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Zweiter Abschnitt.
Die neueren Naturwissenschaften.

I. Der Materialismus und die exacte Forschung.

Der Freiherr von Liebig fertigt die Materialisten als Dilettanten ab (Chem. Br. 4. Aufl. 23. Brief); gewiss ein hartes Wort für Männer, welche sich auf die Exactheit der Naturforschung so viel zu gute thun, und welche zum grössten Theil ihre metaphysischen Hirngespinnste für empirisch bewiesene Thatsachen ansehen. Sie können sich aber damit trösten, dass das, was Liebig Dilettantismus zu nennen beliebt, der neueren Naturforschung überhaupt in den weitesten Kreisen eigen ist. Unklarheit über die Entwicklungsgeschichte der eigenen Wissenschaft, Verwechslung von Thatsachen, Hypothesen und subjectiven Einfällen, Schwören auf theoretische Dogmen von der zweifelhaftesten Natur, leidenschaftliche Ungeduld in der Construction von Theorien: das sind Uebelstände, welche sich, zumal in Deutschland, der Naturforschung noch beständig als Bleigewichte anhängen und die gewaltige Kraft ihres Adlerfluges hemmen und lähmen. Es ist mit einem Worte der Mangel an philosophischer Bildung, welchen man den Materialisten mit Unrecht inbesondere vorwirft, während er unsern deutschen Naturforschern mit wenigen Ausnahmen im Ganzen gebührt.

Hier werden nun die einen ausrufen, dass ja bekanntlich grade die Philosophie in Deutschland die Naturforschung verdorben habe; die andern werden darauf hinweisen, dass ja in England und Frankreich man ohne Philosophie so weit gekommen sei. Viele, namentlich jüngere Mediciner, werden sich, als lebendiger Beweis für unsere Ansicht, bei dieser Stelle versucht fühlen, das Buch wegzuwerfen. Also gemach!

Ich sprach nicht von Vertiefung in abstruse Systeme, sondern von philosophischer Bildung. Man wird kaum im Ernst behaupten, dass es mit dieser im Vaterlande der logischen Zwangscollegia und der philosophischen Tentamina weit her sei. Bildung schützt vor Enthusiasmus. In Frankreich ist es vor allen Dingen die Mathematik, welche die philosophische Bildung ersetzt. Das Genie dieser Nation hat den mathematischen Formeln Leben eingehaucht und aus dem Wesen der Definition und der Schlussfolgerung jenen consequenten Relativismus erzeugt, welcher die allein sichere Grundlage aller Exactheit bildet. Das Bewusstsein der Prämissen verlässt den französischen Forscher nicht leicht, und er spricht seine Schlussfolgerung nicht absolut aus, sondern im Hinblick auf die Voraussetzung, seine Lehrsätze sind keine Dogmen, sondern Glieder der endlosen Kette wissenschaftlichen Fortschritts. Allerdings ist auch grade der Franzose geneigt, in das entgegengesetzte Extrem zu fallen, wie wir es neuerdings wieder in dem Streit über die Urzeugung gesehen haben. Allein eben diese natürliche Neigung zur leidenschaftlichsten Verfechtung eines Dogmas spricht nur für die Macht der mathematischen Bildung, welche solche Ausbrüche in der Regel verhütet. Diese Bildung, getrennt von der bedeutungslosen Schulphilosophie, ist in Frankreich zu einer eignen Philosophie der exacten Wissenschaften geworden, deren Wesen die Selbstbeschränkung ist, und jener academische Zweifel, welcher für die Naturforschung gleichsam die Bedeutung eines gesunden Himmelsstriches hat.

In England aber, dem Vaterlande eines Mill, Whewell, Herrschel, kann man die philosophische Bildung nur dann vermissen, wenn man von dem Axiom ausgeht, dass sie nur in Deutschland zu finden sei. Allerdings ist von einer so allgemeinen Verbreitung einer philosophischen Weihe, wie sie in Frankreich das Studium der Mathematik verleiht, hier nicht die Rede; dafür ist aber der Einfluss der Philosophie auf die Behandlungsweise der Naturwissenschaften tiefer und allseitiger. Der Engländer weiss, wie der Deutsche, in einer philosophischen Idee den Antrieb zu einer bedeutungsvollen und auf allgemeinere Wahrheiten gerichteten Forschung zu finden, und dabei doch, wie der Franzose, das unnütze Prunken mit metaphysischen Consequenzen zu vermeiden. Lyells Geologie hat Volger zu dem Dogma von der Ewigkeit der Welt veranlasst; der englische Forscher zerschlägt ruhig mit seinen Thatsachen und Betrachtungen die Revolutionstheorie in Stücke und zeigt, wie die Spuren der grossartigsten Veränderungen der Erdoberfläche aus Vorgängen zu erklären sind, welche wir noch jetzt tagtäglich vor Augen haben. Die Frage einer eigentlichen Ewigkeit der Welt, in dem Sinne, in welchem Volger und Czolbe sie fassen, kommt bei Lyell gar nicht vor. Was hat man in Deutschland nicht aus Darwins Theorie der Artenbildung, aus Huxley's Forschungen über den Menschen für weitgehende Folgerungen gezogen, während der Engländer die Gedanken, die sich ihm aufdrängen müssen, verschweigt und nur durch die nächstliegenden Folgerungen zu wirken sucht. Hierbei hat gewiss die Rücksicht auf eine zur Nationalsitte gewordene Kirchlichkeit ihren Antheil; allein es wäre unbillig, zu verkennen, dass es zugleich die philosophische Bildung ist, welche jene Zurückhaltung erzeugt. Einmal werden ja die Schlüsse doch gezogen; wie aber nur durch einen langsamen Process sich grosse und schöne Krystalle gewinnen lassen, so muss auch die Enthaltsamkeit in vorzeitigen Folgerungen als nothwendige Bedingung eines grossen philosophischen Erfolges betrachtet werden. – Sind wir aber in Deutschland überhaupt an Ideen und Systemen productiver als andere Nationen, so bedürften wir auch eines um so höheren Grades kritischer Bildung, um das Gleichgewicht zwischen unseren Meinungen und unseren Erkenntnissen zu erhalten.

Liebig hat wohl nicht eben an philosophische Bildung gedacht, als er den Materialisten den Vorwurf des Dilettantismus machte. Er wollte vielmehr andeuten, dass sie keine streng naturwissenschaftliche Schule hätten. Hier muss zunächst bemerkt werden, dass diese Schule, sobald sie sich zur bewussten Methodologie erhebt, jedenfalls ein philosophisches Element ist. Sie lebt nun freilich in den Laboratorien auch als Dressur, als Ueberlieferung; wie dies ja auch nicht minder in den philologischen und historischen Seminarien vorkommt, in denen eine Masse mittelmässiger Köpfe zurechtgestutzt werden muss. Ja, eine dritte Form ist vielleicht wichtiger als beide andern: es ist der methodische Instinct des Genie's, dessen unbewusster Drang zur Befolgung derselben Regeln führt, welche der Philosoph theoretisch entwickelt, und welche den Novizen praktisch eingepaukt werden. Wenn wir nicht irren, war der jugendliche Apothekerlehrling Liebig einst ein solches Genie; während der alternde Freiherr sich jetzt mit staunenswerther Jugendfrische in die methodologischen Fragen wagt, in welchen er vermuthlich Dilettant bleiben wird. In etwas höherem Grade sind vielleicht eben in dieser Beziehung Vogt, Moleschott und Büchner Dilettanten. Wenn diesen Schriftstellern aber zum Vorwurf gemacht werden sollte, dass sie über chemische Fragen mitsprechen, ohne grade Chemiker zu sein, oder dass sie überhaupt Schlüsse aus den Forschungen Anderer ziehen, so müssen wir Gelegenheit nehmen, eins der schädlichsten Vorurtheile entschieden zurückzuweisen. Wenn die Resultate der Wissenschaft so schwierig zu deuten wären, dass dazu allemal wieder ein Specialforscher desselben Faches gehörte, so sähe es mit dem Zusammenhang alles Wissens und mit der ganzen höheren Bildung sehr bedenklich aus. Ein Schuh wird in gewissen Beziehungen am besten vom Schuhmacher beurtheilt, in andern von dem, der ihn trägt, und wieder in andern vom Anatomen und vom Maler oder Bildhauer. Das Beispiel klingt sehr trivial, aber es erleidet hier Anwendung. Um philosophische Schlüsse aus den Thatsachen der Naturforschung zu ziehen, braucht man philosophische Bildung; im Uebrigen nur eine richtige Auffassung der Thatsachen; es ist aber nichts als ein weit verbreiteter Irrthum, wenn man meint, der Fachmann müsse das in jedem Fach am besten können.

Bei jedem wirklich productiven Forscher wird man wohl voraussetzen können, dass Genie, Ueberlieferung und bewusste Methode an dem glücklichen Resultate ihren grösseren oder geringeren Antheil haben. Es ist ganz gut möglich, dass ein Philosoph, welcher das Verfahren der Naturforschung geschichtlich und theoretisch ganz genau kennt, bei eignen Untersuchungen aus Mangel an Sinn, Geschick und überlieferter Technik gänzlich Schiffbruch leiden würde. Dieser wäre dann trotz seiner theoretischen Einsicht – aber auch unbeschadet derselben – ein naturforschender Dilettant. Im Gegensatz dazu werde ich aber den einen Dilettanten in der Philosophie, und nicht in der Naturforschung nennen, welcher von der Methode, die er praktisch mit einigem Glück verfolgt, nur die vagsten Allgemeinheiten anzugeben weiss, und sich darin gefällt, diesen den ganzen Erfolg der neueren Naturwissenschaften zuzuschreiben. Wenn man solche Praktiker oft von Empirie, Induction und Baco reden hört; oder wenn man aus ihrem Munde die grosse Weisheit vernimmt, dass es nichts bedurft hätte, als die Verdrängung der Naturphilosophie und der classischen Literatur, um die ächte Naturforschung wie einen deus ex machina erscheinen zu lassen: dann weiss man freilich, auf welchem Boden man sich befindet, und man wird auf Widerlegung gern verzichten. Einen andern Zweck hat Polemik; einen andern Elementarunterricht.

Die Stimmführer des Materialismus sind in dieser Beziehung bei weitem nicht die Schlimmsten, und mancher angesehene Specialforscher übertrifft sie ausserordentlich im Missbrauch allgemeiner Begriffe.

Vieles muss man übrigens bei unsern Materialisten auch der theologischen – oder wenn man will der atheologischen – Tendenz zu gute halten. Sie kämpfen fast überall gegen die roheste Orthodoxie, die sie selbst da voraussetzen, wo keine Spur davon vorhanden ist. In solchem Kampfe bedarf es leichter Truppen. Wir wollen damit nicht sagen, dass der Zweck das Mittel heiligt, sondern dass der Zweck die Verantwortung für das Mittel ebenfalls tragen muss. Den Zweck selbst, die Beseitigung der Religion, werden wir später mit möglichster Berücksichtigung unserer sämmtlichen Zeitverhältnisse der Kritik unterwerfen. Hier wollen wir nur bemerken, dass die gehaltlose Glauberei der Massen allerdings durch die oberflächlichsten Betrachtungen am leichtesten umgeworfen wird, weil nur diese, ihrer gefälligen Unklarheit wegen, »verstanden« d. h. geistig assimilirt werden. Bei den entschiedenen Tendenzschriften darf man daher das Conto der Wissenschaftlichkeit des Autors einigermassen entlasten und sich an den Werth der Tendenz selbst halten.

Schlimmer ist es daher, wenn man die schädlichen Spuren jenes Dilettantismus bei Männern findet, welche nicht nur in ihrer speciellen Wissenschaft sehr hoch stehen, sondern auch sich im Ganzen über dem Niveau jener halb-philosophischen Tagesfragen zu halten suchen. Hier aber grade lohnt es sich auch, sie ein wenig zu verfolgen.

Kaum können die Materialisten sich schärfer gegen die Idealphilosophie, die Alterthumsstudien und verwandte Bestrebungen aussprechen, als dies der berühmte Botaniker Hugo von Mohl gethan hat in einer Rede, welche die Errichtung einer naturwissenschaftlichen Facultät an der Universität Tübingen feiert.

