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Durch die ganze Geschichte des Materialismus geht der bestimmte Zug, dass die kosmischen Fragen allmählig an Interesse verlieren, während die anthropologischen einen immer grösseren Eifer des Streites herbeiführen. Zwar kann es scheinen, dass diese anthropologische Richtung des Materialismus im vorigen Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht habe; denn grade die grossartigen Entdeckungen der Neuzeit auf den Gebieten der Chemie, der Physik, der Geologie, der Astronomie haben eine Reihe von Fragen hervorgerufen, zu welchen der Materialismus eine bestimmte Stellung einnehmen musste. Auf der andern Seite hat jedoch auch die Anthropologie die staunenswerthesten Fortschritte gemacht; freilich zumeist in solchen Gebieten, welche die Frage des Materialismus wenig berühren. Man hat die Krankheitsgespenster beseitigt, das medicinische Pfaffenthum ein wenig zu erschüttern begonnen und durch die vergleichende und experimentirende Physiologie über die Funktionen der wichtigsten inneren Organe – freilich mit Ausnahme des Gehirns – überraschende Aufschlüsse erhalten. Namentlich ist das Nervensystem in seiner Thätigkeit für uns kein solches Mysterium mehr, wie es noch für die Materialisten des vorigen Jahrhunderts war oder hätte sein müssen. Das Gehirn wurde zwar eben durch seinen Zusammenhang mit dem Nervensystem in einigen Beziehungen besser verstanden als früher; es wurde mit riesigem Fleisse anatomisch durchforscht, gemessen, gewogen, analysirt, mikroskopisch betrachtet, in seinen Krankheitsformen studirt, mit Thiergehirnen verglichen und an Thieren dem Experiment unterworfen; allein über den physiologischen Zusammenhang und die Wirkungsweise seiner Theile ist es noch nicht einmal gelungen, eine umfassende Hypothese aufzustellen; um so mehr wird gefabelt; wobei denn freilich die Materialisten nicht zurückstehn. Ein Gebiet, welches ihnen bessere Ausbeute ergab, ist das des Stoffwechsels, wie überhaupt die Anwendung von Physik und Chemie auf die Funktionen des lebenden Organismus. Hier unterliegen zwar manche Resultate einer vermeintlich exakten Forschung, wie wir oben gesehn haben, noch einer stark reducirenden Kritik; im Ganzen aber lässt sich das Unternehmen als gelungen betrachten, den lebenden Menschen, wie er uns äusserlich gegeben ist, gleich allen organischen und unorganischen Körpern als ein Produkt der in der ganzen Natur waltenden Kräfte darzustellen. Ein äusserst wichtiges Gebiet, die Physiologie der Sinnesorgane hat dagegen entscheidende Gründe für die Beseitigung des Materialismus ergeben, ist jedoch bisher wenig in die Debatte gezogen worden, weil die Gegner des Materialismus theils diese Art der Widerlegung für ihre Zwecke nicht brauchen können, theils aber der nöthigen Kenntnisse entbehren. Unterdessen hat man auch versucht, die Psychologie einer naturwissenschaftlichen, und sogar einer mathematisch-mechanischen Behandlungsweise zu unterwerfen. In der Psychophysik und in der Moralstatistik sind Wissenschaften aufgestellt worden, welche dies Bestreben zu unterstützen scheinen. Da man den materialistischen Streit in neuerer Zeit oft gradezu als einen Kampf um die Seele bezeichnet hat, so werden wir auf alle diese Gebiete Rücksicht nehmen müssen.
Zunächst haben wir die Frage nach dem Ursprung und Alter des Menschengeschlechtes kurz zu berühren, die grade in den letzten Jahren zu den lebhaftesten Erörterungen Veranlassung gegeben hat. Es ist leicht zu übersehen, dass die Beantwortung dieser Frage sich bisher fast nur nach vorgefassten Meinungen gerichtet hat. Das weitschichtige Material, welches zum Theil in gelehrten und bändereichen Werken niedergelegt ist, erweckt grösstenteils wenig Zutrauen; ja, man sieht leicht, dass oft die Studien von vornherein unternommen wurden, um für einen Lieblingsgedanken Argumente zu sammeln. Am schlimmsten ist es bestellt mit der Frage nach der Einheit des Menschengeschlechtes und nach dem Verhältniss des Menschen zu der nächsten Gattung des Thierreiches, zu den Affen. In diesen Punkten ist der Streit, trotz aller zusammengetragenen Gründe und Gegengründe, fast auf demselben Fleck geblieben, auf dem wir ihn im vorigen Jahrhundert fanden, was auch bei der Voreiligkeit und Unklarheit der Fragestellung nicht anders zu erwarten war. Dagegen haben Geologie und Alterthumsforschung uns in neuester Zeit einige unschätzbare Thatsachen – gleichsam als ein Unterpfand künftiger bedeutender Entdeckungen – in die Hand gegeben, und nicht minder hat Darwins Theorie ein interessantes Streiflicht auf das Gebiet dieser Fragen geworfen. Denkwürdig sind die neueren Forschungen besonders durch die auffallende Art, in welcher die Vorurtheile berühmter Männer durch Thatsachen niedergeworfen wurden, während sie im vollen Glanz eines wissenschaftlichen Dogmas prunkten«
Die Dogmen von den Erdrevolutionen, von dem successiven Auftreten der Geschöpfe, von dem späten Erscheinen des Menschen waren von vornherein dem Materialismus und mehr noch dem Pantheismus entgegengestellt. Während Buffon, De la Mettrie, und später die deutschen Naturphilosophen, Goethe an der Spitze, den Gedanken der Einheit der Schöpfung lebhaft ergriffen, und die höheren Formen durchweg aus den niedern zu entwickeln versuchten, war es namentlich Cuvier, der als feinster Kenner des Einzelnen diesen Einheitsbestrebungen entgegentrat. Er fürchtete den Pantheismus. Goethe vertrat grade diese pantheistische Einheitsphilosophie am vollkommensten; schon früher gerieth er mit Camper und Blumenbach wegen des Zwischenknochens in Differenz, der angeblich den Affen vom Menschen scheiden sollte, und bis zu seinem Tode folgte er den Streitigkeiten über die Einheit aller Organismen mit der grössten Aufmerksamkeit. So theilt er uns denn auch eine mürrische Aeusserung Cuvier's mit: »Ich weiss wohl, dass für gewisse Geister hinter dieser Theorie der Analogieen, wenigstens verworrener Weise, eine andere sehr alte Theorie sich verbergen mag, die, schon längst widerlegt, von einigen Deutschen wieder hervorgesucht worden, um das pantheistische System zu begünstigen, welches sie Naturphilosophie nennen.« – Dieser Stolz des positiven Wissens gegenüber der überschauenden Gesammtansicht, der Eifer des unterscheidenden Forschers gegenüber den zusammenfassenden Denkern machte Cuvier blind gegen den grossen logischen Unterschied zwischen dem Fehlen eines Beweises und dem Beweis für das Fehlen eines Vorkommnisses. Man kannte keine fossilen Menschen, und er that den Machtspruch, dass es keine geben könne.
Ein solcher Ausspruch muss um so mehr auffallen, da ein negativer Satz in der Naturgeschichte überhaupt nur einen untergeordneten Werth hat; bei dem äusserst geringen Theil der Erdoberfläche, welcher damals durchforscht war, wäre es gradezu räthselhaft gewesen, dass man sich zu einer so allgemeinen Behauptung veranlasst finden konnte, wenn nicht der Zusammenhang mit der Lieblingstheorie der successiven Schöpfung eine Erklärung dafür gäbe. Die successive Schöpfung war aber eine Art von Umgestaltung der biblischen Lehre von den Schöpfungstagen, die noch jetzt, wo sie den Thatsachen gegenüber nicht mehr zulässig ist, viele Anhänger findet. Vogt stellt in seiner lebhaften Polemik die damalige Theorie und die Entdeckungen der Gegenwart so prägnant und übersichtlich zusammen, dass wir uns nicht versagen können, dies Bild trotz einiger überflüssigen Witze hier einzufügen:
»Es sind kaum dreissig Jahre her, dass Cuvier sagte; Es giebt keinen fossilen Affen und kann keinen geben; es giebt keinen fossilen Menschen und kann keinen geben – und heute sprechen wir von fossilen Affen wie von alten Bekannten und führen den fossilen Menschen nicht nur in die Schwemmgebilde, sondern sogar bis in die jüngsten Tertiärgebilde hinein, wenn auch einige Verstockte behaupten mögen, Cuviers Ausspruch sei eine That des Genies und könne nicht umgestossen werden. Es sind kaum zwanzig Jahre her, als ich bei Agassiz lernte: Uebergangsschichten, paläozoische Gebilde – Reich der Fische; es giebt keine Reptilien in dieser Zeit und konnte keine geben, weil es dem Schöpfungsplan zuwider gewesen wäre; – secundäre Gebilde – (Trias, Jura, Kreide) Reich der Reptilien; es giebt keine Säugethiere und konnte keine geben, aus demselben Grunde; – tertiäre Schichten – Reich der Säugethiere; es giebt keine Menschen und konnte keine geben; – heutige Schöpfung – Reich des Menschen. Wo ist heute dieser Schöpfungsplan mit seinen Ausschliesslichkeiten hingerathen? Reptilien in den devonischen Schichten, Reptilien in der Kohle, Reptilien in der Dyas– lebe wohl, Reich der Fische! Säugethiere im Jura, Säugethiere im Purbeck-Kalk, den Einige zur untersten Kreide rechnen, – auf Wiedersehen Reich der Reptilien! Menschen in den obersten Tertiärschichten, Menschen in den Schwemmgebilden – ein ander Mal wiederkommen, Reich der Säugethiere!«
Es gehört in keiner Weise zu unsrer Aufgabe, hier das noch streitige Vorkommen menschlicher Reste in den Tertiärschichten kritisch zu untersuchen, dagegen müssen wir constatiren, dass das Vorkommen im Diluvium gegenwärtig über jeden Zweifel erhaben ist. Merkwürdig ist, dass schon im nächsten Jahre nach dem Todesjahr Cuviers und Goethes ein Fund bekannt gemacht wurde, der allein genügt hätte, die Theorie des ersteren zu stürzen, wenn nicht Autoritätssucht und blindes Vorurtheil weit verbreiteter wären, als schlichte Empfänglichkeit für den Eindruck der Thatsachen. Es ist dies der Fund des Dr. Schmerling in den Knochenhöhlen von Engis und Engihoul bei Lüttich. Einige Jahre später begann Boucher de Perthes seine rastlosen Forschungen nach menschlichen Ueberresten in den Diluvialgebilden, die erst nach langem Suchen durch die Entdeckungen im Thal der Somme belohnt wurden. Ein langer Streit brachte erst endlich diese Aufschlüsse zur Anerkennung, und von da an änderte sich allmählig die Richtung der Forschung. Eine neue Reihe höchst interessanter Entdeckungen bei Aurignac, Lherm und im Neanderthal an der Düssel traf der Zeit nach zusammen mit dem allmähligen Siege der Lyell'schen Ansicht über die Bildung der Erdrinde und mit Darwins neuer Lehre von der Entstehung der Arten. Mit der veränderten Ansicht der Fachmänner wurde auch manche ältere Notiz hervorgezogen und mit den neueren Entdeckungen zusammengestellt. Das Gesammtresultat ist für jeden Unbefangenen so weit klar, dass sich in der That menschliche Ueberreste finden, deren Beschaffenheit und Lagerstätte beweist, dass unser Geschlecht schon mit jenen frühern Arten des Bären, der Hyäne und andrer Säugethiere zusammen bestanden hat, die man nach den Höhlen benennt, in welchen sich ihre Ueberreste zu finden pflegen. Es versteht sich von selbst, dass die Untersuchung damit nicht abgeschlossen ist. Es giebt von vornherein keinen Grund anzunehmen, dass der Mensch ein geringeres Alter habe, als andre Thierarten, und da weitaus der grösste Theil der Erde zu Nachsuchungen kaum je benutzt ist, und selbst in den durchforschtesten Ländern noch jeden Augenblick neue Entdeckungen möglich sind, so muss das Weitere einfach offen bleiben. Wir können nicht leugnen, dass die Berechnungen des Alters der Schichten, in welchen man jene Ueberreste der Vorzeit gefunden hat, noch den Eindruck grosser Unsicherheit machen. Es ist auch für den unparteiischen Beobachter hier kaum möglich, aus den abweichenden Meinungen der Fachmänner ein kritisches Resultat zu ziehen, da man nicht ermessen kann, wie weit falsche Voraussetzungen auf die Berechnungen Einfluss geübt haben. Im Allgemeinen suchen die Forscher ihre Resultate als blosse unterste Grenzen der Zeitdauer hinzustellen, gleich als ob es bescheidner wäre, sich mit einer geringeren Zahl zu begnügen. Dagegen mag es auch vorkommen, dass der wissenschaftlich sinnlose aber immer noch einflussreiche Kampf gegen die biblischen Ueberlieferungen manchen Jünger der Wissenschaft veranlasst, mit stillem Behagen die Zeitperioden möglichst gross zu machen; gleich als ob in logischer und religiöser Hinsicht der Gegensatz zwischen 6000 und 600 000 bedeutsamer wäre, als der Gegensatz etwa zwischen 6000 und 60 000. Erst wenn in dieser Beziehung eine grössere Unbefangenheit Platz gegriffen hat, und wenn anderseits unsre Bemerkung zur Anerkennung gekommen ist, dass in all diesen Fragen in dubio die grössere Zahl die wahrscheinlichere ist: erst dann werden auch solche Berechnungen, unterstützt von neuen Beobachtungen, einen grösseren Werth haben können. Der Umstand, dass es sich schon nach den bisherigen Entdeckungen um hunderttausende von Jahren handeln mag, ist für die Kritik des Materialismus ziemlich gleichgültig, und nur geschichtlich muss es erwähnt werden, dass das Markten um solche Zahlen in dem materialistischen Streit ebenfalls seine Rolle spielt.
