dass der Fortschritt der Gesammtheit einfach die Summe aller Fortschritte der Individuen ist; das Individuum aber – so viel schien die kaufmännische Erfahrung aller Zeiten unbestreitbar zu ergeben – das Individuum kann zu materiellem Wohlstand nur durch rücksichtslose Verfolgung seiner eignen Interessen gelangen; mag dann die Tugend auf andern Gebieten geübt werden, so weit die Mittel es erlauben!

Wäre die Volkswirthschaft von Anfang an nur mit der bewussten Absicht auf den Egoismus basirt worden, um durch Abstraktion von andern Motiven einstweilen eine hypothetische und innerhalb der Schranken der Hypothese exakte Wissenschaft zu gewinnen, als Vorstufe einer volleren Erkenntniss: dann könnte von einem tadelnswerten Materialismus auf diesem Gebiete keine Rede sein. Statt dessen wurden die praktischen Maximen des kaufmännischen Erwerbs im täglichen Leben auf die Nationen im Grossen übertragen. Man trennte die Frage des materiellen Fortschritts der Völker von den ethischen Fragen grade so, wie sie im bürgerlichen Handel und Wandel längst getrennt waren. Es ging nicht um die Form der Besitzverhältnisse, sondern um die Masse und den Handelswerth der Güter, und statt zu fragen, wie würde der Mensch handeln, wenn er nur Egoist wäre, fragte man, wie handelt der Mensch auf dem Gebiet, auf welchem der Egoismus allein maassgebend ist. Die erstere Frage ist die des exakten Theoretikers; die letztere die der populären Praxis, die auf keinem Gebiet so eifrig gestrebt hat, die eigentliche Wissenschaft zu ersticken, wie auf dem der Volkswirthschaft.

Die Idee, dass es ein besondres Lebensgebiet gebe für das Handeln nach Interessen und wieder ein andres für die Uebung der Tugend, gehört noch heute zu den Lieblings-Ideen des oberflächlichen Liberalismus, und in weit verbreiteten populären Schriften, wie Schulze's Arbeiterkatechismus, wird sie ganz unverholen gepredigt. Ja, man hat sogar eine Art von Pflichtenlehre daraus gemacht, die man im täglichen Leben viel häufiger aussprechen hört, als in der Literatur. Wer es unterlässt, eine ihm zustehende Schuldforderung nöthigen Falls mit aller Strenge des Gesetzes einzutreiben, der muss entweder ein reicher Mann sein, der sich dergleichen erlauben kann, oder er unterliegt dem schärfsten Tadel. Dieser Tadel richtet sich nicht nur gegen seinen Verstand, gegen seine Charakterschwäche oder überflüssige Gutmüthigkeit, sondern gradezu gegen seine Sittlichkeit. Er ist ein leichtsinniger, nachlässiger Mensch, der seine Interessen nicht pflichtmässig wahrnimmt, und wenn er Frau und Kinder hat, so ist er, auch ohne dass diese schon Mangel empfinden müssten, ein gewissenloser Hausvater. Ebenso urtheilt man aber auch über denjenigen, welcher seine Kräfte zum Nachtheil des Privatvermögens dem öffentlichen Besten widmet. Wer dies mit besonderm Erfolg thut, erhält allerdings Absolution und allgemeinen Beifall, einerlei ob er seinen Erfolg dem Zufall oder seiner Kraft verdankt; so lange aber dies Gottesurtheil des Pöbels und der Fatalisten nicht gesprochen hat, behauptet das gemeine Urtheil sein Recht. Es verdammt den Dichter und Künstler so gut wie den wissenschaftlichen Forscher und den Politiker, und selbst der religiöse Agitator findet nur dann Anerkennung, wenn er eine Gemeinde zu bilden, ein grosses Institut zu schaffen weiss, dessen Direktor er wird, oder wenn er sich zu kirchlichen Würden emporschwingt; niemals aber, wenn er ohne auf Ersatz zu hoffen, eine äussere Stellung seiner Ueberzeugung opfert.

Es versteht sich von selbst, dass wir hier nur die Gesinnung des grossen Haufens der besitzenden Klasse kennzeichnen, die aber dadurch, dass sie zur Dogmatik des täglichen Lebens ausgebildet ist, ihren Einfluss auch auf solche ausübt, die persönlich von edleren Trieben nicht frei sind. Bevor wir nun den Werth dieser Dogmatik des Egoismus genauer bestimmen können, ist es unerlässlich, die Quelle des natürlichen Egoismus und den Ursprung der entgegengesetzt wirkenden Triebe im Lichte der in den früheren Abschnitten gewonnenen Grundanschauung zu betrachten.

Wenn es wahr ist, dass unser eigner Körper nur eins unsrer Vorstellungsbilder ist, gleich allen übrigen, wenn sonach unsre Mitmenschen, wie wir sie vor uns sehen, gleich der ganzen Natur um uns her, in einem sehr bestimmten Sinne Theile unsres eignen Wesens sind; woher kommt der Egoismus? Offenbar zunächst daher, dass die Vorstellungen von Schmerz und Lust und unsre Triebe und Begierden grösstenteils mit dem Bilde unsres Körpers und seiner Bewegungen verschmelzen. Dadurch wird der Körper zum Mittelpunkt der Erscheinungswelt; ein Verhältniss, das, wie wir sicher annehmen dürfen, auch in der jenseitigen Natur der Dinge begründet liegt.

Ohne diesen Faden weiter zu verfolgen, müssen wir nun darauf hinweisen, dass keineswegs alle Vorstellungen, welche mit Lust und Unlust verbunden sind, sich direkt auf unsern Körper beziehen. Die feinere Sinnenfreude, die Lust am Schönen namentlich, verschmilzt nicht mit dem Vorstellungsbilde des Körpers, sondern mit dem des Objektes. Erst wenn ich das Auge schliesse, mit dem ich auf eine herrliche Landschaft hinausgeschaut habe, werde ich des Verhältnisses auch dieser Gegenstände zu meinem Körper gewahr. Was der Dichter von einem Versenken in die Anschauung sagt, von einem Aufgehen in der Betrachtung, ist physiologisch und psychologisch weit richtiger, als die gewöhnliche Projektionslehre der angeblich wissenschaftlichen Betrachtung. Sonach bildet die viel gescholtne Sinnenlust an sich ein natürliches Gegengewicht gegen das Aufgehen im Ich, und erst durch Vermittlung der Reflexion kann sie dem Egoismus wieder Nahrung geben.

Weit wichtiger ist nun aber die moralische Entwicklung durch Betrachtung der Menschenwelt und Versenkung in ihre Erscheinungen und Aufgaben. Das Aufgehen in diesem Objekt, wie es sich uns ebenfalls durch die Sinne als Theil unsres eignen Wesens ergiebt, ist der natürliche Keim alles dessen, was in der Moral unvergänglich ist und werth erhalten zu werden. Eine Ahnung davon mochte Adam Smith haben, als er die Moral auf die Sympathie begründete; allein er fasste die Sache viel zu eng. Er fasste im Grunde nur diejenigen Fälle ins Auge, in welchen wir die Geberden und Bewegungen unsrer Mitmenschen durch Erinnerungen oder Phantasiebilder von Schmerz und Lust deuten nach dem, was wir an uns selbst empfunden haben. Darin liegt aber eine versteckte Zurückführung auf egoistische Motive, die nur nebensächlich, unterstützend mitwirken, während die stille und beständige Uebertragung unsres Bewusstseins auf das Objekt dieser menschlichen Erscheinungswelt die wahre Quelle sittlicher Veredlung bildet und das Uebergewicht des Egoismus beseitigt.

Nach diesen Andeutungen vermag jeder Leser es sich selbst auszuführen, wie derselbe Fortschritt der Cultur, welcher in gereiften Epochen der Kunst, die Wissenschaft erzeugt, auch zur Bändigung des Egoismus, zur Ausbildung menschlicher Theilnahme und zum Vorwalten gemeinsamer Zwecke führt. Mit einem Wort: es giebt einen natürlichen sittlichen Fortschritt.

Buckle hat in seinem berühmten Werke über die Geschichte der Civilisation in England einen unrichtigen Gesichtspunkt angewandt, um zu beweisen, dass der faktische Fortschritt der Sitten gleich dem Fortschritt der Cultur überhaupt wesentlich auf der intellektuellen Entwicklung beruhe. Wenn man zeigt, dass gewisse einfache Grundsätze der Moral von den Tagen der Abfassung der indischen Veden bis heute sich nicht wesentlich geändert haben, so kann man dem entsprechend auf die einfachen Grundsätze der Logik hinweisen, die ebenfalls unverändert geblieben sind. Man könnte sogar behaupten, dass die Grundregeln des Erkennens seit undenklichen Zeiten dieselben geblieben sind, und dass die vollkommnere Anwendung, welche die Neuzeit von diesen Regeln gemacht hat, wesentlich moralischen Gründen zuzuschreiben ist. In der That waren es moralische Eigenschaften, welche die Alten dazu führten, frei und individuell zu denken, aber mit einem gewissen Maass der Erkenntniss sich zu begnügen und mehr Werth auf die Durchbildung der Persönlichkeit zu legen, als auf den einseitigen Fortschritt im Wissen. Es war der moralische Grundzug des Mittelalters, Autoritäten zu bilden, Autoritäten zu gehorchen, und die freie Forschung durch eine formelhafte Ueberlieferung zu beschränken. Moralischer Natur war die Selbstverleugnung und Standhaftigkeit, mit welcher beim Beginn der Neuzeit ein Kopernikus, ein Gilbert und Harvey, ein Kepler und Vesal ihre Ziele verfolgten. Ja, es lässt sich sogar eine Analogie nachweisen zwischen den sittlichen Principien des Christenthums und dem Verfahren der Forscher; denn nichts wird von diesen so streng verlangt, als Verleugnung ihrer Grillen und Liebhabereien, Losreissung von den Meinungen der Umgebung und gänzliche Hingabe an das Objekt. Von den grössten Forschern kann man sagen, dass sie sich selbst und der Welt absterben mussten, um im Verkehr mit der offenbarenden Stimme der Natur ein neues Leben zu führen. Doch wir wollen diesen Gedanken hier nicht weiter verfolgen. Wir haben der Einseitigkeit Buckle's ihr Gegenstück zur Seite gestellt. In der That ist weder der intellektuelle Fortschritt wesentlich eine Folge des moralischen, noch auch umgekehrt; wohl aber entstammen beide derselben Wurzel: der Vertiefung in das Objekt, der liebevollen Umfassung der gesammten Erscheinungswelt, und der natürlichen Neigung, sich diese harmonisch zu gestalten.

Wie es aber einen sittlichen Fortschritt giebt, der darauf beruht, dass die Harmonie unsres Weltbildes allmählig über die wilden Störungen der Triebe und der heftigeren Empfindungen von Lust und Schmerz das Uebergewicht erlangt, so schreiten auch die sittlichen Ideale fort, nach welchen der Mensch sich seine Welt gestaltet. Es kann nichts unrichtiger sein, als wenn Buckle den Fortschritt der Civilisation aus der Zusammenwirkung eines veränderlichen Elementes, des intellektuellen, und eines stationären, des moralischen, ableitet. Wenn Kant gesagt hat, in der Moralphilosophie seien wir nicht weiter gekommen, als die Alten, so hat er ungefähr dasselbe auch von der Logik gesagt, und mit dem Fortschritt der sittlichen Ideale, welche ganze Zeitperioden bewegen, hat diese Bemerkung wenig zu schaffen. Wie himmelweit verschieden ist der antike Tugendbegriff vom christlichen! Unrecht abwehren und Unrecht dulden, die Schönheit verehren und die Schönheit verachten, dem Gemeinwesen dienen und das Gemeinwesen fliehen sind nicht nur zufällige Züge einer verschiednen Gemüthsrichtung bei gleichen sittlichen Grundsätzen, sondern Gegensätze, die aus einem bis in den tiefsten Grund verschiednen Moralprincip hervorgehen. Das ganze Christenthum war vom Standpunkt der antiken Welt aus entschieden unsittlich und würde noch weit mehr in diesem Lichte erschienen sein, wenn nicht das sittliche Ideal des Alterthums bereits in Zersetzung gewesen wäre, als die neuen, fremdartigen Grundsätze auftraten. Eine ähnliche Zersetzung der sittlichen Ideale und Vorbereitung eines neuen, höheren Standpunktes scheint in der Gegenwart vor sich zu gehen, und dadurch wird auch die Aufgabe schwieriger und zugleich bedeutender, der Dogmatik des Egoismus, wie sie uns in der Volkswirthschaft und in den Grundsätzen des bürgerlichen Verkehrs entgegentritt, ihre Stelle anzuweisen.

Es könnte einen Augenblick scheinen, als sei eben diese Dogmatik des Egoismus das neue sittliche Princip, welches bestimmt ist, die Grundsätze des Christenthums zu ersetzen. Die Aufklärung des vorigen Jahrhunderts, die mit dem physikalischen Materialismus nur liebäugelte, hatte den ethischen adoptirt. Die Ausbildung der materiellen Interessen ist Hand in Hand gegangen mit dem Zerfall der alten Kirchenmacht. Die Ausbildung der Naturwissenschaften hat hier zerstörend, dort bauend gewirkt; mit dem Bau der materiellen Interessen ging aber die Entwicklung der Volkswirthschaftslehre und mit dieser die Dogmatik des Egoismus in gleichem Schritt. Es könnte sonach scheinen, als sei es ein und dasselbe Princip, welches den überlieferten Formen des Christenthums gegenüber destructiv und in Beziehung auf den materiellen Aufschwung der Gegenwart positiv einwirkt; und ein solches zugleich auflösendes und neu schaffendes Ferment für die Gegenwart wäre dann das Princip des Egoismus.

Wir haben bereits oben gesehen, wie sehr auf wirthschaftlichem Gebiet der Schein für die höhere Berechtigung des Egoismus spricht, und wenn es ohne eitle Sophistik unmöglich bleibt, Tugenden wie Vaterlandsliebe, Aufopferung für den Nächsten und ähnliche auf dies Princip zu begründen, so ist es vielleicht doch sehr wohl möglich, diese Tugenden zu entbehren. Wir müssen uns einen Augenblick den Gedanken gefallen lassen, dass die Verfolgung persönlicher Interessen das einzige Motiv der menschlichen Handlungen in Zukunft werden könnte, wenn auch Voltaire und Helvetius entschieden Unrecht hatten, als sie erklärten, es sei bereits so, es gebe keine andre Triebfeder für die menschlichen Handlungen, als die Eigenliebe. Und man darf nicht verkennen, dass es wenigstens nicht a priori undenkbar ist, dass ein solches Princip – sehr verschieden von demjenigen Mandevilles! – sich, statt aus dem Verfall, vielmehr aus dem moralischen und intellektuellen Fortschritt ergäbe. Es ist dies ein Punkt, der der genauesten und unbefangensten Prüfung bedarf und durchaus nicht nach einer vorgefassten Meinung erledigt werden kann. Und zwar wollen wir, um Missverständnisse zu verhüten, die paradoxeste Seite der Sache gleich vorab in das richtige Licht stellen. Dass nämlich der intellektuelle Fortschritt dazu beitragen könnte, den Egoismus zugleich allgemeiner und unschädlicher, zweckmässiger zu machen, wird noch leicht zugegeben werden; wie aber könnte der moralische Fortschritt, und zwar der moralische Fortschritt in dem bestimmten Sinne, in welchem wir ihn oben Buckle gegenüber betonten, dazu mitwirken, den Egoismus zum allgemeinen Princip zu machen, während es doch das ganze Wesen dieses Fortschrittes ist, über das Ich hinaus, auf das Allgemeine hinzuführen?

Die Antwort auf diese Frage führt uns mit einem Schlage die Consequenzen der verbreitetsten volkswirtschaftlichen Theorie vor Augen.

Ist es nämlich wahr, dass die Interessen der Gesammtheit am besten gewahrt werden, wenn am wenigsten absichtlich für die Gesammtheit gesorgt wird, wenn die Individuen am ungestörtesten ihre eignen Interessen verfolgen: dann wird die ausschliessliche Verfolgung der eignen Interessen im praktischen Leben

  1. eine Frucht gereifter Einsicht sein,

  2. eine Tugend, und zwar die Cardinaltugend.

Es wird die Zurückdrängung derjenigen Triebe, welche uns zur aufopfernden Thätigkeit für den Nächsten verleiten wollen, der wesentlichste Theil der Selbstüberwindung werden, und die Kraft zu dieser Selbstüberwindung wird derjenige, welcher in Anfechtung fällt, aus dem Hinblick auf das Getriebe des grossen Ganzen nehmen, dessen Harmonie ja eben gestört wird, wenn wir jenen Regungen unsres Herzens folgen, welche man ehemals als edle, uneigennützige, hochherzige zu loben pflegte. Jene Regungen der Sympathie, welche aus der Hingabe an das Objekt hervorgehen, werden wieder aufgehoben durch die Hingabe des Gemüths an das grössere Objekt, an das vom harmonischen Egoismus beseelte Getriebe der gesammten Menschenwelt.