Die Thatsache selbst, welche diese Rede veranlasste, gehört einigermassen in den Kreis unserer Betrachtungen. Der Umstand, dass die Schwaben nun eine Facultät mehr haben, als das übrige Deutschland, könnte an und für sich höchst gleichgültig scheinen, da das Facultätswesen, wie es besteht, jedenfalls kein Muster ist. Betrachtet man aber diese neue naturwissenschaftliche Facultät im Lichte der Gründe, die Mohl für ihre Errichtung angiebt, so sehen wir, dass der Radicalismus in Beziehung auf die philosophisch-historische Bildung bei dieser angeblich so wichtigen Schöpfung eine grosse Rolle spielt.

Die alten Facultäten bildeten sich ziemlich schnell nach dem Entstehen der Universität Paris, deren Einrichtungen für Deutschland mustergültig wurden. Sie stehen in engster Beziehung je zu einem bestimmten praktischen Lebensberuf; denn die philosophische Facultät wurde nur durch die Ablösung der drei andern ein besondres Ganze. Sie blieb die allgemeine Facultät gegenüber den drei speciellen; theils der gemeinsamen Vorbereitung auf die Fachstudien gewidmet, theils der freien Wissenschaft. Alle neu entstehenden Wissenschaften fielen ihr naturgemäß zu, sofern sie nicht zu einem Fachstudium in engster Beziehung standen. Wäre das ursprüngliche Bildungsprincip der Universitäten lebendig geblieben, so hätten sich vielleicht schon mehrere neue Facultäten genau im Sinne der bestehenden bilden können; so z. B. eine cameralistische, eine pädagogische, eine landwirtschaftliche. An sich ist nichts dagegen einzuwenden, dass nun auch einmal eine neue Facultät nach einem neuen Princip gebildet wird; wir möchten nur feststellen, dass dies so ist, und uns dann das neue Princip etwas näher betrachten. Wir haben einen förmlichen Krieg der Facultäten vor uns, in welchem jedenfalls die Philosophen die traurigste Rolle spielen. Die Mediciner beantragen zuerst die Errichtung der naturwissenschaftlichen Facultät. Die Naturforscher wollen sämmtlich aus den mütterlichen Armen der facultas artium scheiden. Ihre bisherigen Collegen wollen sie nicht loslassen; ein förmlicher Emancipationsstreit! Man begreift, dass ein dem Schulfach entsprossener Philologe sich durch die Rücksicht auf eine gewisse Einheit in der Bildung zukünftiger Lehrer zu weit führen lässt; ein wirklicher Philosoph aber sollte niemals einem thatsächlich empfundenen Bedürfniss nach solcher Trennung durch starres Festhalten bestehender Zustände entgegentreten. Er sollte sich vielmehr fragen, worin die abstossende Kraft begründet liegt, welche die Trennung fordert; er sollte sich bemühen, durch seine eignen Leistungen sich denen, die er festhalten will, unentbehrlich zu machen. Hat eine Universität keine Männer, die in einem solchen Falle über dem Streit stehen und vor allem nach der inneren Seite der Sache fragen, so hat sie überhaupt keine Philosophen. Wenn Feuerbach behauptet, es sei ein specifisches Kennzeichen eines Philosophen, kein Professor der Philosophie zu sein, so ist das eine arge Uebertreibung; allein so viel ist gewiss, dass gegenwärtig ein selbständiger und freimüthiger Denker nicht leicht einen öffentlichen Lehrstuhl in Deutschland erlangen wird. Man klagt über Vernachlässigung der Naturwissenschaften; man könnte über Erdrosselung der Philosophie klagen. Es ist den Tübinger Naturforschern nicht übel zu nehmen, wenn sie sich von einem todten Körper los zu machen suchen; allein es muss bestritten werden, dass diese Trennung durch das Wesen der Naturforschung und der Philosophie bedingt werde.

Die Naturwissenschaften haben in ihrer klaren und lichtvollen Methode, in der überzeugenden Macht ihrer Experimente und Demonstrationen einen mächtigen Schutz gegen die Verfälschung ihrer Lehre durch Männer, welche dem Princip ihrer Forschung schnurstracks zuwider arbeiten. Und doch dürfte, wenn erst die Philosophie ganz und gar unterdrückt und beseitigt ist, auch die Zeit herankommen, in welcher in naturwissenschaftlichen Facultäten ein Reichenbach die Odlehre vorträgt, oder ein Richer das Newtonsche Gesetz widerlegt. In der Philosophie ist der Denkfrevel leichter zu begehen und leichter zu bemänteln. Es giebt kein so sinnlich klares und logisch gewisses Kriterium des Gesunden und Wahren, wie in der Naturwissenschaft. Wir wollen einstweilen als Nothbehelf eins vorschlagen. Wenn die Naturforscher sich freiwillig der Philosophie wieder nähern, ohne deshalb an der Strenge ihrer Methode auch nur ein Titelchen zu ändern; wenn man zu erkennen beginnt, dass alle Facultätsunterschiede überflüssig sind; wenn die Philosophie, statt ein Extrem zu sein, vielmehr das Bindeglied zwischen den verschiedensten Wissenschaften abgiebt und einen fruchtbaren Austausch der positiven Resultate vermittelt: dann wollen wir annehmen, dass sie auch ihrer Hauptaufgabe wieder zugewandt ist, dem Jahrhundert die Fackel der Kritik voranzutragen, die Strahlen der Erkenntniss in einen Brennpunkt zu sammeln und die Revolutionen der Geschichte zu fördern und zu lindern.

Die Vernachlässigung der Naturwissenschaften in Deutschland stammt aus derselben conservativen Tendenz, wie die Unterdrückung und Verfälschung der Philosophie. Vor allen Dingen hat es an Geldmitteln gefehlt, und es wird leider noch lange dauern, bis wir in dieser Beziehung den Vorsprung Englands und Frankreichs eingeholt haben. Herr von Mohl sah in dem physikalischen Cabinet einer deutschen Universität »eine Schrecken erregende Maschine, welche eine Luftpumpe vorstellen sollte. Die academische Commission, deren Bewilligung und Anordnung die Anschaffungen des Physikers unterlagen, hatte decretirt, damit die Arbeit nicht einem auswärtigen Mechaniker zugewendet werde, die Luftpumpe einem Spritzenmacher in Accord zu geben.« Dies giebt Veranlassung, über die Bevormundung des Physikers durch seine Facultätsgenossen zu seufzen. Ist aber ein ordentlicher Etat für solche Anschaffungen zur freien Disposition des Physikers nicht denkbar ohne Trennung der Facultäten? Und ist nicht auch bei dem gegenwärtigen Zustande der Dinge grade der Philosoph, welcher die wissenschaftlichen Methoden und die Voraussetzungen ihrer Anwendung kennen muss, der natürliche Bundesgenosse des Physikers?

Doch nein! Da sitzt der Haken. Ein Descartes, Spinoza, Leibnitz, Kant würden diese Rolle spielen; die Mehrzahl unserer gegenwärtigen Philosophie-Professoren aber – da hat Herr von Mohl recht; nur sollte er die Schuld nicht auf die Philosophie selbst, ja geradezu auf das Wesen des philosophischen Denkens schieben, wenn heutzutage ein solches Zusammenwirken nicht leicht zu erwarten ist. Von Mohl glaubt an den » tödtlichen Einfluss« der Naturphilosophie auf die Naturforschung. Er findet die Ursache dieser schrecklichen Erscheinung »in der Verschiedenheit der Grundsätze, von welchen die beiden ausgehen, und in der Verschiedenheit der Methode, welche sie bei wissenschaftlichen Untersuchungen befolgen.« Er giebt zwar zu, dass auch der Philosoph auf die Erfahrung Rücksicht nimmt, und dass anderseits auch der Naturforscher häufig a priori verfahre; der grosse Unterschied soll aber darin liegen, dass der Philosoph stets annimmt, dass seine Ideen innere Wahrheit enthalten und mit der Wirklichkeit übereinstimmen, während der Naturforscher sich bescheiden durch die Thatsachen leiten lässt und seine liebsten Ideen zu opfern bereit ist, wenn die Erfahrung nicht zustimmt.

In diesem Gegensatz zeigt sich recht schlagend die dilettantische Auffassung der Philosophie, die wir berichtigen möchten.

Gewiss wird Niemand behaupten, dass die Architectur dem Steinbruchbetrieb schädlich sei, weil der Architect sein Werk für vollendet hält, sobald er die Schlüssel überliefern kann, während im Steinbruch immer neue Gänge geschlagen, immer reichere und bessere Bausteine gesucht werden. Es wäre aber ein närrisch Ding, wenn alle Arbeiter im Steinbruch von der Bauwuth ergriffen würden, und, statt emsig weiter zu graben und zu sprengen, ihre Zeit damit hinbrächten, das gewonnene Material auf ihrem Werkplatz selbst zu allerlei sonderbaren gothischen Hallen und babylonischen Thürmen zusammenzufügen, welche wieder abgetragen werden, wenn ein Käufer das Material zu einem Schleusenbau oder einem Viaduct für eine Eisenbahn haben will.

Wir verlangen von dem heutigen Naturforscher mehr philosophische Bildung; aber nicht mehr Neigung, selbst originelle Systeme zu machen. Im Gegentheil, in dieser Beziehung sind wir den Schaden der naturphilosophischen Zeit noch immer nicht los: der Materialismus ist der letzte Ausläufer jener Epoche, wo jeder Botaniker oder Physiologe auch glaubte, die Welt mit einem System beglücken zu müssen.

Wer hiess denn eigentlich einen Oken, Nees von Esenbeck, Steffens und andere Naturkundige philosophiren, statt forschen? Hat jemals irgend ein Philosoph, selbst in der ärgsten Schwindelperiode, die exacte Forschung in vollem Ernst durch sein System ersetzen wollen? Selbst Hegel, der hochmüthigste der neueren Philosophen, betrachtete sein System niemals in dem Sinne als definitiven Abschluss der wissenschaftlichen Erkenntniss, wie dies nach der Auffassung, die wir bestreiten, hätte sein müssen. Er erkannte sehr wohl, dass keine Philosophie über den geistigen Gesammtinhalt ihrer Zeit hinaus gelangen kann. Freilich war er verblendet genug, die reichen philosophischen Schätze, welche die einzelnen Wissenschaften dem Denker fertig zuführen, zu verkennen und namentlich den geistigen Gehalt der exacten Wissenschaften viel zu gering anzuschlagen. Umgekehrt warfen sich die Naturforscher damals vor der Speculation in den Staub, wie vor einem Götzen. Wäre ihre eigne Wissenschaft in Deutschland besser fundirt gewesen, so würde sie den Windstürmen der Speculationswuth besser getrotzt haben. Die exacte Forschung ist jetzt auch bei uns in ein reifes Alter getreten; sie ist eine moralische Macht geworden, wie schon allein die grossen Naturforscherversammlungen beweisen. Soll der Mann deshalb keinen Wein mehr trinken, weil der Jüngling sich einmal berauscht hat? Die Folge wird sein, dass er zuletzt den ersten besten Kartoffelspiritus geniesst, wie die Reden der Herren Erdmann und Eimer auf der Naturforscherversammlung zu Karlsruhe (Bericht S. 19. 44 ff.), nebst zahllosen ähnlichen Producten der Neuzeit beweisen. (Hyrtl's berüchtigte Rede! –)

»Die Forderung«, meint Mohl, »welche der Naturforscher an den Beweis der Wahrheit stellt, ist eine wesentlich andere, als die des Philosophen.« Dies ist für die Metaphysik zuzugeben; insofern die Philosophen noch immer belieben, auf diesem Gebiet von »Beweisen« zu reden. Der Begriff des Beweises ist aber aus dem constructiven Theil der Philosophie, wenn man eine endlose Reihe von Missverständnissen endlich abschneiden will, ganz und gar zu verbannen. Man vergesse aber doch nicht, dass die Methodenlehre selbst zur Philosophie gehört, und dass grade der Philosoph am schärfsten unterscheiden muss, was metaphysisch und was empirisch ist. Kein Philosoph würde Newton gerathen haben, die Einheit der Fallgesetze mit denen der Attraction der Himmelskörper gleich nach dem berühmten Apfelfall zu publiciren, oder gar nach der ersten Berechnung die Widersprüche, welche sich ergaben, über Bord zu werfen und ein nicht gefundenes Resultat als Dogma aufzustellen. In Beziehung auf die empirische Wissenschaft selbst kann der Philosoph als unbefangener Beobachter und Kenner der Methoden nur strenger sein, als der Forscher selbst. Denn da Metaphysik ein allgemeines Bedürfniss des menschlichen Geistes ist, so sind fast alle unsere Forscher irgendwo und irgendwie Metaphysiker wider Willen. Sie verwechseln alsdann Thatsachen und Hypothesen, Erfahrungen und Vermuthungen, einheitliche Gesichtspunkte der Betrachtung und bewährte Theorien. Selten wird man, namentlich in Deutschland finden, dass ein Naturforscher darin so streng verfährt, wie es der Philosoph und der ihm geistesverwandte Mathematiker fordern müssen. Bei den Männern aber, welche in dieser Beziehung den höchsten Anforderungen gerecht werden: einem Helmholtz, Humboldt und anderen Classikern der exacten Wissenschaften, wird man die unnütze Philosophenfurcht nicht finden; freilich eben so wenig Freude an dem gegenwärtigen Zustand der Weltweisheit in unserem Vaterlande.