Wichtiger würde es sein, wenn wir über die physische und psychische Beschaffenheit und über den Culturzustand jener ältesten Zeugen des menschlichen Geschlechtes Näheres anzugeben wüssten. Wir haben nun allerdings für den Culturzustand einige unschätzbare Anhaltspunkte; die Qualität der ursprünglichen Rasse dagegen unterliegt noch mancherlei Zweifeln. Die wichtigsten Fundstätten ergeben uns nämlich eine grosse Zahl von Gerätschaften und andern Spuren menschlicher Thätigkeit; dagegen sind die gefundenen menschlichen Ueberreste bisher zu einem wissenschaftlich sichern Schluss kaum ausreichend. In der Höhle von Lherm fand man die Menschenreste vermengt mit Knochen und Zähnen des Höhlenbären und der Höhlenhyäne unter einer dicken Tropfsteinschicht. »Ausser den Menschenresten fanden sich Zeugnisse seiner Industrie, ein dreieckiges Kieselsteinmesser, ein Röhrenknochen des Höhlenbären, der zu einem schneidenden Instrumente umgeformt ist, drei Unterkiefer des Höhlenbären, deren aufsteigender Ast mit einem Loche durchbohrt wurde, um sie aufhängen zu können und der Augenzinken eines Hirschgeweihes, der zugespitzt und am Grunde zugeschnitzt ist. Die merkwürdigsten Waffen aber bestehen aus zwanzig halben Kinnladen des Höhlenbären, an welchen der aufsteigende Ast weggeschlagen und der Körper des Unterkiefers so weit zugeschnitzt wurde, dass er eine bequeme Handhabe bot. Der stark vorstehende Eckzahn bildete auf diese Weise einen Zacken, der eben so als Waffe, wie als Hacke zum Aufreissen der Erde dienen konnte. Hätten wir nur ein einziges dieser seltsamen Instrumente gefunden, sagen die Verfasser eines zu Toulouse erschienenen Berichtes, die Herren Rames, Garrigou und Filhol, so könnte man uns einwerfen, dass es einem Zufalle seine Entstehung verdankte, wenn man aber zwanzig Kiefer findet, die alle in derselben Weise bearbeitet wurden, kann man dann auch noch von Zufall reden? Uebrigens kann man der Arbeit folgen, mittelst welcher der Urmensch der Kinnlade diese Gestalt gab. Man kann an jedem dieser zwanzig Kinnbacken die Einschnitte und Sägenzüge zählen, welche mit der Schneide eines schlecht zugeschärften Kieselmessers gemacht wurden.« In grossen Massen hat man die Steininstrumente im Thal der Somme gefunden, und Boucher de Perthes hat der Anerkennung seiner Entdeckungen nicht wenig dadurch geschadet, dass er manchen Stücken eine zu künstliche Deutung zu geben versuchte. Der Kreideboden jener Gegenden ist reich an Feuersteinknollen, welche man nur so lange aufeinander schlagen muss, bis einer bricht, um aus den Bruchstücken Theile zu erhalten, welche nach einiger ferneren Behandlung die Aexte und Messer der Diluvial-Menschen ergeben. Da nun auch der Affe schon gelegentlich sich des Steins als eines Hammers bedient, so könnte es scheinen, als ertappten wir hier den Menschen auf einer noch ganz nah an die Entwicklung des Thieres grenzenden Stufe. Doch ist der Unterschied ein ungeheuer grosser; denn eben die Ausdauer, welche auf die Fertigung eines Instrumentes verwandt wird, das sich nur mässig über die Leistungen eines natürlichen Steines oder Steinsplitters erhebt, zeigt eine Fähigkeit von den unmittelbaren Bedürfnissen und Genüssen des Lebens zu abstrahiren, und die Aufmerksamkeit um des Zweckes willen ganz auf das Mittel zu wenden, welche wir sonst bei den Säugethieren und auch bei den Affen nicht leicht finden werden. Die Thiere bauen sich bisweilen recht künstliche Wohnungen, aber wir haben noch nicht gesehn, dass sie sich zur Herstellung derselben auch künstlicher Werkzeuge bedienen. Die Volkswirthschaft sucht bekanntlich an der Herstellung des ersten Werkzeuges das Wesen der Kapitalbildung zu entwickeln. Dieser Anfang menschlicher Entwicklung war jedenfalls beim Diluvialmenschen vorhanden. Unser heutiger Orang-Utang oder Chimpanse würde neben ihm volkswirtschaftlich ein Lump sein, ein reiner Vagabunde. Nimmt man eine Entwicklung des Menschengeschlechtes durch endlose Stufen an, von den unscheinbarsten organischen Formen bis zu der heutigen Periode, dann ist gewiss nicht der kleinste Zeitraum verflossen von da an, wo der Mensch bei einer kräftigen Organisation über wohlgebildete Hände und starke Arme verfügte, bis zu dem Augenblick, wo er diese Organe durch mühsam gearbeitete Kieselsteinmesser und Bärenkinnbacken unterstützte.
In der That aber finden sich auch an einigen der ältesten Stätten unzweideutige Spuren des Feuers. Schon in den ältesten Zeiten scheint der Diluvialmensch dies wichtigste aller menschlichen Hülfsmittel gekannt und benützt zu haben. »Das Thier«, sagt Vogt, freut sich des Feuers, das zufällig entstanden ist und wärmt sich daran; der Mensch sucht es zu erhalten, zu erzeugen und zu verschiedenen Zwecken sich dienstbar zu machen.« In der That könnte ein Ritter des absoluten Unterschiedes zwischen Mensch und Thier keinen schöneren Satz finden, um noch den neuesten Entdeckungen gegenüber seinen Standpunkt damit zu vertheidigen. Eben dies Voraussinnen, das Sorgen für ein späteres Bedürfniss ist es ja, was den Menschen Schritt für Schritt zur höheren Cultur geleitet hat, und was wir sonach schon in einer so fernen Vorzeit charakteristisch finden. Trotzdem ist es bei ruhiger Ueberlegung selbstverständlich, dass wir von einem solchen absoluten Unterschiede nichts wissen und im Bereich der Wissenschaft nicht die leiseste Veranlassung finden, dergleichen anzunehmen. Wir haben weder irgend eine Kenntniss von der ferneren Entwicklungsfähigkeit der Thierwelt, noch von den Stufen, durch welche der Mensch wandeln musste, bis er dahin kam, das Feuer zu pflegen und seinen Zwecken dienstbar zu machen.
Mit äusserstem Scharfsinn hat man die Ergebnisse einiger Fundstätten combinirt, um hier auf die Reste eines Kannibalenschmauses, dort auf Begräbnissceremonien zu schliessen. Wir übergehen diese interessanten Versuche, um noch kurz der Schlüsse über die Organisation des Diluvialmenschen zu gedenken, die man auf die Beschaffenheit der gefundenen Skelettheile gegründet hat. Hier ist nun leider zu berichten, dass es mit dem Material ziemlich traurig aussieht. Der Fund von Aurignac, vielleicht der interessanteste von allen, ist zu einem Denkmal der Unwissenheit eines Mediciners geworden, welcher 17 diluviale Skelete verschiedenen Alters und Geschlechtes auf dem Kirchhof verscharren liess, wo man später, vermuthlich durch Fanatismus veranlasst, den Ort der Beerdigung nicht mehr wissen wollte. Nach acht Jahren sollten sämmtliche dabei beschäftigte Personen, sammt Zuschauern, diese Stelle vergessen haben! Vielleicht wird man sich später einmal besser erinnern. Einstweilen wird nur behauptet, dass sämmtliche Skelete sehr kleiner Statur gewesen seien. Hier ist denn gleich zu bemerken, dass nach allen bisherigen Beobachtungen diejenige Rasse der Diluvialmenschen, welche damals das mittlere Europa bewohnte, im Vergleich mit den jetzigen Rassen dieser Länder eher kleiner als grösser gedacht werden muss. Das durch Dr. Fuhlrott bekannt gewordene Skelet aus dem Neanderthal lässt auf einen Mann von mittlerer Statur von ausserordentlich kräftigem Muskelbau schliessen. Leider sind an den meisten Stellen, da die Knochen durch Wasserströmungen fortgerollt und in Höhlen angeschwemmt wurden, keine vollständigen Skelete und namentlich keine wohlerhaltnen Schädel zu finden. Die beiden einzigen Schädel, welche genau bekannt und sicher der Diluvial-Periode zuzuzählen sind, der Schädel aus der Höhle von Engis bei Lüttich und der aus dem Neanderthale sind aber unter sich so verschieden, dass ein Schluss auf die Eigenschaften einer bestimmten diluvialen Rasse dadurch ganz unmöglich wird. Die Annahme, dass der Engisschädel einem intelligenten Weibe, der Neanderthaler Schädel einem muskelstarken aber beschränkten Manne angehört habe, genügt nicht, diese Kluft auszufüllen. Es scheint vielmehr, dass grosse Verschiedenheiten, nicht nur individueller Art, vielmehr wirkliche Stammesunterschiede bis in die ältesten Zeiten zurückreichen. Der Neanderthaler Schädel, der affenähnlichste von allen, die wir kennen, spricht in Verbindung mit dem Bau der zugehörigen Knochen für einen Zustand grosser Wildheit, in dem sich diese diluviale Rasse befunden haben muss; nichts destoweniger müssen wir den besonnenen Erörterungen von Schaaffhausen und Fuhlrott beipflichten, nach welchen kein Grund vorhanden ist, in dem Neanderthaler Menschen gleichsam schon ein Wesen zu erblicken, welches zwischen Mensch und Affe die Mitte hält. Mit ungeduldiger Hast greift man gern nach jedem neuen Funde, um ihn zur Vervollständigung jener Entwicklungsreihe zu verwerthen, welche das Causalitätsgesetz unsres Verstandes fordert. Allein grade diese Hast ist noch ein Rest von Misstrauen in die Sache des Verstandes; gleich als könnte sein Spiel plötzlich wieder zu Gunsten des Dogmatismus verloren gehen, wenn nicht schleunigst positive Beweise für die Uebereinstimmung der Natur mit einer vernünftigen Vorstellungsweise herbeigeschafft würden. Je vollständiger man sich von allen dogmatischen Nebeln irgend welcher Art befreit, desto gründlicher wird dieses Misstrauen verschwinden. Für Epikur war es noch das Wichtigste, nur zu zeigen, dass alle Dinge auf irgend eine begreifliche Weise entstanden sein könnten. Diese principielle Begreiflichkeit alles Gegebenen steht ja für uns hinlänglich fest; einerlei ob man sie aus einer genügenden Erfahrung ableitet, oder a priori deducirt. Wozu denn die Eile? Derselbe Schlag von Menschen, welcher ehemals am eifrigsten auf Cuvier's Dogma schwur, dass es keine fossilen Menschen gebe, schwört jetzt auf das Fehlen der Uebergangsstufen: das ewige Bemühen, durch negative Sätze die Schrulle zu retten, welche mit positiven Sätzen nicht zu befestigen ist! Man lasse es also ruhig dabei bewenden, dass auch das Diluvium uns bis jetzt nicht zu einem Zustande des Menschen führt, der sich von dem des Australnegers wesentlich unterscheidet.
Besser steht es mit den Zwischenstufen zwischen dem Diluvialmenschen und der historischen Zeit. Hier ist in den letzten Jahren ein Feld gewonnen worden, dessen eifriger Anbau uns eine vollständige Vorgeschichte der Menschheit verspricht. Dahin gehören jene viel besprochenen » Küchenabfälle«, uralte Anhäufungen entleerter Austern- und Muschelschalen, die sich an einigen Küstenstrecken Dänemarks von unzweifelhaften Spuren menschlicher Thätigkeit begleitet gefunden haben. Dahin gehören namentlich auch die Pfahlbauten der schweizerischen Seen; ursprünglich wohl Zufluchtsstätten und Vorrathshäuser, später vielleicht gar Stapelplätze für den Handel der Uferbewohner. Diese höchst merkwürdigen Bauten wurden schnell nacheinander in grosser Anzahl entdeckt, nachdem Dr. Keller die erste solche Fundstätte im Winter 1853 auf 1854 bei Meilen am Zürichsee erblickt und in ihrer Bedeutung erkannt und gewürdigt hatte. Man unterscheidet gegenwärtig in den Gegenständen, welche man namentlich da in reicher Zahl findet, wo die Pfahlbauten Brandspuren tragen, drei verschiedne Zeitalter, von denen das jüngste, das eiserne, bis in die Gegenwart hineinreicht. Die früheren Zeitalter sind aber nicht, nach der Mythe der Alten das silberne und das goldene, sondern sie führen uns in eine Zeit zurück, in welcher die Menschen nur Geräthschaften aus Bronce besassen, und endlich in die Steinzeit, deren Aufdämmern wir schon bei den Diluvialmenschen gefunden haben. Vermuthlich war es aber eine endlos lange Dämmerung der Cultur, jene nach hunderttausenden von Jahren zählende Periode des Diluviums, während welcher der Mensch sich von der mühsamen Benutzung eines fast rohen Feuersteinsplitters emporschwang bis zu der Fertigung zahlreicher und kunstvoller Gegenstände aus Stein, Holz, Horn und Thon, ohne dass er irgend eins unsrer metallenen Instrumente gekannt hätte.