Nachdem so die Frage scharf gestellt ist, wird man auch einsehen, dass die Entscheidung nicht so ganz leicht ist. Wem fällt hierbei nicht ein, wie oft er mit Selbstüberwindung einen Bettler abgewiesen hat, weil er weiss, dass das Almosen das Elend nur nährt, wie das Oel die Flamme? Wer erinnert sich nicht an all die unseligen Beglückungsversuche, welche die Welt mit Blut und Brand verheert haben, während bei Völkern, wo Jeder für sich sorgte, Reichthum und Wohlstand sich entfalteten. In der That ist so viel auf der Stelle zuzugeben, dass die Sympathie ebensowohl zu Verkehrtheiten leiten kann, wie der Egoismus, und dass stets, die Rücksicht auf das grössere Ganze manche Handlungen verbieten wird, welche aus Aufopferung für ein kleineres Ganze oder für einzelne Personen hervorgehen würden. Nun kann man freilich leicht einwerfen, dass eine solche Rücksicht auf das grosse Ganze ja gar kein Egoismus sei, sondern das Gegentheil; allein dieser Einwurf ist eben so leicht wieder zurückzuwerfen.

Ist nämlich der Lehrsatz von der Harmonie der Sonderinteressen wahr; ist es richtig, dass das beste Resultat für die Gesammtheit sich ergiebt, wenn jeder Einzelne am ungestörtesten für sich selbst sorgt: dann ist es auch ferner unvermeidlich wahr, dass es am Vortheilhaftesten ist, wenn Jeder seine Interessen verfolgt, ohne mit unnützen Reflexionen Zeit zu verlieren. Der naive Egoist befindet sich im Stande der Unschuld und thut unbewusst das Rechte; die Sympathie ist der moralische Sündenfall, und wer sich erst an das Getriebe des grossen Ganzen erinnern muss, um zu derselben Tugend zurückzukehren, die ein roher Spekulant in Einfalt ausübt, der kommt nur auf einem mit Nothwendigkeit in der menschlichen Natur begründeten Umwege wieder dahin zurück, von wo die Kindheit der Menschheit ausging. Auf diesem Wege mag sich der Egoismus geläutert, gemildert, aufgeklärt haben; er mag richtigere Mittel gelernt haben, das eigne Wohl zu befördern, aber sein Princip, sein Wesen ist wieder das ursprüngliche.

Die Fragen, ob die Dogmatik des Egoismus die Wahrheit lehrt und ob die Volkswirthschaft auf dem richtigen Wege ist mit der einseitigen Fortbildung der Freihandelslehre, entscheiden sich beide an der Frage, ob die Idee von der natürlichen Harmonie der Interessen ein Hirngespinnst ist, oder nicht; denn die extremen Freihandels-Theoretiker haben keinen Anstand genommen, ihre Lehre auf den obersten Grundsatz des Laissez faire zu begründen. Diesen Grundsatz aber haben sie nicht etwa nur als eine Maxime der Nothwehr gegen schlechte Regierungsweise hingestellt, sondern als nothwendige Folge aus dem Dogma, dass die Summe aller Interessen am besten besorgt wird, wenn jeder Einzelne für sich selbst sorgt. Ist dieses Dogma einmal so tief eingewurzelt, dass es die entgegenstehenden Erwägungen überwiegt, so darf man sich nicht mehr wundern, wenn hier der Name ›Nation‹ als ein leerer Begriff der Grammatik bezeichnet und der Schutz des Seehandels durch Kriegsschiffe verworfen wird ( Cooper, 1826), während dort die blutigen Eroberungen eines Abenteurers nur als eine besonders schwierige und daher besonders lohnbringende Arbeit betrachtet werden ( Max Wirth). Beides stammt aus derselben Quelle: aus der rein atomistischen Auffassung der Gesellschaft, bei welcher alle gewöhnlich sittlich genannten Motive wegfallen und nur durch eine Inconsequenz wieder eingeführt werden können.

Wir haben bereits gesehen, dass die rein atomistische Auffassung der Gesellschaft als Hülfsmittel einer Methode allmähliger Annäherung an die Wahrheit viel für sich hat, während sie als Dogma falsch ist; hier müssen wir nun auch noch bemerken, dass die Theorie des Egoismus und der natürlichen Harmonie aller Interessen in ihrer praktischen Anwendung grosse culturgeschichtliche Fortschritte gebracht hat. Der gebildete Egoismus, das lässt sich nicht leugnen, ist ein ordnendes Princip der Gesellschaft so gut wie manches andre bereits dagewesene Princip, und für gewisse Uebergangszeiten vielleicht das heilsamste, ohne dass ihm deshalb schon eine höhere Bedeutung zuzusprechen wäre. Das Freihandelssystem hat einen ungeheuren Aufschwung in die Produktion der Culturvölker gebracht. Die zunächst dem Zug der Interessen folgende Spekulation hat so viel dazu beigetragen, Europa mit Verkehrswegen zu versehen, den Handel zu regeln, die Geschäfte solider und reeller zu machen, den Zinsfuss herabzudrücken, den Credit zu vermehren und zu versichern, den Wucher einzuschränken, den Betrug seltner zu machen, dass kein Fürst, kein Minister, kein Philosoph, kein Menschenfreund mit dem Princip aufopfernder Thätigkeit, wohlmeinender Belehrung, weiser Gesetzgebung einen auch nur von ferne ähnlichen Einfluss üben konnte, wie ihn die allmählige Beseitigung der Schranken geübt hat, die der freien Thätigkeit des Individuums in den feudalen Einrichtungen des Mittelalters entgegenstanden. Seit dem Bestehen der Armensteuer – deren Einführung freilich einem andern Princip entwuchs – sind mehr wohlthätige Anstalten und tiefgreifende Verbesserungen dem Verlangen entwachsen, diese Steuer nicht zu hoch anschwellen zu lassen, als je durch Mitleid oder werkthätige Anerkennung einer höheren Pflicht hätten geschaffen werden können. Ja, man kann sogar vermuthen, dass eine fünf- bis sechsmalige Wiederholung grosser und blutiger Social-Revolutionen, wenn auch mit Intervallen von Jahrhunderten, schliesslich die Pleonexie der Reichen und Mächtigen wirksamer durch die Furcht eindämmen würde, als es durch die Hingabe des Gemüthes an die gemeinsamen Angelegenheiten und durch das Princip der Liebe bewirkt werden könnte.

Vorab muss bemerkt werden, dass die grossen Fortschritte der Neuzeit doch wohl eigentlich nicht durch den Egoismus als solchen bewirkt sind, sondern durch die Freigebung der Bestrebungen für den Privatvortheil gegenüber der Unterdrückung des Egoismus der Mehrzahl durch den stärkeren Egoismus der Minderzahl. Es ist nicht etwa die väterliche Fürsorge, die in früheren Zeiten den Rang einnahm, den jetzt die freie Concurrenz einnimmt, sondern das Privilegium, die Ausbeutung, der Gegensatz von Herr und Knecht. Die wenigen Fälle, in welchen die frühere gesellschaftliche Ordnung das Wohlwollen edler Regenten oder die Intelligenz bedeutender Volksfreunde zur Geltung kommen liess, haben sehr schöne Resultate ergeben. Man darf nur an Colbert erinnern, an dessen erfolgreiche Thätigkeit nicht umsonst der schutzzöllnerische Carey wieder anknüpft. Man muss stets bedenken, dass wir eben bisher nur den Gegensatz herrschender Dynasten-Interessen gegen das freigegebne Privat-Interesse kennen, aber nicht einen reinen Gegensatz zwischen einem egoistischen Princip und dem des Gemeinsinns. Gehen wir aber auf die besseren Zeiten der Republiken des Mittelalters und des Alterthums zurück, so sehen wir da den Gemeinsinn zwar lebendig, aber in so engen Kreisen, dass eine Vergleichung mit der Gegenwart kaum möglich ist. Und dennoch ergiebt selbst eine so mangelhafte Vergleichung, dass der tiefe Zug von Missvergnügen, welcher die Gegenwart durchzieht, sich in keinem Gemeinwesen findet, in welchem jeder Einzelne seinen Egoismus im Hinblick auf die gemeinsamen Angelegenheiten im Zaume hält.

Versuchen wir, die Berechtigung der Lehre von der Harmonie der Interessen einer direkten Prüfung zu unterwerfen, so müssen wir zur Vereinfachung der Frage zunächst eine Republik gleich befähigter und unter gleichen Verhältnissen wirkender Individuen annehmen, welche Alle mit ihrer ganzen Kraft soviel als möglich zu erwerben streben. Es versteht sich von selbst, dass diese mit einem Theil ihrer Kraft einander hemmen werden, mit einem andern Theile dagegen Güter produciren, welche der Gesammtheit zu gute kommen. Eine Aufhebung der Hemmung ist nur auf zwei Wegen denkbar: entweder wenn Alle nur für die Gesammtheit erwerben, oder wenn jedes einzelne Individuum ohne jede Concurrenz seinen getrennten Erwerbskreis hat. Sobald es vorkommen kann, dass zwei oder mehrere Individuen dasselbe Objekt zu erwerben oder für den Erwerb zu benutzen streben, wird die Hemmung da sein.

Wenden wir diese Abstraktion auf menschliche Verhältnisse an, so sehen wir zunächst den Keim zweier Ideen: der des Communismus und der des Privateigenthums.

Die Menschen sind nun aber keine so einfachen Wesen, und es ist denkbar, dass sie zur völligen Durchführung der einen oder andern Idee durchaus nicht befähigt sind. In einem Zustande der Gütergemeinschaft wird das rein egoistische Streben sich auf Unterschlagung eines Theiles der Güter richten, bei einem reinen System des Privateigenthums dagegen auf Vergrösserung des eigenen Besitzes durch Uebervortheilung der andern. Wir nehmen nun ferner an, dass in unsrer Republik sowohl gemeinsame, als auch in gesondertem Besitz befindliche Güter sind, und dass es gegen Unterschlagung und Uebervortheilung gewisse Schranken giebt, welche allgemein anerkannt werden; so jedoch, dass immerhin noch rechtmässige Mittel übrig bleiben, durch welche sich der Einzelne sowohl bei dem Genuss der gemeinsamen Güter einen Vorzug verschaffen, als auch seinen Privatbesitz vergrössern kann. Das wichtigste von diesen rechtmässigen Mitteln soll darin bestehen, dass derjenige, welcher der Gesammtheit grössere Dienste leistet, auch mehr Belohnung erhält.

Jetzt haben wir die Idee der Harmonie der Interessen: es ist nämlich ohne Zweifel denkbar, dass unsre Wesen so beschaffen sind, dass sie ein Maximum von Kraft entwickeln, wenn sie am reinsten an sich selbst denken, und ferner, dass die Gesetze unsrer Republik so beschaffen sind, dass Niemand für sich einen grossen Vortheil erlangen kann, wenn er nicht viel Arbeit für die Gesammtheit verrichtet. Es könnte auch ganz wohl der Fall sein, dass der Kraftgewinn in Folge der Freigebung des Egoismus grösser wäre als der Verlust, welcher aus der gegenseitigen Hemmung entsteht, und wenn dies so wäre, so wäre auch die Harmonie der Interessen bewiesen. Es ist jedoch theils schwer zu bestimmen, inwiefern diese Voraussetzungen in der menschlichen Gesellschaft erfüllt sind, theils kann man leicht Umstände gewahren, welche sofort einen Strich durch die Rechnung machen. So sind z. B. die Mittel, welche durch nützliche Arbeit erzielt werden, zugleich eine Quelle neuer Vortheile, die dadurch gewonnen werden, dass der Besitzer Andre für sich arbeiten lässt. Obwohl nun darin wieder ein Nutzen für die Gesammtheit liegt, so ist es doch zugleich der Keim einer Krankheit, die wir unten noch schildern werden. Hier wollen wir nur die eine Seite hervorheben, dass derjenige, welcher einmal den Uebrigen überlegen ist, seine Mittel auch verwenden kann, um gefahrlos seiner Pleonexie zu fröhnen. Je mehr er fortschreitet, desto mehr gewinnt er an Kraft um noch weiter vorzuschreiten, und nicht nur der Widerstand seiner Concurrenten, sondern auch der Widerstand der Gesetze wird ihm gegenüber immer schwächer. Der Grund dieser Erscheinung liegt nicht nur in dem Gesetz der Kapitalvermehrung, sondern auch in einem bisher noch wenig beachteten Faktor der individuellen und gesellschaftlichen Entwicklung. Die Geisteskraft der meisten Menschen ist nämlich hinreichend, um viel bedeutendere Aufgaben zu lösen, als diejenigen, welche ihnen in dem gegenwärtigen Zustande der Gesellschaft zufallen müssen. Eine weitere Ausführung und Begründung dieser Bemerkung wird man im zweiten Kapitel meiner Schrift über die Arbeiterfrage finden. Hier sei nur kurz darauf hingewiesen, dass die meisten Menschen vollkommen befähigt sind, sobald sie durch einen günstigen Anfang der Nothwendigkeit überhoben werden, mit physischer Arbeit den nächsten Unterhalt zu schaffen, sich die Arbeit vieler Andern durch Spekulation, durch Erfindungen, oder auch durch die blosse solide und stetige Leitung eines Geschäftes tributpflichtig zu machen. Die Irrlehre von der Harmonie der Interessen ist daher auch stets verbunden mit einer besondern Hervorhebung eines Satzes, der noch fast allgemein als Vorurtheil verbreitet ist: des Satzes, dass jedes Talent und jede Kraft im menschlichen Leben sich, wenn auch durch zahlreiche Widerwärtigkeiten, zu einer der Anlage entsprechenden Stellung emporzuschwingen pflege. Dieser Satz ist besonders durch die teleologisch-rationalistische Schwärmerei des vorigen Jahrhunderts verbreitet worden. Er verletzt die Erfahrung in einer so schreienden Weise, dass die Blindheit kaum erklärbar wäre, mit welcher er festgehalten wird, wenn nicht die Eigenliebe der Glücklichen, der Gebildeten, der Hochgestellten einen ebenso hohen Genuss in dem Gedanken dieser irdischen Prädestination fände, wie der geistliche Hochmuth in dem der himmlischen. Im Leben sehen wir, wie zwar ein besonders schneller und glänzender Aufschwung aus geringen Verhältnissen in der Regel nur da eintritt, wo die begünstigenden Umstände mit vorzüglichen und seltnen Eigenschaften zusammentreffen, wie aber im grossen Ganzen die Fähigkeiten zur Ausfüllung einer leitenden Stellung sich stets finden, wo die materiellen Bedingungen einer solchen Stellung gegeben sind. Wie die Keime der Pflanzen in der Luft schweben und – eine jede in ihrer Art – da aufgehen, wo sich die Bedingungen ihrer Entwicklung finden, so ist es auch mit der Befähigung der Menschen, vorteilhafte Verhältnisse zu benutzen, um sich noch ungleich höhere Vortheile zu verschaffen. Dieser Satz wirft aber in Verbindung mit dem Gesetz der Kapitalvermehrung die ganze Theorie der Harmonie der Interessen um. Man kann hundertmal zeigen, dass sich mit dem Erfolg der Spekulanten und grossen Unternehmer auch die Lage aller Uebrigen schrittweise bessert: so lange es wahr bleibt, dass doch mit jedem Schritt dieser Besserung der Unterschied in der Lage der Individuen und in den Mitteln zu weiterem Aufschwung ebenfalls wächst, so lange wird auch jeder Schritt dieser Bewegung einem Wendepunkt entgegenführen, wo der Reichthum und die Macht Einzelner alle Schranken der Gesetze und der Sitten durchbricht, wo die Staatsform zum wesenlosen Schein herabsinkt und ein entwürdigtes Proletariat den Leidenschaften der Vornehmen als Spielball dient, bis es sich endlich im socialen Erdbeben rührt und den künstlichen Bau der einseitigen Interessen-Wirthschaft verschlingt. Die Zeiten vor diesem Zusammenbruch sind in der Geschichte schon so oft dagewesen, und stets mit demselben Charakter, dass man sich über ihre Natur nicht mehr täuschen kann. Der Staat wird käuflich. »Der hoffnungslose Arme wird das Gesetz ebenso leicht hassen, wie der Ueberreiche verachten« (Roscher). – Sparta ging unter als der Grundbesitz des ganzen Landes hundert Familien gehörte; Rom, als einem Proletariat von Millionen wenige Tausende von Besitzenden gegenüberstanden, deren Mittel so enorm waren, dass Crassus keinen als reich gelten liess, der nicht auf eigne Kosten ein Heer unterhalten konnte. »Auch im neueren Italien ist die Volksfreiheit durch Geldoligarchie und Proletariat untergegangen.« »Es ist bezeichnend, wie in Florenz der grösste Banquier zuletzt unumschränkter Gewalthaber wurde, und gleichzeitig in Genua die Bank von St. Georg den Staat gewissermassen verschlang« (Roscher).