Der Gipfel des Missverständnisses liegt endlich klar vor uns in einem Worte von Mohls, welches wir ganz mittheilen, weil es ausspricht, was Viele denken und weil es einen Quell des sporadischen Materialismus enthält, dem wir hier auf vielfach verschlungenen Pfaden nachgehn müssen.

»Die tiefe Kluft zwischen Naturforschung und Philosophie wird bei der Unendlichkeit der Natur wohl nie ausgefüllt werden. Der Naturforscher steht seinem wissenschaftlichen Object immer als ein Lernender gegenüber, der Philosoph geht dagegen bei seiner Behandlung der Wissenschaft nothwendiger Weise von der Ueberzeugung aus, dass er Einsicht in die grössten Tiefen derselben besitzt, dass er die letzten Gründe klar erfasst hat und aus denselben die Verhältnisse des Einzelnen zu entwickeln im Stande ist. Dieser verschiedene Standpunkt, auf dem beide stehen, giebt nicht nur der Behandlung ihrer Wissenschaften eine ganz verschiedene Richtung, sondern erzeugt eine so verschiedene Anschauungsweise, dass häufig ein gegenseitiges Verständniss geradezu unmöglich wird und dass beide verlangen müssen, sie auf ihrem Wege ungestört gehen zu lassen, auf ähnliche Weise, wie der Philosoph vom Theologen verlangen muss, dass er bei seinen Untersuchungen auf die Dogmen des letzteren keine Rücksicht zu nehmen habe.«

Ein sonderbares Durcheinander von Begriffen! Da ganz ähnliche Conglomerate aber heutzutage und namentlich in den Grenzgebieten des Materialismus sehr häufig vorkommen, so dürfte sich eine kleine Analyse lohnen.

Also der Naturforscher lernt von den Dingen; der Philosoph will Alles aus sich wissen und deshalb verstehen sie sich beide nicht? Das Missverständniss kann doch nur da sein, wo beide über dieselben Dinge sprechen und dabei Verschiedenes nach verschiedenen Methoden darthun. Dabei sind sie sich entweder klar darüber, dass sie nach verschiedenen Methoden verfahren oder nicht. Wenn z. B. ein Professor der Philosophie den Aerzten »auf naturwissenschaftlichem Wege« allerlei metaphysischen Hocuspocus beweisen will, so ist dieser Professor, und er ganz allein, an dem Missverständniss schuld. Jeder wirkliche Philosoph wird einen solchen Anthropologen ebenso scharf zurückweisen, wie der Naturforscher, vielleicht schärfer, weil er eben den methodischen Fehler als Kenner des beiderseitigen Verfahrens schneller durchschaut. Ein Beispiel solcher wissenschaftlichen Polizei verübte vor einigen Jahren Lotze in seiner Streitschrift (1857) gegen die Anthropologie des jüngeren Fichte. Er beging nur dabei den Fehler, dass er diesem, nachdem er ihn wissenschaftlich ganz und gar beseitigt hatte, einen Händedruck und gegenseitige Geschenke nach der Art der homerischen Helden vorschlug. Die homerischen Helden schenkten dem nichts mehr, den sie erlegt hatten!

Ganz ebenso kann es gehen, wenn ein Naturforscher denselben Fehler macht, d. h. wenn er seine metaphysischen Grillen unter der Form von Thatsachen an den Mann bringen will. Nur wird in diesem Falle oft grade der strengere Naturforscher die prompteste Polizei üben, weil er die Entstehungsgeschichte der angeblichen Thatsachen am genauesten kennt. Dies ist bekanntlich gerade unseren Materialisten bisweilen widerfahren.

Wenn aber Philosoph und Naturforscher sich ihrer verschiedenen Methoden bewusst sind, d. h. wenn der erste speculativ verfährt, der letztere empirisch, so ist in ihren Lehren deshalb kein Widerspruch, weil nur der letztere von einem verstandesmässig zu erkennenden Object der Erfahrung spricht, während der erstere einem Bedürfniss des Gemüthes, einem schaffenden Naturtrieb zu genügen sucht. Wenn z. B. ein Hegelianer die Empfindung erklärt, als »das, wo die ganze Natur als ein dumpfes Weben des Geistes in sich erscheint«, und der Physiologe nennt sie »die Reaction des Nervenprocesses auf das Gehirn« oder »auf das Bewusstsein«; so liegt darin durchaus kein Anlass für beide, sich ergrimmt den Rücken zu kehren. Der Philosoph muss den Physiologen verstehen; für diesen aber ist es Geschmackssache oder wenn man will Bedürfnissfrage, ob er dem Metaphysiker noch länger zuhören will.

Wenn wir vom Naturforscher höhere philosophische Bildung verlangen, so ist es auch durchaus nicht die Speculation, die wir ihm so dringend anempfehlen möchten, sondern die philosophische Kritik, die ihm grade deswegen unentbehrlich ist, weil er selbst doch niemals in seinem eignen Denken, trotz aller Exactheit der Specialforschung, die metaphysische Speculation ganz wird unterdrücken können. Eben um seine eignen transscendenten Ideen richtiger als solche zu erkennen und sie sicherer von dem zu unterscheiden, was die Empirie giebt, bedarf er der Kritik der Begriffe.

Wenn nun der Philosophie hierin ein gewisses Richteramt zugesprochen wird, so ist das auch keine Anmassung einer Bevormundung. Denn abgesehen davon, dass Jeder in diesem Sinne Philosoph sein kann, welcher die allgemeinen Denkgesetze zu handhaben versteht, so bezieht sich auch der Richterspruch nie auf das eigentlich Empirische, sondern auf die mit untergelaufene Metaphysik oder auf die rein logische Seite der Schlussfolgerung und Begriffsbildung. Was soll daher der Vergleich des Verhältnisses der Naturwissenschaften zur Philosophie mit der Stellung der Philosophie zum Dogma des Theologen? Soll damit wieder das Bedürfniss einer Emancipation angedeutet werden, so haben wir einen starken Anachronismus vor uns. Die Philosophie hat nicht mehr ihre Freiheit von theologischen Dogmen erst zu verlangen. Das ist durchaus selbstverständlich, dass sie sich nach diesen in keiner Weise zu richten hat. Sie wird aber umgekehrt jederzeit das Recht in Anspruch nehmen, diese Dogmen dennoch zu berücksichtigen und zwar als Objecte ihrer Forschung. Das Dogma ist dem Philosophen kein naturwissenschaftlicher Lehrsatz, sondern der Ausdruck der Glaubensrichtung und der speculativen Thätigkeit einer geschichtlichen Periode. Er muss das Entstehen und Vergehen der Dogmen im Zusammenhang mit der culturgeschichtlichen Entwicklung der Menschheit zu begreifen suchen, wenn er seine Aufgabe auf diesem Gebiete lösen will.

Die exacte Forschung vollends muss für jeden Philosophen das tägliche Brod sein. Mag der Stolz des Empirikers es vorziehen, sich auf ein Feld für sich zurückzuziehen; er wird den Philosophen doch niemals hindern können, ihm zu folgen. Es ist keine Philosophie auf dem Standpunkt der Gegenwart mehr denkbar ohne die exacte Forschung, und eben so sehr bedarf die exacte Forschung der beständigen Läuterung durch die philosophische Kritik. Es ist kein Dilettantismus, wenn der Philosoph sich mit den wichtigsten Resultaten und den Forschungsmethoden sämmtlicher Naturwissenschaften bekannt macht; denn dies Studium ist die nothwendige Basis aller seiner Operationen. So ist es auch kein Dilettantismus, wenn der Naturforscher sich eine bestimmte, geschichtlich und kritisch begründete Ansicht über den Denkprocess der Menschheit verschafft, an den er doch trotz aller scheinbaren Objectivität seiner Untersuchungen und Folgerungen unauflöslich geknüpft ist. Grade das aber möchten wir verwerflichen Dilettantismus nennen – ohne übrigens zu leugnen, dass bevorzugte Geister beide Gebiete wirklich umfassen mögen – wenn der Philosoph nach Baco's Weise mit ungeschultem Sinn und ungeübter Hand in Experimenten herumpfuscht, und wenn der Naturforscher, ohne sich darum zu bekümmern, was vor ihm gedacht und gesagt ist, mit willkürlicher Behandlung der überlieferten Begriffe sich selbst ein metaphysisches System zusammenwürfelt.

Nicht minder wahr ist es aber, dass Philosoph und Naturforscher direct fördernd auf einander einwirken können, wenn sie sich auf den Boden begeben, der beiden gemeinsam ist und bleiben muss: die Kritik des Materials der exacten Forschung in Beziehung auf die möglichen Folgerungen. Vorausgesetzt, dass man sich wirklich beiderseits einer strengen und nüchternen Logik bedient, werden die erblichen Vorurtheile dadurch in ein wirksames Kreuzfeuer gebracht, und damit ist beiden Theilen gedient

Was soll nun die Theorie des gegenseitigen Gehenlassens wegen gänzlicher Unmöglichkeit der Verständigung? Es will uns bedünken, als sei gerade in diesem Princip die höchste Einseitigkeit des Materialismus ausgesprochen. Die Folgen einer allgemeinen Anwendung dieses Princips würden sein, dass Alles in egoistische Cirkel zerfällt. Die Philosophie unterliegt vollends dem Zunftgeist der Facultäten. Die Religion – und auch dies gehört zum ethischen Materialismus – stützt sich in Gestalt crasser Orthodoxie auf den Grundbesitz und die politischen Rechte der Kirche; die Industrie jagt seelenlos dem momentanen Unternehmergewinn nach; die Wissenschaft wird zum Schiboleth einer exclusiven Gesellschaft; der Staat neigt zum Cäsarismus.

Wenn der Gang der Geschichte uns mit der Catastrophe verschont, die aus einem solchen Zustand der Dinge folgen müsste, so wird sich vorher unter einem allgemeinen Aufschwung des Idealen auch die Philosophie im Bunde mit den exacten Wissenschaften neu erheben müssen. Fruchtbarer Gedankenaustausch in Wort und Schrift muss an die Stelle des kleinlichen Streites treten. Der Philosoph aber wird vor allen Dingen einsehen müssen, dass sein Ziel nicht ein Professorstuhl sein darf, sondern die fortschreitende Umgestaltung unserer Lebensverhältnisse, zur Verwirklichung des Idealen, so weit jedes Zeitalter es fassen kann.

Nächst der Verachtung der Philosophie ist ein materialistischer Zug in dem ungeschichtlichen Sinn zu finden, welcher sich mit unserer exacten Forschung so häufig verbindet. Heutzutage versteht man oft unter »geschichtlicher« Auffassung die conservative. Dies kommt theils daher, dass sich die Wissenschaft oft für Geld und Ehren dazu missbrauchen liess, überlebte Mächte zu stützen und dem Raub-Interesse zu dienen durch Hinweis auf vergangene Herrlichkeiten und historischen Erwerb gemeinschädlicher Rechte. Die Naturforschung kann hierzu nicht leicht missbraucht werden. Vielleicht hat auch die beständige Nöthigung zur Entsagung, welche die exacte Forschung mit sich bringt, etwas Charakterstärkendes. Von dieser Seite betrachtet könnte den Naturforschern ihr unhistorischer Sinn nur zum Lobe gereichen.