Merkwürdig ist auch noch, dass neuere Schädelstudien bewiesen haben, wie zäh sich der Rassentypus erhält und wie langsam die Vermehrung des Gehirnvolumens vor sich geht, welche man mit dem intellectuellen Fortschritt in Verbindung bringt. Betrachtet man die Geschichte der menschlichen Cultur im Lichte der neuesten Forschungen, so wird man hinsichtlich des Ganges der Errungenschaften an die Linie einer Hyperbel erinnert, deren Ordinaten, die Culturentwicklung darstellend, anfangs unendlich langsam ansteigen auf ungeheure Abscissen der Zeit; dann schneller und schneller, und endlich erfolgt in mässigem Zeitraum ein ungeheurer Fortschritt. Wir brauchen dies Bild, um einen Gedanken vollständig klar zu machen, der uns von Wichtigkeit scheint. Es ist nämlich mit der Entwicklung der physischen und selbst der psychischen Eigenschaften der Völker ganz anders beschaffen. Hier scheint vielmehr der Fortschritt in der Begabung der Individuen und Nationen nur ein ganz langsamer und allmähliger. Dies rührt wohl daher, dass der Mensch mit gleichen Fähigkeiten ein weit höheres Ziel erreicht, wenn er in einer sehr geförderten Umgebung sich befindet, als wenn er unter den rohesten Ueberlieferungen aufwächst. Es scheint fast, als sei eine sehr mässige Begabung dazu ausreichend, um sich im Lauf einer etwa zwanzigjährigen Kindheit und Jugend auch in die entwickeltsten Culturverhältnisse so weit hinein zu finden, dass man selbstthätig mit eingreifen kann. Bedenkt man aber, dass in früheren Jahrhunderten meist bloss Thatsachen und vereinzelte Erfahrungen oder Kunstgriffe überliefert wurden, während die Neuzeit auch Methoden überliefert, mittelst welcher ganze Reihen von Entdeckungen und Erfindungen gewonnen werden, so sieht man den Grund des schnellen Steigens der heutigen Cultur leicht ein, ohne deshalb in der Gegenwart einen plötzlichen Aufschwung der Menschheit zu einem höheren geistigen und leiblichen Dasein erblicken zu müssen. Ja, wie das Individuum oft zu seinen bedeutendsten geistigen Schöpfungen erst in einem Alter gelangt, in welchem die Kräfte des Gehirns bereits in Abnahme sind, so ist es auch an sich nicht undenkbar, dass unserm gegenwärtigen Aufschwung keineswegs jene elastische Jugendkraft der Menschheit zu Grunde liegt, welche wir so gern annehmen. Wir sind weit entfernt, in dieser Beziehung irgend eine positive Ansicht hinzustellen, wozu Niemand das Zeug haben kann. Wir können aber das Thema der Entwicklung des Menschengeschlechtes nicht verlassen, ohne wenigstens zu zeigen, wie wenig das Dogma von dem stetigen Fortschritt der Menschheit objektiv begründet ist. Die kurze Spanne der Geschichte, die freilich noch nicht genug Fälle bietet, um auch nur einen wahrscheinlichen Erfahrungssatz zuzulassen, geschweige denn ein »Gesetz«, hat uns schon mehrmals gezeigt, wie äussere Entfaltung und inneres Absterben der Nationen Hand in Hand gingen, und die Neigung der Menge wie der »Gebildeten« nur für ihr materielles Wohl zu sorgen und sich dem Despotismus zu unterwerfen, ist im Alterthum und vielleicht auch bei mehreren Culturvölkern des Orients ein Symptom solchen innern Absterbens gewesen. Wir haben damit den theoretischen Ort einer Frage bezeichnet, die wir im letzten Abschnitt von einem ganz andern Gesichtspunkte aus betrachten wollen.
Wie die Frage nach dem Alter des Menschengeschlechtes den Materialismus im Grunde nur als den offensten und handgreiflichsten Opponenten gegen unklare theologische Vorstellungen beschäftigt, während sie mit der innersten Grundlage des specifischen Materialismus wenig zu schaffen hat, so ist es auch mit der Frage nach der Arteinheit des Menschengeschlechtes. Diese Frage ist eine blosse Umbildung der Frage der Abstammung von einem Paare, wie Cuviers Theorie der Erdrevolutionen eine Umbildung der Sage von den Schöpfungstagen war, und wie die Lehre von der Unveränderlichkeit der Arten sich auf die Arche Noah zurückführen lässt. Ohne die allmählige Loslösung von diesen Traditionen wäre die angeblich so vorurtheilsfreie Wissenschaft gar nicht dahin gekommen, diese Fragen so eifrig zu behandeln und der Kampf des grösseren Irrthums mit dem geringeren ist auch hier eine Quelle mancher förderlichen Erkenntniss geworden. Um etwas zu entscheiden, wovon Niemand eine klare Vorstellung hat, nämlich ob die Menschheit eine Einheit bilde, hat man Schädel gemessen, Skelete studirt, Proportionen verglichen und jedenfalls die Ethnographie bereichert, den Gesichtskreis der Physiologie erweitert und zahllose Thatsachen der Geschichte und Anthropologie gesammelt und der Vergessenheit entrissen. In Beziehung auf die Hauptsache aber ist durch all diesen Fleiss nichts entschieden, als etwa dies, dass die innerste Triebfeder dieser Erörterungen nicht in einem rein wissenschaftlichen Interesse liegt, sondern in mächtigen Parteifragen. Die Sache ist hier dadurch verwickelter, dass ausser dem vermeintlichen religiösen Interesse noch die Sklavenfrage von Nord-Amerika herüber mächtig in diesen Streit eingegriffen hat. In solchen Fällen begnügt sich der Mensch leicht mit den wohlfeilsten und fadenscheinigsten Gründen, denen dann durch den Pomp der Gelehrsamkeit und den Anstrich wissenschaftlicher Formen Nachdruck gegeben wird. So ist namentlich das Werk der Herren Nott und Gliddon (types of mankind 1854) ganz von der amerikanischen Tendenz durchdrungen, die Neger als möglichst niedrig und thierähnlich organisirte Wesen erscheinen zu lassen; da aber in der Behandlung dieser Fragen bisher die entgegengesetzte Tendenz vorherrschte, so hat grade dies Buch viel zu einer schärferen Erfassung der charakteristischen Merkmale der Rassen beigetragen. Die in mancher Beziehung vortreffliche Anthropologie der Naturvölker des für die Wissenschaft zu früh verstorbenen Waitz leidet dagegen wieder ganz an einer durchgehenden Ueberschätzung der Gründe, welche für die »Einheit« der Menschheit sprechen. Dies geht so weit, dass Waitz sich sogar häufig auf den ganz unzuverlässigen und unwissenschaftlichen Prichard beruft, dass er Blumenbach (1795!) in den Fragen der Art- und Rassenunterschiede noch jetzt als erste Autorität betrachtet, dass er R. Wagners Sammlung von Bastardfällen (zu Prichard) mit dem Beiwort »sorgfältig« beehrt und endlich gar auf den Satz verfällt: »Was sollten in der That auch die specifischen Unterschiede in der Natur noch für eine Bedeutung haben und als wie unzweckmässig erschiene ihre Festigkeit, wenn ihre Verwischung durch fortlaufende Bastardzeugungen möglich wäre?« Dass auf solchem Standpunkt eine Leistung in der Hauptfrage nicht zu erwarten ist, selbst wenn die Entscheidung an sich möglich wäre, bedarf keines Beweises. Wie es denn überhaupt gehn kann, wo man Dinge auf mühevollen Umwegen zu beweisen sucht, die jeden Augenblick durch die Erfahrung widerlegt werden können, mag nur das eine Beispiel zeigen, dass Waitz noch ruhig Hasen und Kaninchen als Arten anführt, welche jedem Kreuzungsversuche widerstehen, während Herr Roux in Angoulême mit seinen Dreiachtelhasen, einer von ihm erfundenen neuen Thierspecies – oder Rasse wenn man lieber will – schon seit acht Jahren vortreffliche Geschäfte machte.
Eine besonders merkwürdige Folge der theologischen Tendenz scheint sich bei unsern Materialisten zu ergeben, wenn sie einerseits die Arteinheit des Menschengeschlechtes leugnen, anderseits dagegen nicht anstehen, durch Herleitung des Menschen vom Affen eine neue Arteinheit aufzustellen, welche jedenfalls viel auffallendere Verschiedenheiten in sich schloss. Vogt, welchem man nicht absprechen kann, dass er in seinem neuesten Werke, den Vorlesungen über den Menschen diese Fragen mit grosser Umsicht behandelt hat, ist zugleich bemüht, diesen scheinbaren Widerspruch zu lösen. Er zeigt, dass nicht eine einzelne Affenart dem Menschen auffallend nahe tritt, sondern drei, nämlich der Orang, der Chimpanse und der Gorilla, und dass diese drei sogar aus drei grundverschiednen Familien stammen, welche, von weit auseinanderliegenden Punkten ausgehend, sich durch die Vervollkommnung ihres Wesens untereinander genähert haben, indem sie sich dem Menschen näherten. In derselben Weise nimmt Vogt an, dass das Menschengeschlecht in seinen verschiednen Rassen von verschiednen Affenarten stammend, sich auch heute noch durch Kreuzung und Verkehr einander mehr und mehr nähert und zu einer Einheit zu werden strebt.
Hier ist beiläufig zuzugeben, dass der Gedanke einer werdenden Einheit in sittlicher Beziehung fruchtbarer und bedeutender werden kann, als der einer gewesenen und nur in verzerrten Zügen noch erkennbaren Einheit. Dies ist aber einstweilen nicht der Fall, da die thätigsten sittlichen Bestrebungen zu Gunsten der unterdrückten Rassen sich bisher an den Begriff der ursprünglichen Einheit knüpfen, von dem sie sich nicht sobald lösen werden. Es ist daher nicht nur die blinde Dummheit, welche gegen Vogt und die Darwinisten von den Kanzeln tobt, sondern es sind sehr respectable Empfindungen dabei im Spiel. Wir halten es für unsittlich, den Respekt vor dergleichen Empfindungen bis zur Verhehlung oder Entstellung des wissenschaftlich Wahren und selbst des bloss Wahrscheinlichen zu treiben; allein eben so entschieden ist es als ein untergeordneter Standpunkt zu bezeichnen, wenn Vogt sich bei der Bekämpfung der angeblichen absoluten Unterschiede zwischen Mensch und Affe zu einem malitiösen Vergnügen bekennt. Es scheint ihm denn auch in der That die Tendenz einen Streich gespielt zu haben; denn seine so stark betonte Herleitung der Menschenrassen von verschiedenen Affenarten vermag keineswegs das Widersprechende in seiner Stellung zu den zwei Fragen der Einheit und der Abstammung zu beseitigen. Denn wenn in irgend einem gegebenen Zeitraum aus dem Orang ein Kaukasier werden konnte, so wird man es immerhin eher möglich finden, dass in derselben Zeit ein Kaukasier aus dem Neger hervorging. Dann aber ist in der ganzen Frage noch nicht berücksichtigt, dass während der ungeheuren Zeiträume, die vergehn mussten, um den ältesten und rohesten Diluvialmenschen aus dem Affengeschlecht hervorgehen zu lassen, doch auch die Affen wohl eine Veränderung erlitten. Man könnte sich hier mit der Hypothese helfen, dass die Affen gleich den Löwen und Bären in ihrer Entwicklung zurückgegangen seien, während der Mensch-Affe, auf die ersten Anfänge seiner intellectuellen Entwicklung gestützt, fortzuschreiten begann. Man könnte dann den Augenblick dieser Scheidung der Wege als den wahren Ursprung des Menschengeschlechtes betrachten und würde schliesslich sich daran gewöhnen, den Ursprung aus einem schon hoch organisirten Thierkörper sogar schicklicher und zusagender zu finden, als den aus einem unorganischen Erdenkloss.
So steht aber die Sache nicht. Nicht nur ist zu einer solchen Hypothese bisher keine Veranlassung, sondern es würde auch schliesslich unser Verstand keine Befriedigung finden, wenn nicht auch jener Ur-Affe gedacht werden könnte, als hervorgegangen aus den einfachsten Formen organischen Daseins durch endlose Zwischenstufen und unabsehbare Zeiträume. Auf der andern Seite ist gewiss nicht die mindeste Veranlassung, weder beim Menschen noch beim Affen, eine gar zu beschränkte Zahl von Stammplätzen und Stammvätern anzunehmen. Vogt hat vollkommen Recht, wenn er darauf aufmerksam macht, dass ja auch jetzt selbst die einzelligen Thierchen noch die größte Mannigfaltigkeit der Organisation verrathen. Aus Darwins Princip der natürlichen Inzucht kann man höchstens eine entfernte Möglichkeit der Abstammung aller Thiere von einer gemeinsamen Urform erschliessen. Mit dieser Möglichkeit ist aber weiter nichts anzufangen; vielmehr ist ungleich wahrscheinlicher, dass von Anbeginn an eine grosse Reihe verschiedner Keime bestand, welche sich bald in neue Arten differenzirten, bald wieder durch Mischung oder Aussterben einzelner Arten reducirten.
Was den Menschen betrifft, so ist es jedenfalls am einfachsten, ihn vom Menschen abzuleiten, wobei man sich denn immerhin für den naturphilosophischen Hausgebrauch vorstellen mag, dass dies Geschlecht zwar gleich allen andern Wesen endlose Formen durchlaufen, aber von Anbeginn sich durch eine unter gleichen Umständen siegreiche Perfektibilität unterschieden habe. Eine weitere Ausmalung dieses Gedankens geht jedoch gleich ins Bedenkliche über, da der Möglichkeiten zu viele sind, um mit einiger Aussicht etwas entfernt Wahrscheinliches selbst in den vagsten Formen errathen zu lassen. So hat ein zu weit gehender Ausdruck in Snell's geistvoller Schrift über die Schöpfung des Menschen (Jena 1863) sofort den Spott der bedächtigeren Naturforscher erregt, obwohl Snell offenbar auf diesem Gebiete – wie vielleicht Fechner auf dem kosmischen – dem Ziel am nächsten gekommen ist, die strengsten Forderungen der Wissenschaft, die ihm sehr genau bekannt sind, mit der Wahrung unsrer sittlichen und religiösen Ideen zu vereinigen. Snell glaubt nämlich, dass das Menschliche in jenen früheren Thierformen, von denen unser Geschlecht abstamme, sich schon durch etwas Ergreifendes und Ahnungsvolles in Blick und Geberden müsse kundgegeben haben. Diesen Schritt kann die Logik nicht mit machen, obwohl wir noch jetzt Thiere sehen, denen jene Eigenschaften wirklich eigen sind. Wir denken dabei nicht nur an einige melancholisch-sentimentale Affenarten, sondern namentlich an die Robbe, deren eigentümlich menschenähnlicher Blick schon manchem Beschauer im vollsten Sinne des Wortes ergreifend und rührend gewesen ist. Es mag sein, dass der Seehund namentlich für Metaphysik sehr befähigt ist und die Stammväter des Menschengeschlechtes in dieser Hinsicht sogar übertrifft; wir haben jedoch durchaus keinen Grund, ein frühes Hervortreten derjenigen Eigenschaften, welche uns vorzüglich edel und werthvoll scheinen, mit den Bedingungen der Perfektibilität zu verwechseln. Diese können vielmehr für eine frühere Stufe grade so gut in einem Uebermaass solcher Eigenschaften liegen, die uns auf unserm gegenwärtigen Standpunkt widerwärtig und verabscheuungswürdig scheinen müssen. Der erste Schritt zur höheren Entwicklung des Menschen ist vermuthlich die Erlangung des Uebergewichtes über alle andern Thiere gewesen, und es ist nicht wahrscheinlich, dass er sich hiezu wesentlich andrer Mittel bedient habe, als er noch jetzt zum Zweck der Herrschaft über seines Gleichen zu verwenden pflegt. Der Gedanke der Abstammung vom Affen kann deshalb auch nicht aus psychologischen Gründen perhorrescirt werden. Er schliesst jedoch leicht eine zu weit gehende Anerkennung des Darwinschen Entwicklungsprincips in sich. Die bleibende Bedeutung der Hypothese Darwins liegt gewiss nicht in der Ableitung aller Formen aus einer einzigen Urform, sondern in dem Nachweis der aus dem Kampf um das Dasein sich ergebenden Hervorbildung vollkommenerer Formen aus minder vollkommenen. Wir glauben uns jedoch bei diesen der Erfahrung gar zu fern liegenden Gebieten nicht länger aufhalten zu dürfen, da wir jetzt die eigentlichen Kernfragen des Materialismus vor uns haben.