So lange daher die Interessen des Menschen bloss individuelle sind, so lange man die Forderung der allgemeinen Interessen nur als eine Folge von dem Bestreben der Individuen betrachtet, sich selbst zu fördern, wird stets befürchtet werden müssen, dass die Interessen derjenigen Individuen, welche den ersten Vorsprung erlangen, allmählig maasslos überwiegen und alles Andre erdrücken. Das sociale Gleichgewicht eines solchen Staates ist gleichsam ein labiles; einmal gestört muss es immer tiefer zerrüttet werden. Umgekehrt lässt sich annehmen, dass in einer Republik, in welcher jeder Einzelne vorwiegend die Interessen der Gesammtheit im Auge hätte, ein stabiles Gleichgewicht bestehen könnte. Ist diese Forderung zur Zeit nirgendwo erfüllt, so gilt dasselbe von der Forderung des allgemeinen Egoismus. Beides sind Abstraktionen; in der Wirklichkeit ist wohl der Egoismus weitaus mächtiger als der Gemeinsinn, wenn man die Masse der einzelnen Handlungen betrachtet, welche vorwiegend aus dem einen oder aus dem andern Princip hervorgehen: welches von beiden aber für eine gegebene Zeit geschichtlich bedeutsamer und folgenreicher ist, ist eine ganz andre Frage. So sehr die ungeheure Entwicklung der materiellen Interessen den vorherrschenden Charakter unsrer Zeit zu bilden scheint; so entschieden die Theorie dieser Entwicklung das Princip des Egoismus in den Vordergrund des allgemeinen Bewusstseins gerückt hat, so ist doch gleichzeitig auch das Bedürfniss nach nationaler Gemeinschaft, nach genossenschaftlichem Zusammenwirken, nach Verbrüderung bisher getrennter Elemente gestiegen, und welcher Faktor der gährenden Gegenwart vorzugsweise bestimmt ist, der Zukunft ihren Charakter zu verleihen, darüber stehn uns nur Vermuthungen zu. Für jetzt halten wir so viel fest, dass, wenn der Egoismus einstweilen die Oberhand behalten sollte, darin nicht ein neues weltgestaltendes Princip gegeben wäre, sondern nur eine weiter fortschreitende Zersetzung. Da die Lehre von der Harmonie der Interessen falsch ist, da das Princip des Egoismus das sociale Gleichgewicht und damit die Basis aller Sittlichkeit vernichtet, so kann es auch für die Volkswirtschaft nur eine vorübergehende Bedeutung haben, deren Zeit vielleicht schon jetzt vorüber ist. Die Oberflächlichkeit, mit welcher die Lehre von der Harmonie der Interessen in der Regel gepredigt wird, kann eine Zeit lang durch die Disharmonie der Interessen selbst, durch die heimliche Pleonexie der besser gestellten Stände verdeckt werden, wie die Lücken der kirchlichen Dogmatik durch die Dotationen der Pfarrstellen und der Klöster verdeckt werden; allein auf die Dauer ist das nicht möglich. Wie blind die Volkswirtschaft meist die Argumente für die Interessen-Wirtschaft zusammenrafft, mag ein einziges Beispiel zeigen.

Man betrachte eine europäische Weltstadt, deren Millionen jeden Morgen mit den mannigfachsten Bedürfnissen erwachen. Während die Mehrzahl noch im tiefsten Schlummer liegt, wird schon eifrig für Alle gesorgt. Hier rollt ein schwerer Wagen mit Gemüse beladen durch die Vorstadt, dort wird fettes Vieh zum Schlachthause geführt; der Bäcker steht vor dem glühenden Ofen und der Milchhändler lenkt seinen Wagen von Haus zu Haus. Hier wird ein Pferd an die Droschke gespannt, um unbekannte Personen von Ort zu Ort zu befördern, dort öffnet ein Kaufmann seinen Laden, indem er schon den Umschlag des Tages berechnet, ohne irgend einen Kunden mit Bestimmtheit erwarten zu können. Allmählig beleben sich die Strassen und das Gewühl des Tages beginnt. Was regelt dies ungeheure Getriebe? »Das Interesse!« – Wer sorgt dafür, dass jedes Bedürfniss befriedigt wird, dass alle die Hungrigen und Dürstenden ihr Brod, ihr Fleisch, ihre Milch, ihre Gemüse, Gewürze, Wein, Bier, und was ein Jeder bedarf und bezahlen kann, zur rechten Zeit erhalten? »Nur das Geschäft, das Interesse!« Welcher Intendant, welcher oberste Magazinverwalter vermöchte mit dieser Regelmässigkeit die millionenfachen Bedürfnisse nach einem berechneten Plane zu befriedigen? »Unmöglicher Gedanke!« –

Durch solche und ähnliche Betrachtungen sucht man häufig zu beweisen, wie nöthig es sei, der Interessen-Wirtschaft die Sorge für das Wohl der Menschen zu überlassen. Es werden dabei mindestens folgende Punkte übersehen:

  1. Die ganze Betrachtung ist eine Abstraktion, welche nur die eine Seite der Wirklichkeit hervorhebt Es werden keineswegs alle gerechtfertigten Bedürfnisse befriedigt, und sofern sie befriedigt werden, wird dies in unzähligen Fällen nicht durch die blosse Maxime des Eigennutzes bewerkstelligt, sondern unter Beihülfe von Mitleiden, Freundschaft, Dankbarkeit, Gefälligkeit und andern Motiven, die dem Egoismus entgegenwirken.

  2. Der ganze Mechanismus der Bedürfniss-Versorgung ist das Resultat endloser Sorgen und Opfer, die bei einer äusserlichen Betrachtung verschwinden, in denen aber die Geschichte von Generationen verborgen ist. Sehr viele Einrichtungen, welche jetzt das Interesse ausbeutet, sind ursprünglich der Menschenliebe, dem Wissensdrang, dem Gemeinsinn entsprossen, wären ohne diese menschlichen Eigenschaften niemals in's Leben getreten und würden mit der Zeit verfallen, wenn nicht dieselben Eigenschaften eine zeitgemässe Umgestaltung oder Ersatz durch andre Mittel zu schaffen wüssten.

  3. Der Boden des geschichtlich Gewordenen kommt ebensowohl jedem andern Princip zu gute, wie dem des Egoismus. Jedes System, einerlei ob communistisch oder individualistisch, wird zur Utopie, wenn es nicht an das Bestehende anknüpft, und die Geltendmachung des einen oder des andern Princips bedeutet in der Praxis nur die Richtung, in welcher die fernere Entwicklung erfolgen soll. Es handelt sich nicht darum, ob der Einfluss der Interessen bei der bestehenden Bedürfniss-Versorgung gross oder klein ist, sondern ob es heilsam und zeitgemäss ist, ihn relativ grösser oder geringer zu machen.

In dem letzteren Punkte namentlich culminirt die ganze Bedeutung der Frage, ob der Egoismus das Moralprincip der Zukunft sein kann. Dass er faktisch nach wie vor eine grosse Rolle spielen wird, ist sicher. Nach unsern Erörterungen durfte es aber ebenfalls sicher sein, dass eine fernere Steigerung des Individualismus nicht einen neuen Aufschwung, sondern nur den Verfall unsrer Cultur bedeuten könnte. Sofern in der Geschichte ein positiver Fortschritt sich zeigt, sehen wir bisher immer das entgegengesetzte Princip in erhöhter Wirksamkeit, während der überhandnehmende Individualismus nur an der Zersetzung unbrauchbar gewordener Formen arbeitet. Deshalb wird auch für die Gegenwart wohl der eigentliche Strom des Fortschritts in der Richtung des Gemeinsinns liegen. Es giebt eben einen naturgemässen, wir möchten sagen physischen Grund für die allmählige Verdrängung des Egoismus durch das Wohlgefallen an der harmonischen Ordnung der Erscheinungswelt und zunächst durch die gemeinsamen Interessen der Mitmenschen. Was Adam Smith mit seiner Sympathie wollte, Feuerbach mit seiner Lehre von der Liebe, Comte mit dem Princip der Arbeit für den Nächsten, das sind Alles nur vereinzelte Erscheinungsformen des mit der fortschreitenden Cultur sich bildenden Uebergewichtes der mit zu unserm Wesen gehörenden Objektvorstellungen über das Bild eines mit Schmerz und Lust begabten Ich. Sowie mit der Ordnung der Lebensverhältnisse der Wechsel von Schmerz und Lust an Heftigkeit verliert und die Begierden sich mildern; wie anderseits die Erkenntniss der Aussenwelt, das Verständniss Andrer sich mehrt, so muss dies Uebergewicht eintreten und seine naturgemässen Wirkungen äussern. Selbst ein so stark zum Skepticismus neigender Schriftsteller wie J. St.  Mill legt diese Grundanschauung in nahem Anschluss an Comte seinem ethischen System zu Grunde und verkennt nur in seinem » Utilitarianismus« das ideale, formenbildende Element, welches diesem Streben nach Harmonie in der sittlichen Welt so gut zu Grunde liegt, wie den Bestrebungen der Kunst. In der That haben wir auch diesen Fortschritt von der Wildheit zur menschlichen Sitte schon so oft und unter den verschiedensten Verhältnissen so wesentlich gleichmässig vor sich gehen sehn, dass schon der blosse Induktionsschluss auf die Naturnothwendigkeit der ganzen Erscheinung nicht ohne Werth ist; nachdem wir aber vollends in unsrer Sinnlichkeit selbst den Grund dieses Vorgangs entdeckt haben, können wir nicht mehr an dem Bestehen des treibenden Princips zweifeln, wohl aber freilich daran, ob es zu irgend einer gegebenen Zeit und bei einem gegebenen Volke oder einer Gruppe von Nationen stärker sei, als andre, ebenfalls einflussreiche Kräfte, die entweder an sich oder durch ihre eigentümliche Zusammenwirkung den Ausschlag im entgegengesetzten Sinne geben könnten.

Dass der Fortschritt der Menschheit kein stetiger ist, lehrt jedes Blatt der Geschichte; ja, man kann immer noch Zweifel darüber hegen, ob überhaupt im grossen Ganzen ein solcher Fortschritt besteht, wie wir ihn im Einzelnen bald sich entfalten, bald wieder verschwinden sehen. Obwohl es mir selbst jetzt unverkennbar scheint, dass neben dem Auf- und Niederschwanken der Cultur, welches wir in der Geschichte so deutlich sehen, zugleich ein stetiger Fortschritt bemerkbar ist, dessen Wirkungen nur durch jenes Wellenspiel verdeckt werden, so ist doch diese Erkenntniss nicht so sicher, wie die des Fortschritts im Einzelnen, und man findet tüchtige, in Natur und Geschichte bewanderte Denker, wie Volger, welche diesen Fortschritt leugnen. Gesetzt aber auch, er wäre in dem Abschnitt der Geschichte, den wir überblicken, unverkennbar, so könnte das immer nur eine grössere Welle sein, wie die Fluthwelle, die stetig steigt, während Berg und Thal der Brandungswelle abrollen, die aber endlich auch ihren Höhepunkt erreicht und unter demselben Spiel der unruhigen Brandung stetig zurückgeht. Es ist also auf keinen Fall mit einem Glaubensartikel oder einer allgemein anerkannten Wahrheit hier etwas auszurichten und wir müssen die Ursachen, welche den Rückgang der Cultur vom Gemeinsinn zum Egoismus herbeiführen könnten, noch genauer betrachten.

Wir finden in der That, dass die wichtigsten Gründe für den Verfall alter Culturstätten längst von den Geschichtsforschern erkannt sind. Der am einfachsten wirkende Grund ist der, dass die Cultur sich meist auf engere Kreise beschränkt, die nach einer gewissen Zeit in ihrem abgesonderten Bestande gestört und von weiteren Kreisen wieder verschlungen werden, deren Massen auf einem niederen Standpunkt stehen. Hier findet man auch immer, dass der gehobene Theil der menschlichen Gesellschaft, sei dies nun ein einzelner Staat oder eine bevorzugte Volksklasse, den Egoismus nur innerhalb des engeren Kreises teilweise überwindet, während nach Aussen, wie zwischen Hellenen und Barbaren, Herren und Sklaven, der Gegensatz sich schärft. Die Gemeinschaft, in deren Interessen der Einzelne aufgeht, schliesst sich nach Aussen mit allen Kennzeichen des Egoismus ab und befördert so ihren Sturz durch die unvollkommne Durchführung desselben Princips, welchem sie in ihrem Innern die höhere sittliche Cultur verdankt. Ein zweiter Grund ist der bereits berührte, dass sich nämlich innerhalb der gemeinsam fortschreitenden Gesellschaft Unterschiede herausbilden, die allmählig immer grösser werden, wodurch die Berührungspunkte schwinden, das Verständniss des Andern abnimmt und damit der wichtigste Quell der bindenden Sympathie verloren geht. Es bilden sich dann aus der ursprünglich gleichförmigen Masse bevorzugte Klassen heraus, aber auch unter sich gewinnen diese keinen rechten Zusammenhang, und indem die Anhäufung von Reichthümern bisher unbekannte Genüsse schafft, entsteht ein neuer, raffinirter Egoismus, der schlimmer ist, als der ursprüngliche. So im alten Rom zur Zeit der Latifundien, da der Ackerbau von den Parkanlagen der Reichen verdrängt wurde, und halbe Provinzen einzelnen Personen gehörten.

Solche Zustände sind ursprünglich von Niemanden beabsichtigt, auch nicht von den Stärkeren und Reicheren, so lange die Unterschiede mässig sind. Sie entstehen unter dem Einfluss des Rechtsschutzes, der ursprünglich den entgegengesetzten Zweck hat, nämlich der Gleichheit und Gerechtigkeit zu dienen und nach dem Princip des Privateigentums Jedem das Seine zu wahren. Sie entstehen ferner unter dem ungestörten Fortgang des bürgerlichen Verkehrs, welcher mit der Bändigung des roheren Egoismus sich erst recht entfalten kann. Auch ohne den Egoismus zum Princip zu erheben, hat man doch zu allen Zeiten durch die Einrichtung des Eigenthums und die geregelte Uebertragung desselben die erste Ordnung in die Gesellschaft gebracht, sofern diese nicht noch auf den Ueberlieferungen der Gewalt beruhte, auf dem Gegensatz von Herren und Knechten, was wir hier ausser Acht lassen. Grade diese Einrichtungen aber: Eigenthum, Rechtsschutz, Vererbung u. s. w., welche aus der Milderung der Sitten hervorgehen und den Blüthezustand der Völker herbeiführen, schützen zugleich das wuchernde Uebel der Besitz-Ungleichheit, welches, bei einer gewissen Höhe angelangt, stärker wird als alle Gegengewichte und die Nation unfehlbar zu Grunde richtet. Dies Spiel wiederholt sich unter den verschiedensten Formen. Eine moralisch schwächere Nation erliegt schon geringeren Graden; eine stärkere, wir möchten sagen vorteilhafter gebaute Nation vermag, wie das heutige England, einen ungemeinen Grad des Uebels zu ertragen, ohne zu Grunde zu gehen.

In einem ganz rohen Zustande vermag eine solche Besitz-Ungleichheit, wie sie die ihrem Untergang sich nähernden Völker zeigen, durchaus nicht aufzukommen. Wo Beute zu theilen ist, nimmt sich der Stärkere den grösseren Antheil; der Schwächere muss vielleicht das herbste Unrecht leiden, allein sein gesammter Zustand, selbst wenn er in Sklaverei verfällt, kann nicht leicht so verschieden von dem der Gewaltigen werden, wie der Zustand des Armen von dem des Reichen ist bei fortschreitender Entwicklung der Erwerbsverhältnisse.

Diese Ungleichheit, wir wiederholen es, ist ursprünglich nicht beabsichtigt; sonst müssten die Völker schon in ihrer frischesten Jugend mit Bewusstsein der Dogmatik des Egoismus gehuldigt haben. Ihr Sinn aber ist in jenen Perioden ein andrer.

»Privatus illis census erat brevis,
Commune magnum«

sagt Horaz mit Beziehung auf die alten Römer, und selten ist der Gegensatz zwischen den Perioden lebendigen Gemeinsinns und überwuchernder Eigensucht so scharf und wahr gezeichnet worden, wie von diesem Dichter. Und doch waren es jene alten Römer, welche die Grundlage zu den Rechtsordnungen schufen, die Europa noch bewundert und benutzt. Wenn daher der Rechtsschutz und die Heiligung des Eigenthums mit dem Weizen zugleich das Unkraut hegen und aufwachsen lassen, so muss es Umstände geben, welche dies wider den Willen der Gesetzgeber hervorbringen, Umstände, welche entweder ursprünglich nicht beachtet wurden, oder welche vielleicht überhaupt gar nicht zu beseitigen sind. Bedenkt man, dass der geordnete gesetzmässige Zustand zwar nur durch das Erwachen des sympathischen Gemeinsinns und durch Abnahme der roheren egoistischen Triebe entstehen kann, dass aber der Egoismus in einem solchen Gemeinwesen, wie z. B. das der alten Römer, immer noch eine sehr bedeutende Rolle spielt und nur gleichsam in Schranken gebracht ist, innerhalb deren er als berechtigt anerkannt wird: dann wird man auf die Frage geführt, warum nicht in ähnlicher Weise Schranken gegen die überwuchernde Besitz-Ungleichheit aufgestellt wurden, um das heilsame Gleichgewicht zwischen Egoismus und Gemeinsinn aufrecht zu erhalten. Wir finden dann, dass grade im alten Rom die edelsten und besten Männer sich an der Lösung dieses Problems vergeblich versucht haben. Es ist auch ganz natürlich, dass diejenigen Besitzenden, welche sich nicht grade durch Gedankenschärfe und Opferfreudigkeit auszeichnen – ohne übrigens schon Dogmatiker des Egoismus zu sein – zunächst in allen Versuchen einer solchen Erwerbs-Beschränkung nur den Angriff auf das Eigenthum sehen, und dass ihnen die Erschütterung der Grundlagen der Gesellschaft in einem übertriebenen Lichte erscheint, weil ihr Interesse mit dem Bestehenden gar zu eng verknüpft ist. Hätte man den römischen Optimaten zur Zeit der agrarischen Kämpfe die Geschichte der folgenden Jahrhunderte im Spiegel zeigen und den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Verfall und der Accumulation der Reichthümer nachweisen können; vielleicht würden nicht Tiberius und Cajus Gracchus ihre höhere Einsicht mit ihrem Blut und ihrem guten Ruf bezahlt haben.