Die Kehrseite der Sache ist die, dass der Mangel einer geschichtlichen Auffassung den Faden des Fortschritts im Grossen unterbricht; dass kleinliche Gesichtspunkte sich des Ganges der Untersuchungen bemächtigen; dass sich zur Geringschätzung der Vergangenheit eine philisterhafte Ueberschätzung des gegenwärtigen Zustandes der Wissenschaften gesellt, bei welchem die landläufigen Hypothesen als Axiome gefasst werden und blinde Ueberlieferungen als Resultate der Forschung gelten.

Geschichte und Kritik sind oft eins und dasselbe. Die zahlreichen Mediciner, welche noch eine Frucht von sieben Monaten für eher lebensfähig halten, als eine von acht Monaten, halten dies meist für Erfahrungsthatsache. Wenn man die Quelle dieser Ansicht in der Astrologie entdeckt hat (7 = ☾, 8 = ♄, 9 = ♃) und hinlänglich aufgeklärt ist, um an der tödtlichen Kraft des Saturn zu zweifeln, so zweifelt man auch an der angeblichen Thatsache. – Wer die Geschichte nicht kennt, wird von den üblichen Arzneimitteln alle diejenigen für heilsam halten, von denen das Gegentheil nicht durch neuere Untersuchungen ausdrücklich erwiesen ist. Wer aber ein einziges Mal ein Recept aus dem 16. oder 17. Jahrhundert gesehen und dabei wohl erwogen hat, dass die Leute nach diesen schauderhaften und sinnlosen Compositionen ebenfalls »gesund wurden«, der wird der vulgären »Erfahrung« nichts mehr trauen und umgekehrt nur an diejenigen streng begrenzten Wirkungen irgend eines Arzneimittels oder Giftes glauben, welche durch die sorgfältigsten neueren Untersuchungen der exacten Wissenschaft festgestellt sind. – Unkenntniss der Geschichte der Wissenschaft trug dazu bei, dass man vor einigen Decennien schon begonnen, die »Elemente« der neueren Chemie für in der Hauptsache endgültig festgestellt zu erachten; während gegenwärtig mehr und mehr zu Tage tritt, dass nicht nur einige neue zu entdecken, andere vielleicht zu zerlegen sind, sondern dass überhaupt der ganze Begriff eines Elementes nur ein provisorischer Nothbehelf ist.

Vielen Chemikern beginnt die Geschichte ihrer Wissenschaft mit Lavoisier. Wie in Geschichtswerken für Kinder die finstere Periode des Mittelalters oft mit den Worten beendet wird: »Da trat Luther auf« – so tritt bei ihnen Lavoisier auf, um den Aberglauben des Phlogiston zu verbannen; womit denn die Wissenschaft, nach Beseitigung des Blendwerks, sich aus dem gesunden Menschenverstand ganz von selbst ergiebt. Natürlich! So wie wir die Sache ansehen, muss sie ja angesehen werden! Ein vernünftiger Mensch kann nicht anders; man wäre längst auf den rechten Weg gekommen, wenn nur – das Phlogiston nicht gewesen wäre! Wie auch der alte Stahl nur so verblendet sein konnte!

Wer dagegen in der Geschichte die unauflösliche Verschmelzung von Irrthum und Wahrheit sieht, wer bemerkt, wie die beständige Annäherung an ein unendlich fernes Ziel vollkommener Erkenntniss durch zahllose Zwischenstufen geht; wer da sieht, wie der Irrthum selbst ein Träger mannigfaltigen und bleibenden Fortschritts wird, der wird auch nicht so leicht aus dem tatsächlichen Fortschritt der Gegenwart auf die Unumstösslichkeit unserer Hypothesen schliessen. Wer gesehen hat, wie der Fortschritt nie dadurch erzielt wird, dass eine irrthümliche Theorie plötzlich vor dem Blick des Genie's wie Nebel zerfliesst, sondern dass sie nur durch eine höhere verdrängt wird, welche aus den kunstvollsten Untersuchungsmethoden mühsam gewonnen wird, der wird auch das Ringen eines Forschers nach Bewahrheitung einer neuen und ungewohnten Idee nicht so leicht mit höhnendem Lächeln betrachten, der wird in allen fundamentalen Fragen der Ueberlieferung wenig, der Methode viel und dem unmethodischen Verstande gar nichts zutrauen.

Es ist durch Feuerbach in Deutschland und durch Comte in Frankreich die Anschauung aufgekommen, als sei der wissenschaftliche Verstand weiter nichts, als der nach Verdrängung der hindernden Phantasieen zu seiner natürlichen Geltung gekommene gesunde Menschenverstand. Auch Mill sucht im Eingange seiner induktiven Logik zu beweisen, dass die Logik der Wissenschaft zugleich die Logik der Geschäfte und des täglichen Lebens ist, ohne sich jedoch über den Standpunkt einer vagen und inhaltleeren Verallgemeinerung zu erheben; sein ganzes Werk zeigt aber, dass die induktiven Wissenschaften eines kunstvollen Apparates zur Erlangung ihrer Resultate bedürfen, welcher im täglichen Leben keineswegs angewandt wird. Allerdings hat das Verfahren eines umsichtigen Kaufmannes, welcher bei der Aufstellung des Calculs für ein Exportgeschäft eine bedeutende Reihe von Faktoren in Betracht zieht, grosse Aehnlichkeit mit dem Verfahren des Naturforschers; allein gerade hier handelt es sich auch durchaus nicht um eine unmittelbare Schöpfung des gesunden Menschenverstandes, sondern um eine Kunst, welche aus der Ueberlieferung und Erfahrung von Jahrhunderten sich gebildet hat, und welche bei alledem durch Anwendung strengerer Methoden noch grosser Vervollkommnung fähig wäre. Wie die Naturforschung in ihrer Kindheit den Blick bloss auf das vereinzelte Faktum gerichtet hat, so der Handel auf das nackte Geschäft. Mit Berücksichtigung der Temperatur, bei welcher das Phänomen stattfand, mit dem Messen der verlaufenen Zeit, der Berücksichtigung des Beobachtungsfehlers und andern Operationen kann man die Beachtung des Geldmarktes, die Berechnung der Zahlungsfrist, des del Credere und zahlreiche andre Faktoren vergleichen, deren berechnende Anwendung eine Kunst ist, wie das zweckmässige Denken überhaupt. Die Geschichte zeigt uns keine Spur von einem solchen plötzlichen Hervorspringen des gesunden Menschenverstandes nach blosser Beseitigung einer störenden Phantasie; sie zeigt uns vielmehr überall, wie die neuen Ideen sich trotz des entgegenstehenden Vorurtheils Bahn brechen, wie sie mit dem Irrthum selbst, den sie beseitigen sollen, sich verschmelzen oder zu irgend einer schiefen Richtung zusammenwirken, und wie die völlige Beseitigung des Vorurtheils in der Regel nur die letzte Vollendung des ganzen Processes ist, gleichsam das Putzen der fertig gearbeiteten Maschine. Ja – um der Kürze wegen beim Bilde zu bleiben – der Irrthum erscheint historisch oft genug als der Mantel, in welchem die Glocke der Wahrheit gegossen wird, und der erst nach Vollendung des Gusses zerschlagen wird. Das Verhältniss der Chemie zur Alchemie, der Astronomie zur Astrologie mag dies erläutern. Dass die wichtigsten positiven Resultate erst nach Vollendung der Grundlagen der Wissenschaft gewonnen werden, ist natürlich. Wir verdanken Copernikus im Einzelnen sehr wenig von unsrer heutigen Kenntniss des gestirnten Himmels; Lavoisier, welcher in der Ursäure, die er suchte, noch den letzten Rest der Alchemie mit sich trug, würde ein Kind in unsrer heutigen Chemie sein. Wenn die richtigen Grundlagen einer Wissenschaft geschaffen sind, findet sich allerdings eine grosse Menge von Folgerungen mit verhältnissmässig geringer Geistesarbeit von selbst; eine Glocke zu läuten ist eben leichter, als eine zu giessen. Wo aber ein principiell bedeutender Schritt vorwärts gemacht wird, erblickt man fast immer dasselbe Schauspiel: eine neue Idee greift Platz trotz des Vorurtheils; anfänglich vielleicht gar gestützt auf dasselbe. In ihrer Entfaltung erst sprengt sie die morschen Hüllen. Wo diese Idee, dies positive Streben nicht da ist, hilft die Beseitigung des Vorurtheils zu gar nichts. Im Mittelalter waren Viele frei von dem Glauben an die Astrologie; zu allen Zeiten finden sich Spuren kirchlicher und weltlicher Opposition gegen diesen Aberglauben; aber nicht aus solchen Kreisen ging die Astronomie hervor, sondern aus denen der Astrologen.

Das wichtigste Resultat der geschichtlichen Betrachtung ist die akademische Ruhe, mit welcher unsre Hypothesen und Theorieen ohne Feindschaft und ohne Glauben als das betrachtet werden, was sie sind: als Stufen in jener unendlichen Annäherung an die Wahrheit, welche die Bestimmung unsrer intellektuellen Entwicklung zu sein scheint. Damit ist denn freilich jeder Materialismus, insofern derselbe mindestens ein Glauben an die transscendente Existenz des Stoffes voraussetzt, ganz und gar aufgehoben. Was aber den Fortschritt in den exakten Wissenschaften betrifft, so wird gewiss nicht derjenige am meisten zu Entdeckungen befähigt sein, welcher die gestrige Theorie verachtet und auf die heutige schwört, sondern derjenige, welcher in allen Theorieen nur ein Mittel erblickt, sich der Wahrheit zu nähern und die Thatsachen zu überblicken und für den Gebrauch zu beherrschen.

Aber machen wir damit nicht selbst gerade die Beseitigung eines Vorurtheils zur Grundbedingung des wissenschaftlichen Fortschritts? Ja, wenn nicht eben die Beseitigung des Glaubens an die Theorieen eine Folge der unzähligen Fortschritte wäre, welche bereits trotz der Theorieen gemacht wurden: eine Induktion in grossem Maassstabe, gestützt auf Thatsachen, welche alle noch unter der Herrschaft des Glaubens an einen erkennbaren Urgrund der Dinge gefunden wurden!

Was schon der Schulknabe mit einigem Bewusstsein thut, wenn er 3:13 dividirt und nicht ohne Beachtung des Restes einstweilen 4 als Quotient nimmt: das thut die Naturwissenschaft im grossen Ganzen noch immer mit naivem Glauben an das einstweilige Resultat, und der stärkste Ausdruck dieses Glaubens ist der Materialismus. Man findet noch immer die schönsten Dinge, indem man den Stein der Weisen sucht.

Es würde ungerecht sein, von diesem Thema zu scheiden, ohne die ausdrückliche Anerkennung der Arbeiten auszusprechen, welche gerade auf dem Gebiete der Naturwissenschaften einer geschichtlichen Erfassung des Gegenstandes gewidmet wurden. Cuvier in Frankreich, Whewell in England suchten die Geschichte der Naturwissenschaften umfassend darzustellen; Alexander von Humboldt gab gleichsam die Quintessenz seiner tiefen geschichtlichen Studien über die Beziehung des Menschen zur Natur im zweiten Bande seines Kosmos. Höfer, Thomson und vorzüglich Kopp bearbeiteten die Geschichte der Chemie. Die Medicin erhielt durch Sprengels umfassende Arbeit eine ausführliche historische Darstellung; Haeser, Choulant und Andre machten sich um ihre Geschichte verdient; fast jeder Zweig der Naturwissenschaften hat seinen besondern Historiographen. In manchem ist es sogar Sitte, wie besonders in der Physik, die einzelnen Lehrsätze stets geschichtlich zu entwickeln und zu den Errungenschaften gegenwärtiger Forscher die minder vollkommenen Versuche ihrer Vorgänger zu gesellen, so dass fast jedes Lehrbuch zugleich den Charakter einer Geschichte der Wissenschaft trägt.