Gehirn und Seele: diese Worte bezeichnen das Lieblingsthema des neueren Materialismus; allein die Gegenwart hat es auf diesem Gebiete nicht mehr so bequem, wie das vorige Jahrhundert. Der erste Rausch der grossen physischen und mathematischen Entdeckungen ist vorüber; und wie die Welt mit jeder neuen Entzifferung eines Geheimnisses auch neue Räthsel bot und gleichsam zusehends grösser und weiter wurde, so enthüllten sich auch im organischen Leben Abgründe unerforschter Zusammenhänge, an die man vorher kaum gedacht hatte. Ein Zeitalter, das in vollem Ernste glauben konnte mit den mechanischen Kunststücken eines Droz und Vaucanson den Geheimnissen des Lebens auf die Spur gekommen zu sein, war kaum fähig, die Schwierigkeiten zu ermessen, welche sich für die mechanische Erklärung der psychischen Vorgänge um so höher aufgethürmt haben, je weiter man gekommen ist. Man konnte damals noch die kindlich naive Anschauung mit der Miene einer wissenschaftlichen Hypothese vortragen, dass im Gehirn jede Vorstellung ihre bestimmte Faser hätte, und dass die Schwingung dieser Fasern das Bewusstsein ausmache.
Die Gegner des Materialismus wiesen freilich nach, dass zwischen Bewusstsein und äusserer Bewegung eine unausfüllbare Kluft sei; allein das natürliche Gefühl nahm an dieser Kluft nicht viel Anstoss, weil man leicht inne wird, dass sie unvermeidlich ist. In irgend einer Form kehrt der Gegensatz von Subjekt und Objekt immer wieder, nur dass er sich bei andern Systemen leichter mit einer Phrase überbrücken lässt.
Hätte man im vorigen Jahrhundert statt dieses metaphysischen Einwurfs alle die physischen Erfahrungen gemacht, die uns jetzt zu Gebote stehen, so würde man den Materialismus vielleicht mit seinen eignen Waffen bekämpft haben. Vielleicht auch nicht; denn dieselben Thatsachen, welche die damaligen Anschauungen vom Wesen der Gehirnthätigkeit beseitigen, treffen vielleicht nicht minder schwer alle Lieblingsideen der Metaphysik. Es dürfte in der That kaum ein einziger Satz über Gehirn und Seele aufgestellt sein, welcher nicht durch die Thatsachen widerlegt ist. Ausgenommen sind natürlich theils vage Allgemeinheiten, wie z. B. dass das Gehirn für die Seelenthätigkeiten das wichtigste Organ ist; theils solche Sätze, welche sich auf den Zusammenhang einzelner Theile des Gehirns mit der Thätigkeit bestimmter Nerven beziehen. Die Unfruchtbarkeit der bisherigen Hirnforschungen beruht aber nur zum Theil auf der Schwierigkeit des Stoffes. Der Hauptgrund scheint der gänzliche Mangel einer irgendwie brauchbaren Hypothese oder auch nur einer ungefähren Idee von der Natur der Hirnthätigkeit zu sein. So fallen selbst unterrichtete Männer, gleichsam aus Verzweiflung, immer wieder auf die längst thatsächlich widerlegten Theorieen von einer Localisation der Gehirnthätigkeit nach den verschiednen Funktionen der Intelligenz und des Gemüthes zurück. Wir haben uns zwar wiederholt gegen die Ansicht ausgesprochen, als ob das blosse Bestehen veralteter Anschauungen ein so grosser Hemmschuh der Wissenschaft sei, wie man gewöhnlich annimmt; hier aber scheint es in der That, als ob das Seelengespenst, auf den Trümmern der Scholastik spukend, die ganze Frage beständig verwirre. Wir könnten leicht zeigen, dass dies Gespenst, wenn wir uns erlauben dürfen die Nachwirkungen veralteter Lehren der Schul-Psychologie so zu bezeichnen, bei den Männern, welche sich von ihm gänzlich frei wähnen, bei unsern Stimmführern des Materialismus eine grosse Rolle spielt; ja dass ihre ganze Vorstellung von der Art, wie man sich die Hirnthätigkeit zu denken hat, wesentlich von den landläufigen Vorstellungen beherrscht wird, die man früher über die fabelhaften Seelenvermögen hegte. Dennoch glauben wir, dass diese Vorstellungen, wenn erst eine vernünftige positive Idee aufkommt, über das, was man von den Funktionen des Gehirns eigentlich zu erwarten hat, eben so leicht verschwinden werden, als sie sich jetzt zäh behaupten.
Wir können hier nicht umhin, vor allen Dingen der rohesten Form jener Localisations-Theorieen zu gedenken, nämlich der Phrenologie. Sie ist nicht nur ein nothwendiger Punkt für unsre historische Betrachtungsweise, sondern zu gleicher Zeit, ihrer anschaulichen Ausbildung wegen, ein geeigneter Gegenstand zur Entwicklung derjenigen kritischen Grundsätze, die weiterhin eine ausgedehnte Anwendung gewinnen werden.
Als Gall seine Lehre von der Zusammensetzung des Gehirns aus einer Reihe besondrer Organe für besondre Geistesthätigkeiten aufstellte, ging er von der ganz richtigen Ansicht aus, dass die gewöhnlich angenommenen ursprünglichen Seelenvermögen, wie Aufmerksamkeit, Urtheilskraft, Willenskraft, Gedächtniss u. s. w. blosse Abstraktionen sind, dass sie verschiedne Thätigkeitsweisen des Gehirns classificiren, ohne übrigens jene elementare Bedeutung zu haben, die man ihnen zuschreibt. Er nahm nun, durch Beobachtungen verschiedenster Art veranlasst, eine Reihe ursprünglicher Organe des Gehirns an, deren hervorragende Entwicklung dem Individuum gewisse bleibende Eigenschaften verleihen, und deren Gesammtwirkung den ganzen Charakter des Menschen bestimmen sollte. Die Art, wie Gall seine Entdeckungen machte und seine Beweise führte, war die, dass er nach einzelnen ganz auffallenden Beispielen bestimmter Eigentümlichkeiten suchte, wie sie bei Verbrechern, Wahnsinnigen, genialen Menschen oder bizarren Originalen leicht zu finden sind. Er suchte nun am Schädel des betreffenden Individuums eine besonders hervorragende Stelle. Fand sie sich, so wurde das Organ einstweilen als entdeckt betrachtet, und nun mussten die »Erfahrung«, die vergleichende Anatomie, die Thierpsychologie und andre Quellen zur Bestätigung dienen. Manche Organe wurden auch lediglich nach Beobachtungen in der Thierwelt festgestellt und sodann beim Menschen weiter verfolgt. Von strengerer wissenschaftlicher Methode ist in Galls Verfahren nicht die leiseste Spur zu entdecken; ein Umstand, der der Verbreitung seiner Lehre nicht ungünstig war. Zu dieser Art von Forschung hat Jeder Talent und Geschick; ihre Resultate sind fast immer interessant, und die »Erfahrung« bestätigt regelmässig die Lehren, welche auf solche Theorieen begründet werden. Es ist dieselbe Art von Erfahrung, welche auch die Astrologie bestätigte, welche noch jetzt die Wirksamkeit und Heilsamkeit der meisten medicinischen Mittel bestätigt (nicht nur der homöopathischen!) und welche die sichtbare Hülfe der Heiligen und Götter tagtäglich in so überraschenden Beispielen hervortreten lässt. Die Phrenologie ist deshalb in keiner schlechten Gesellschaft; sie ist nicht ein Rückfall in irgend einen fabelhaften Grad von Phantasterei, sondern nur eine Frucht des allgemeinen Bodens der Scheinwissenschaften, welche noch heute die grosse Masse dessen ausmachen, womit Juristen, Mediciner, Theologen und Philosophen zu prunken pflegen. Ihre Stellung ist dadurch allerdings fatal, dass sie auf ein Gebiet fällt, welches die Anwendung aller Cautionen der exakten Wissenschaften ganz wohl zulässt, und dass dessenungeachtet ohne jegliche Rücksicht auf die Anforderungen wissenschaftlicher Methode weiter gebaut wird; doch auch das hat sie wenigstens mit der Homöopathie gemeinsam.
Die heutigen Phrenologen vertheidigen ihre Meinungen in der Regel durch heftige Angriffe auf diejenigen Einwürfe, welche gegen die Scheinwissenschaft nur zu oft ohne weiteres Nachdenken hingeworfen werden, weil Niemand sich ernsthaft mit der Sache befassen mag. Irgend einen Versuch positiver Begründung wird man dagegen in den neueren Schriften über Phrenologie vergeblich suchen. Während Gall und Spurzheim noch in einer Zeit wirkten, wo die Methoden zur Erforschung solcher Fragen noch ganz unentwickelt waren, bewegen sich die heutigen Phrenologen auf dem Felde einer sterilen Polemik, statt den enormen Fortschritten der Wissenschaft auch nur von ferne gerecht zu werden. Noch heute gilt, was Johannes Müller in seiner Physiologie sagte: »Was das Princip betrifft, so ist gegen dessen Möglichkeit im Allgemeinen a priori nichts einzuwenden; aber die Erfahrung zeigt, dass jene Organologie von Gall durchaus keine erfahrungsmässige Basis hat, und die Geschichte der Kopfverletzungen spricht sogar gegen die Existenz besonderer Provinzen des Gehirns für verschiedene geistige Thätigkeiten.«
Einige Beispiele mögen dies erläutern. Castle führt in seiner Phrenologie (S. 27) nach Spurzheim mehrere Fälle von Verlust beträchtlicher Theile der Hirnmasse an, bei welchen die intellectuellen Fähigkeiten angeblich keine Störung erlitten. Er beklagt sich darüber, dass in all diesen Fällen der Ort der Verwundung nicht gehörig angegeben sei. Hätten die erwähnten Verletzungen am Hinterhaupt stattgefunden, »so kann selbst ein Phrenologe ohne die geringsten Schwierigkeiten es zugeben, dass die Denkkraft unbeeinträchtigt zu bleiben vermochte.« Der apologetische Standpunkt ist hier schon unverkennbar. Man sollte denken, da doch die entgegengesetzte Möglichkeit gleich berechtigt war, hätte der Phrenologe suchen müssen, solcher Fälle habhaft zu werden; man müsste vor allen Dingen erwarten, dass er in einem Falle, der ihm selbst zur Beobachtung kommt, ganz genau die verletzten Hirnorgane und den Grad ihrer Verletzung zu constatiren suche, und dass er dann die Geistesthätigkeiten des betreffenden Individuums als eine wahre instantia praerogativa mit höchster Sorgfalt und Schärfe beobachte und constatire. Statt dessen ist Castle im Stande, uns in ahnungsloser Gemüthsruhe wörtlich folgende Erzählung zum Besten zu geben:
»Ich selbst hatte Gelegenheit einen ähnlichen Fall zu beobachten. Einem Amerikaner war eine Quantität von Schroten in das Hinterhaupt eingedrungen, welche bewirkten, dass er einen Theil des Knochengehäuses und überdies noch, wie er selbst sich ausdrückte, mehrere Stücke Hirn (several spoons full of brain) verlor. Man sagte, dass seine intellectuellen Fähigkeiten darunter nicht gelitten. Seiner eigenen Aussage zufolge rührte derjenige Uebelstand, den er verspürte, von den Nerven her. Sein Stand zwang ihn sehr häufig öffentlich zu sprechen; er hatte aber auch die früher ihn bezeichnende Energie und Festigkeit verloren. Diese Thatsache ward als ein Beweis gegen die Phrenologen geltend gemacht (ein ebenso glaubwürdiger Beweis als alle ähnlichen), während man doch leicht einsehen kann, dass selbige völlig mit den Grundsätzen dieser Wissenschaft übereinstimmt. Die verletzte Stelle des Gehirnes war nicht der Sitz der intellectuellen Fähigkeiten, wohl aber jener der animalen Energie, welche demnach die einzige war, die darunter litt.«
Dies genügt in der That. Keine Mittheilung über die verletzten Organe, über die Ausdehnung der Wunde oder Narbe! Bei der grossen Rolle, welche die »Duplicität« der Hirnorgane in der Apologie unhaltbarer Theorieen spielt, hätte doch mindestens angegeben sein müssen, ob die Verletzung am »Hinterhaupt«, welche »einen Theil des Knochengehäuses« und »several spoons full of brain« wegnahm, eine solche Stelle getroffen, bei der man vermuthen konnte, dass die Organe der einen Hälfte erhalten blieben. Traf der Schuss die Mitte des Hinterhauptes in mässiger Ausdehnung, so hätte er ja leicht das Organ der »Kinderliebe« ganz zerstören können. Wie verhielt es sich damit? Wie verhielt es sich mit »Einheitstrieb und Wohnsinn?« Wie mit der »Anhänglichkeit«? Nichts von alle dem! Und doch liegen all diese Organe am Hinterhaupte und der Fall ihrer theilweisen Zerstörung wäre für einen Mann von wissenschaftlichem Streben – allezeit vorausgesetzt, dass ein solcher Phrenologe sein konnte – ganz unbezahlbar gewesen. Die »animale Energie« hatte gelitten. Dies liesse sich allenfalls auf den »Bekämpfungstrieb« deuten, der am Hinterhaupt seitlich gelegen ist; aber man muss leider vermuthen, dass wenn der Schuss grade dies angebliche Organ getroffen hätte, Castle kaum würde vermieden haben, uns davon Kenntniss zu geben. Der Mann hatte ja »die ihn früher bezeichnende Energie und Festigkeit verloren«!