Es ist nicht ganz überflüssig darauf hinzuweisen, dass es nur eine petitio principii sein würde, wenn man auf das Unrechtmässige einer Erwerbsbeschränkung hinweisen wollte. Es handelt sich eben darum, was Recht sein soll. Das erste Recht – ein Recht, welches die ganze Natur anerkennt – ist das Recht des Stärkeren, das Faustrecht. Erst nachdem ein höheres Recht anerkannt ist, wird jenes zum Unrecht; allein nur so lange das höhere Recht auch wirklich der Gesellschaft höhere Dienste leistet. Ist das rechtsbildende Princip verloren, so tritt doch stets das Recht des Stärkeren wieder ein, und in rein sittlicher Beziehung ist die eine Form desselben nicht besser als die andre. Ob ich meinem Mitmenschen den Hals umdrehe, weil ich der Stärkere bin, oder ob ich ihm durch überlegene Geschäfts- und Rechtskenntniss eine Falle lege und bewirke, dass er im Elend verschmachtet, während mir der Vortheil seiner Arbeit »rechtmässig« zufällt, ist ziemlich gleichgültig. Selbst der Missbrauch der blossen Macht des Kapitals auf der einen Seite gegenüber dem Hunger auf der andern ist ein neues Faustrecht, wenn es sich auch nur darum handelt, den Nichtbesitzenden immer abhängiger zu machen. Was in der Gesetzgebung ursprünglich nicht vorgesehen ist, das ist eben die Möglichkeit, von Kapital-Besitz und Rechtskenntniss einen Gebrauch zu machen, der das alte Faustrecht in seinen verderblichen Wirkungen noch übertrifft. Diese Möglichkeit liegt theils in der bereits besprochenen Befähigung aller Besitzenden zur Ergreifung lohnenderer Arbeit, theils aber in gewissen Beziehungen zwischen dem Bevölkerungsgesetz und der Kapitalbildung, welche die Volkswirtschaft des vorigen Jahrhunderts entdeckt hat, welche aber noch heute, trotz der grossen Verdienste, die sich namentlich J. St.  Mill um die Aufklärung dieses Punktes erworben hat, nicht völlig in ihrer Natur und Wirkungsweise ergründet sind. Ich habe in meiner Schrift: » Mill's Ansichten über die sociale Frage und die angebliche Umwälzung der Social-Wissenschaft durch Carey« versucht, Einiges zur kritischen Erledigung der betreffenden Fragen beizutragen, und will mich hier auf die Benutzung der Resultate, so weit sie unserm Zweck dienen können, beschränken.

Im vorigen Jahrhundert griffen mehrere bedeutende Männer, unter ihnen namentlich Benjamin Franklin, die Bemerkung auf, dass die natürliche Vermehrung der Menschen, wie der Thiere und Pflanzen, wenn sie ungehemmt wäre, sehr bald den Erdboden überfüllen müsste. Diese unbestreitbare und auf der Hand liegende aber bis dahin nicht beachtete Wahrheit musste sich einem beobachtenden Geiste damals aufdrängen, wenn er die rapide Volksvermehrung in Nord-Amerika mit den Zuständen europäischer Staaten verglich. Man fand, dass die Volksvermehrung nicht von der Fruchtbarkeit der Ehen, sondern von der Masse der erzeugten Nahrungsmittel abhängt. Diese einfache Anschauung, durch Malthus berühmt geworden, aber auch mit irrigen Zuthaten versehen, die wir hier ausser Spiel lassen, ist seitdem durch die Vervollkommnung der Statistik als unzweifelhaft erwiesen worden.

Nahezu gleichzeitig kam eine andre, in ihrer ursprünglichen Form freilich irrthümliche Lehre auf, die Lehre von der Bodenrente. Man nahm an, dass die Grundbesitzer aus den unerschöpflichen Kräften des Bodens ausser der Verzinsung ihres Kapitals und der Verwerthung ihrer Arbeit noch einen besondern Gewinn ziehen, welcher durch das Monopol der Benutzung jener Naturkräfte hervorgebracht wird. Später wurde gezeigt, dass dies nur insofern richtig ist, als die Menge des Bodens begrenzt ist, oder in Folge gewisser Umstände (Auswanderungsscheu, Mangel an Kapital zur Rodung fruchtbarer Niederungen, Mangel an Freiheit u. s. w.) als begrenzt betrachtet werden muss. Es tritt dann in relativer Geltung dasselbe Verhältniss auf, welches absolut gelten müsste, wenn einmal der ganze anbaufähige Boden der Erde in Privatbesitz gelangt wäre. Obwohl sonach die Lehre von der Bodenrente nur eine relative Gültigkeit hat, so tritt doch für jedes Land ein Zustand ein, in welchem sie bis zu einem gewissen Grade anwendbar ist.

Endlich hat man gefunden, dass die Höhe des Arbeitslohns, der von einem mit Kapital versehenen Unternehmer denen bezahlt wird, die ohne Grundbesitz oder andre Mittel sich nur aus ihrer Arbeit erhalten müssen, gleich jedem andern Waarenpreise durch Angebot und Nachfrage bestimmt wird. Sofern also das Angebot die Nachfrage überwiegt, muss der Arbeitslohn auf ein Minimum sinken. Es ist ganz natürlich, dass grade hier die Theorie des Egoismus sich der Wirklichkeit in sehr hohem Grade annähert, da es sich successiv nur um kleine Beträge handelt, und der Arbeitgeber, der auf dem bestehenden Rechtsboden seine Interessen wahrnimmt, anfangs selbst von den Folgen dieses Verhältnisses nur einen unklaren Begriff hat.

In Zeiten grösserer Rohheit wird die Bevölkerung theils durch die Ungunst des Klimas, bei Mangel an Vorräthen, theils durch Fehden und Kriege mit barbarischer Behandlung der Ueberwundenen beständig decimirt, die Kapitalsammlung kann nicht ungestört vor sich gehen, und auf Ueberfluss an Arbeitskräften folgt wieder Mangel, auf Mangel an Boden wieder die Möglichkeit, durch geringe Anstrengung ausgedehnte Territorien zu erwerben. Sobald aber die schlimmsten Leidenschaften beruhigt sind, Gemeinsinn und Rechtsordnung ihr Werk begonnen haben, beginnt auch, wie das Unkraut, das unter dem Weizen aufwächst, die Wirkung jener eben bezeichneten Verhältnisse.

Die Bevölkerung mehrt sich, der Boden zur Bearbeitung beginnt zu fehlen; die Bodenrente steigt, der Arbeitslohn sinkt: der Unterschied zwischen der Lage der Besitzer und der Pächter, der Pächter und der gemieteten Arbeiter wird immer grösser. Nun bietet die aufblühende Industrie dem Arbeiter höheren Lohn; aber bald strömen ihr so viele Arme zu, dass sich hier dasselbe Spiel wiederholt. Der einzige Faktor, welcher jetzt den Zuwachs der Bevölkerung hemmt, ist das Elend, und die einzige Rettung vor dem äussersten Elend ist die Annahme von Arbeit um jeden Preis. Dem glücklichen Unternehmer strömen unermessliche Reichtümer zu; der Arbeiter erhält nichts als sein kümmerliches Dasein. So weit macht sich die Sache ganz ohne die Dogmatik des Egoismus.

Jetzt erschreckt das Elend des Proletariats teilnehmende Herzen; allein der Weg aus diesen Zuständen zurück zu der alten Einfachheit der Sitten ist unmöglich. Ganz allmählig haben sich die Besitzenden an einen reichen und mannigfachen Genuss verfeinerter Lebensfreuden gewöhnt. Kunst und Wissenschaft haben sich entfaltet. Die Sklavenarbeit der Proletarier schafft vielen fähigen Köpfen Musse und Mittel zu Forschungen, Erfindungen und Schöpfungen. Es scheint Pflicht, diese höheren Güter der Menschheit zu wahren, und gern tröstet man sich mit dem Gedanken, dass sie einst ein Gemeingut Aller sein werden. Inzwischen macht das schnelle Wachsen der Reichthümer Viele dieser Genüsse theilhaftig, deren Gemüth innerlich roh ist. Andre verwildern in sittlicher Beziehung, indem sie keine Aufmerksamkeit, keine Theilnahme mehr übrig behalten, für etwas, das ausserhalb des Kreises ihrer Vergnügungen liegt. Die lebhafteren Formen der Sympathie mit dem Leiden schwinden schon durch das gleichförmige Wohlleben der Bevorzugten. Diese fangen an, sich als besondre Wesen zu fassen. Ihre Diener sind ihnen wie Maschinen; die Unglücklichen sind ihnen eine unvermeidliche Staffage; sie haben für das Schicksal derselben kein Verständniss mehr. Mit dem Abreissen der sittlichen Bande erlischt die Scham, welche früher von allzuüppigen Genüssen zurückhielt. Die geistige Kraft erstickt im Wohlleben; das Proletariat allein bleibt roh, gedrückt, aber geistesfrisch.

In einem solchen Zustande war die alte Welt, als das Christenthum und die Völkerwanderung ihrer Herrlichkeit ein Ende machten. Sie war zum Untergang reif geworden.

Vielfach hat man schon den Zustand der Gegenwart mit dem der alten Welt vor ihrer Auflösung verglichen, und man wird nicht leugnen können, dass bedeutsame Analogieen vor Augen liegen. Wir haben das übermässige Wachsen des Reichthums, wir haben das Proletariat, wir haben den Zerfall der Sitten und der Religion; die Staatsformen der Gegenwart sind alle in ihrem Bestande bedroht, und der Glaube an eine bevorstehende allgemeine und grosse Revolution ist weit verbreitet und tief eingewurzelt. Daneben besitzt unsre Zeit aber auch gewaltige Heilmittel, und wenn die Stürme der Uebergangskrisis nicht alle Begriffe übersteigen, so ist es nicht wahrscheinlich, dass die Menschheit mit ihrer Geistesarbeit noch einmal so von vorn anfangen muss, wie zu den Zeiten der Merowinger. Eins der wichtigsten Heilmittel liegt aber ohne Zweifel grade in den Ideen des Christenthums, dessen sittliche Wirkungen eben so häufig unterschätzt als übertrieben werden.

Es ist wahr, dass der bürgerliche Verkehr schon sehr früh mit den Grundsätzen des neuen Testamentes seinen Separatfrieden geschlossen hat. Es ging mit Handel und Wandel wie mit der hohen Politik und – dem Kirchenregiment. »Alle Christen,« sagt Mill in seinem trefflichen Buch über die Freiheit, »glauben, dass die Armen und Elenden, und die in der Welt schlimm fahren, gesegnet sind; dass ein Kameel eher durch ein Nadelöhr geht, als ein Reicher ins Himmelreich; dass man nicht richten soll, um nicht wieder gerichtet zu werden; dass Schwören eine Sünde ist; dass man nicht für den morgenden Tag sorgen soll; dass man, um vollkommen zu werden, alle seine Habe verkaufen und an die Armen geben soll. Es ist nicht Unaufrichtigkeit, wenn sie sagen, dass sie an diese Dinge glauben. Sie glauben daran, wie man an Alles glaubt, was stets gelobt und nie angetastet wird. Allein im Sinne jenes lebendigen Glaubens, der die Handlungsweise regelt, glauben sie an diese Lehren genau so weit, als man darnach zu handeln pflegt ... Die Masse der Gläubigen fühlt sich durch diese Lehren nicht gepackt, ihr Inneres ist ihrer Gewalt nicht unterthan. Man hat eine herkömmliche Achtung für ihren Klang, aber kein Gefühl, das von den Worten auf die bezeichneten Dinge übergeht, und die Seele zwingt, diese in sich aufzunehmen und den Formeln anzupassen.«