Freilich zeigt uns auch gerade die geschichtliche Behandlung der physikalischen Lehren eine Quelle des grossen Mangels. Wir haben in ihr eine Geschichte des Experimentes, des Satzes; allein nicht die Geschichte der Idee, welche das Experiment veranlasste. Einzelne rein äusserlich aufgegriffene Züge, wie Newtons Apfelfall und Galileis Kronleuchter bilden nur den erhellenden Gegensatz zu dem, was wir haben sollten: zu einem Einblick in das gesammte geistige Leben der Forscher im Zusammenhang mit den Ideen und Kämpfen ihrer Zeit. Das würde uns auf diesem Gebiet wie auf andern darüber aufklären, wie Wahrheit und Irrthum in ewigem Process mit einander ringen und wieder mit einander verschmelzen, und wie die reine Wahrheit, die wir suchen, in der That sich zu unsern fortschreitenden Lehren verhält, wie ein Ideal zu den wechselnden und niemals absolut vollkommnen Formen seiner sinnlichen Verkörperung.

Sollen wir noch eine Nutzanwendung geben, so mögen wir am liebsten zu Liebig zurückkehren, der sich um die geschichtliche Auffassung der Naturwissenschaften so verdient gemacht hat wie um die philosophische, ohne jedoch auch hier zu einem ganz klaren Standpunkte zu gelangen.

Mit vollem Recht hat Liebig eine Lanze für die Alchemie gebrochen. Die vulgäre Ansicht geht etwa dahin, dass die Alchemie eine Scheinwissenschaft war, hervorgegangen aus dem Mysticismus des Mittelalters, werthlos, abgeschmackt, durch und durch unwahr: in summa ein Hemmniss für den Menschengeist. Nach Beseitigung jenes Mysticismus entstand die Chemie aus dem gesunden Menschenverstande. – Hören wir dagegen Liebig!

»Auf welchem Standpunkt wäre die heutige Chemie ohne die Schwefelsäure, welche eine über tausend Jahre alte Entdeckung der Alchemisten ist, ohne die Salzsäure, die Salpetersäure, das Ammoniak, ohne die Alkalien, die zahllosen Metallverbindungen, den Weingeist, Aether, den Phosphor, das Berlinerblau! Es ist unmöglich, sich eine richtige Vorstellung von den Schwierigkeiten zu machen, welche die Alchemisten in ihren Arbeiten zu überwinden hatten; sie waren die Erfinder der Werkzeuge und der Processe, welche zur Gewinnung ihrer Präparate dienten, sie waren genöthigt, Alles was sie brauchten, mit ihren eignen Händen darzustellen. Die Alchemie ist niemals etwas andres als die Chemie gewesen«.

Allerdings war sie etwas andres! Liebig zeigt im Eifer der Discussion die Kehrseite gegen die vulgäre Anschauung zu einseitig und verliert darüber das wichtigste Resultat der geschichtlichen Betrachtung.

Die Alchemie ruhte auf einer durchaus und in allen Theilen falschen Grundanschauung vom Wesen der Körper. Die Lehre von den feuchten, trocknen, hitzigen und kalten Eigenschaften der Körper, von der Wechselwirkung derselben, von der Mischung der Elemente – kurz die ganze, so kunstvoll gegliederte Theorie der Alchemie war nicht nur unrichtig, sondern auch in der That mystisch. Dies widerspricht der verstandesmässig gegliederten Form der Lehre durchaus nicht; finden wir doch selbst in der Dogmatik des Mittelalters denselben Gegensatz.

Hält man diese Thatsache sorgfältig fest, während man anderseits Liebigs Lob der wackern Alchemisten vernimmt, deren Leistungen kühn den grössten Entdeckungen unsres Jahrhunderts an die Seite gestellt werden können: dann ergiebt sich aus dieser Betrachtung ein einfacher, unscheinbarer und doch folgenschwerer Satz.

Es ergiebt sich nämlich, dass auf Grund einer durch und durch unrichtigen, selbst mystisch gefärbten Theorie grosse und bleibende Entdeckungen von Thatsachen gemacht werden können.

Daraus dürfte folgen, dass die werthvollsten und sichersten thatsächlichen Entdeckungen nichts für die Richtigkeit der Theorie beweisen, auf deren Grund sie gewonnen wurden.

Diesen Satz zugeben ist leicht; ihn immer im Gedächtniss haben ist eine Frucht der geschichtlichen Bildung. Man kann vorbringen, dass denn doch das Verhältniss der gelungenen Entdeckungen zu der aufgewandten Mühe durch die Richtigkeit der Theorie bedingt wird; allein hier handelt es sich nur um eine relative Richtigkeit. Bei Lichte besehen ist diese aber nur die möglichst günstige Zusammenfassung der Thatsachen. Welche Zusammenfassung der Thatsachen aber möglichst förderlich für den Fortschritt in der Auffindung fernerer Thatsachen ist, das hängt eben so sehr vom jedesmaligen Culturzustande des Volkes ab, als von der Natur des Stoffes. Ist die Theorie gar zu fremdartig, so fasst sie keinen Boden; liegt sie ganz innerhalb des allgemeinen Vorurtheils, so hat sie kein bewegendes Princip. – Die streng mathematischen Theile der Theorieen fallen natürlich nicht unter diese Betrachtungsweise; es ist aber auch niemals, selbst in der Astronomie nicht, eine Theorie ganz und gar mathematisch. Immer wird sie Elemente enthalten, welche den erheblichsten Zweifeln unterliegen, ja, deren ganze Bedeutung nur eine vorübergehende ist, obwohl die praktischen Resultate der Theorie nichts zu wünschen übrig lassen. Was aber für die Theorieen gilt, gilt natürlich auch für die Hypothesen, die im günstigsten Falle als qualificirte Bewerber um den Rang einer Theorie zu betrachten sind.

Was aus diesen Betrachtungen gegen unsre Materialisten folgt, ergiebt sich von selbst; sehen wir aber auch zu, was für sie folgt! Es kann natürlich nur die Negation der Behauptungen ihrer Gegner sein.

Zunächst eine Genugthuung für Czolbe! – Liebigs Ausfall gegen die Materialisten (23. Brief) enthält folgenden Spruch: »Die exakte Naturforschung hat bewiesen, dass die Erde in einer gewissen Periode eine Temperatur besass, in welcher alles organische Leben unmöglich ist; schon bei 78° Wärme gerinnt das Blut. Sie hat bewiesen, dass das organische Leben auf Erden einen Anfang hatte. Diese Wahrheiten wiegen schwer, und wenn sie die einzigen Errungenschaften dieses Jahrhunderts wären, sie würden die Philosophie zum Dank an die Naturwissenschaften verpflichten«.

Nun! die exakte Naturforschung hat das ebensowenig bewiesen, als Lyell die Ewigkeit des gegenwärtigen Zustandes der Erde bewiesen hat. Das ganze Gebiet ist von vornherein nur der Hypothese zugänglich, welche mehr oder weniger durch Thatsachen gestützt wird. Die Geschichte zeigt uns, wie die grossen Theoreme kommen und gehen, während die einzelnen Thatsachen der Erfahrung und Beobachtung einen bleibenden und beständig wachsenden Schatz unsrer Erkenntniss bilden. Die Philosophie ist vollends undankbar genug, die ganze angebliche Errungenschaft der exakten Wissenschaften als ihr Eigenthum zu reclamiren. Wenn Kant uns zeigt, dass unser Verstand mit Nothwendigkeit zu jeder Ursache eine frühere Ursache, zu jedem scheinbaren Anfang einen früheren Anfang sucht, während die Einheitsbestrebungen der Vernunft einen Abschluss verlangen, so ist damit der anthropologische Ursprung der miteinander kämpfenden Theorieen vollständig bloss gelegt. Man möge denn ferner drauf zu beweisen, aber nur niemals von der Philosophie verlangen, dass sie ihre eignen Kinder im bunten Rock der Naturwissenschaften nicht wieder erkenne!

Das Gegenstück zu dem »bewiesenen« Anfang des organischen Lebens bildet der verächtliche Seitenblick, mit welchem Liebig es rügt, dass die »Dilettanten«, welche alles Leben auf Erden aus dem einfachsten Organismus der Zelle ableiten wollen, auf das Wohlfeilste über eine unendliche Reihe von Jahren verfügen.

Es wäre interessant, irgend einen vernünftig scheinenden Grund zu erfahren, weshalb man bei der Aufstellung einer Hypothese über die Entstehung der jetzigen Naturkörper nicht auf das Wohlfeilste über eine unendliche Reihe von Jahren verfügen sollte. Man kann die Hypothese der allmähligen Entstehung aus andern Gründen angreifen; das ist eine Sache für sich. Will man sie aber tadeln, weil sie eine ausserordentlich grosse Reihe von Jahren braucht, so verfällt man in einen der sonderbarsten Fehler des gewöhnlichen Denkens. Einige tausend Jahre sind uns höchst geläufig; wir erheben uns auch allenfalls auf den Antrieb der Geologen zu Millionen. Ja, seit uns die Astronomen gelehrt haben, räumliche Entfernungen nach Billionen von Meilen uns zu denken, mögen denn auch für die Bildung der Erde Billionen von Jahren angenommen werden, obwohl es uns schon etwas phantastisch däucht, weil wir nicht, wie bei der Astronomie, durch Rechnung zu solchen Annahmen gezwungen sind. Hinter diesen Zahlen, dem Aeussersten, wozu wir uns zu erheben pflegen, kommt dann die Unendlichkeit, die Ewigkeit. Hier sind wir wieder in unserm Element; namentlich die absolute Ewigkeit ist uns von der Elementarschule her ein sehr geläufiger Begriff, obschon wir längst darüber im Klaren sind, dass wir sie uns nicht eigentlich vorstellen können. Was zwischen der Billion, oder Quadrillion und der Ewigkeit liegt, dünkt uns ein fabelhaftes Gebiet, in welches sich nur die ausschweifendste Phantasie verirrt. Und doch muss uns gerade das strengste Verstandesurtheil sagen, dass a priori und bevor die Erfahrung einen Spruch gethan, die grösste Zahl für das Alter der Organismen, welche ein Mensch annehmen mag, nicht im mindesten wahrscheinlicher ist, als irgend eine beliebige Potenz dieser Zahl. Es würde nicht einmal eine richtige methodische Maxime sein, so lange möglichst kleine Zahlen anzunehmen, bis eine grössere durch Erfahrungsthatsachen wahrscheinlich gemacht wird. Eher noch umgekehrt, da gerade bei sehr grossen und sehr langsamen Veränderungen das eigentliche Problem darin steckt, eine Vorstellung darüber zu gewinnen, mit wie vielen Jahren die Naturkräfte wohl ausreichen mochten, um sie zu vollziehen. Je niedriger die Annahme, desto bündiger müssen die Beweise sein, da der kürzere Zeitraum a priori der minder wahrscheinliche ist. Mit einem Wort: der Beweis muss für das Minimum geführt werden, und nicht, wie das Vorurtheil annimmt, für das Maximum. Die Scheu vor den grossen Zahlen ist also ja nicht zu verwechseln mit der Scheu vor kühnen oder zahlreichen Hypothesen. Die Hypothese des allmähligen Entstehens mag vielleicht aus andern Gründen kühn oder ungerechtfertigt erscheinen; die Grösse der Zahlen macht sie nicht um das mindeste gewagter.

Nicht minder unkritisch wird Liebig, wenn er die kategorische Behauptung ausspricht: »Nie wird es der Chemie gelingen, eine Zelle, eine Muskelfaser, einen Nerv, mit einem Worte einen der wirklich organischen, mit vitalen Eigenschaften begabten Theile des Organismus oder gar diesen selbst in ihrem Laboratorium darzustellen.« Warum nicht? Weil die Materialisten die organischen Stoffe mit den organischen Theilen verwechselt haben? Das kann doch kein Grund für jene Behauptung sein. Man kann die Verwechslung corrigiren, so bleibt die Frage nach der chemischen Darstellbarkeit der Zelle doch noch immer eine offene und dabei eine nicht ganz müssige. Eine Zeit lang glaubte man, dass die Stoffe der organischen Chemie nur im Organismus entstehen könnten. Dieser Glaube ist getanen Jetzt sollen wir glauben, dass der Organismus selbst nur durch Organismen entstehen kann. Ein Glaubensartikel ist todt; es lebe sein Nachfolger! Sollen wir nicht lieber den Schluss machen, dass es mit dem wissenschaftlichen Werth solcher Dogmen überhaupt nicht weit her ist? Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn der eine Forscher diese Alternative, der andre die entgegengesetzte mit Vorliebe erfasst. Wir wollen sogar Liebigs vitalistische Metaphysik gelten lassen, wenn sie ihn zu seinen Forschungen begeistert. Dies ist der praktische Standpunkt. Nur in der Philosophie möchten wir behaupten, dass dieser Vitalismus ein eben so vollständig überwundener Standpunkt ist, als der Materialismus.