So ist es denn auch gar nicht zu verwundern, wenn die Phrenologen noch immer ganz munter das kleine Gehirn als Organ des Geschlechtstriebes betrachten, obwohl Combette 1831 einen Fall von starkem Geschlechtstrieb bei gänzlich fehlendem kleinen Gehirn beobachtete, obwohl Flourens bei einem Hahn, dem er einen grossen Theil des kleinen Gehirns fortgeschnitten hatte, und den er acht Monate lang am Leben erhielt, den Geschlechtstrieb fortbestehen sah!
Die vorderen Lappen des grossen Gehirns haben eine Menge so bedeutender Organe zu tragen, dass die Zerstörung eines Theiles derselben doch wohl bei bedeutenden Verletzungen dieser Gehirngegend immer bemerkbar werden müsste, zumal es sich hier um Intelligenz, Talent u. dgl. handelt, dessen Verschwinden leichter festzustellen ist, als die Aenderung einer Charaktereigenschaft. Es ist aber bei der grossen Zahl von Hirnverletzungen am vorderen Theile des Kopfes, die einer genauen wissenschaftlichen Beobachtung unterlegen haben, noch nie etwas beobachtet worden, was sich ohne den äussersten Zwang in dieser Weise deuten liesse. Man hilft sich natürlich mit der Duplicität der Organe; aber wie soll es kommen, dass die Reducirung eines Organs auf die Hälfte den Charakter nicht merklich ändert, während eine mässige Anschwellung oder Vertiefung im Schädel genügen soll, die auffallendsten Gegensätze des ganzen geistigen Wesens zu erklären? Doch schwächen wir die Kritik nicht mit einer Ausstellung, gegen welche wenigstens eine Hypothese gefunden werden kann! Es giebt ja Fälle, in welchen ganz unzweideutig beide vordere Lappen des grossen Gehirns in bedeutendem Umfange erkrankt und zerstört waren, und in welchen doch nicht die mindeste Störung der Intelligenz beobachtet wurde! Longet theilt zwei solche Fälle in seiner Anatomie und Physiologie des Nervensystems mit, welche sehr gut beobachtet sind. Es genügt aber in der That an einem einzigen solchen Falle, um das ganze System der Phrenologie umzuwerfen.
Und nicht nur das System der Phrenologie; denn die Lehre von dem Wohnen der Intelligenz in den vorderen Lappen des grossen Gehirns haben manche Anatomen getheilt, welche keineswegs auf einer so beschränkten Basis standen; und doch ist es auch mit der allgemeineren Localisation nach grösseren Gruppen geistiger Eigenschaften einfach nichts. Man hat Reihen sehr willkührlich gewählter Schädel bedeutender Männer vorgenommen und bei diesen meistens, nicht immer, eine hohe und weite Stirn gefunden. Man hat aber vergessen, dass selbst dann, wenn ein grosses Vordergehirn mit grosser Intelligenz in der Regel zusammenfiele, für eine lokalisirte Thätigkeit dieser Hirntheile noch nicht das mindeste bewiesen werden könnte. Denn während alle bisher beobachteten Thatsachen darauf führen, dass die verschiednen Theile des grossen Gehirns im Wesentlichen dieselbe Bestimmung haben, kann es doch sehr wohl sein, dass eine besonders günstige Organisation des Ganzen auch mit einer besonderen Form desselben verbunden sei.
Zu den Vorwürfen, gegen welche ein Theil unsrer Phrenologen mit Erbitterung die Waffen kehrt, gehört nun auch die Bemerkung, dass die Phrenologie nothwendig zum Materialismus führe. Dies ist ungefähr so richtig, als derartige allgemeine Sätze in der Regel sind; es ist nämlich offenbar falsch. Die Phrenologie würde sich nicht nur, wenn sie wissenschaftlich begründet wäre, vortrefflich auf Kants System pfropfen lassen, sondern sie lässt sich sogar mit jenen veralteten Anschauungen reimen, nach welchen das Gehirn sich zur »Seele« ungefähr verhält, wie ein mehr oder minder vollkommnes Instrument zu der Person, welche es spielt. Bemerkenswerth ist aber immerhin, dass unsre Materialisten, und unter diesen Männer, welchen man es durchaus nicht zutrauen sollte, sich überraschend günstig für die Phrenologie ausgesprochen haben. So B. Cotta, so insbesondre auch Vogt, der in seinen Bildern aus dem Thierleben die charakteristisch übereilten Worte schrieb: »Die Phrenologie ist also wahr, bis in die kleinste Application hinein? Jeder Veränderung der Funktion muss eine materielle Veränderung des Organes vorausgegangen oder vielmehr gleichzeitig mit ihr eingetreten sein? – Ich kann nicht anders sagen, als: Wahrlich, so ist's. Es ist wirklich so.«
Der Grund dieser Hinneigung ist leicht einzusehen. Der allgemeine Satz nämlich, dass das Denken eine Hirnthätigkeit ist, kann in dieser Allgemeinheit sehr wahrscheinlich gemacht werden, ohne dass er deshalb sehr wirksam wird. Erst wenn es gelingt, diese Thätigkeit specieller zu verfolgen, sie irgendwie in Elemente zu zerlegen und in diesen Elementen noch die Uebereinstimmung des Physischen und des Geistigen nachzuweisen; erst dann wird man auf diese Anschauungsweise allgemein eingehen und ihr auch ein grosses Gewicht bei der Bildung der gesammten Weltanschauung beilegen. Kann man vollends aus solcher Kenntniss den Charakter des Menschen construiren, wie die Astronomie aus ihren Bewegungsgesetzen die Stellung der Himmelskörper voraus bestimmt; so kann der menschliche Geist auch der Theorie nicht länger widerstehen, welche solche Früchte hervorbringt. Unsre Materialisten sind nun freilich nicht solche Phantasten, dass sie der jetzigen Phrenologie diese Leistungen zutrauen möchten; Vogt hat sich mehrfach in andern Schriften über den unwissenschaftlichen Charakter dieser Lehre ganz unzweideutig ausgesprochen; Büchner behandelt die Phrenologie zwar mit auffallender Schonung, räumt aber ein, dass ihr die »allerwichtigsten wissenschaftlichen Bedenken entgegenstehen.« Die unglücklichen »angebornen Ideen« werden aber selbst bis in den Schlupfwinkel einer bloss möglichen Phrenologie hinein verfolgt. Um eine Art von angebornen Ideen zu vernichten, welche der neueren Philosophie gänzlich fremd ist und nur in populären und erbaulichen Schriften und Reden ihr Wesen treibt, glaubt er auch diejenigen Schlüsse bekämpfen zu müssen, welche man zu Gunsten der angebornen Ideen aus der Phrenologie gezogen hat. Er übersieht dabei in der Hitze des Gefechtes, dass angeborne Ideen, welche mit Notwendigkeit aus der Structur und Zusammensetzung des Hirns hervorgehen, mit dem consequentesten Materialismus vollständig harmoniren; ja, dass eine solche Annahme jedenfalls weiter geht und vollständiger mit seinen sonstigen Sätzen übereinstimmen würde, als der Standpunkt der Locke'schen tabula rasa, bei welchem er selbst stehen bleibt. Wie aber kein namhafter neuerer Philosoph Ideen annimmt, die sich ohne alle Einwirkung der Aussenwelt entfalten oder im foetus schon fertig im Bewusstsein liegen, so dürfte auch kein Phrenologe annehmen, dass der Tonsinn sich ohne Töne, der Farbensinn ohne Farben entwickeln und in Thätigkeit treten könne. Der Streit ist nur zwischen der einseitigen Anschauung Locke's, welche das vorige Jahrhundert in einem unbegreiflichen Grade beherrschte, dass der ganze geistige Inhalt durch die Sinne komme, und zwischen der andern Ansicht, nach welcher das Gehirn oder die Seele gewisse Formen mit sich bringt, durch welche die Gestaltung der Sinneseindrücke zu Vorstellungen und Anschauungen voraus bestimmt ist. Vielleicht hat man sich diese Formen bisweilen zu sehr als Matrizen vorgestellt, in welche das Metall für die Lettern gegossen wird, oder als irdene Töpfe, in welche die Sinneseindrücke gleich Quellwasser gefüllt werden. Man mag dann diese Scherben immerhin zerschlagen, so bleibt doch noch die Wahrheit übrig, dass materielle Bedingungen da sind, welche auf die Bildung aller Ideen den wesentlichsten Einfluss üben. Um einem solchen Einfluss in Rücksicht auf eine bloss mögliche Phrenologie entgegenzutreten, stellt Büchner die Hypothese auf, dass das Verhältniss von phrenologischen Organen und äusseren Eindrücken auch umgekehrt sein kann, indem nämlich »zu der Zeit, wo das Gehirn in Wachsthum und Bildung begriffen ist, durch fortgesetzte und häufige äussere Eindrücke und psychische Thätigkeit in einer gewissen Richtung das betreffende phrenologische Organ auch materiell stärker hervorgebildet wird – ganz in derselben Weise, wie ein Muskel durch Uebung erstarkt.« – »Gut«, wird der Phrenologe sagen, »aber die Muskeln sind doch angeboren; sie sind doch auch von Geburt auf verschieden, und es ist doch kaum zu leugnen, dass unter gleichen Verhältnissen ein muskelkräftiges Kind auch seine Muskeln mehr üben wird, als ein muskelschwaches. Leugne das angeborne Gehirn, und du wirst die angebornen Richtungen der Geistesthätigkeit mit geleugnet haben!« Doch so schlimm meint Büchner es nicht Er ruft aus: »Die Natur kennt weder Absichten, noch Zwecke, noch irgend welche ihr von Aussen und Oben herab aufgenöthigten geistigen oder materiellen Bedingnisse!« Nun, wenn es weiter nichts ist, wenn die von innen heraus kommenden, aus der Natur selbst stammenden Bedingnisse unsrer Vorstellungsbildung zugegeben werden; wozu dann der Lärm?
Hier werden wir wieder scharf auf den Mittelpunkt unsres ganzen materialistischen Streites hingeführt. Wozu der ganze Lärm? Nun, vielleicht, um der heuchlerischen Vornehmthuerei unsrer heutigen hohen Wissenschaft entgegenzutreten. Nie war die Kluft zwischen dem Denken dieser bevorzugten Gesellschaft und der Massen grösser als jetzt, und nie hatte diese bevorzugte Gesellschaft so vollständig mit der Unvernunft des Bestehenden ihren egoistischen Separatfrieden geschlossen. Nur die Zeiten vor dem Untergang der alten Cultur bieten eine ähnliche Erscheinung dar; aber sie hatten nichts von dieser Demokratie des Materialismus, die sich heutzutage, halb bewusst, halb unbewusst, wider jene aristokratische Philosophie empört. Es ist leicht vom Standpunkt dieser Philosophie den Materialismus theoretisch zu widerlegen, aber schwer, ihn zu beseitigen. In der praktischen Debatte zerbricht der Materialismus spielend alle jene esoterischen Feinheiten, indem er die groben exoterischen Vorstellungen zerschmettert, mit welchen sie eine so trügerische Verbindung eingegangen haben. »So etwas haben wir ja niemals gemeint!« ruft die entsetzte Wissenschaft; allein sie erhält zur Antwort: »Sprich deutlich und für Jedermann, oder stirb!« So thürmt sich hinter der logischen Kritik des Materialismus seine geschichtliche Bedeutung empor, und deshalb kann er auch nur in einer geschichtlichen Betrachtung vollständig gewürdigt werden.
Wir wollen nun auch, wie Büchner, einen Augenblick annehmen, dass es eine Phrenologie gebe, um an diesem Beispiel die ganze Idee der Localisation der Geistesfunktionen einer Kritik zu unterwerfen, bei welcher wir die entgegenstehenden Thatsachen der pathologischen Anatomie vorläufig ausser Betracht lassen. Der Bequemlichkeit wegen nehmen wir die Lehre so, wie sie von Spurzheim, Combe und andern ausgebildet wurde, und wie sie auch in Deutschland ziemlich verbreitet ist. Es ergiebt sich dann ungefähr folgendes Bild für die Vorgänge des concreten Denkens.
Jedes Organ ist für sich in seiner Weise thätig, und doch fliesst die Thätigkeit aller zu einer Gesammtwirkung zusammen. Jedes Organ denkt, fühlt und will für sich; das Denken, Fühlen, Wollen des Menschen ist das Resultat der Summe dieser Thätigkeiten. In jedem Organ giebt es mannigfache Stufen der Geistesthätigkeit. Die Empfindung steigert sich zur Vorstellung und endlich zur Einbildungskraft, je nach dem die denkende Erregungsweise des Organs schwächer oder stärker ist; die Gefühlsregung kann zum Enthusiasmus, der Trieb zur Begierde und endlich zur Leidenschaft werden. Diese Thätigkeiten beziehen sich nur auf den Stoff, der jedem Organ naturgemäss ist. »Jedes Geistesorgan«, sagt einer unsrer geistreichsten Phrenologen, »spricht «seine eigene Sprache und versteht nur die Sprache, die es selbst spricht; das Gewissen spricht bei Recht und Unrecht, das Wohlwollen in Mitleiden und Mitfreuden u. s. w.« – Durch ihre Verbindung zum Ganzen ergeben sie dann die allgemeineren Erscheinungen, wie »Verstand«, als Thätigkeit sämmtlicher sechsunddreissig Denkvermögen; sie wirken aber ebenfalls bei den bestimmten einzelnen Thätigkeiten des Menschen theils antagonistisch, theils sich unterstützend, modificirend u. s. w. zusammen, wie eine Muskelgruppe bei Bewegung eines Gliedes.
Man sieht auf den ersten Blick, dass diese ganze Anschauungsweise sich in den schattenhaftesten Abstraktionen bewegt. Gall wollte an die Stelle der gewöhnlichen Geistesvermögen natürliche und concrete Grundlagen der Psychologie setzen. Dies gelang ihm anscheinend in der Annahme seiner angeblichen Organe; sobald es aber an die Thätigkeit dieser Organe kommt, fängt das alte Schattenspiel wieder an. Gall selbst hat sich freilich mit solchen Ausführungen wenig befasst, und noch heute ist den meisten seiner Schüler kaum klar, dass man sich doch von der Thätigkeitsweise dieser Organe eine Vorstellung muss machen können, wenn etwas erklärt sein soll. Die Phrenologie könnte sogar thatsächlich richtig sein, so weit es auf die Uebereinstimmung der Schädelbildung mit den geistigen Eigenschaften ankömmt, ohne dass wir dadurch über die Art der Hirnthätigkeit auch nur den geringsten Aufschluss hätten. Wenn das Hirn und mit ihm der Schädel sich bei Wohlwollenden auf der Höhe des Vorderhaupts ausgiebig wölbt, so folgt daraus nicht von ferne, dass die an jener Stelle liegenden Hirnwindungen sich ausschliesslich mit Mitleiden, Mitfreuden u. dgl. beschäftigen.