Und dennoch konnte es an der Menschheit nicht spurlos vorübergehen, dass Jahrhunderte hindurch eben diese Formeln wiederholt, diese Worte anerkannt, diese Gedanken immer und immer wieder angeregt wurden. Zu allen Zeiten hat es doch manche empfänglichere Gemüther gegeben; und es ist schwerlich ein Zufall, dass es doch eben die christlichen Länder sind, in denen endlich, wenn auch erst nach anderthalb Jahrtausenden, wenn auch erst mit dem beginnenden Zerfall der kirchlichen Formen und Dogmen, eine geordnete Armenpflege aufkam, und in denen sich weiterhin der Gedanke entwickelte, dass das Elend der Massen eine Schande der Menschheit ist, und dass Alles daran gesetzt werden muss, um es gründlich zu beseitigen. Man darf sich nicht dadurch irre machen lassen, dass in der Blüthezeit der äusseren Kirche die Armuth gleichsam künstlich gepflegt wurde, um der Ceremonie der Almosenspende zu genügen, dass die Völker unter keinem Joch so schwer geseufzt haben, als unter dem der Priester; man darf sich nicht durch die Bemerkung blenden lassen, dass die specifisch Frommen sich nur gar zu leicht mit der Moral abzufinden wissen, und dass es vielfach die Freidenker, ja die Feinde des bestehenden Kirchenthums sind, welche ihr ganzes Denken und Handeln der unterdrückten Menschheit gewidmet haben, während die Diener der Kirche an den Tafeln der Reichen sitzen und den Armen Unterwürfigkeit predigen. Setzt man voraus, dass die Moral des neuen Testamentes auf die Völker der christlichen Welt eine tiefe Wirkung geübt habe, so ist deshalb durchaus nicht anzunehmen, dass diese Wirkung sich grade bei den Personen am meisten zeigen müsse, die sich in der Gegenwart am meisten mit dem Wortlaut der Lehre beschäftigen. Wir haben mit Mill gesehen, wie gering die unmittelbare Wirkung dieser Worte auf den Einzelnen zu sein pflegt; besonders grade auf diejenigen, die sich mit diesen Klängen von Jugend auf vertraut gemacht und sich gewöhnt haben, gewisse feierliche Gefühle mit ihnen zu verbinden, ohne jemals über ihren vollen Sinn nachzudenken oder einen Hauch der Gewalt zu spüren, die ihnen ursprünglich innewohnte. Wir wollen hier keine psychologische Untersuchung darüber anstellen, ob es vielleicht gar wahrscheinlicher ist, dass überlieferte Ideen grade da wirksam hervortreten, wo ihre blosse Fortleitung durch Zweifel, durch theilweise Opposition, durch das Auftreten neuer und fremdartiger Gedankenreihen unterbrochen wird; nur das ist zu constatiren, dass, eben weil diese Worte in der christlichen Welt allenthalben erschallen und von Geschlecht zu Geschlecht fortgeleitet werden, ihr wirklicher Sinn und ihre zündende Kraft mindestens eben so gut einen erfassen kann, der ihnen einen neuen Boden entgegenbringt, auf dem sie keimen können, als einen solchen, der ganz und gar in die alten Ideenassociationen eingefahren ist Im grossen Ganzen betrachtet wird es daher sehr wahrscheinlich, dass die energischen, selbst revolutionären Bestrebungen unsres Jahrhunderts, die Form der Gesellschaft zu Gunsten der zertretenen Massen umzugestalten, mit den Ideen des neuen Testamentes sehr eng zusammenhängen, obwohl die Träger jener Bestrebungen in andern Beziehungen dem Wesen, das man heutzutage Christenthum zu nennen beliebt, glauben entgegentreten zu müssen. Die Geschichte liefert uns einen Beleg für diesen Zusammenhang in der Verschmelzung religiöser und communistischer Ideen bei der äussersten Linken der Reformations-Bewegung im sechszehnten Jahrhundert. Leider sind die reineren Formen dieser Bestrebungen noch heute nicht hinlänglich bekannt und gewürdigt, und die vereinzelten Zerrbilder, welche uns in crassen Farben überliefert werden, sind losgelöst von dem Hintergrunde eines mächtigen und weit verbreiteten Zeitgedankens. Selbst hochgebildete Männer der katholischen Partei vermochten sich damals diesen Ideen nicht zu verschliessen. Thomas Morus schrieb seine Utopia, ein Werk von communistischer Tendenz, nicht nur zum Scherz, sondern in der Absicht, auf seine Zeitgenossen zu wirken, wenn auch nur durch ein Bild buchstäblich genommen unmöglicher Zustände. Sein Freund und Gesinnungsgenosse L.  Vives wandte sich zwar in einer milde gehaltenen Schrift gegen die communistischen Gewalttätigkeiten des Bauernkrieges; derselbe Mann aber war einer der ersten, die es offen aussprachen, dass die Armenpflege nicht dem Zufall des Almosens überlassen bleiben dürfe, sondern dass es unter Christen als Pflicht anerkannt werden müsse, durch bestimmte bürgerliche Einrichtungen für die Armen ausreichend und ununterbrochen zu sorgen. Nicht lange nachher entschloss man sich zunächst in England zur Einführung der bürgerlichen Armenpflege, und grade dies Institut, welches seit der französischen Revolution, gleich der Civilehe, der Civiltaufe und ähnlichen Einrichtungen, eher einen Gegensatz gegen die kirchlichen Anstalten zu bilden schien, ist nachweisbar christlichen Grundsätzen entsprossen. Solche Metamorphosen einer Idee sind in der Culturgeschichte nichts Seltenes, und ohne eben mit Hegel Alles in sein Gegentheil umschlagen zu lassen, muss man doch zugeben, dass die Nachwirkung eines grossen Gedankens sehr häufig durch eine veränderte Combination mit andern Elementen der Zeit eine fast entgegengesetzte Richtung annimmt Auffallend ist auch die Verwandtschaft zwischen Comte's Moralprincipien und denen des Christenthums; ein religiöser Schwung ist bei Comte unverkennbar, und die meisten Erscheinungen des französischen und englischen Communismus haben einen verwandten Zug. Vor Allen verdient der ehrwürdige Owen Beachtung, der seinen Reichthum den Armen opferte und von den üppigen und hochmütigen Frommen verdammt wurde, weil er dem bestehenden Christentum die Fähigkeit absprach, der Not der in Elend versunkenen Massen zu helfen. Es ist eben nur zu natürlich, dass in Zeiten des überwuchernden Egoismus, in welchen sich die überlieferte Religion mit den materiellen Interessen abgefunden hat, solche Naturen, welche von einem Hauch des ursprünglichen geistigen Lebens der Religion ergriffen sind, mit den bestehenden Formen zerfallen. Es ist daher nicht unmöglich, dass unter den Analogieen zwischen unsrer Zeit und dem Untergang der antiken Welt sich auch jener schaffende und vereinigende Zug wiederfindet, welcher damals aus den Trümmern der alten Ordnung der Dinge die Gemeinschaft eines neuen Glaubens hervorgehen liess. Hier stossen war jedoch auf die Behauptung, dass es mit der Religion überhaupt vorbei sei, seit die Naturwissenschaften das Dogma zerstört, seit die socialen Wissenschaften gelehrt hätten, das Leben der Völker befriedigender zu ordnen, als es je den Grundsätzen einer Religion gelingen könne. Nun, wir haben gesehen, dass wenigstens die socialen Wissenschaften einstweilen noch keine solche Wirkung hervorgebracht haben. Sie reichen allerdings aus, um uns zu zeigen, dass ein mächtiges und herrschsüchtiges Kirchenthum stets dazu dient, die Völker wirthschaftlich, intellektuell und moralisch zu hemmen; dass Aufklärung und Unterricht in der Regel mit einer Abnahme der Geistlichkeit an relativer Zahl und Einfluss Hand in Hand gehn; dass die Verminderung der Verbrechen übereinstimmt mit der Verminderung des Aberglaubens, der mit dem Buchstabenglauben unzertrennlich zusammenhängt. Wir wissen, dass Glaube und Unglaube im Verhalten der Menschen im grossen Ganzen, und soweit es äusserlich in auffallenden Handlungen zu Tage tritt, keinen irgend merkbaren Unterschied macht. Der Gläubige wie der Ungläubige handelt sittlich oder unsittlich, selbst verbrecherisch, aus Ursachen, deren Zusammenhang mit seinen Grundsätzen nur selten hervortritt und selbst dann mehr eine Nebenwirkung der Ideen-Association zu sein scheint. Es ist nur die Art und Weise des psychischen Verlaufs verschieden: der eine unterliegt einer Versuchung des Satans, oder folgt, bei übrigens gesunden Sinnen, einer angeblich höheren Eingebung; der andre sündigt mit kalter Frivolität oder im Rausch der Leidenschaft. Sehr mit Unrecht pflegt man fromme Verbrecher schlechthin als Heuchler zu beseitigen; die Fälle, in welchen die Religion nur als äusserer Deckmantel vorgenommen wird, sind heutzutage selten; sehr häufig dagegen sind die schändlichsten Handlungen mit wirklich tiefem religiösen Gefühlsleben verbunden – freilich mit einem Gefühlsleben, das an den Schwächen, die wir oben mit Mills Worten bezeichnet haben, so gut krankt, wie das der unbescholtenen Frommen. Es mag auch richtig sein, dass die beständige Beschäftigung mit religiösen Gefühlen oft sittlich entnervend wirkt; aber immer ist dies gewiss nicht der Fall, und oft scheint der Glaube die Gewalt eines Charakters wunderbar zu stählen. Wie vermöchten wir uns sonst die Gestalten eines Luther, eines Cromwell zu erklären? Wissenschaftlich steht über die sittlichen Wirkungen des Glaubens und des Unglaubens an sich eigentlich gar nichts fest; denn die grössere sittliche Rohheit von Gegenden, die im Buchstabenglauben befangen sind, kann eine indirekte Wirkung sein, die in der Hauptsache nichts beweist. Grade in solchen Gegenden pflegt noch am ehesten die Loslösung von der Religion mit sittlicher Entartung verbunden zu sein, während in aufgeklärteren Gegenden die Verwahrlosten eher die Gläubigen sind. Die Statistik zeigt uns allerdings, dass unter sonst ähnlichen Umständen in Deutschland protestantische Länder mehr Betrug, katholische mehr Gewaltthat zeigen, allein alle diese Thatsachen gestatten keine Schlüsse über das Innere; denn die zahlreicheren Betrugsfälle rühren bei Lichte besehen von den zahlreicheren Geschäften her und die Gewaltthaten stammen auch nicht aus dem Glauben an die unbefleckte Empfängniss, sondern aus einem Mangel an Erziehung, der zunächst nur mit dem äusseren Druck des Kirchenregimentes und der daraus stammenden Armuth zusammenhängt. Wie schwierig es überhaupt ist, aus moralstatistischen Zahlen Schlüsse zu ziehen, haben wir im vorigen Kapitel angedeutet, und wir enthalten uns deshalb hier der speciellen Kritik einiger interessanten Punkte, da das Endergebniss in Bezug auf die zunächst vorliegende Frage doch jedenfalls ein negatives ist. So viel ist sicher, dass die Pfaffenlehre von der moralischen Verruchtheit aller Ungläubigen sich in der Erfahrung nicht bestätigt, und dass eben so wenig ein sittlicher Nachtheil des Glaubens bewiesen werden kann. Ueberblickt man aber die Geschichte im grossen Ganzen, so scheint es mir kaum zweifelhaft, dass wir der stillen aber beständigen Wirkung der christlichen Ideen nicht, nur unsern moralischen, sondern selbst den intellektuellen Fortschritt grossentheils zuschreiben dürfen, dass jedoch diese Ideen ihre volle Wirksamkeit erst entfalten können, indem sie die kirchliche und dogmatische Form zerbrechen, in die sie eingehüllt waren, wie der Saame eines Baums in seine harte Schale.

Das Eigentümliche in einer Religion in moralischer Hinsicht besteht nicht sowohl in ihren Sittenlehren selbst, als vielmehr in der Form, in welcher sie diese zur Geltung zu bringen sucht. Die Ethik des Materialismus bleibt gleichgültig gegen die Form, in welcher ihre Lehren zur Geltung gelangen, sie hält sich an den Stoff, an den Inhalt des Einzelnen, nicht an die Art, wie die Lehren sich zu einem Ganzen von bestimmtem ethischen Charakter gestalten. Am meisten tritt dies bei der Interessen-Moral hervor, die im günstigsten Falle eine Casuistik ist, welche uns lehrt, das dauernde Interesse über das vergängliche zu setzen und das bedeutende über das geringe. Die oft versuchte Ableitung sämmtlicher Tugenden aus der Selbstliebe bleibt deshalb nicht nur sophistisch, sondern auch kalt und langweilig. Aber auch die Moral, welche sich aus dem Princip der natürlichen Nächstenliebe ergiebt, harmonirt nicht nur, wie wir bereits früher zeigten, recht wohl mit dem physikalischen Materialismus, sondern sie trägt auch selbst einen materialistischen Charakter, solange das Ideal fehlt, nach welchem der Mensch seine Beziehungen zu den Mitmenschen zu ordnen, und überhaupt die Harmonie in seiner Erscheinungswelt herzustellen bemüht ist. So lange die Moral nur die Hingebung an die Gefühle der Sympathie betont und uns räth, für die Mitmenschen zu sorgen und zu arbeiten: so lange trägt sie noch immer einen wesentlich materialistischen Zug, wenn sie auch noch so viel Aufopferung statt des Selbstgenusses anräth; erst mit der Aufstellung eines Princips in den Mittelpunkt aller Bestrebungen tritt eine formalistische Wendung ein. So bei Kant, dessen Ethik materiell mit derjenigen eines Comte und Mill sehr nahe zusammentrifft, aber sich dadurch dennoch sehr scharf von jeder andern Gemeinnützigkeitslehre unterscheidet, dass das Sittengesetz mit seinem ernsten und unerbittlichen Hinweis auf die Harmonie des Ganzen, dessen Theile wir sind, als a priori gegeben betrachtet wird. Was die Wahrheit dieser Lehre betrifft, so wird es damit wohl ähnlich stehen, wie mit der Wahrheit der Kategorienlehre. Die Deduktion des Princips ist unvollkommen, das Princip selbst der Verbesserung fähig, allein der Keim zu dieser Rücksicht auf das Ganze muss wohl vor jeder Erfahrung in unsrer Organisation gegeben sein, weil sonst der Anfang des ethischen Erfahrens gar nicht denkbar wäre. Das Princip der Ethik ist a priori, aber nicht als fertiges, gebildetes Gewissen, sondern als eine Einrichtung in unsrer ursprünglichen Anlage, deren Natur und Wirkungsweise wir gleich der Natur unsres Körpers nur allmählig und a posteriori theilweise erkennen können. Diese Erkenntniss wird aber durchaus nicht gehemmt dadurch, dass ein bestimmtes Princip ausgesprochen wird, welches nur eine Seite der Wahrheit enthält. Es muss hier in theoretischer Hinsicht mindestens auch gelten, was bei der physikalischen Forschung gilt, dass die Idee für den Fortschritt gleich wichtig ist, wie die Empirie. Sofern es nun aber nicht nur darauf ankommt, die richtigste Moralphilosophie zu erkennen, sondern sich zu edlen und guten Handlungen bewegen zu lassen, gewinnt die Idee, die schon auf dem Gebiet des Erkennens als die eigentliche Triebfeder neben dem Räderwerk der Empirie erschien, eine erhöhte Bedeutung. Es kann aber freilich die Frage sich hier erneuern, ob die treibende Idee nicht oft in die Irre treibt, und namentlich den Religionssystemen gegenüber kann gefragt werden, ob es nicht besser ist, sich einfach der veredelnden Wirkung der natürlichen Sympathie zu überlassen und so langsam aber sicher fortzuschreiten, als auf Prophetenstimmen zu hören, die nur zu oft schon zum grässlichsten Fanatismus geleitet haben.

Die Religionen haben ursprünglich gar nicht einmal den Zweck, der Sittlichkeit zu dienen. Ausgeburten der Furcht vor gewaltigen Naturereignissen, der Phantasie und barbarischer Neigungen und Vorstellungen, sind die Religionen bei den sogenannten Naturvölkern eine Quelle von Scheusslichkeiten und Abgeschmacktheiten, welche aus dem blossen Interessenkampf in seiner rohesten Form kaum je entstehen könnten. Wie viel solcher entstellenden Elemente selbst bei gebildeten Völkern der Religion noch anhängen, kann uns das Urtheil eines Epikur und Lucrez zeigen, da wir uns, durch die erhabnen Seiten der antiken Mythologie geblendet, nur schwer direkt in das Religionswesen der Alten hineindenken können. Es musste jedoch schon der blosse Glaube an übersinnliche, mächtig waltende Wesen der natürlichen Entwicklung ethischer Ideen einen bedeutungsvollen Anknüpfungspunkt bieten. Der Gegensatz des Ganzen, der menschlichen Genossenschaft gegenüber dem Einzelnen ist für den Naturmenschen nicht leicht zu fassen; wohl aber konnte der Gedanke an ein rächendes Wesen ausserhalb der Menschheit hier eine frühe Stellvertretung üben, und in der That findet sich die Gottheit als Rächerin menschlicher Frevel schon bei Völkern, deren Vorstellungen noch sehr rohe, deren Religionsgebräuche zum Theil schauderhafte sind. Mit der fortschreitenden Cultur schreiten auch die Vorstellungen von den Göttern fort, und wir sehen, wie Gottheiten, in denen ursprünglich bloss eine schreckhafte oder wohlthätige Naturkraft personificirt ist, allmählig immer bestimmtere ethische Bedeutung erhalten. So können wir in der classischen Periode des alten Hellas gleichzeitig die Spuren der alten Naturbedeutung der Götter neben der ethischen Bedeutung entdecken, und neben beiden stand die Ausartung des rohen Volksaberglaubens, die in der Religionsübung des täglichen Lebens weit mehr hervortrat, als wir nach den herrlichen Ueberlieferungen hellenischer Dichtkunst und Plastik vermuthen sollten. So kann die Religion gleichzeitig dem ethischen Fortschritt dienen und Greuel heiligen, während sie, dem Volkscharakter entsprechend, die bunten Gebilde einer Ideenwelt in eigentümlichen Formen entfaltet.

In den Gebilden menschlicher Vorstellung wiederholt sich das uralte Problem vom Verhältniss des Ganzen zu seinen Theilen. Der Materialismus wird niemals darauf verzichten können, auch die geistigen Gebilde der Religion in ihre Elemente zu zerlegen, wie er die Körperwelt auf die Atome zurückführt. Die Phantasie, die Furcht, der Fehlschluss machen ihm die Religion, die ein Produkt dieser Einzelwirkungen ist, und wenn er ihr eine ethische Wirkung zuschreibt, so wird er diese aus einer Uebertragung der natürlichen Moral auf die übernatürlichen Begriffe zurückführen. Wenn wir sehen, wie die Religion oft zum Guten oder Schlimmen eine erstaunliche Gewalt über die Menschen ausübt, wie sie im Mittelalter Tausende von Kindern zur Kreuzfahrt treibt und in unsrer Zeit die Mormonen unter Kampf und Verschmachten in die Wüste des Salzsee's fliehen lässt; wie der Muhamedanismus mit der Schnelligkeit einer lodernden Flamme Nationen umschmelzt und Continente in Wallung bringt; wie die Reformation eine Epoche in der Geschichte begründet: dann ist ihm das Alles nur ein besonders wirksames Zusammentreffen jener Faktoren der Sinnlichkeit, der Leidenschaftlichkeit und des Irrthums oder der unvollkommnen Erkenntniss; wir dagegen werden uns erinnern, dass, wie in den äusseren Dingen, so auch hier, der Werth und das Wesen des Gegenstandes nicht in der blossen Thatsache steckt, dass eben diese und jene Faktoren zusammenwirken, sondern in der Form, in welcher sie zusammenwirken, und dass diese Form – für uns praktisch genommen das Wichtigste – nur in dem eigentümlichen Ganzen erkennbar ist und nicht in den abstrahirten Faktoren. Was Aristoteles bewog der Form vor dem Stoff und dem Ganzen vor seinen Theilen den Vorrang zu geben, war seine tief angelegte praktische Natur, sein ethischer Sinn, und wenn wir ihm in der exakten Forschung stets entgegentreten und immer und immer wieder das Ganze aus den Theilen, die Form – so weit wir es vermögen – aus den Stoffen erklären müssen, so wissen wir doch seit Kant, dass die ganze Nothwendigkeit dieses Verfahrens nur ein Spiegel der Organisation unsres zur Analyse geschaffenen Verstandes ist, dass dieser Process ein processus in infinitum ist, der nie sein Ziel völlig erreicht, wenn er auch anderseits nie vor einem gegebenen Problem zurückbeben darf. Wir wissen, dass stets ein gleich grosser Widerspruch zwischen der vollendeten und eigentümlichen Natur eines Ganzen und der annähernden Erklärung desselben aus seinen Theilen bestehen bleibt. Wir wissen, dass in diesem Widerspruch sich die Natur unsrer Organisation spiegelt, welche uns die Dinge ganz, vollendet, gerundet nur auf dem Wege der Dichtung giebt; stückweise, annähernd, aber relativ genau auf dem Wege der Erkenntniss. Alle grossen Missverständnisse, alle weltgeschichtlichen Irrungen stammen ja aus der Verwechslung dieser Vorstellungsweisen, indem man entweder die Ergebnisse der Dichtung, die Gebote einer inneren Stimme, die Offenbarungen einer Religion als absolute Wahrheiten mit den Wahrheiten der Erkenntniss in Conflict gerathen liess, oder ihnen überhaupt keine Stelle im Bewusstsein der Völker gestatten wollte. Freilich tragen alle Ergebnisse der Dichtung und Offenbarung für unser Bewusstsein den Charakter des Absoluten, des Unmittelbaren, indem die Bedingungen, aus denen diese Vorstellungsgebilde hervorgehn, nicht mit zum Bewusstsein kommen; freilich sind anderseits alle Dichtungen und Offenbarungen einfach falsch, sobald man sie nach ihrem materiellen Inhalt mit dem Maassstabe der exakten Erkenntniss prüft: allein jenes Absolute hat nur Werth als Bild, als Symbol eines jenseitigen Absoluten, welches wir gar nicht erkennen können, und diese Irrthümer oder absichtlichen Abweichungen von der Wirklichkeit thun nur Schaden, wenn man sie als materielle Erkenntnisse gelten lässt. Die Religion ist daher in Zeiten, welche einen gewissen Grad von Bildung und Frömmigkeit vereinigen, stets von der Kunst unzertrennlich gewesen, während es ein Zeichen des Verfalls oder der Erstarrung ist, wenn ihre Lehren mit dem nüchternen Wissen verwechselt werden. Dort liegt der wahre Werth der Vorstellungen in der Form, gleichsam im Stil der Vorstellungs-Architektur und in dem Eindruck dieser Vorstellungs-Architektur auf das Gemüth; hier dagegen sollen alle Vorstellungen im Einzelnen wie in ihrem Zusammenhang materiell richtig sein.