Wir haben bisher zu zeigen versucht, dass der Materialismus, weit entfernt, mit der exakten Naturforschung nothwendig zusammenzuhängen, vielmehr nur in eine leicht lösliche Verbindung mit ihr gerathen ist Philosophische und geschichtliche Kritik dienen dazu, die exakte Forschung zu läutern, in ihrem eignen Gebiet sicherer zu machen und sie gleichsam durch Niederschlagung alles Metaphysischen abzuklären. In dem Niederschlag, der durch diesen Process aus der exakten Forschung entfernt wird, finden wir aber nicht nur den Materialismus wieder, sondern auch die ihm entgegengesetzten metaphysischen Anschauungen. Es bleibt nun immer noch die Frage übrig, wie denn der Materialismus in seiner Verschmelzung mit der naturwissenschaftlichen Forschung auf die exakte Methode und ihre Erfolge einwirkt.

Im Alterthum war der Materialismus arm an grossen Schöpfungen auf dem Gebiete der Wissenschaft. Wir sahen, wie die bedeutendsten Erfinder in der Regel Idealisten waren. Dennoch schrieben wir dem Materialismus einen mächtigen und günstigen Einfluss auf die Entfaltung der Wissenschaften zu. Wir fanden in Demokrits Atomenlehre eine aufklärende Wirkung, die auch den übrigen Systemen zu gute kam. Den Werth dieser Theorie für die nüchterne Bewältigung der Erscheinungswelt haben wir (S. 68) geschildert Wir fanden sogar, dass man für das Alterthum von einer materialistischen Methode sprechen kann, welche für den Ausbau der Wissenschaften eben so wichtig war, wie der idealistische Trieb für die Grundlegung. Der sporadische Materialismus zeigt sich im Alterthum fruchtbar, während die consequenten Materialisten in ihrem Hang zur Beschaulichkeit den Werkstätten der Wissenschaft fern blieben.

Wenn wir das idealistische Element in dem Fortschritt der Naturwissenschaften als ein persönliches, das materialistische als ein sachliches bezeichneten, so lässt sich dies nun, wo wir mit Kant zu den anthropologischen Quellen aller Metaphysik hinabgestiegen sind, näher bestimmen.

Der Materialismus vertraut den Sinnen. Auch seine Metaphysik ist nach Analogie der Erfahrungswelt gebildet. Seine Atome sind kleine Körperchen. Man kann sie sich zwar nicht so klein vorstellen, wie sie sind, weil das jede menschliche Vorstellung übersteigt; man kann sie sich aber doch vergleichsweise vorstellen, als sähe und fühlte man sie. Die ganze Weltauffassung des Materialisten ist vermittelt durch die Sinnlichkeit und durch die Kategorien des Verstandes. Grade diese Organe unsres Geistes sind aber vorwiegend sachlicher Natur. Sie geben uns Dinge, wenn auch kein Ding an sich. Die tiefere Philosophie kommt dahinter, dass diese Dinge unsre Vorstellungen sind; sie kann aber nichts daran ändern, dass grade die Classe derjenigen Vorstellungen, welche sich durch Verstand und Sinnlichkeit auf Dinge beziehen, die grösste Beständigkeit, Sicherheit und Gesetzmässigkeit hat, und eben deshalb auch vermuthlich den strengsten Zusammenhang mit einer von ewigen Gesetzen geregelten Aussenwelt.

Auch der Materialismus dichtet, indem er sich die Elemente der Erscheinungswelt vorstellt, aber er dichtet in naivster Weise nach Anleitung der Sinne. In dieser beständigen Anlehnung an diejenigen Elemente unsrer Erkenntniss, welche die geregeltste Funktion haben, besitzt er eine unerschöpfliche Quelle reiner Methodik, einen Schutz vor Irrthum und Phantasterei und einen lautern Sinn für die Sprache der Dinge.

Er leidet aber auch an einer gemüthlichen Zufriedenheit mit der Erscheinungswelt, welche Sinneseindruck und Theorie zu einem unauflöslichen Ganzen verschmelzen lässt. Wie der Trieb fehlt, über die scheinbare Objektivität der Sinneserscheinungen hinauszugehen, so fehlt auch der Trieb, durch paradoxe Fragen den Dingen wieder eine ganz neue Sprache zu entlocken, und zu solchen Experimenten zu greifen, welche statt auf blossen Ausbau im Einzelnen abzuzielen, vielmehr die bisherige Anschauungsweise stürzen und ganz neue Einblicke in das Gebiet der Wissenschaften herbeiführen. Der Materialismus ist mit einem Worte in den Naturwissenschaften conservativ. Wie es kommt, dass er dessenungeachtet für die wichtigsten Gebiete des Lebens unter gewissen Verhältnissen ein revolutionäres Ferment wird, wird sich später herausstellen.

Der Idealismus ist von Haus aus metaphysische Dichtung; obschon eine solche, welche uns als begeisterte Stellvertreterin höherer, unbekannter Wahrheiten erscheinen kann. Der Umstand, dass überhaupt ein dichtender, schaffender Trieb in unsre Brust gelegt ist, welcher in Philosophie, Kunst und Religion oft mit dem Zeugniss unsrer Sinne und unsres Verstandes in direkten Widerspruch tritt und dann doch Schöpfungen hervorbringen kann, welche die edelsten, gesündesten Menschen höher halten, als blosse Erkenntniss: dieser Umstand schon deutet darauf hin, dass auch der Idealismus mit der unbekannten Wahrheit zusammenhängt, obschon in ganz andrer Weise als der Materialismus. Im Zeugniss der Sinne stimmen alle Menschen überein. Reine Verstandesurtheile schwanken und irren nicht. Die Ideen aber sind poetische Geburten der einzelnen Person; vielleicht mächtig genug ganze Zeiten und Völker mit ihrem Zauber zu beherrschen, aber doch niemals allgemein und noch weniger unveränderlich.

Trotzdem könnte der Idealist in den positiven Wissenschaften eben so sicher gehen, wie der Materialist, wenn er nur beständig daran dächte, dass die Erscheinungswelt – wie immer blosse Erscheinung – doch ein zusammenhängendes Ganze ist, in welches ohne Gefahr gänzlicher Zerrüttung keine fremden Glieder eingeschaltet werden dürfen. Der Mensch aber, der einmal sich in eine Ideenwelt versteigt, ist beständig in Gefahr, sie mit der Sinnenwelt zu verwechseln und dadurch die Erfahrung zu fälschen oder seine Dichtungen in demjenigen prosaischen Sinne für »wahr« oder »richtig« auszugeben, in welchem diese Ausdrücke nur den Erkenntnissen der Sinne und des Verstandes zukommen. Denn wenn wir von der sogenannten »inneren Wahrheit« der Kunst und der Religion absehen, deren Kriterium nur in der harmonischen Befriedigung des Gemüthes besteht und mit wissenschaftlicher Erkenntniss ganz und gar nichts gemein hat, so dürfen wir eben nur dasjenige wahr nennen, was jedem Wesen menschlicher Organisation mit Nothwendigkeit so erscheint, wie es uns erscheint, und eine solche Uebereinstimmung ist nur in den Erkenntnissen der Sinne und des Verstandes zu finden.

Nun besteht aber zwischen unsern Ideen und diesen Erkenntnissen auch ein Zusammenhang: der Zusammenhang in unserm Gemüthe, dessen Erzeugnisse nur ihrer Meinung und Absicht nach über die Natur hinausschweifen, während sie als Gedanken und Produkte menschlicher Organisation doch ebenfalls Glieder der Erscheinungswelt sind, die wir allenthalben nach nothwendigen Gesetzen zusammenhängend finden. Mit einem Worte: unsre Ideen, unsre Hirngespinste, sind Produkte derselben Natur, welche unsre Sinneswahrnehmungen und Verstandesurtheile hervorbringt. Sie tauchen nicht ganz zufällig, regellos und fremdartig im Geiste auf, sondern sie sind – mit Sinn und Verstand betrachtet – Produkte eines psychologischen Processes, in welchem unsre sinnlichen Wahrnehmungen ebenfalls ihre Rolle spielen. Die Idee unterscheidet sich vom Hirngespinst durch ihren Werth, nicht durch ihren Ursprung. Was ist aber der Werth? Ein Verhältniss zum Wesen des Menschen, und zwar zu seinem vollkommenen, idealen Wesen. So misst sich die Idee an der Idee und die Wurzel dieser Weit geistiger Werthe verläuft ebensowohl, wie die Wurzel unsrer Sinnesvorstellungen in das innerste Wesen des Menschen zurück, welches sich unsrer Beobachtung entzieht. Wir können die Idee als Hirngespinst psychologisch begreifen; als geistigen Werth können wir sie nur an ähnlichen Werthen messen. Den Kölner Dom vergleichen wir mit andern Kathedralen, mit andern Kunstwerken; seine Steine mit andern Steinen.

Die Idee ist für den Fortschritt der Wissenschaften so unentbehrlich, wie die Thatsache. Sie führt nicht nothwendig zur Metaphysik, obwohl sie jedesmal die Erfahrung überschreitet. Aus den Elementen der Erfahrung unbewusst und schnell, wie das Anschiessen eines Krystalls, hervorspringend, kann sie sich auf Erfahrung zurückbeziehen und ihre Bestätigung oder Verwerfung in der Erfahrung suchen. Der Verstand kann die Idee nicht machen, aber er richtet sie und er huldigt ihr. Die wissenschaftliche Idee entsteht, wie die poetische, wie die metaphysische, aus der Wechselwirkung aller Elemente des individuellen Geistes; sie nimmt aber einen andern Verlauf, indem sie sich dem Urtheil der Forschung unterzieht, in welchem allein die Sinne, der Verstand und das wissenschaftliche Gewissen zu Rathe sitzen. Dies Gericht fordert nicht absolute Wahrheit, sonst möchte es um den Fortschritt der Menschheit schlecht bestellt sein. Brauchbarkeit, Verträglichkeit mit dem Zeugniss der Sinne in dem durch die Idee geforderten Experiment, entschiedenes Uebergewicht über die entgegenstehenden Auffassungen – das genügt schon, um der Idee das Bürgerrecht im Reich der Wissenschaft zu geben. Die kindliche Wissenschaft verwechselt fortan Idee und Thatsache; die entwickelte, methodisch sicher gewordene bildet die Idee auf dem Wege der exakten Forschung fort zur Hypothese und endlich zur Theorie.

Auch der einseitigste Idealist wird niemals den Versuch ganz verschmähen, die Erfahrung selbst zum Zeugniss ihrer Unzulänglichkeit aufzurufen. Wenn in den Thatsachen der Sinnenwelt selbst keine Spur davon aufzufinden wäre, dass die Sinne uns nur ein gefärbtes und vielleicht ganz und gar unzulängliches Bild der wahren Dinge geben, so stände es schlimm um die Ueberzeugung des Idealisten. Allein schon die gewöhnlichsten Sinnestäuschungen geben seiner Ansicht einen Halt Die Entdeckung des Zahlenverhältnisses in den Tönen der Musik folgte aus einer Idee der Pythagoreer, welche dem ursprünglichen Sinnenschein zuwiderläuft; denn unser Ohr giebt uns in den Klängen nicht das mindeste Bewusstsein eines Zahlenverhältnisses. Dennoch legten die Sinne selbst Zeugniss ab für die Idee: die getheilte Saite, die verschiedenen Dimensionen metallner Hämmer wurden im Zusammenhang mit den verschiedenen Tönen sinnlich wahrgenommen. So wurde die Idee der Vibrationstheorie für das Licht, einmal verworfen, später auf das Zeugniss der Sinne und des rechnenden Verstandes wieder angenommen; die Interferenzerscheinungen konnte man sehen.