Was ist denn überhaupt »Mitleiden«? Wenn ich ein Kind auf der Strasse gottserbärmlich heulen höre, so spüre ich ausser den Schallwellen noch eine Reihe von Empfindungen, besonders in den Muskeln der Athemwerkzeuge (daher die Alten das Gemüth in die Brust verlegten). Dazu mag der Eine beschleunigten Herzschlag bekommen, der Andre ein sonderbares Gefühl in der Magengegend, der Dritte ein Gefühl, als müsste er mitschreien. Gleichzeitig taucht die Idee der Abhülfe auf. Eine leise Innervation gewisser Bewegungsmuskeln macht sich geltend, als müsste ich mich umdrehen, hinwenden, fragen was fehlte. Die Ideenassociation stellt mir die eignen Kinder in Hülflosigkeit vor; mir fällt das Bild der Eltern des schreienden Kindes ein, die trösten möchten und nicht da sind; ich denke an Gründe – vielleicht ist das Kleine verirrt, vielleicht halb verhungert, erfroren oder was sonst. Endlich eile ich mit oder ohne besondern Entschluss dem kleinen Schreihals zu Hülfe. – Ich war mitleidig, habe mich vielleicht durch unnützes Mitleid lächerlich gemacht, vielleicht auch zur rechten Zeit eingegriffen. Jedenfalls war ich so organisirt, dass die oben beschriebnen Symptome bei mir leichter und schneller eintreten, als bei Andern, wie der Eine auf den Reiz des Schnupftabaks eher niessen muss als der Andere. Das moralische Urtheil nennt die erste Eigenschaft gut, die letzte gleichgültig, aber physisch ist der Vorgang verwandt, wie etwa eine Zeile aus einer Symphonie Beethovens und das Stück eines Kirmessmusikanten, die beide aus Tonfolgen bestehen. – Was ist nun das Mitleiden? Wurde der Klang des Kindergeschrei's nach dem Organ des Wohlwollens geleitet, welches allein diese Sprache verstand? Entstand in diesem Organe erst Empfindung, Regung, Trieb; dann endlich Wille und Nachdenken? Wurde der Wille zu helfen dann aus diesem Organ fertig zurückgeleitet in den Centralherd der Bewegung, in das verlängerte Mark, welches sich für diesen Fall dem Organ des Wohlwollens zur Disposition stellte? Bei dieser Vorstellungsweise schiebt man ja die Schwierigkeit nur zurück. Man denkt sich die Thätigkeit des Organs wie die eines ganzen Menschen; man hat den gedankenlosesten Anthropomorphismus, angewandt auf einzelne Theile des Menschen. Im Organ des Wohlwollens muss Alles zusammenlaufen; nicht nur Denken, Fühlen und Wollen, sondern auch Hören und Sehen. Verzichte ich auf diesen Anthropomorphismus, welcher den Gegenstand der Erklärung nur zurückschiebt, so kann mir nichts wahrscheinlicher sein, als dass bei dem angenommenen Vorgang mein ganzes Gehirn, obwohl in sehr verschiednen Graden der Thätigkeit in Anspruch genommen wurde.
Hier fällt der Phrenologe über mich her und wirft mir gänzliche Unkenntniss seiner Wissenschaft vor. Auch er nimmt ja eine Thätigkeit des ganzen Gehirns oder doch grosser Gruppen von Organen an; nur übernimmt das Wohlwollen in diesem Falle die Leitung. Was war der Gegenstand des Mitleids? Ein Kind? – Also ist die »Kinderliebe« mit thätig! Wie ist dem Kinde zu helfen? Soll ich ihm den Weg zeigen? – Da spricht der »Ortssinn« mit! Die »Hoffnung«, die »Gewissenhaftigkeit« treten auf; das »Schlussvermögen« hat seinen Antheil am Vorgang. Aber diese Organe denken, fühlen, wollen jedes für sich; jedes hört den Schrei; jedes sieht das Kind; jedes stellt sich Ursachen und Folgen in der Phantasie vor, denn jedes dieser Organe hat seine Phantasie. Der Unterschied ist nur, dass das Wohlwollen den herrschenden Ton angiebt mit dem Gedanken: »Hier leidet jemand, hier muss geholfen werden!« »Unfehlbar,« sagt die Gewissenhaftigkeit; »Mitmenschen zu helfen ist eine Pflicht, und Pflichten muss man unverbrüchlich halten.« »Es wird wohl leicht zu trösten sein, das Kleine«, meint die Hoffnung. Da regt sich die Opposition am Hinterkopf. »Nur nicht blamiren« ruft die Beifallsliebe, und die »Vorsicht« macht darauf aufmerksam, dass ihre Nachbarin, Beifallsliebe, wohl Recht habe, dass die Sache verdiene erwogen zu werden. Der »Tonsinn« macht indessen einige egoistische Gründe für die Abhülfe geltend und endlich trägt der »Thätigkeitstrieb« auf Schluss der Debatte und Abstimmung an. Wir haben ein Parlament kleiner Menschen zusammen, von denen, wie es auch in wirklichen Parlamenten vorkommt, jeder nur eine einzige Idee besitzt, die er unablässig geltend zu machen sucht.
Statt einer Seele giebt uns die Phrenologie deren gegen vierzig, jede so räthselhaft für sich allein, wie uns sonst das Seelenleben im Ganzen erscheint. Statt es in wirkliche Elemente zu zerlegen, zerlegt sie es in persönliche Wesen verschiednen Charakters. Der Mensch, das Thier, die complicirtesten Maschinen, sind uns die geläufigsten; man vergisst, dass dabei etwas zu erklären ist, oder man hat die Sache erst »klar«, wenn man sich überall wieder kleine Menschen vorstellen kann, welche die eigentlichen Träger der ganzen Thätigkeit sind. »Herr Pastor, et sitzt doch en Perd dren!« riefen die Bauern zu X, als ihr Seelenhirt ihnen stundenlang das Wesen der Locomotive erklärt hatte. Mit einem Pferde drin ist Alles klar, selbst wenn es ein etwas wunderbares Pferd sein sollte. Das Pferd selbst bedarf keiner Erklärung mehr.
Die Phrenologie nimmt einen Anlauf, um über den Standpunkt des Seelengespenstes hinauszukommen, allein sie endet damit, den ganzen Schädel mit Gespenstern zu bevölkern. Sie fällt zurück auf den naiven Standpunkt, der sich überhaupt nicht beruhigen will, wenn in der kunstvollen Maschine unsres Körpers nicht noch ein Maschinist sitzt, der das Ganze leitet, ein Virtuos, der das Instrument spielt. Ein Mensch, der sein Leben lang eine Dampfmaschine angestaunt und nichts davon begriffen, könnte vielleicht auch denken, im Cylinder müsse wieder eine kleine Dampfmaschine stecken, welche das Auf- und Niedergehen des Kolbens bewirkt.
War es nun aber der Mühe werth, die ganz unwissenschaftliche Phrenologie so ausführlich zu behandeln, um nichts zu gewinnen, als ein neues Beispiel des längst bekannten »unwiderstehlichen Hanges zur Personifikation«, der uns diese Schaar thätiger Geistesvermögen geschaffen hat? Sei es auch, dass einige Vertreter des Materialismus dieser Ansicht näher getreten sind, als sie sollten, so hat sie doch wohl auf die ganze Entwicklung der neueren Nervenphysiologie wenig Einfluss gehabt.
Wohl! aber das Grundübel, weshalb es mit den Aufschlüssen über das Verhältniss des Hirns zu den psychischen Funktionen nicht vom Fleck will, scheint uns einfach in demselben Grunde zu stecken, welcher auch der Phrenologie ihr Missgeschick mit auf den Weg gab; in der Personifikation abstrakter Vorstellungen an Stelle der einfachen Erfassung des Wirklichen, so weit es eben zu fassen ist. Welcher Weg führt uns zum Gehirn? Die Nerven! In ihnen haben wir einen Theil jener verwickelten Massen gleichsam entwickelt vor uns. Wir können über die Nerven experimentiren, indem wir mit Sicherheit ein Einzelnes vor uns haben. In ihnen finden wir Leitungen, elektrische Ströme, Wirkungen auf die Contraktion der Muskeln, auf die Absonderung der Drüsen; wir finden Rückwirkungen auf die Centralorgane. Wir finden die eigenthümliche Erscheinung der Reflexbewegungen, die schon mehrfach mit einer viel versprechenden Wendung zum Besseren als das Grundelement aller psychischen Thätigkeit aufgefasst wurde. Wie sehr dabei die Personifikation im Wege ist, oder wie schwer vielmehr aus den Gewohnheitsvorstellungen der richtige Gedanke auftaucht, das Persönliche aus dem Unpersönlichen abzuleiten, zeigt als denkwürdigstes Beispiel die Geschichte der Pflügerschen Versuche über die psychische Bedeutung der Rückenmarkscentren. Pflüger wies mit vielem Scharfsinn und experimentellem Talente nach, dass enthauptete Frösche und andre Thiere, selbst abgetrennte Eidechsenschwänze noch längere Zeit hindurch Bewegungen machen, denen wir den Charakter des Zweckmässigen nicht absprechen können. Der interessanteste Fall ist dieser: ein Frosch, enthauptet, wird auf dem Rücken mit Säure betupft: er wischt den Tropfen ab mit demjenigen Fuss, der dazu am bequemsten dient. Nun wird ihm dieser Schenkel abgeschnitten; er versuchts mit dem Stumpfe, und da mehrere Versuche vergeblich sind, nimmt er endlich den Fuss der entgegengesetzten Seite und vollführt mit diesem die Bewegung. Dies war keine blosse Reflexbewegung mehr; der Frosch scheint zu überlegen. Er macht den Schluss, dass er mit dem einen Fuss sein Ziel nicht mehr erreichen kann und deshalb versucht er's mit dem andern. Es schien bewiesen: es giebt Rückenmarksseelen, giebt wahrlich Schwanzseelen. Nur eine Seele kann ja denken! Wenn es auch eine materialistische Seele ist, darum wird nicht gestritten; der ganze Frosch ist aber in seinem Rückenmark repräsentirt. Dort denkt er und entschliesst sich, wie eben Frösche pflegen. – Ein wissenschaftlicher Gegner nimmt nun einen unglücklichen Frosch, köpft ihn und kocht ihn langsam. Zur vollen Exaktheit des Experimentes gehört, dass ein Frosch, der sich noch seines Kopfes erfreut, mit gekocht wird, und dass noch ein geköpftes Exemplar zur genauen Vergleichung neben das Geschirr gesetzt wird. Nun ergiebt sich, dass der geköpfte Frosch sich ruhig kochen lässt ohne, gleich seinem vollständigeren Schicksalsgenossen, gegen sein Unglück anzukämpfen. Schluss: es giebt keine Rückenmarksseelen; denn wäre eine da, so hätte sie die Gefahr der steigenden Hitze merken und auf Flucht denken müssen!
Beide Schlüsse sind gleich bündig; aber Pflügers Experiment ist dennoch werthvoller, fundamentaler. Man beseitige die Personifikation; man verzichte darauf, in den Theilen des Frosches überall wieder denkende, fühlende, handelnde Frösche zu suchen, und man suche statt dessen den Vorgang aus den einfacheren Vorgängen zu erklären, d. h. aus den Reflexbewegungen; nicht aus dem Ganzen, der unerklärten Seele. Dann wird man auch leicht darauf kommen, dass in diesen schon so complicirten Folgen von Empfindung und Bewegung ein Anfang zur Erklärung der complicirtesten psychischen Thätigkeiten gegeben ist. Diese Bahn wäre zu verfolgen!
Was hält noch davon ab? Mangel an Erfindsamkeit und Geschick zu den schwierigsten Experimenten? Gewiss nicht. Es ist der Mangel der Anschauung, dass zur Erklärung des Seelenlebens eine Zurückführung auf Einzelvorgänge gehört, welche einen nothwendigen Theil des Getriebes ausmachen, welche aber von der Handlungsweise eines vollständigen Organismus ganz und gar verschieden sind.
Aber die Reflexbewegung geschieht ohne Bewusstsein; also kann auch durch die zusammengesetzteste Thätigkeit dieser Art das Bewusstsein nicht erklärt werden!
Wieder ein Einwand des gröbsten Vorurtheils. Moleschott führt als Beweis dafür, dass das Bewusstsein nur im Gehirn sei, die bekannte Beobachtung Jobert de Lamballes an, nach welcher ein am obersten Theil des Rückenmarks verletztes Mädchen noch eine halbe Stunde lang bei Bewusstsein blieb, obwohl der ganze Körper mit Ausnahme des Kopfes vollständig gelähmt war. »Es kann somit das ganze Rückenmark in Unthätigkeit versetzt werden, ohne dass das Bewusstsein leidet.« Gut; wenn aber aus demselben Fall geschlossen wird, dass geköpfte Thiere keine Empfindung und kein Bewusstsein haben, so übersieht Moleschott, dass der vom Rückenmark getrennte Kopf uns sein Bewusstsein in menschlich verständiger Weise kund geben konnte; der Rumpf aber nicht. Was in den vom Haupt getrennten Rückenmarkscentren von Empfinden und von Bewusstheit sein mag oder nicht, können wir durchaus nicht wissen. Nur das können wir mit Sicherheit annehmen, dass diese Bewusstheit nichts wird machen können, was nicht in den mechanischen Bedingungen der centripetalen und centrifugalen Nervenleitung und der Einrichtung des Centrums begründet ist.