Aber die Religion soll nun einmal mit aller Gewalt Wahrheit enthalten. Sie soll, wenn auch nicht menschlicher Erkenntniss, so doch einer höheren Einsicht, einem Wissen um das Wesen der Dinge entstammen, welches den Menschen von der Gottheit offenbart wird. Wir haben uns bereits hinlänglich darüber ausgesprochen, dass wir weder eine Beiordnung noch eine Ueberordnung religiöser Erkenntnisse den Resultaten der methodischen Wissenschaft gegenüber irgendwie zugeben können, und wir möchten annehmen, dass dieser Satz sammt der Zusammenstellung der Religion mit der Kunst und der Metaphysik in nicht zu ferner Zeit allgemein zugegeben sein wird; ja es will uns scheinen, als ob dies Verhältniss selbst von den entschiedensten Gläubigen in ungleich weiterem Maasse erkannt oder wenigstens geahnt werde, als man gewöhnlich annimmt. Die grosse Masse der Bekenner aller Religionen mag freilich noch in einer Gemüthsverfassung sein, wie die, mit welcher die Kinder das Mährchen hören. Der volle männliche Sinn für Wirklichkeit und probehaltige Richtigkeit ist eben noch nicht ausgebildet. Erst mit seinem Hervortreten schwindet die Glaubwürdigkeit jener Geschichten, weil ein andrer Maassstab des Fürwahrhaltens angelegt wird; der Sinn für die Poesie aber bleibt dem ächten Menschenkinde durch alle Stufen des Lebens getreu.

Die Alten sahen den Dichter als einen begeisterten Seher an, der von seinem Gegenstand ganz erfüllt, ganz hingerissen, der gemeinen Wirklichkeit im Geist entrückt war. Sollte nicht dasselbe Ergriffensein von der Idee auch in der Religion sein Recht haben? Und wenn es dann Gemüther giebt, die so tief in diesen Erregungen leben, dass ihnen die gemeine Wirklichkeit der Dinge davor zurücktritt, wie wollen diese die Lebendigkeit, die Stetigkeit, die Wirksamkeit ihrer Erlebnisse im Geist anders bezeichnen, als mit dem Worte »Wahrheit«? Freilich kommt diesem dann nur ein bildlicher Sinn zu, aber der Sinn eines Bildes, welches von Menschen höher geschätzt wird, als die Wirklichkeit, die ihren ganzen Werth nur von dem Licht erhält, welches die Strahlen jenes Bildes über sie verbreiten. Dem Namenchristen kannst du die Schrullen, die ihm aus dem Katechismus-Unterricht im Gedächtniss geblieben sind, mit der Logik aus dem Kopfe fegen, aber dem Gläubigen kannst du doch nicht den Werth seines inneren Lebens wegdisputiren. Und wenn du ihm hundertmal beweisest, dass das Alles nur subjektive Empfindungen seien, so lässt er dich mit Subjekt und Objekt zum Teufel fahren und spottet deiner naiven Versuche, die Mauern Zions, dessen hochragende Zinnen er leuchten sieht vom Glanz des Lammes und von der ewigen Herrlichkeit Gottes, mit dem Hauch eines sterblichen Mundes umzublasen. Die Masse, arm an Logik wie an Glauben, hält die Gewalt prophetenhafter Ueberzeugung so gut für ein Kriterium des Wahren, wie die Probe eines Rechenexempels, und da die Sprache nun einmal dem Volke gehört, so werden wir den doppelten Gebrauch des Wortes »Wahrheit« für einstweilen schon desswegen einräumen müssen.

Schwatzt mir hier aber nichts von »doppelter Buchführung«! Dieser Begriff, doppelt verwerflich, hat erstlich einen falschen Namen, erfunden von einem Professor, der vermuthlich nie ein kaufmännisches Buch gesehen, und der jedenfalls ganz etwas andres meinte, als das tertium comporationis besagt; sodann aber gehört er der Sache nach durchaus in jenes Dämmerungsgebiet kindlicher Mährchenwelt, das wir soeben schilderten. Er entspricht dem Standpunkt von Leuten, die in Folge angelernter wissenschaftlicher Thätigkeit grade so weit gekommen sind, innerhalb ihres Faches Wahres vom Falschen mit Methode und Gewissen unterscheiden zu können, welche aber das ächte Kriterium des Wahren noch nicht auf andre Gebiete zu übertragen wissen, und auf diesem daher einstweilen das als wahr gelten lassen, was ihren unklaren Gefühlen am meisten zusagt. Der Philosoph kann die zweite Bedeutung des Wortes Wahrheit gelten lassen, aber nie vergessen, dass sie eine bildliche ist. Er kann sogar warnen vor einem blinden Eifer gegen die »Wahrheiten« der Religion, wenn er überzeugt ist, dass der ideale Gehalt derselben noch Werth für unser Volk hat, und dass dieser Werth durch einen unbesonnenen Angriff auf die Formen mehr leidet, als anderseits durch die Aufklärung gewonnen wird. Weiter aber kann er nicht gehen, und niemals kann er dulden, dass Lehren, die ihrer Natur nach mit dem wechselnden Charakter der Zeiten wandelbar sind, in irgend ein Buch eingetragen werden, in welchem über den bleibenden Schatz menschlicher Erkenntnisse Rechnung geführt wird. In den Relationen der Wissenschaft haben wir Bruchstücke der Wahrheit, die sich beständig mehren, aber beständig Bruchstücke bleiben; in den Ideen der Philosophie und Religion haben wir ein Bild der Wahrheit, welches sie uns ganz vor Augen stellt, aber doch stets ein Bild bleibt, wechselnd in seiner Gestalt mit dem Standpunkt unsrer Auffassung.

Wie steht es denn nun aber mit der Vernunftreligion? Ist es nicht den Rationalisten, oder Kant, oder den freien Gemeinden der Gegenwart gelungen, eine Religion herzustellen, welche im strengsten Sinne des Wortes die lautere Wahrheit lehrt, welche von allen Schlacken des Aberglaubens, oder wie Kant sagt, vom Blödsinn des Aberglaubens und dem Wahnsinn der Schwärmerei geläutert nur dem ethischen Endzweck der Religion Genüge thut?

Die Antwort hierauf ist, wenn man Wahrheit im gewöhnlichen, nicht bildlichen Sinne des Wortes nehmen will, ein ganz bestimmtes Nein; es giebt auch keine Vernunftreligion ohne Dogmen, die keines Beweises fähig sind. Nimmt man aber die Vernunft mit Kant als das Vermögen der Ideen und setzt man schlechthin die ethische Bewährung an die Stelle des Beweises, so ist Alles, was sich ethisch bewährt, gleichberechtigt. Kant's Minimum von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit ist auch noch entbehrlich; die freien Gemeinden haben es schon über Bord geworfen, und die Grundsätze, welche diese festhalten, sind auch entbehrlich.

Entbehrlich sind alle diese Lehren im Princip, sofern nämlich aus den allgemeinen Eigenschaften des Menschen oder irgend einem andern Grunde sich durchaus kein Beweis führen lässt, dass eine Gesellschaft ohne diese Lehren nothwendig in Unsittlichkeit verfallen müsse. Handelt es sich aber um eine bestimmte Gesellschaft, z. B. die der Deutschen im gegenwärtigen Zeitraum, so ist es sehr wohl möglich, dass die ethisch werthvollste Zusammensetzung der Vorstellungen ungleich viel mehr Ideen fordert, als Kant seiner Vernunftreligion zu Grunde legen wollte. Es ist dies – um es plump zu sagen – Geschmackssache; nur freilich ist nicht der subjektive Geschmack eines Individuums das wesentlich Bestimmende, sondern der gesammte Culturzustand der Völker, die herrschende Art der Ideen-Associationen und eine gewisse von unendlich vielen Faktoren bedingte Grundstimmung des Gemüthes.

Die Rationalisten des vorigen Jahrhunderts hatten Theil an dem allgemeinen Zuge der damaligen Bildung zur Geistesaristokratie. Wenn sie es auch mit dem Wohl des Volkes durchschnittlich ernsthafter nahmen, als die Orthodoxen, so gingen sie doch von den Bedürfnissen und Stimmungen der gebildeten Kreise aus. In diesen konnte man damals eine völlig wahre Religion für möglich halten, weil man sich noch nicht hinlänglich davon überzeugt hatte, dass nach Beseitigung alles dessen, was dem kritischen Verstand Bedenken giebt, gar nichts mehr übrig bleibt. Von Kant hätte man dies allenfalls lernen können, allein er wurde mit seiner rein ethischen Begründung der Religion von zu Wenigen verstanden, und so konnte man in unserm Jahrhundert auf den Gedanken einer von jedem Irrthum geläuterten Religion zurückkommen. Sehr schön schildert Uhlich in einer vom edelsten Wahrheitssinn durchdrungenen Flugschrift (Antwort auf einen offenen Brief, 1860), wie der Uebergang von rationalistischer Kirchlichkeit, zu völliger Lostrennung vom Protestantismus die Stifter der freien Gemeinden einen grossen Schritt weiter führte: »Wir waren der Meinung gewesen: Wenn wir dasjenige in unsrer Kirche, gegen welches Vernunft und Gewissen in uns längst protestirt hatten, beseitigt hätten, so würde das Uebrige an Lehre und Form uns befriedigen und uns die wahre und beseligende Religion sein. Aber wir erkannten allmählig, dass, wenn man einmal das eigne Denken in der Religion als Recht erkennt und als Pflicht übt, man Alles Ueberlieferte, auch was bisher nicht anstössig schien, scharf darauf prüfen müsse, ob es auf dem Grunde ewiger Wahrheit ruht oder nicht.« Was ist nun aber dieser Grund ewiger Wahrheit, auf dem die Religion der freien Gemeinden ruhen soll? Es ist kein andrer, als die Wissenschaft selbst, vorab die Naturwissenschaften. Uhlich nennt die Religion die »Wissenschaft der Wissenschaften«; er verwirft alle Lehrsätze, welche nur auf Wahrscheinlichkeit oder auf Ahnung beruhen, wie z. B. die Annahme einer bewussten Weltseele; er erklärt die Wahrheit als »die Abspiegelung der Wirklichkeit, der wirklichen Welt mit ihren Dingen und Kräften, Gesetzen und Ereignissen, in der Menschenseele.« Was jenseit der Grenzen der Forschung liegt, das soll auch nicht in die Religion gehören. Dabei ist ihm die Religion in ethischer Hinsicht »die Anerkennung des Verhältnisses der Menschheit zu einer ewigen Ordnung, oder, will man lieber, zu einer heiligen Macht, der sie sich zu unterwerfen hat.« Das »Eine was Noth thut« ist der Bau eines Reiches des Wahren, Guten und Schönen. Das Fundament der ganzen Lehre muss also wohl in dem Einigungspunkt des ethischen und des intellektuellen Theiles liegen, in dem Princip, durch welches die streng wissenschaftliche Erkenntniss zur sittlichen Wirkung gelangt. Dies Princip aber ist die Einheit des Wahren, Guten und Schönen. Mit der Wahrheit wird in Folge dieses Princips auch die vollere, edlere Menschlichkeit gewonnen und umgekehrt, und beides vereint führt zur höchsten Schönheit, zur reinsten Freude und Seligkeit. Hier haben wir nun im vollen Sinne des Wortes ein Dogma, welches nicht nur nicht bewiesen, sondern welches sogar, streng verstandesmässig geprüft, nicht richtig ist, welches aber, als Idee festgehalten, den Menschen allerdings gleich jeder religiösen Idee erbauen und über die Schranken der Sinnlichkeit erheben kann. Die Wahrheit – im Sinne der Wirklichkeit – fällt nicht nur nicht mit der Schönheit zusammen, sondern steht sogar in bestimmtem Gegensatz zu ihr. Alles Schöne ist Dichtung, selbst dasjenige, weiches unmittelbar Gegenstand der Sinne wird, denn schon in die ursprünglichste Sinnenthätigkeit mischt sich, wie wir im vorigen Abschnitt gezeigt haben, eine Zuthat unsres Geistes. Der Künstler sieht seinen Gegenstand schon in der unmittelbaren Betrachtung schöner als der minder empfängliche Laie, und die Realisten in unsrer Malerei unterscheiden sich von den Idealisten nur dadurch, dass sie mehr von den Eigenschaften des Wirklichen in ihr Werk aufnehmen und die reine Grundidee des Gegenstandes durch die Ideen seiner Zustände gekreuzt erscheinen lassen; wenn sie aber gar nicht mehr idealisirten, so wären sie keine Künstler mehr. Das Auge der Liebe dichtet, die Sehnsucht des Herzens dichtet, die wehmüthige Erinnerung und das freudige Wiedersehen, alle Affekte und Sinnesthätigkeiten dichten, und wenn man diese Dichtung gänzlich hinwegnehmen könnte, so ist die Frage, ob noch etwas da wäre, was das Leben werth machte, gelebt zu werden. So ist denn nun auch die ganze Naturauffassung Uhlich's – ein unentbehrlicher Theil seiner Religion – nichts weiter als ein Gedicht. »Es ist meine wahre und wirkliche Empfindung,« sagt Uhlich, »wenn ich mich auf eine Blume betrachtend niederbücke, dass mir daraus die Gottheit entgegenblickt und entgegenduftet« Ja wohl, es ist aber auch die wahre und wirkliche Empfindung des Gläubigen, wenn er im Gebet die Nähe seines Gottes fühlt und weiss, dass er erhört ist. Man kann ihm die äussere Quelle der Empfindung abstreiten, aber nie die Empfindung selbst. Wenn ich aber in der Natur bei dem Anblick des Schönen und vergleichsweise Vollkommnen weile, um mich zu erbauen, so mache ich mir die Natur selbst zu meiner Idee des Guten und Schönen. Ich übersehe den dürren Fleck auf dem Blumenkelch und den Raupenfrass an den Blättern, und wenn eine Blume in meinem Garten wächst, die unangenehm duftet, so benutze ich sie nicht, um auch den Teufel ein wenig anzubeten, sondern ich reisse sie aus und werfe sie an eine andre Stelle der Natur, die mir zu meinen erbaulichen Betrachtungen noch weniger dienen kann.

Es liegt an mir, ob ich in der Natur vorwiegend das Unvollkommne sehe oder das Vollkommne, ob ich meine Idee des Schönen in sie hineintrage und sie dann tausendfältig zurückbekomme, oder ob mir überall die Spuren der Verwesung, der Verkümmerung, des Vernichtungskampfes entgegentreten. Und wenn ich dann den Wechsel von Leben und Sterben, von schwellender Fülle und jähem Untergang ins Auge fasse, so bin ich beim Ursprung des Dionysos-Cultus angelangt, und mit einem Blick auf den Contrast zwischen dem höchsten Ideal und allem Lebendigen gerathe ich mitten in die Erlösungsbedürftigkeit.

Diese Andeutung soll natürlich nicht zeigen, dass die Erbauung im Sinne der freien Gemeinden schlechthin verwerflich sei, sondern nur, dass sie den Vorzug unbedingter Wahrheit den andern Formen der Erbauung gegenüber nicht in Anspruch nehmen kann. Es handelt sich um ein Mehr oder Weniger von Wahrheit und Dichtung, und der Umstand, dass die Stifter der freien Gemeinden dies nicht anerkennen, setzt ihre Religionsauffassung in intellektueller Hinsicht hinter Kant und Fichte zurück, verleiht ihr dafür aber auch einen Zug von Naivetät, der sonst nur bei der Orthodoxie zu finden ist.