Hieraus ergiebt sich schon, dass auch der Idealist Forscher sein kann; seine Forschung wird aber in der Regel einen revolutionären Charakter tragen, wie der Idealist auch dem Staat, dem bürgerlichen Leben, den Gewohnheitssitten gegenüber als Träger des revolutionären Gedankens bestellt ist

Dabei ist aber nicht zu vergessen, dass es sich um ein Mehr oder Weniger handelt. Sieht man von den wenigen Trägern consequenter Systeme ab, so giebt es im Leben so wenig Idealisten und Materialisten – als bestimmte Classen von Individuen – wie es Phlegmatiker und Choleriker giebt Es wäre kindisch anzunehmen, dass kein Mann von überwiegend materialistischer Anschauung eine wissenschaftliche Idee haben könnte, welche das Ueberlieferte ganz und gar umstöst. Unsre Forscher haben dazu namentlich jetzt, wo der Zug der Zeit dahin geht, fast Alle Idealismus genug, obwohl sie hauptsächlich dasjenige glauben, was sie sehen und fühlen können.

In der Geschichte der neueren Naturforschung vermögen wir nicht mit derselben Sicherheit wie für das Alterthum die Einflüsse des Materialismus und Idealismus zu unterscheiden. So lange wir nicht sehr sorgfältige und auf den ganzen Menschen Rücksicht nehmende Biographieen der bedeutendsten Führer des wissenschaftlichen Fortschritts haben, befinden wir uns auf einem schwankenden Boden. Der Druck der Kirche verhinderte meist die wahre Meinungsäusserung, und mancher edle Mann spricht bisher nur durch die Thatsachen seiner Entdeckungen zu uns, bei dem wir ein reiches Denken, gewaltige Kämpfe des Gemüths und einen Schatz tiefer Ideen voraussetzen dürfen.

Die meisten Naturforscher unsrer Zeit halten von Ideen, Hypothesen und Theorieen sehr wenig. Liebig geht dagegen in seinem Groll gegen den Materialismus wieder zu weit, wenn er in seiner Rede über Baco den Empirismus völlig verwirft.

»Baco legt in der Forschung dem Experiment einen hohen Werth bei; er weiss aber von dessen Bedeutung nichts; er hält es für ein mechanisches Werkzeug, welches, in Bewegung gesetzt, das Werk aus sich selbst heraus macht; aber in der Naturwissenschaft ist alle Forschung deduktiv oder apriorisch; das Experiment ist nur Hülfsmittel für den Denkprocess, ähnlich wie die Rechnung; der Gedanke muss ihm in allen Fällen und mit Notwendigkeit vorausgehen, wenn es irgend eine Bedeutung haben soll.«

» Eine empirische Naturforschung in dem gewöhnlichen Sinn existiert gar nicht. Ein Experiment, dem nicht eine Theorie, d. h. eine Idee vorhergeht, verhält sich zur Naturforschung wie das Rasseln mit einer Kinderklapper zur Musik.«

Starke Worte! Es steht aber in der That nicht ganz so schlimm um den Empirismus. Liebigs meisterhafte Analyse der Versuche Bacos, für welche ihm in der That Philosophen und Historiker Dank wissen müssen, hat uns freilich gezeigt, dass aus Bacos Versuchen nicht nur nichts folgte, sondern auch nichts folgen konnte. Wir finden aber dafür Gründe genug in der Gewissenlosigkeit und Leichtfertigkeit seines Verfahrens, in dem willkürlichen Ergreifen und Verlassen seiner Gegenstände, in dem Mangel an Concentration und Ausdauer; besonders endlich auch in seinem Ueberfluss an methodischen Einfällen und Schleichwegen, welche den brauchbaren Theil der Methode überwuchern und der Willkür und Weichlichkeit Ausflüchte darbieten, während sie praktisch gar nicht anzuwenden sind. Hätte Baco nur den Begriff der Induktion entwickelt und die keineswegs bedeutungslose Lehre von den negativen und den prärogativen Instanzen, so würde seine eigne Methode ihn zu grösserer Stetigkeit genöthigt haben. So aber erfand er sich die schwankenden und jeder Willkür Thür und Thor öffnenden Classificationen der instantiae migrantes, solitariae, clandestinae u. s. w. gewiss in dem dunkeln Drang, seine Lieblingsideen beweisen zu können. Dass ihn bei seinen Untersuchungen keine Idee geleitet habe, scheint uns keineswegs der Fall; vielmehr das Gegentheil. Seine Lehre von der Wärme z. B., welche Liebig so schonungslos aufdeckt, sieht ganz nach einer vorgefassten Meinung aus.

In der Ueberladung seiner Beweistheorie mit unnützen Begriffen verräth Baco die Nachwirkungen der Scholastik, die er bekämpft; allein es waren nicht die Begriffsgespenster, welche ihn hinderten, mit Erfolg zu forschen, sondern es war der gänzliche Mangel derjenigen Eigenschaften, welche zur Forschung überhaupt befähigen. Baco hätte eben so wenig einen alten Autor kritisch herausgeben können, als er ein ordentliches Experiment machen konnte.

Es ist grade eine Eigenthümlichkeit der fruchtbaren Ideen, dass sie sich in der Regel erst bei eingehender und beharrlicher Beschäftigung mit einem bestimmten Gegenstande entwickeln; eine solche Beschäftigungsweise kann aber auch ohne leitende Theorieen fruchtbar sein. Copernikus widmete sein ganzes Leben den Himmelskörpern; Sanctorius seiner Wage: der erstere hatte eine leitende Theorie, die schon in frühen Jahren aus Philosophie und Beobachtung entsprang. War nicht aber auch Sanctorius ein Forscher?

Wo Liebe und Sinn für das Objekt der Forschung vorhanden ist, ist nicht leicht zu fürchten, dass der Empirismus zum blossen Herumtappen werde. Durch den beharrlichen Verkehr mit dem Objekt, welches der Forschung unterliegt, regelt sich diese bis zu einem gewissen Grade von selbst. Es entstehen dann entweder halb unbewusste Maximen über die Wahl der Experimente, oder auch leitende Ideen, welche aber noch lange nicht, wie Liebig aufstellt, die Forschung zu einer deduktiven machen, bei der das Experiment nur die Rolle eines Rechenexempels spielt.

So musste z. B. die beharrliche Beschäftigung mit dem Nervensystem schliesslich dahin führen, dass man versuchte, die Wirkungsweise der Nerven durch Benutzung der negativen Instanz kennen zu lernen.

Es entstand die leitende Idee der Durchschneidung einzelner Nerven an lebenden Thieren. Ohne diese leitende Idee hätte man vielleicht noch lange herumtappen können. Die einzelnen Sätze aber, wie z. B. die verschiedne Bedeutung der vorderen und hinteren Stränge des Rückenmarks wurden im eigentlichsten Sinne des Wortes auf empirischem Wege gewonnen. Freilich war schon eine Vermuthung, dass sich überhaupt etwas finden werde, dazu nöthig, um das Experiment so anstellen zu lassen, dass grade nur der eine Theil der Nervenbündel durchschnitten wurde; allein diese Vermuthung ist keine Theorie, welche durch das Experiment erst zu beweisen wäre; denn sie bezieht sich noch gar nicht auf einen bestimmten Satz. Dass gleich nach dem ersten Versuch die Frage der Allgemeinheit des Beobachteten gestellt wird, auch das macht die folgenden Versuche noch nicht zu blossen Beweismitteln für einen deduktiv gewonnenen Satz; denn jeder Forscher wird doch wenigstens erwarten, vielleicht verschiedne Resultate bei verschiednen Thierklassen zu finden, über deren Ausfall er sich nichts Bestimmtes vorstellen kann. Erst nach Ausführung einer grösseren Reihe von Untersuchungen kann der Satz formulirt werden, und dabei bleibt immer noch, wie bei allen Sätzen aus unvollständiger Induktion, die Möglichkeit neuer Entdeckungen vorbehalten, welche unsern Satz erweitern, beschränken, modificiren, wo nicht gar umstossen.

Ueberhaupt aber macht das Voranstellen einer Theorie, die nachher bewiesen wird, das Verfahren noch nicht apriorisch oder deduktiv, im Gegensatz zum empirischen oder induktiven Verfahren; sondern nur synthetisch im Gegensatz zum analytischen Verfahren. Erst dann kann von apriorischem Verfahren die Rede sein, wenn die Theorie auch wirklich durch die Deduktion aus vorausgehenden Sätzen bewiesen wird. Das Experiment kann dann hinzukommen, allein da man der Richtigkeit einer Deduktion immer sicher sein kann, so ist es in der Regel nur eine Probe für die Richtigkeit der Voraussetzungen, von denen man ausging. So wurde die Auffindung des Neptun mit Recht von den Astronomen nicht sowohl als eine Probe für Leverriers Rechnungen angesehen, sondern als eine Probe für das Newtonsche System.

Hier können wir nicht umhin, auf eine grosse Quelle von lrrthümern aufmerksam zu machen, welche darin besteht, dass man in der Induktion einen vollständigen Gegensatz gegen die Deduktion zu haben glaubt, so dass jedes Beweisverfahren entweder das eine oder das andre wäre. Der Induktionsbeweis ist aber nur eine – freilich die wichtigste – Unterart des Erfahrungsbeweises, welcher den wahren Gegensatz gegen den ableitenden (Vernunft-) Beweis bildet. Der Beweis aus der Erfahrung (a posteriori) ist nämlich nicht induktiv – und natürlich auch nicht deduktiv – sobald er sich auf ein einzelnes Faktum bezieht.

Einem Chemiker wird eine Quantität Papier zugestellt zur Untersuchung auf Bleigehalt. Es construirt sich einen kleinen Hochofen, verbrennt das Papier, bringt die Asche in seinen Hochofen, findet schliesslich ein Kügelchen Blei, hämmert es platt, zieht einen Faden durch und heftet es seinem Berichte bei. Hier haben wir einen reinen Erfahrungsbeweis für das Vorhandensein des Blei's, der weder induktiv noch deduktiv ist. Man kann zwar einen deduktiven Schluss darüber aufstellen, dass das nach diesem Verfahren gefundene Blei auch nothwendig in dem Papier gewesen sein muss, allein dieser Schluss ist nur ein Hülfssatz; die Beweiskraft für das Vorhandensein des Metalls liegt in seiner Aufzeigung, und an dies Faktum hält sich der Chemiker. Er behauptet erst Blei vor sich zu haben, nachdem er es gesehen hat.

Wenn nun ein Advokat oder Richter auf Grund dieses Experimentes schliesst, dass eine grössere Quantität Papier, von welcher die Probe genommen war, bleihaltig sei, so ist dies ein deduktiver Schluss, dessen Obersatz »das ganze Quantum ist gleichmässig beschaffen« nicht bewiesen ist, sondern nur als genügend wahrscheinlich angenommen wird. Man könnte ihn durch passende Fortsetzung der Proben induktiv zu erhärten suchen. Die Induktion, mit einem Worte, ist nur da, wo aus einzelnen Thatsachen allgemeine Sätze geschlossen werden.

Sollen nun diese Thatsachen durch Experiment und künstliche Beobachtung gewonnen werden, so ist von selbst klar, dass eine leitende Idee dabei vorhanden sein muss, sonst zersplittern sich die Beobachtungen zwecklos.

Als Kepler die Form der Ellipse auf die Beobachtungen über die Marsbahn anwandte, hatte er eine sehr bestimmte Idee, nach welcher er die Erfahrung benutzte; der Beweis war dennoch induktiv, weil er sich auf die einzelnen Oerter der Bahn beziehen musste. Nur durch die Bemerkung, dass sämmtliche Rechnungsresultate für alle beobachteten Oerter mit der Theorie der elliptischen Bahn übereinstimmten, wurde der Schluss möglich, dass dies überhaupt für alle Oerter, d. h. für die ganze Bahn der Fall sei.

Trotzdem dass hier, wie Liebig es verlangt, dem Experiment – denn dessen Stelle vertreten die Rechnungen – eine vollständige Theorie vorangeht, ist dennoch Keplers Verfahren nicht nur induktiv, sondern auch in jedem Sinne empirisch. Denn die Anwendung der Ellipse auf die Rechnung war auch nur ein Versuch, den Kepler nach unzähligen andern Versuchen anstellte: eins der reinsten Beispiele eines erfolgreichen Empirismus, welche die Geschichte kennt; noch besonders merkwürdig dadurch, dass es die Beharrlichkeit eines Idealisten war, welche auf diesem Wege der Wahrheit die Enthüllung abtrotzte. Erst nach Auffindung der Marsbahn trat ein deduktives Element ein mit dem Schluss, dass die übrigen Planeten sich gleich verhalten würden; der wirkliche Beweis dafür aber war und blieb empirisch und musste empirisch bleiben, so lange nicht Newton den inneren Grund dieser Erscheinungen aus einer Idee entwickelt hatte.