Man sieht, wir sind hier auf gutem Wege, den Materialismus erst consequent zu machen, und in der That wird dies die nothwendige Vorbedingung erfolgreicher Forschung über das Verhältniss von Gehirn und Seele sein, ohne dass damit der Materialismus in metaphysischem Sinne gerechtfertigt wäre. – Wenn das Hirn das ganze menschliche Seelenleben hervorbringen kann, so wird man wohl auch einem Rückenmarkscentrum ein einfaches Empfinden zutrauen dürfen. Was vollends die geköpften Thiere betrifft, so erinnere man sich doch, wie man Descartes gegenüber überhaupt zu beweisen pflegte, dass die Thiere nicht blosse Maschinen sind! Wir können ihre Empfindungen als solche auch nicht sehen; wir schliessen sie nur aus den Zeichen von Schmerz, Freude, Schrecken, Zorn u. dgl., welche mit den entsprechenden Geberden des Menschen übereinstimmen. Aber bei den geköpften Thieren finden wir zum Theil dieselben Zeichen. Wir sollten schliessen, dass sie auch ebenso mit Empfindung verbunden sind. Thiere, denen man das grosse Gehirn genommen, schreien oder zucken, wenn man sie kneipt. Flourens fand die des Gehirns beraubten Hühner in einen Zustand von Schlaftrunkenheit versetzt und schloss daraus, dass sie nicht empfinden. Dieselben Thiere konnten aber gehen und stehen. Sie erwachen, wenn man sie stösst, sie stehen auf, wenn man sie auf den Rücken legt. Johannes Müller zieht daher mit Recht ganz andre Schlüsse: »Flourens hat zwar aus seinen Versuchen über Hinwegnahme der grossen Hemisphären geschlossen, dass diese Theile allein die Centralorgane der Empfindung seien, und dass ein Thier nach der Wegnahme derselben gar nicht empfinde. Indessen folgt dies nicht aus seinen sonst so interessanten Versuchen, sondern grade das Gegentheil, wie schon Cuvier in seinem Berichte über diese Versuche bemerkt hat. Es wird zwar ein Thier nach dem Verluste der Hemisphären des grossen Gehirns stumpfsinnig, aber gleichwohl zeigt es ganz deutliche Zeichen von Empfindung, nicht von blosser Reflexion (Reflexthätigkeit).«
Müller fehlt nur selbst, indem er zwischen Reflexthätigkeit und Empfindung einen Unterschied macht, von dem wir gar nichts wissen; auch scheint er die Empfindung des seines Gehirns beraubten Thieres so ziemlich für dasselbe zu halten, was die Empfindung des gesunden Thieres ist. Der Grund liegt darin, dass Müller ganz und gar in der Localisations-Theorie befangen ist. Ihm ist das verlängerte Mark Centrum des Willenseinflusses; das grosse Gehirn ist Sitz der Vorstellungen und also des Denkens. So sagt er bei Erwähnung der Unempfindlichkeit der Hemisphären des grossen Gehirns: »der Ort des Gehirns, wo die Empfindungen zu Vorstellungen gestaltet, die Vorstellungen aufbewahrt werden, um gleichsam als Schatten der Empfindung wieder zu erscheinen, ist selbst nicht empfindlich.« Von diesen merkwürdigen Processen wissen wir aber einfach nichts. Es ist auch sehr die Frage, ob unsre sogenannten »Vorstellungen« irgend etwas andres sind, als Complexe sehr feiner Empfindungen. Müller lässt im verlängerten Mark das Wollen und das Empfinden besorgen, zieht die Organe an der Basis des Gehirns speciell für die Sinnesempfindungen heran und lässt im grossen Gehirn das Denken stattfinden. Es sind also wieder Abstraktionen, denen verschiedne Provinzen angewiesen werden. Die Personifikation des Abstraktums ist hier nicht so auffallend, als bei der Phrenologie, aber sie ist doch vorhanden. Wäre das Nachdenken des Forschers ganz auf den Vorgang des Denkens, Fühlens, Wollens gerichtet, so würde der Gedanke am nächsten liegen, das Ueberströmen der Erregung von einem Theil des Gehirns auf den andern, die fortschreitende Auslösung der Spannkräfte als das Objektive des psychischen Aktes zu betrachten, und nicht nach Wohnsitzen der verschiednen Kräfte zu suchen, sondern nach den Bahnen dieser Strömungen, ihren Zusammenhängen und Verbindungen.
Müller führt für seine Ansicht vom grossen Gehirn unter anderm die vergleichende Anatomie an, also das Gebiet, welches noch heute, z. B. in Vogts Vorlesungen über den Menschen, die wichtigste, fast die alleinige Basis dieser Vorstellungsweise ist, seit die pathologische Anatomie sich so widerstrebend gezeigt hat In der That muss man einräumen, dass die stufenweise Entwicklung der Hemisphären des grossen Gehirns in der Thierwelt mit äusserster Wahrscheinlichkeit schliessen lässt, dass in diesem bedeutungsvollen Organ der wesentlichste Grund der geistigen Auszeichnung des Menschen zu suchen sei. Daraus folgt aber nicht, dass es auch nothwendig der Sitz der höheren Seelenthätigkeiten sei. Logisch ist klar, dass hier ein bedeutender Sprung vorliegt. Wir wollen aber versuchen, die Sache auch anschaulich zu machen. Eine Mühle mit einem sehr grossen Weiher kann bei gleichem und im Ganzen spärlichem Wasserzufluss regelmässiger den ganzen Sommer durch arbeiten, als eine Mühle mit sehr kleinem oder gar keinem Weiher. Sie kann auch im Nothfall einmal viel Kraft zusetzen, ohne sich gleich zu erschöpfen; sie ist überhaupt günstiger situirt, sie arbeitet vorteilhafter. Der Weiher ist der Grund dieser vortheilhafteren Arbeit, aber die Arbeit findet nicht im Weiher statt, sondern sie erfolgt durch das Abfliessen desselben und durch das Eingreifen des Abflusses in ein künstliches Getriebe. – Da wir nur die logische Lücke zeigen und nicht selbst eine Hypothese aufstellen wollen, so fügen wir noch ein andres Bild hinzu. Die einfache Buchdruckerpresse Gutenbergs leistete wenig im Vergleich mit unsern höchst complicirten Schnellpressen. Der Vorzug der letzteren liegt nicht in der Form, sondern in ihrem künstlichen Räderwerk; soll man deshalb annehmen, dass in diesem der Druck stattfindet? Man kann sogar unsre Sinne als Beispiel nehmen. Das vollkommner gebaute Auge bedingt ein besseres Sehen, aber das Sehen selbst findet wohl nicht im Auge statt, sondern im Gehirn. – So ist also die Frage nach dem Sitz der höheren Geistesfunktionen mindestens offen, wenn nicht überhaupt falsch gestellt. Dass aber die Hemisphären des grossen Gehirns für diese Funktionen eine entscheidende Bedeutung haben, ist ohne Weiteres einzuräumen.
Müller glaubte freilich auch, dass Flourens mit seinem Messer für den Sitz der höheren Geistesfunktionen im grossen Gehirn einen direkten Beweis geliefert habe. Bekannt ist Büchners Ausdruck, Flourens habe seinen Hühnern »die Seele« stückweise weggeschnitten. Allein, selbst zugegeben, dass die schwer zu definirenden höheren Geistesfunktionen des Huhnes wirklich bei jenen Vivisektionen weggefallen seien, so folgt selbst dann das Vorausgesetzte nicht, da das grosse Gehirn immer noch bloss ein notwendiger Faktor für das Zustandekommen dieser Thätigkeiten zu sein brauchte, keineswegs aber der Sitz derselben. Nun ist aber ferner zu beachten, dass im organischen Körper die Wegnahme eines Organs, wie das grosse Gehirn, gar nicht ausgeführt werden kann, ohne dass das Thier erkrankt und namentlich die zunächst liegenden Theile in ihren Funktionen sehr erheblich gestört werden. Dies beweist z. B. ein Versuch Hertwigs (in Müllers Physiologie mitgetheilt), bei welchem eine Taube, der der obere Theil der Hemisphären genommen war, fünfzehn Tage lang nicht hören konnte, endlich aber ihr Gehör wieder erhielt und so noch 2½ Monat lebte. Bei Flourens' Versuchen ging den Thieren ausser dem Gehör regelmässig auch das Gesicht verloren, ein Umstand, welcher dazu beitrug, dass dieser Forscher glaubte, die Thiere hätten kein Bewusstsein mehr. Longet hat dagegen durch einen höchst merkwürdigen Versuch bewiesen, dass bei sorgfältiger Schonung der Sehhügel und der übrigen Hirntheile, mit Ausnahme der Hemisphären, die Sehkraft der Tauben theilweise erhalten bleibt. Nun möge man doch den ersten besten geistreichen Schriftsteller blenden, ihm das Gehör zerstören, die Zunge lähmen und ihm überdies ein gelindes Fieber oder einen permanenten Rausch beibringen. Er soll das grosse Gehirn behalten, und wir sind überzeugt, er wird nicht viel Spuren seiner höheren Geistesfunktionen verrathen. Wie kann man es denn vom verstümmelten Huhne erwarten?
Damit soll der grosse Werth jener Versuche nicht verkannt sein; nur den ausschweifenden Schlüssen möchten wir entgegentreten. Jedenfalls sind aber bei jenen Experimenten die Schlüsse weit werthvoller, welche sich auf das basiren, was trotz der Verletzung erhalten blieb, als die Schlüsse, welche auf die Störung oder Aufhebung gewisser Funktionen gebaut werden.
Ueberblickt man endlich die denkwürdigsten Fälle der pathologischen Anatomie, so unterscheidet man leicht zwei Klassen: solche, in welchen die Verletzung des grossen Gehirns Delirien, Raserei, Blödsinn u. dgl. zur Folge haben, und solche, in welchen dies nicht oder nur ganz vorübergehend, der Fall ist. Das Dasein der letzteren Klasse beweist hinlänglich, dass die Zufälle der ersteren nicht nothwendig mit der Verletzung des grossen Gehirns verbunden sind. Dazu kommt nun, dass man bei den Fällen der zweiten Klasse, einerlei welcher Theil des grossen Gehirns verletzt ist, regelmässig eine Schwächung wahrnimmt, welche sich gleichmäßig über die verschiedensten Funktionen erstreckt. Der Kluge wird nicht dümmer; es geht kein Talent, kein Geistesvermögen verloren; wohl aber werden die Beschädigten vom Denken und Sprechen leichter ermüdet, ebenfalls aber vom Gehen und andern physischen Thätigkeiten. Diese Wirkung der Ermüdung, Schwächung, Verzögerung verschiedner Funktionen ist constant; alle sonstigen, oft sehr merkwürdigen Erscheinungen, partieller Verlust des Gedächtnisses u. dgl. sind dagegen nicht constant; man findet immer Fälle, die sonst ganz ähnlich sind und die fragliche Erscheinung nicht zeigen. Könnte man dadurch auf den Gedanken kommen, dass in der That das grosse Gehirn, und namentlich die Rindensubstanz, wesentlich zur Entwicklung von Kräften bestimmt sei, welche dazu dienen, das Spiel des Empfindungs-Austausches und der Bewegungsimpulse in den reich gegliederten Organen der Basis des Gehirns zu unterhalten und zu regeln, so sind wir doch weit entfernt, jenem edlen Organ in der That einen so beschränkten Beruf zuzuschreiben. Es war nur nöthig, auch hier zu zeigen, wie weit wir noch von einem Abschlüsse entfernt sind.
Als Beispiel einer einseitigen und willkürlichen Hirnphilosophie können wir noch die Ansichten von Carus und Huschke erwähnen, welche in leichten Modifikationen viel Verbreitung gefunden haben, obwohl sie ganz und gar auf dem Princip der Personifikation überlieferter Abstraktionen beruhen. Wir steigen damit zwar in das Gebiet der Naturphilosophie zurück, ohne uns jedoch vom gegenwärtigen Standpunkt der Wissenschaft weit zu entfernen, denn in der Behandlung des Gehirns ist man eben noch nicht weit über die Naturphilosophie hinausgekommen.
Huschke lehrte schon in einer Dissertation aus dem Jahre 1821, dass den drei Wirbeln des Schädels auch drei Haupttheile des Gehirns entsprechen, und dass daher auch drei Grundkräfte des Geistes anzunehmen seien. Ein sonderbarer Causalzusammenhang, aber ganz in der Denkweise jener Zeit Dem verlängerten Mark und dem kleinen Gehirn wird das Wollen zugetheilt, dem Scheitelhirn das Gefühl, dem Stirnhirn das Denken. Natürlich spielt die »Polarität« eine Rolle dabei. Das kleine Gehirn ist dem grossen polar entgegengesetzt; jenes dient der Bewegung, dieses der Empfindung und dem Denken; jenes hat aktive, dieses receptive Thätigkeit In dieser Beziehung schliessen sich die Theile der Basis des Gehirns ganz an das grosse Gehirn an; dann aber entsteht innerhalb dieser Masse wieder der polare Gegensatz. Als Beitrag zur Einsicht in die Entstehungsweise wissenschaftlicher Vorstellungen wird man immer mit Interesse sehen können, dass Huschke die berühmten Versuche von Flourens, welche einige Jahre später erschienen, als einen experimentellen Beweis für seine Lehre betrachtete.
Carus stellte später eine ganz ähnliche Dreitheilung auf, wollte aber den ursprünglichen Sitz des Gemüthes ausschliesslich in den Vierhügeln finden, während Huschke dafür auch die Sehhügel, die hinteren Lappen des grossen Hirns und andre Theile in Anspruch nimmt. Huschke scheinen die Vierhügel für eine so wichtige Funktion, wie die des Gemüthslebens, zu unbedeutend, zumal da sie in der Entwicklungsgeschichte des Menschen, wie in der aufsteigenden Thierreihe, sichtbar an Bedeutung verlieren. Für Carus kann dieser Umstand nicht störend sein, da er von der ursprünglichen Anlage ausgeht und es für eine Absurdität erklärt, im ausgebildeten Menschen Gemüth, Intelligenz und Willen so lokalisirt zu betrachten, »dass sie gleichsam jede in einer der drei Hirnabtheilungen sich eingesperrt fänden.« Etwas Andres soll es dagegen sein, »wenn wir von der ersten Anlage dieser Gebilde handeln, wo Leitungsfasern noch gar nicht, oder nur unvollkommen entwickelt sind, wo dann auch von feineren Nüancirungen des Seelenlebens überhaupt noch gar nicht die Rede sein kann.« In dieser blossen Anlage zur späteren entwickelten Geistesthätigkeit sollen dann allerdings die drei Grundrichtungen derselben lokalisirt sein. Insofern Carus diese ganze Lokalisirung im Grunde nur als Symbol eigentümlicher Geistesentwicklung fasst, entzieht sich sein Standpunkt der Bekämpfung, indem er sich in metaphysische Unklarheit verliert.