Man hat nun freilich von philosophischer Seite bemerkt, dass grade ein solcher Punkt in der fortschreitenden Erkenntniss als Basis für die Religion der Zukunft genommen werden müsse, bei dem wir wirklich, wie die freien Gemeinden es thun, noch unbefangen glauben könnten, bei dem die Differenz zwischen dem Ergebniss kritischen Denkens und religiösen Empfindens für uns völlig verschwinde, wenn sie auch für spätere Zeiten wieder hervortreten werde. Was heisst dies aber anders, als den religiösen Glauben auf einen metaphysischen Glauben stützen? Wenn nun der letztere nicht anders bestehen kann als durch Dichtung, warum soll nicht auch die Religion selbst durch Dichtung bestehen, ohne erst der metaphysischen Vermittlung zu bedürfen? Kann die Speculation aber dazu beitragen, dass die religiösen Ideen der Zukunft nicht durch die subjektive Neigung einiger übergewaltiger Charaktere zu sehr bestimmt werden – was zur Reformationszeit sicher der Fall war – kann sie dazu beitragen, dass diese Ideen recht aus dem Centrum unsrer gesammten Culturentwicklung genommen und nicht bloss auf der Oberfläche kirchlicher Polemik aufgelesen werden, dann soll ihre Arbeit willkommen sein; nur das naive Fürwahrhalten können wir einmal nicht mehr brauchen. Man gewöhne sich dafür, dem Princip der schaffenden Idee an sich und ohne Uebereinstimmung mit der historischen und naturwissenschaftlichen Erkenntniss, aber auch ohne Verfälschung derselben, einen höheren Werth beizulegen als bisher; man gewöhne sich, die Welt der Ideen als bildliche Stellvertretung der vollen Wahrheit für gleich unentbehrlich zu jedem menschlichen Fortschritt zu betrachten, wie die Erkenntnisse des Verstandes, indem man die grössere oder geringere Bedeutung jeder Idee auf ethische und ästhetische Grundlagen zurückführt. Es wird freilich manchem Alt- oder Neugläubigen bei dieser Zumuthung vorkommen, als wollte man ihm den Boden unter den Füssen wegziehen und dabei verlangen, dass er stehn bleiben solle, als wenn nichts passirt wäre; allein es fragt sich eben, was der Boden der Ideen ist; ob ihre Einordnung in das Ganze der Ideenwelt nach ethischen Rücksichten, oder das Verhältniss der Vorstellungen, in denen die Idee sich ausprägt, zur erfahrungsmässigen Wirklichkeit. Als die Umdrehung der Erde bewiesen wurde, glaubte jeder Philister fallen zu müssen, wenn diese gefährliche Lehre nicht widerlegt würde; ungefähr wie jetzt Mancher fürchtet ein Holzklotz zu werden, wenn Vogt ihm beweisen kann, dass er keine Seele hat. – Ist die Religion etwas werth, und steckt ihr bleibender Werth im ethischen, und nicht im logischen Inhalt, so wird dies auch wohl schon früher so gewesen sein, wie sehr man auch den buchstäblichen Glauben für unentbehrlich halten mochte.

Wenn dieser Sachverhalt nicht klar im Bewusstsein der Weisen und wenigstens in Ahnungen auch im Bewusstsein des Volkes gelegen hätte, wie hätten sonst in Griechenland und Rom der Dichter, der Bildhauer es wagen dürfen, den Mythus lebendig fortzugestalten, dem Ideal der Gottheit neue Formen zu geben? Selbst der anscheinend so starre Katholicismus handhabte das Dogma im Grunde nur wie eine gewaltige Klammer, um den einheitlichen Riesenbau der Kirche in seinen Fugen zu halten, während der Dichter in der Legende, der Philosoph in den tiefsinnigen und kühnen Spekulationen der Scholastik über den Stoff der Religion verfügte. Niemals wohl, nie, so lange die Welt steht, ist eine religiöse Lehrmeinung von Leuten, die sich über den Standpunkt des rohesten Aberglaubens erheben konnten, in derselben Weise für wahr gehalten worden, wie eine sinnliche Erkenntniss, ein Ergebniss der Rechnung oder des einfachen Verstandesschlusses; wenn auch nie vielleicht, bis auf die neueren Zeiten hin, völlige Klarheit über das Verhältniss jener »ewigen Wahrheiten« zu den unabänderlichen Funktionen der Sinne und des Verstandes geherrscht hat. Man kann stets bei den orthodoxesten Eiferern in ihren Reden und Schriften den Punkt entdecken, wo sie offenkundig in das Symbol übergehen und mit denselben Ausdrücken, mit demselben Nachdruck die plastische Veranschaulichung einer subjektiven Fortbildung des religiösen Gedankens wiedergeben, mit welchen sie die verhältnissmässig objektiven, von einer grossen Gemeinschaft angenommenen und für den Einzelnen unantastbaren Lehren so sinnlich und greifbar zu schildern wissen. Wenn jene Wahrheiten der allgemeinen Kirchenlehre als »höhere« gepriesen werden, neben denen jede andre Erkenntniss, selbst die des Einmaleins, zurückstehen muss, so ist immer wenigstens eine Ahnung davon vorhanden, dass diese Ueberordnung nicht auf einer grösseren Sicherheit, sondern auf einer grösseren Werthschätzung beruht, gegen die ein für allemal weder mit der Logik, noch mit der tastenden Hand und dem sehenden Auge etwas auszurichten ist, weil für sie die Idee als Form und Wesen der Gemüthsverfassung ein mächtigeres Objekt der Sehnsucht sein kann, als der wirklichste Stoff. Selbst aber wo mit ausdrücklichen Worten die grössere Sicherheit, die höhere Gewissheit und Zuverlässigkeit der religiösen Wahrheiten gepriesen wird, da sind dies nur umschreibende Ausdrücke oder Verwechslungen eines exaltirten Gemüthes für den stärkeren Zug des Herzens zu dem lebendigen Quell der Erbauung, der Stärkung, der Belebung, der aus der göttlichen Ideen weit herabfliesst, gegenüber der nüchternen Erkenntniss, die den Verstand mit kleiner Münze bereichert, für welche man eben keine Verwendung hat. Auf dem Gipfel dieser Gemüthsstimmung erhebt sich ein Luther, der doch selbst das Gebäude eines Jahrtausends mit dem Widerspruch seiner Ueberzeugung zerschmetterte, bis zum Fluch gegen die Vernunft, die sich demjenigen widersetzt, was er nun einmal mit aller Gewalt seines glühenden Geistes als die Idee eines neuen Zeitalters erfasst hat. Daher auch der Werth, den wahrhaft fromme Gemüther stets auf das innere Erfahren und Erleben als Beweis des Glaubens gelegt haben. Viele dieser Gläubigen, die ihren Seelenfrieden einem inbrünstigen Ringen im Gebet verdanken und mit Christus als mit einer Person geistigen Umgang pflegen, wissen theoretisch recht gut, dass dieselben Gemüthsprocesse auch bei völlig andern Glaubenslehren, ja unter den Anhängern gänzlich fremder Religionen sich mit demselben Erfolg und mit derselben Bewährung wiederfinden. Der Gegensatz gegen diese und die Zweideutigkeit eines Beweismittels, welches widersprechende Vorstellungen gleich gut unterstützt, kommen ihnen in der Regel nicht zum Bewusstsein, da es vielmehr der gemeinsame Gegensatz jedes Glaubens gegen den Unglauben ist, der ihr Gemüth bewegt. Wird da nicht deutlich, dass das Wesen der Sache in der Form des geistigen Processes liegt, und nicht im logisch-historischen Inhalt der einzelnen Anschauungen und Lehren? Diese mögen wohl mit der Form des Processes zusammenhängen, wie in der Körperwelt Stoffmischung und Krystallform, aber wer weist uns diesen Zusammenhang nach, und was wird es hier erst für Erscheinungen des Isomorphismus geben?

Dieses Vorwalten der Form im Glauben verräth sich auch in dem merkwürdigen Zuge, dass die Gläubigen verschiedner, ja einander feindlicher Confessionen mehr miteinander übereinstimmen, mehr Sympathie mit ihren eifrigsten Gegnern verrathen, als mit denjenigen, die sich für die religiösen Streitfragen gleichgültig zeigen. Die eigentümlichste Erscheinung des religiösen Formalismus liegt aber in der Religionsphilosophie, wie sie sieh namentlich seit Kant in Deutschland gestaltet hat. Diese Philosophie ist eine förmliche Uebersetzung religiöser Lehren in metaphysische. Ein Mann, der vom Köhlerglauben in Beziehung auf unhistorische Ueberlieferungen und naturhistorische Unmöglichkeiten so weit entfernt war, wie es nur immer die Materialisten sein konnten, Schleiermacher, brachte durch seine Hervorhebung des ethischen und idealen Gehaltes der Religion einen förmlichen Strom kirchlicher Erneuerung hervor. Der gewaltige Fichte verkündete das Morgenroth einer neuen Welt-Epoche durch die Ausgiessung des heiligen Geistes über alles Fleisch. Der Geist, von dem im neuen Testamente geweissagt wird, dass derselbe die Jünger Christi in alle Wahrheit leiten soll; es ist kein andrer als der Geist der Wissenschaft, der sich in unsern Tagen offenbaret hat. Er lehrt uns in unverhüllter Erkenntniss die absolute Einheit des menschlichen Daseins mit dem göttlichen, die von Christus zuerst der Welt im Gleichniss verkündigt wurde. Die Offenbarung des Reiches Gottes ist das Wesen des Christenthums, und dies Reich ist das Reich der Freiheit, die durch Versenkung des eignen Willens in den Willen Gottes – Sterben und Auferstehen – gewonnen wird. Alle Lehren von der Auferstehung der Todten im physischen Sinne sind nur Missverständniss der Lehre vom Himmelreich, welches in Wahrheit das Princip einer neuen Weltverfassung ist. Es war Fichte vollkommener Ernst mit der Forderung einer Umschaffung des Menschengeschlechtes durch das Princip der Menschheit selbst in ihrer idealen Vollendung gegenüber dem Verlorensein der Einzelnen in den Eigenwillen. So ist der radikalste Philosoph Deutschlands zugleich der Mann, dessen Sinnen und Denken den tiefsten Gegensatz bildet gegen die Interessen-Maxime der Volkswirtschaft und gegen die gesammte Dogmatik des Egoismus. Es ist daher nicht umsonst, dass Fichte der Erste war, der in Deutschland die sociale Frage in Anregung brachte, die ja nimmer existiren würde, wenn die Interessen der alleinige Hebel menschlicher Handlungen wären, wenn die in der Abstraktion ganz richtigen Regeln der Volkswirtschaft als einseitig waltende Naturgesetze ewig und unabänderlich das Getriebe menschlicher Arbeiten und Kämpfe leiteten, ohne dass je die höhere Idee zum Durchbruch käme, für welche die Edelsten der Menschheit seit Jahrtausenden gelitten und gerungen haben.

»Nein, verlass uns nicht, heiliges Palladium der Menschheit, tröstender Gedanke, dass aus jeder unsrer Arbeiten und jedem unsrer Leiden unserm Brudergeschlechte eine neue Vollkommenheit und eine neue Wonne entspringt, dass wir für sie arbeiten und nicht vergebens arbeiten; dass an der Stelle, wo wir jetzt uns abmühen und zertreten werden, und – was schlimmer ist als das – gröblich irren und fehlen, einst ein Geschlecht blühen wird, welches immer darf, was es will, weil es nichts will, als Gutes; – indess wir in höhern Regionen uns unsrer Nachkommenschaft freuen, und unter ihren Tugenden jeden Keim ausgewachsen wiederfinden, den wir in sie legten, und ihn für den unsrigen erkennen. Begeistre uns, Aussicht auf diese Zeit, zum Gefühl unsrer Würde, und zeige uns dieselbe wenigstens in unsern Anlagen, wenn auch unser gegenwärtiger Zustand ihr widerspricht. Geuss Kühnheit und hohen Enthusiasmus auf unsre Unternehmungen, und würden wir darüber zerknirscht, so erquicke – indess der erste Gedanke: ich that meine Pflicht, uns erhält – erquicke uns der zweite Gedanke: kein Samenkorn, das ich streute, geht in der sittlichen Welt verloren; ich werde am Tage der Garben die Früchte desselben erblicken, und mir von ihnen unsterbliche Kränze winden.«

Die poetische Erhebung, in welcher Fichte diese Worte niederschrieb, erfasste ihn nicht bei Gelegenheit einer verschwommenen religiösen Betrachtung, sondern im Hinblick auf Kant und – die französische Revolution. So eng war bei ihm Leben und Lehre verschmolzen, und während das Wort des Lebens von den Miethlingen der Kirche zum Dienst des Todes, der Unwissenheit, des Fürsten dieser Welt verkehrt wurde, erhob sich in ihm der Geist des Durchbrechers aller Bande und bekannte laut, dass der Umsturz des Bestehenden in Frankreich doch wenigstens etwas Besseres hervorgebracht habe, als die despotischen Verfassungen, die auf die Herabwürdigung der Menschheit ausgehen.

Es ist merkwürdig, wie sich bei näherer Betrachtung die Ansichten und Bestrebungen der Menschen oft so ganz anders gruppiren, als es gemeinhin erscheinen will. Es ist ein trivialer Satz, dass die Extreme sich berühren, aber dieser Satz trifft bei weitem nicht immer zu. Niemals, nie wird der entschlossene Freidenker eine Sympathie empfinden können mit dem starren Kirchenregiment und dem todten Buchstabenglauben; wohl aber mit der prophetenhaften Erhebung eines Frommen, in dem das Wort Fleisch geworden ist, und der Zeugniss ablegt von dem Geist, der ihn ergriffen hat. Niemals wird der aufgeklärte Dogmatiker des Egoismus Sympathie empfinden mit den Stillen im Lande, die im ärmlichen Kämmerlein auf ihren Knieen ein Reich suchen, das nicht von dieser Welt ist; wohl aber mit dem reichen Pastor, der den Glauben tapfer zu schirmen, seine Würde wohl zu behaupten und seine Güter klug zu bewirthschaften weiss, und der mit ihm in Champagner anstösst, wenn er ihm bei einer vornehmen Kindtaufe oder bei der festlichen Einweihung einer neuen Eisenbahnlinie gegenübersitzt.

Weil es die Form des geistigen Lebens ist, die über das innerste Wesen des Menschen entscheidet, so ist auch grade das Verhalten zu Andersdenkenden ein rechter Prüfstein der Geister, ob sie aus der Wahrheit sind oder nicht. Es muss ein schlechter Jünger Christi, im eigensten Sinne der Frommen sein, der sich nicht denken kann, dass der Herr, wenn er in den Wolken erscheint, zu richten die Lebendigen und die Todten, einen Atheisten wie Fichte zu seiner Rechten stellt, während Tausende zur Linken gehn, die mit den Rechtgläubigen »Herr, Herr!« sagen. Es muss ein schlechter Freund der Wahrheit und Gerechtigkeit sein, wer einen A. H.  Franke als Schwärmer verachtet oder das Gebet eines Luther als eitle Selbsttäuschung ansieht. In der That, so weit die Religion im innersten Grunde einen Gegensatz bildet gegen den ethischen Materialismus, wird sie stets unter den erleuchtetsten und freiesten Geistern Freunde behalten, und es fragt sich nur, ob nicht in ihr selbst das Princip des ethischen Materialismus, die »Verweltlichung,« wie die Theologen es nennen, so sehr die Ueberhand gewinnt, dass das bessere Bewusstsein sich von allen ihren bisherigen Formen losreissen und neue Bahnen aufsuchen muss. In diesem Punkt, in dem Verhältniss der bestehenden Religionen zu der gesammten Culturaufgabe des Zeitalters, liegt das wahre Geheimniss ihrer Wandlungen und ihres Beharrens, und alle Angriffe des kritischen Verstandes, wie berechtigt und unwiderstehlich sie auch sein mögen, sind doch nicht sowohl die Ursache, als vielmehr nur Symptome ihres Verfalls, oder einer grossen Gährung in dem gesammten Culturleben ihrer Bekenner. Deshalb hat auch die conservative Wendung, welche die Religionsphilosophie mit Hegel nahm – bei übrigens ganz ähnlichen Umdeutungen, wie diejenigen Fichte's, sowohl für die Kirche wie für die Philosophie keine bleibenden Früchte getragen. Es will sich nicht mehr fügen, dass das Wissen um die unverhüllte Wahrheit allein den Philosophen vorbehalten und die Masse wieder in das feierliche Halbdunkel des alten Symbols zurückgedrängt werde. Wie in der Politik die Lehre von der Vernünftigkeit des Wirklichen in unheilvoller Weise dem Absolutismus Vorschub geleistet hat, so trug die Philosophie vorzüglich durch Schleiermacher und Hegel dazu bei, einer Richtung Vorschub zu leisten, welche, verlassen von der naiven Unschuld der alten Mystik, die Religion durch eine Negation der Negation zu retten suchte. Was die Dogmen der Religion in den Zeiten, wo die Dome emporwuchsen oder wo die gewaltigen Melodien des Cultus entstanden, gegen den Zahn der Kritik beschützte, das war nicht die Antikritik kluger Apologeten, sondern der ehrfurchtsvolle Schauder, mit welchem das Gemüth die Mysterien hinnahm, und die heilige Scheu, mit welcher der Gläubige es vermied, in seinem eignen Innern die Grenze zu berühren, wo Wahrheit und Dichtung sich scheiden. Diese heilige Scheu ist nicht die Folge der Fehlschlüsse, welche zur Annahme des Uebersinnlichen führen, sondern eher ihre Ursache, und vielleicht greift dies Verhältniss von Ursache und Wirkung bis in die ältesten Zeiten unentwickelter Cultur und unentwickelter Religionen zurück. Nahm doch selbst Epikur neben der Furcht auch die erhabnen Traumgebilde von Göttergestalten auf unter die Quellen der Religion! Wer sich berufen fühlt, das Christenthum in irgend einer Form, auf irgend einer Stufe zu retten, der sehe zuvor zu, ob er diesen positiven Lebenskeim der göttlichen Idee in sich trage. Schleiermacher besass ihn, und er besass ihn unbeschadet seines kritischen Unglaubens; deshalb ging auch eine positive Wirkung von ihm aus. Es war in einer Zeit, in welcher Kunst und Poesie in Deutschland einen gewaltigen Aufschwung nahmen, während die exakten Wissenschaften einen langsameren Schritt gingen. Es war aber auch die Zeit, in welcher unsere »Ideologen« auf den Schlachtfeldern bluteten und das Vaterland von der Fremdherrschaft befreiten. Die moderne Orthodoxie dagegen hat von Haus aus eine negative Tendenz. Was die Anhänger dieser Richtung positiv nennen, ist ein dürrer Pfahlzaun von Formeln gegen den Andrang des geistigen Fortschritts. Ihr innerstes Wesen besteht darin, gegen den Sündenlohn von Orden, Titeln und Gehältern die Wissenschaft, die industrielle Arbeit und die bürgerliche Freiheit zu bekämpfen, um denjenigen Mächten, welche in einer neuen und höheren Ordnung der Dinge keinen Raum mehr finden, eine längere Frist der Ausbeutung unsrer Generation zu verschaffen.