Das entgegengesetzte Extrem gegen die Auffassung Liebigs finden wir übrigens nicht sowohl bei unsern Materialisten, als vielmehr bei den Rigoristen der exakten Forschung. Sehr häufig findet man heutzutage die äusserste Beschränkung in den Hypothesen und Theorieen von Männern gefordert, welche eine Hypothese von einer willkürlichen Vermuthung ganz genau unterscheiden können und weit entfernt davon sind, die naturwissenschaftlichen Theorieen in Thatsachen und Phantasieen einzutheilen. Diesen Leuten lässt sich im Allgemeinen weder beistimmen noch widersprechen. So sicher es ist, dass jene Enthaltsamkeit der Reinheit der Forschung förderlich ist, so gewiss ist auch, dass sie der Fruchtbarkeit an Entdeckungen nachtheilig werden kann. Das Mehr oder Weniger ist Sache praktischer Entscheidung. Ob es z. B. in Folge neuerer Entdeckungen über die Lichtbrechung an der Zeit ist, alle und jede Theorie über die molecularen Kräfte aufzugeben (Poggend. Ann. 121 S. 583) oder nicht, muss die Erfahrung lehren. Man kann dem Forscher darin keine Regel vorschreiben und ist höchstens im Stande, nachträglich zu constatiren, ob die Perioden mit oder ohne vorherrschende Hypothesen dem Fortschritt thatsächlicher Erkenntniss am günstigsten gewesen seien.

Ein logischer Fehler liegt im Gebrauch der Hypothesen nur dann, wenn ihre hypothetische Natur verkannt wird; einen logischen Vortheil bringen sie nur, wenn die Beweisführung für die Thatsachen auf keinem einfacheren Wege möglich ist. Das Princip der exakten Forschung beruht auf der genauen Beobachtung der Bedingungen, unter welchen eine Erfahrung gemacht wurde; je exakter demnach eine Wissenschaft ist, desto häufiger wird sie sich des hypothetischen Ausdrucks bedienen, wo die minder exakte Darstellung kategorisch reden würde.

Vielleicht sind wir nunmehr berechtigt, einen eigenthümlichen Zug der neueren Naturforschung als materialistisch zu bezeichnen, welcher grade in der Opposition gegen die Strenge der exakten Forschung besteht; freilich nicht einer Opposition, welche sich auf den Libertinismus der Idee stützt, sondern in einer solchen, welche aus Ueberschätzung der unmittelbaren sinnlichen Ueberzeugung hervorgeht.

Um hier nicht in vage Allgemeinheiten zu gerathen, wollen wir unsere Betrachtungen an das merkwürdigste Beispiel dieser Opposition anknüpfen, welches in den letzten Jahren in Deutschland vorgekommen ist. Es ist die Reaktion einiger Physiologen gegen eine Abhandlung des Mathematikers Radicke über die Bedeutung und den Werth arithmetischer Mittel. Radicke veröffentlichte im Jahre 1858 im Archiv für phys. Heilkunde eine ausführliche Arbeit, deren Zweck darin bestand, das übermässig wuchernde Material physiologisch-chemischer Entdeckungen einer kritischen Sichtung zu unterwerfen. Er bediente sich dabei eines ebenso sinnreichen und selbständigen als correcten Verfahrens, um das Verhältniss des arithmetischen Mittels aus den Versuchsreihen zu den Abweichungen der einzelnen Versuche von diesem Mittel logisch zu verwerthen. Dabei ergab sich denn in der Anwendung der entwickelten Grundsätze auf viele bisher sehr geschätzte Untersuchungen, dass die Versuchsreihen dieser Untersuchungen überhaupt kein wissenschaftliches Resultat ergaben, weil die einzelnen Beobachtungen zu grosse Verschiedenheiten zeigten, um das arithmetische Mittel mit genügender Wahrscheinlichkeit als Produkt des zu untersuchenden Einflusses erscheinen zu lassen. Gegen diese höchst verdienstvolle und von mathematischer Seite durchaus nicht angefochtene Arbeit erhob sich nun Widerspruch von Seiten einiger namhafter Mediciner, und dieser Widerspruch förderte eben die seltsamen Urtheile zu Tage, die wir hier glauben erwähnen zu müssen. Vierordt nämlich bemerkte zu der Abhandlung, die er im Allgemeinen wohl billigte, »dass es ausser der rein formalen, mit einer gewissen mathematischen Schärfe beweisenden Logik des Wahrscheinlichkeitscalculs in vielen Fällen noch eine Logik der Thatsachen selbst giebt, die, in rechter Weise angewandt, einen kleineren, oder selbst sehr grossen Grad von Beweiskraft für den Mann vom Fach besitzt.« Der bestechende, aber doch im Grunde höchst unglücklich gewählte Ausdruck »Logik der Thatsachen« fand bei Manchen Anklang, denen die schneidende Schärfe der mathematischen Methode unbequem sein mochte; er wurde jedoch vom Prof. Ueberweg, einem Logiker von eminenter Befähigung zur Untersuchung solcher Fragen (Archiv für pathol. Anat. XVI.), auf ein sehr bescheidnes Maass der Berechtigung zurückgeführt. Ueberweg zeigte überzeugend, dass das, was man etwa als »Logik der Thatsachen« bezeichnen könne, in vielen Fällen als Vorstufe der strengeren Untersuchung einen Werth haben möge, »etwa so, wie die Abschätzung nach dem Augenmaass, so lange noch die mathematisch strenge Messung unmöglich ist;« dass aber nach richtiger Durchführung der Rechnung von einem durch die Logik der Thatsachen ermittelten abweichenden Resultat nicht mehr die Rede sein könne. In der That ist jenes unmittelbare Bewusstsein, welches der Fachmann während der Versuche erhält, grade so gut dem Irrthum ausgesetzt, wie jede beliebige Bildung eines Vorurtheils. Wir haben weder Veranlassung zu bezweifeln, dass sich während des Experimentirens solche Ueberzeugungen bilden; noch anzunehmen, dass ihnen mehr Werth zuzuschreiben ist als der Bildung von Ueberzeugungen auf nicht wissenschaftlichem Wege überhaupt. Das wahrhaft Beweisende in den exakten Wissenschaften ist eben nicht der materiale Vorgang, das Experiment in seiner unmittelbaren Einwirkung auf die Sinne, sondern die ideelle Zusammenfassung der Resultate. Es besteht aber unläugbar unter vielen Forschern, und besonders bei den Physiologen, die Neigung, das Experiment selbst, nicht seine logisch-mathematische Deutung als das Wesentliche der Forschung zu betrachten. Daraus ergiebt sich denn leicht der Rückfall in die grösste Willkür von Theorieen und Hypothesen; denn die materialistische Idee eines ungestörten Verkehrs zwischen den Gegenständen und unsern Sinnen widerspricht der menschlichen Natur, die allenthalben, selbst in die scheinbar unmittelbarste Thätigkeit der Sinne, die Wirkungen des Vorurtheils einzuschieben weiss. Dass diese eliminirt werden, ist ja grade das grosse Geheimniss aller Methodik in den exakten Wissenschaften, und es ist dabei völlig gleichgültig, ob es sich um Fälle handelt, in welchen man mit Durchschnittswerthen arbeitet, oder um solche, in welchen schon der einzelne Versuch von Bedeutung ist. Der Durchschnittswerth dient ja zunächst nur, um die objektivenSchwankungen zu eliminiren; damit nun aber auch die subjektivenFehler vermieden werden, ist die allererste Vorbedingung die, dass für den Mittelwerth selbst der wahrscheinliche Fehler bestimmt werde, welcher eben genau den Spielraum ungerechtfertigter Deutungen bezeichnet. Erst wenn der wahrscheinliche Fehler klein genug ist, um ein Resultat überhaupt als zulässig zu erachten, steht die Beobachtungsreihe als Ganzes auf demselben logischen Boden, wie ein einzelnes Experiment auf Gebieten, für welche die Eliminirung objektiver Schwankungen durch einen sichern Mittelwerth der Natur der Sache nach nicht erforderlich ist. Wenn z. B. Zweck eines Experimentes ist, das Verhalten eines neu entdeckten Metalls zum Magneten zu prüfen, so wird bei Anwendung aller üblichen Vorsichtsmaassregeln und guter Apparate schon das einzelne Experiment beweisen, indem die Erscheinung, um welche es sich handelt, leicht wiederholt werden kann, ohne dass die kleinen Ungleichheiten in der Stärke der Wirkung, die immer vorhanden sein werden, einen Einfluss auf den Satz ausüben, den man beweisen will.

Hienach ist denn auch die etwas behutsamere Polemik zu beurtheilen, welche Voit in seinen »Untersuchungen über den Einfluss des Kochsalzes, des Kaffees und der Muskelbewegungen« (München 1860) gegen Radicke geführt hat. Er findet nämlich bei seinen eignen Untersuchungen oft Ungleichheiten der einzelnen Beobachtungswerthe, welche nicht als zufällige Schwankungen, sondern vielmehr als durch die Natur des Organismus bedingte und mit Regelmässigkeit eintretende Ungleichheiten zu betrachten seien; indem z. B. der dem Experiment unterworfene Hund bei ganz derselben Fleischnahrung erst eine geringere und dann eine grössere Menge Harnstoff ausscheidet, und umgekehrt beim Fasten. Wo aber die Vermuthung solcher in der Natur der Sache liegenden Ungleichheiten vorliegt, da ist es so durchaus selbstverständlich, dass man nicht mit Mittelwerthen operirt, dass es schwer zu begreifen ist, wie dieser Fall überhaupt gegen Radicke angewandt werden konnte. Ob aber nun, wie Voit beansprucht, in diesem Falle jedem einzelnen Versuch der Werth eines Experimentes beizulegen ist, hängt durchaus, wie bei jedem Experiment, von seiner Wiederholbarkeit unter gleichen Umständen ab. Bei der Wiederholung muss sich dann auch erst zeigen, ob das, was bewiesen werden soll, bei jedem einzelnen Versuch klar genug sich darstellt, oder ob eine ganz anders combinirte Versuchsreihe anzustellen ist, aus welcher die Mittelwerthe zu ziehen sind.

Wenn nämlich bei der ersten Versuchsreihe sich die Werthe a, b, c, d ... ergeben, welche statt blosser Schwankungen vielmehr einen bestimmten Fortschritt zeigen, so ist, um diesen zu constatiren, ein zweiter Versuch erforderlich, welcher die Werthe a 1, b 1, c 1, d 1, ... ergeben mag. Zeigt sich dann der Fortschritt deutlich wieder und will man weiter nichts, als ihn ganz im Allgemeinen constatiren, so mag es sein Bewenden haben. Will man aber nummerisch genaue Resultate, und die Uebereinstimmung ist nicht vollständig, so bleibt nichts übrig, als mit einer dritten Reihe a 2, b 2, c 2, d 2 ... fortzufahren, und so weiter bis a n, b n, c n, d n, ... wo dann sich von selbst ergiebt, dass nun die Werthe a 1, a 2, a 3 ... a n und hinwieder b 1, b 2, b 3 ... b n zu combiniren sind. Auf diese Combinationen wird dann aber die ganze Strenge der von Radicke aufgestellten Methode Anwendung erleiden müssen.

Es mag vielleicht scheinen zu weit zu gehen, wenn wir jene Opposition der Naturforscher gegen die strengeren Forderungen der Mathematik als ein materialistisches Element ansehen. Wer jedoch unsre Geschichte aufmerksam verfolgt hat, wird zugeben, dass der Materialismus sich von Anfang an mehr auf die Sinne, die Anschauung und die daraus sich unmittelbar ergebende Deutung der Wirklichkeit verlässt, während die Mathematik vorwiegend von Idealisten gepflegt wird. Baco, der vielgerühmte Vater der Experimental-Methode, hasste die Mathematik und war denn auch wirklich ein Muster des sinnlosen und ergebnisslosen Experimentirens. Mit dem Relativismus dagegen verträgt sich die Mathematik vortrefflich, und wir zweifeln keinen Augenblick, dass die Sicherheit aller Forschung bedeutend zunehmen wird, je mehr diese Richtung an die Stelle des überlieferten Materialismus gesetzt wird.


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