Es versteht sich freilich von selbst, dass man die Personen nicht so scheiden kann, wie wir hier die Principien geschieden haben, sonst müssten wir das alte Lied von den »Schwarzen und den Weissen« nach einer neuen Melodie singen. Es giebt in Wirklichkeit weder Dogmatiker des Egoismus (selbst Prince- Smith nicht!) in dem schroffen Sinn, in welchem wir den Begriff oben fassen mussten, noch negative Orthodoxe, die nicht noch ein Fünkchen Ideologie in sich trügen. Man denke nur an Vilmar, einen der bekanntesten Neugläubigen und einen der gefährlichsten Diener absolutistischer Frivolität; oder an Stahl, der ins Grab und bereits in die Vergessenheit gesunken ist, ohne die Wissenschaft zur Umkehr gebracht zu haben; und man wird zugeben, dass selbst diese Männer noch einen Funken von Ideologie zeigen – man könnte in der Sprache des Christenthums sagen: noch ein verglimmendes Fünklein von Glauben; denn das wahre, innerste Wesen des Glaubens ist von den Tagen Pauli bis heute nur das Ergriffensein von der Idee.

Umgekehrt vermag sich auch die Ideologie nicht leicht von dem Gift des Buchstabenglaubens völlig frei zu erhalten. Das Symbol wird unwillkürlich und allmählig zum starren Dogma, wie das Heiligenbild zum Götzen, und der natürliche Widerstreit zwischen Poesie und Verstand artet auf religiösem Gebiete leicht in Abneigung aus gegen das schlechthin Richtige, Nützliche und Zweckmässige, welches in unsrer Zeit den Raum für den Flügelschlag einer freien Seele von allen Seiten zu beengen scheint. Bekannt ist das Unheil, welches der Uebergang aus burschenschaftlicher Ideologie in romantische Quertreiberei und endlich in verbosten Pessimismus in manchem edel angelegten Geiste angerichtet hat. Niemand kann es den Freunden der Wahrheit und des Fortschrittes übel nehmen, wenn sie Misstrauen hegen gegen Alles, was sich dem herrschenden Zug der Zeit zur Prosa widersetzen will, zumal wenn eine kirchliche Färbung dabei ist. Denn wenn in der Zeit der Befreiungskriege die Romantik ihren höheren Zweck zu erfüllen schien, so ist es dagegen offenbar, dass die Richtung der Zeit auf Erfindungen, Entdeckungen, politische und sociale Verbesserungen jetzt ungeheure, vielleicht für die Zukunft der ganzen Menschheit entscheidende Aufgaben zu lösen hat, und es ist nicht zu bezweifeln, dass die ganze Nüchternheit ernster Arbeit, der volle, unverfälschte Wahrheitssinn eines kritischen Gewissens dazu gehören, um diese Aufgaben würdig und erfolgreich zu bearbeiten. Wenn dann der Tag der Erndte kommt, so wird auch wohl der Blitz des Genius wieder da sein, der aus den Atomen ein Ganzes schafft, ohne zu wissen, wie er dazu gekommen.

Inzwischen haben sich die alten Formen der Religion noch keineswegs völlig überlebt, und es wird schwerlich dahin kommen, dass es mit ihrem idealen Gehalt jemals völlig vorbei ist, wie mit einer ausgepressten Citrone, bevor neue Formen des ethischen Idealismus auftreten. So einfach und unverworren geht es im Wechsel irdischer Meinungen und Bestrebungen nicht zu. Der Cultus Apollo's und Jupiters war noch nicht ganz bedeutungslos geworden, als das Christenthum hereinbrach, und der Katholicismus barg noch einen reichen Schatz von Geist und Leben in seinem Innern, als Luther losschlug. Wer aber ernsthaft daran zweifeln kann, dass sämmtliche christliche Confessionen noch heute ihre Aufgabe haben, der muss entweder ihre innerste Idee als Dogmatiker des Egoismus verwerfen, oder die Bedeutung der socialen Frage verkennen. Der Werth der Religion hinsichtlich dieser Frage liegt freilich nicht in den Systemen eines Ketteler und Wagener, die eher auf einen Missbrauch der Religion zur definitiven Niederdrückung der Massen hinauslaufen; wohl aber in der Thatsache, dass heute, wo eine so ungeheure Kluft zwischen dem Volk und den Besitzenden und Gebildeten entstanden ist, die Religion noch das einzige wahrhaft wirksame und in alle Kreise durchdringende Band der Menschlichkeit ist und dass keine Lehre je so entschieden, wie die christliche Religion für die Armen und Unterdrückten Partei ergriffen hat. Die Hierarchie und der Cäsaropapismus treten die Unglücklichen in den Staub, aber der Glaube ist ihnen dennoch die frohe Botschaft eines einstigen Sieges.

So lange dieser Sieg nicht errungen ist, so lange keine neue Lebensgemeinschaft den Armen und Elenden fühlen lässt, dass er Mensch unter Menschen ist, sollte man nicht so eilfertig damit sein, den Glauben zu bekämpfen, damit nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Man verbreite die Wissenschaft, man rufe die Wahrheit auf allen Gassen und in allen Sprachen und lasse daraus werden, was daraus wird; den Kampf der Befreiung aber, den absichtlichen und unversöhnlichen Kampf richte man gegen die Punkte, wo die Bedrohung der Freiheit, die Hemmung der Wahrheit und Gerechtigkeit ihre Wurzel hat: gegen die weltlichen und bürgerlichen Einrichtungen, durch welche die Kirchengesellschaften einen depravirenden Einfluss erlangen. Werden diese Einrichtungen beseitigt, so können die extremsten Meinungen sich nebeneinander bewegen, ohne dass fanatische Uebergriffe entstehen, und ohne dass der stetige Fortschritt der Einsicht gehemmt wird. Es ist wahr, dass dieser Fortschritt die abergläubische Furcht zerstören wird, eine Zerstörung, die grossentheils schon, selbst unter den untersten Schichten des Volkes, vollzogen ist. Fällt die Religion mit dieser abergläubischen Furcht dahin, so mag sie fallen; fällt sie nicht, so hat ihr idealer Inhalt sich bewährt, und er mag dann auch ferner in dieser Form bewahrt bleiben, bis die Zeit ein Neues schafft. Es ist dann nicht einmal sehr zu beklagen, wenn der Inhalt der Religion von den meisten Gläubigen, ja selbst von einem Theil der Geistlichen noch als buchstäblich wahr betrachtet wird; denn jener völlig todte und inhaltsleere Buchstabenglaube, der immer verderblich wirkt, ist kaum noch möglich, wo jeder Zwang hinwegfällt.

Wenn der Geistliche in Folge der bei ihm herrschenden Ideenassociationen das ideale Lebenselement, welches er vertritt, nicht anders vertreten kann, als indem er es sich zugleich mit gemeiner Wirklichkeit begabt denkt, und Alles historisch nimmt, was nur symbolisch gelten soll: so ist ihm dies, vorausgesetzt, dass er in ersterer Beziehung seine Schuldigkeit thut, ganz unbefangen und rückhaltlos einzuräumen. Wenn der Hierarchie jede weltliche Macht, selbst die Basis der bürgerlichen Corporationsrechte nicht ausgenommen, ganz und gar entzogen wird, so ist die gefährlichste Quelle des Fanatismus beseitigt. Die zweitgefährlichste schwindet mit der vollen Einführung unbedingter Lehrfreiheit. Darüber hinauszugehen und die sinnliche Orthodoxie mit den Mitteln der Staatsgewalt oder auch nur durch gewaltsame literarische Missions-Uebung zu bekämpfen, führt in den Fanatismus zurück, und zwar nicht nur durch die unausbleibliche Reaktion, sondern durch die Aktion selbst. Es ist allerdings zu wünschen, dass der Geistliche – und in seiner Weise nicht minder der Lehrer der Philosophie an Gymnasien und Universitäten – über die Grenzen der Gültigkeit alles Idealen aufgeklärt sei; wenn dies aber wegen Enge des Geistes und Mangel geeigneter Bildungsmittel nicht geschehen kann, ohne dass die Kraft beschädigt wird, welche dazu berufen ist, die Idee zu verbreiten: dann ist es im Ganzen besser, einstweilen die Aufklärung zu opfern als die Kraft.

Vollkommen analog verhält es sich auf der andern Seite mit dem materialistischen Naturforscher. Ohne Zweifel ist der Erfolg seiner segensreichen und aufopferungsvollen Forschungen wesentlich bedingt durch seine Hingabe an den gewählten Zweig menschlicher Thätigkeit. Es unterliegt nicht dem mindesten Zweifel, dass nur methodisch strenge Empirie ihn zum Ziele führt, dass scharfe und vorurteilsfreie Betrachtung der Sinnenwelt und rücksichtslose Consequenz der Schlussfolgerungen ihm unentbehrlich sind; endlich, dass materialistische Hypothesen ihm stets die grösste Aussicht auf neue Entdeckungen eröffnen. Ist sein Geist tief und umfassend genug, um mit einer so geregelten Thätigkeit die Anerkennung des Idealen zu verbinden, ohne dass dadurch Verwirrung, Unklarheit oder sterile Zaghaftigkeit in den Bereich seiner Forschungen eindringen, so genügt er dann sicherlich höheren Ansprüchen an ächte, volle Menschlichkeit. Lässt sich dies aber nicht hoffen, so ist es in den meisten Fällen weit besser, in diesen Fächern crasse Materialisten zu haben, als Phantasten und verworrene Schwachköpfe. So viel Ideales als unumgänglich nöthig ist – und mehr als die grosse Masse der Menschen je erreicht – liegt schon in der blossen Hingabe an ein grosses Princip und an einen bedeutenden Stoff. Diejenigen Materialisten, welche in ihrer Wissenschaft wirklich etwas leisten, werden meist wenig Neigung haben, den negativen Missionar zu spielen, und selbst wenn sie es thun, schaden sie der Menschheit weniger als die Apostel der Confusion.

Wenn aber beide Extreme wirklich, selbst in ihrer Einseitigkeit, berechtigt sind, so muss sich auch ein erträgliches, wenn nicht gemüthliches Zusammenleben in der Gesellschaft durchführen lassen, sobald erst die letzten Spuren des Fanatismus aus unsrer Gesetzgebung vertilgt sind. Ob es freilich dazu kommen wird, ist eine andre Frage. Es ist, wie mit der socialen Umwälzung, vor der wir stehen, so auch mit der religiösen. Die friedliche Durchlebung der Uebergangsepoche ist wünschenswerther, allein eine stürmische wahrscheinlicher.

So steht der materialistische Streit unsrer Tage vor uns als ein ernstes Zeichen der Zeit. Heute wieder, wie in der Periode vor Kant und vor der französischen Revolution liegt eine allgemeine Erschlaffung des philosophischen Strebens, ein Zurücktreten der Ideen der Ausbreitung des Materialismus zu Grunde. In solchen Zeiten wird das vergängliche Material, in dem unsre Vorfahren das Erhabene und Göttliche ausprägten, wie sie es eben zu erfassen vermochten, von den Flammen der Kritik verzehrt, gleich dem organischen Körper, der, wenn der Lebensfunke erlischt, dem allgemeineren Walten chemischer Kräfte verfällt und in seiner bisherigen Form zerstört wird. Allein wie im Kreislauf der Natur aus dem Zerfallen niederer Stoffe sich neues Leben hervorringt und Höheres in die Erscheinung tritt, wo das Alte vergeht: so dürfen wir erwarten, dass ein neuer Aufschwung der Idee die Menschheit um eine neue Stufe emporfuhren wird.

Inzwischen thun die auflösenden Kräfte nur ihre Schuldigkeit. Sie gehorchen dem unerbittlichen kategorischen Imperativ des Gedankens, dem Gewissen des Verstandes, welches wach gerufen wird, sobald in der Dichtung des Transscendenten der Buchstabe auffallend wird, weil der Geist ihn verlässt und nach neuen Formen ringt. Das allein aber kann endlich die Menschheit zu einem immerwährenden Frieden führen, wenn die unvergängliche Natur aller Dichtung in Kunst, Religion und Philosophie erkannt wird, und wenn auf Grund dieser Erkenntniss der Widerstreit zwischen Forschung und Dichtung für immer versöhnt wird. Dann findet sich auch eine wechselvolle Harmonie des Wahren, Guten und Schönen, statt jener starren Einheit, an welche unsre freien Gemeinden sich jetzt anklammern, indem sie die empirische Wahrheit allein zur Grundlage machen. Ob die Zukunft wieder hohe Dome baut, oder ob sie sich mit lichten, heitern Hallen begnügen wird; ob Orgelschall und Glockenklang mit neuer Gewalt die Länder durchbrausen werden, oder ob Gymnastik und Musik im hellenischen Sinne zum Mittelpunkt der Bildung einer neuen Weltepoche sich erheben – auf keinen Fall wird das Vergangene ganz verloren sein und auf keinen Fall das Veraltete unverändert sich wieder erheben. In gewissem Sinne sind auch die Ideen der Religion unvergänglich. Wer will eine Messe von Palestrina widerlegen, oder wer will die Madonna Raphaels des Irrthums zeihen? Das gloria in excelsis bleibt eine weltgeschichtliche Macht und wird schallen durch die Jahrhunderte, so lange noch der Nerv eines Menschen unter dem Schauer des Erhabenen erzittern kann. Und jene einfachen Grundgedanken der Erlösung des vereinzelten Menschen durch die Hingabe des Eigenwillens an den Willen, der das grosse Ganze lenkt; jene Bilder von Tod und Auferstehung, die das Ergreifendste und Höchste, was die Menschenbrust durchbebt, aussprechen, wo keine Prosa mehr fähig ist, die Fülle des Herzens mit kühlen Worten darzustellen; jene Lehren endlich, die uns befehlen, mit dem Hungrigen das Brod zu brechen und dem Armen die frohe Botschaft zu verkünden – sie werden nicht für immer schwinden, um einer Gesellschaft Platz zu machen, die ihr Ziel erreicht hat, wenn sie ihrem Verstand eine bessere Polizei verdankt und ihrem Scharfsinn die Befriedigung immer neuer Bedürfnisse durch immer neue Erfindungen. Oft schon war eine Epoche des Materialismus nur die Stille vor dem Sturm, der aus unbekannten Klüften hervorbrechen und der Welt eine neue Gestalt geben sollte. Wir legen den Griffel der Kritik aus der Hand, in einem Augenblick, in welchem die sociale Frage Europa bewegt: eine Frage, auf deren weitem Gebiet alle revolutionären Elemente der Wissenschaft, der Religion und der Politik ihren Kampfplatz für eine grosse Entscheidungsschlacht gefunden zu haben scheinen. Sei es, dass diese Schlacht ein unblutiger Kampf der Geister bleibt, sei es, dass sie einem Erdbeben gleich die Ruinen einer vergangenen Weltperiode donnernd in den Staub wirft und Millionen unter den Trümmern begräbt: gewiss wird die neue Zeit nicht siegen, es sei denn unter dem Banner einer grossen Idee, die den Egoismus hinwegfegt und menschliche Vollkommenheit in menschlicher Genossenschaft als neues Ziel an die Stelle der rastlosen Arbeit setzt, die allein den persönlichen Vortheil ins Auge fasst. Wohl würde es die bevorstehenden Kämpfe mildern, wenn die Einsicht in die Natur menschlicher Entwicklung und geschichtlicher Processe sich der leitenden Geister allgemeiner bemächtigte, und die Hoffnung ist nicht aufzugeben, dass in ferner Zukunft die grössten Wandlungen sich vollziehen werden, ohne dass die Menschheit durch Brand und Blut befleckt wird. Wohl wäre es der schönste Lohn abmattender Geistesarbeit, wenn sie auch jetzt dazu beitragen könnte, dem Unabwendbaren unter Vermeidung furchtbarer Opfer eine leichte Bahn zu bereiten und die Schätze der Cultur unversehrt in die neue Epoche hinüberzuretten; allein die Aussicht dazu ist gering, und wir können uns nicht verhehlen, dass vielleicht schon das Interesse zur theoretischen Ergründung der wichtigen Fragen, die uns beschäftigten, im Erlöschen ist, während die erregten Leidenschaften den Schauplatz betreten. Immerhin wird unser Streben nicht ganz umsonst sein. Die Wahrheit, zu spät, kommt dennoch früh genug; denn die Menschheit stirbt noch nicht. Glückliche Naturen treffen den Augenblick; niemals aber hat der denkende Beobachter ein Recht zu schweigen, weil er weiss, dass ihn für jetzt nur Wenige hören werden.


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