Prüfen wir die Beweismittel der beiden in ihrer Anschauung so nahe verwandten Physiologen, so begegnet uns sofort jener ausgedehnte Gebrauch der vergleichenden Anatomie, in welchem von vornherein der Standpunkt der Naturphilosophie mit demjenigen der positiven Wissenschaft so merkwürdig verschmolzen ist. Weil die vergleichende Anatomie auf schärfster Auffassung des Einzelnen beruht, weil sie zur Gewinnung ihrer Anhaltspunkte, namentlich in der Anatomie des Nervensystems, der exaktesten Operationen bedarf, so übertragen die Forscher nur gar zu leicht das Gefühl dieser Exaktheit auf die Schlüsse, welche sie aus der Vergleichung der entsprechenden Formen ziehen zu müssen glauben. Nun ist bei allen Schlüssen auf das Verhältniss von Hirnbildungen zu Geistesthätigkeiten das Verfahren an sich schon kein einfaches. Man vergleicht sichtbare menschliche Organismen mit thierischen. Gut; dieser Vergleich lässt die exakte Methode zu. Man kann die Vierhügelmasse eines Fisches wägen; man kann rechnen, in welchem Verhältniss bei Vögeln das Kleinhirn zur gesammten Hirnmasse steht. Man kann dies Verhältniss mit dem vergleichen, welches man beim Menschen findet So weit ist der Weg geebnet. Nun müsste ich in derselben Weise die Geistesfunktionen der Thiere kennen; diese auch unter sich und mit denen des Menschen vergleichen; dann käme erst die schwierigste Aufgabe. Ich müsste nun nämlich auffallende Aehnlichkeiten und Verschiedenheiten des einen Gebietes gleichsam denen des andern anpassen, Grad und Regelmässigkeit des Beobachteten vergleichen, allmählig ein Netz solcher Entsprechungen finden und dadurch über das Einzelne gewisser werden. Bei dieser Operation müsste ich die Selbsttäuschungen vermeiden, welche unsre produktive Phantasie uns so zahlreich unterzuschieben weiss.
Doch, statt die Schwierigkeiten zu häufen, wollen wir lieber die Unmöglichkeit des Verfahrens scharf bezeichnen. Es liegt in dem Mangel einer vergleichenden Psychologie. In der Psychologie können wir überhaupt keine Sektionen vornehmen, nichts wägen, messen, keine Präparate vorzeigen. Namen wie Denken, Fühlen, Wollen sind eben Namen. Wer will genau bezeichnen, was ihnen entspricht? Sollen wir Definitionen machen? Ein schwankendes Element! Sie taugen alle nichts; wenigstens zu exakten Vergleichen nicht. Und woran knüpfen wir unsre Beobachtungen? Mit welchem Maasse messen wir? Bei diesem Tappen im Finstern ist nur das kindlich naive Vorurtheil sicher etwas zu finden, oder der seherische Schwung des Metaphysikers. Der Verstand hat nur einen Weg. Er kann nur die positiven, bezeugten, gesehenen Handlungen der Thierwelt mit den Organen vergleichen. Er muss die Frage zurückführen, auf die Frage nach Bewegungsweisen und Bewegungsursachen. Dies ist ein Weg für die Zukunft; denn Männer wie Scheitlin, Brehm und andre Freunde der Thierwelt können bei all ihren Verdiensten kaum schon als erste Bahnbrecher betrachtet werden, für das, was wir haben müssten, um in solchen Vergleichen auch nur einigermassen sicher zu gehen.
Was soll man nun dazu sagen, wenn das grössere kleine Gehirn bei Vögeln und Säugethieren ihrem motorischen Charakter zugeschrieben wird im Gegensatz zu dem mehr receptiven Wesen des Menschen? Es ist klar, dass auf diesem Wege überhaupt nichts gewusst werden kann. – Ein Anatom bemerkt, dass beim Schaf das vordere Paar der Vierhügel gross ist, das hintere klein; beim Hunde umgekehrt. Dies bringt ihn auf den Gedanken, dass das vordere sensibel, das hintere motorisch sei. Kann eine solche Idee irgend etwas mehr leisten, als höchstens einen Fingerzeig für weitere Forschungen abgeben? Diese Forschungen dürfen aber nicht in der Anhäufung ähnlicher Beobachtungen mit gleich willkürlicher Deutung bestehen, sondern sie müssen auf ein beschränktes Gebiet übergehen, welches mit dem Experiment zu bewältigen ist. Vor allen Dingen sind die allgemeinen psychologischen Schulbegriffe zu beseitigen! Wenn mir Jemand zeigt, dass eine leichte Verletzung irgend eines Hirntheils bewirkt, dass eine sonst gesunde Katze das Mausen lässt, so will ich glauben, dass man auf dem richtigen Wege psychischer Entdeckungen ist. Ich werde aber auch dann nicht annehmen, dass damit der Punkt getroffen ist, in welchem die Vorstellungen der Mäusejagd ihren Sitz haben. Wenn eine Uhr die Stunden falsch schlägt, weil ein Rädchen verletzt ist, so folgt daraus noch nicht, dass dies Rädchen die Stunden schlug.
Wir können uns hier eine kleine logische Sektion eines Satzes von Huschke nicht versagen. Man sehe nicht Kleinigkeitskrämerei darin, wenn wir einen einzigen Satz so zergliedern; noch weniger Gehässigkeit gegen einen Autor, dessen Leistungen wir hoch schätzen. Es handelt sich wieder um eine ganze Klasse von Trugschlüssen, die wir der Anschaulichkeit wegen an einem Beispiel vorzeigen, wie der Anatom seine Präparate zeigt.
Huschke hat durch eine grosse Reihe an sich höchst werthvoller Untersuchungen dargethan, dass beim Weibe verhältnissmässig das Scheitelhirn, beim Manne das Stirnhirn voluminöser und gewichtiger ist.
»Wenn nun«, sagt er darauf, »der physiologische Grundsatz richtig ist, dass mit der Vervollkommnung einer Thätigkeit auch das entsprechende Organ eine analoge Veränderung, Vergrösserung und Ausbildung erfährt [I] und dieser Grundsatz auch auf die physiologische Psychologie angewendet werden muss [II], so folgt auch, dass die psychischen Eigenthümlichkeiten des weiblichen Geschlechts ihren Sitz im Scheitelhirn, die des männlichen im Stirnhirn haben [III].«
Der Causalzusammenhang zwischen den Sätzen, an deren Schluss wir [I] und [II] gesetzt haben, bedarf nur weniger Bemerkungen. »Veränderung« ist eine Erweiterung, die dem Begriffskreise beider folgenden Sätze [II] und [III] nicht entspricht. Muskeln, Knochen, Gefässe, Nervenstämme vergrössern sich mit der Uebung und bilden sich aus; doch kann schon hier unter Umständen Verkleinerung mit Verstärkung der Struktur eintreten. Der Fettleibige kann durch Gymnastik magerer werden. Das Auge des Scharfsichtigen ist nicht grösser, als das des Blödsichtigen; ob sein Sehnerv stärker ist, die Sehhügel, die Vierhügel etc. ausgebildeter, wissen wir einfach nicht. An sich ist es grade so gut möglich, dass eine schwammige und ausgedehnte Struktur dieser Theile sich durch den Gebrauch zusammenzieht und fester wird, als dass sie im Ganzen anschwellen. Es ist daher im Uebergang von [I] auf [II] höchstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür zu finden, dass die stärker thätigen Hirntheile auch grösser und ausgebildeter – nicht nur »verändert« sein müssen.
Um nun den typischen Fehler der Schlussfolgerung kurz und anschaulich zu zeigen, wollen wir einfach die richtige Folgerung zum Vergleich neben die falsche stellen. Es folgt nämlich aus [I] und [II] nur,
»dass die psychischen Eigenthümlichkeiten des männlichen und des weiblichen Geschlechtes, wenn sie besondre Hirnorgane besonders in Anspruch nehmen, diese auch verändern, vergrössern oder ausbilden werden.«
Woraus soll aber folgen, dass der Unterschied, welchen Huschke in der Vertheilung der Hirnmassen gefunden hat, nun wirklich jener hypothetischen Veränderung entspricht? Dies würde sich nur dann schliessen lassen, wenn nicht bloss einige beobachtete Vergrösserungen gewisser Theile, sondern wenn schlechthin alle Anschwellungen auf vermehrte specifische Thätigkeit der betreffenden organischen Theile zurückzuführen wären. Mit andren Worten, Huschke's Schlusssatz [III] würde nur dann bewiesen sein, wenn folgende Vordersätze gültig wären:
»Es ist ein physiologischer Grundsatz, dass nur durch Vervollkommnung einer Thätigkeit das entsprechende Organ eine analoge Vergrößerung und Ausbildung erfährt [I], und dieser Grundsatz ist auch auf die Grössenverhältnisse der Hirntheile anzuwenden, bei denen eben deshalb verschiedne specifische Thätigkeiten anzunehmen sind, weil wir verschiedne Maassverhältnisse finden [II].«
Man sieht leicht, dass der Satz [I], die Grundlage der ganzen Deduktion, einfach unrichtig ist. Abgesehen von krankhaften Erscheinungen wird ein Organ sehr häufig deshalb vergrössert, weil die Oekonomie des ganzen Organismus seiner Thätigkeit nur eine geringe Energie geben kann, so dass also extensiv ersetzt wird, was intensiv verloren geht. Besonders deutlich wird aber die Entstehung des ganzen Schlusses aus einer vorgefassten Meinung, wenn man bedenkt, dass die ganze Eintheilung Huschkes im Stirnhirn und Scheitelhirn nicht den mindesten Beweis dafür in sich schliesst, dass diese angenommenen Theile wirklich besondre Organe seien. Namentlich wird auch die leichteste und vortheilhafteste anatomische Trennung der vordem Hirnlappen von den hinteren niemals mehr als bloss topographische Bedeutung haben, so lange nicht auf ganz anderm Wege eine Verschiedenheit ihrer Funktionen nachgewiesen ist. Betrachten wir die Grosshirnlappen, wozu uns die bekannten Thatsachen vollständig berechtigen, als ein wesentlich gleichartiges und gleichartig wirkendes Organ, so wird man diese Annahme durch den Nachweis constanter Formunterschiede zwischen beiden Geschlechtern auch nicht im mindesten erschüttern können. Dieser Formunterschied mag charakteristisch sein; dann wird er auch mit den übrigen charakteristischen Unterschieden der Geschlechter muthmasslich im Causalzusammenhang stehen; in welchem aber, das ist ganz unbekannt Am wenigsten dürfen wir aus den zahlreichen Unterschieden irgend einen, den noch dazu Niemand näher bestimmen kann, herausgreifen, wie die grössere Neigung des Weibes zum sogenannten Gemüthsleben, und diesen Unterschied dann mit dem bemerkten Unterschied der äusseren Form des grossen Gehirns indentificiren. Oder soll etwa hierfür der Umstand entscheiden, dass die Hemisphären Sitz des »Bewusstseins« sind, und dass doch das Gemüthsleben auch zum Bewusstsein gehört? Die petitio principii bleibt ganz dieselbe. Wer sagt uns denn, dass die verschiednen Elemente des vagen Dinges, welches man Bewusstsein oder Seelenleben nennt, in grössere Hirnabtheilungen vertheilt werden können? Das grosse Gehirn kann das edelste, primitivste, herrschendste Organ des Körpers, es kann der wirkliche Sitz des Bewusstseins sein und doch können seine Formen wesentlich gleichgültig sein. Es giebt ausgezeichnete Anatomen, welche die einzelnen Ganglienkugeln der grauen Substanz als den wahren Sitz des Bewusstseins betrachten, und welche das individuelle Bewusstsein des Menschen als eine blosse Summe der Bewusstheit aller dieser zahllosen Ganglienkugeln betrachten. Dies ist eine Ansicht, wie jede andre; keine der schlechtesten. Angenommen sie sei richtig, wird es dann nicht weit mehr auf die Zahl und die Beschaffenheit dieser Kugeln ankommen, als auf ihre Gruppirung, oder gar auf die mehr oder weniger excentrische Rundung der ganzen Masse? Da nun zum mindesten diese Möglichkeit besteht, wie soll aus jener verschiednen Rundung ein zwingender Schluss gezogen werden? Sie kann grade so gut aus denselben unbekannten Gründen hervorgehen, welche den Querschnitt des weiblichen Oberarms anders runden, als den des männlichen. Damit uns hier nicht unklare Köpfe der fruchtlosen »Ausspintisirung von Möglichkeiten« zeihen, müssen wir wieder daran erinnern, welche Rolle den Möglichkeiten in der wissenschaftlichen Kritik zukommt. Das Blendwerk des Vorurtheils vollzieht sich fast immer so, dass es uns über die klaffendsten logischen Abgründe unter der Musik eines plausiblen Wortschwalls hin wegzaubert, während wir auf nichts sehen, als eben auf das Bild unsrer vorgefassten Ansicht. Alle andern Wege erscheinen dann als fern und unmöglich. Die Nachweisung der coordinirten Möglichkeiten ist die erste Aufgabe logischer Nüchternheit, und da stellt sich denn gleich heraus, dass unsre vorgefasste Ansicht oft nur ein einziger Weg unter vielen gleich guten und daher für sich nur wenig wahrscheinlich ist. Der Missbrauch der Möglichkeiten bei Schwärmern und Dunkelmännern ist immer dadurch bezeichnet, dass entweder das bloss entfernt Mögliche zur Wahrheit hinaufgeschwindelt wird, oder dass – der Sittlichkeit des Denkens entgegen – solche Möglichkeiten einander gleichgestellt werden, von denen die eine durch zahlreiche wissenschaftliche Beweise zur äussersten Wahrscheinlichkeit erhoben ist, während die andre eine nachweisbar unendlich geringe Wahrscheinlichkeit hat. Von solchen Dingen ist hier nicht die Rede. Man wird bei genauer Prüfung finden, dass bei den meisten angeblichen Beweisen für die Lokalisation der Gehirnfunktionen das, was bewiesen werden soll, schon vorausgesetzt wird. Namentlich ist dies mit denjenigen Funktionen der Fall, welche sich auf die höheren Geistesthätigkeiten beziehen. Besser gelingt es mit den Beziehungen gewisser Theile des Gehirns zu den Sinnesempfindungen, zur Bewegung und andern organischen Funktionen. Man kennt den »Lebensknoten« ganz genau; man weiss, welche Hirntheile mit dem Sehnerv zusammenhängen, welche auf die Bewegung der rechten, der linken Körperhälfte einwirken. Selbst jene Beziehungen des kleinen Gehirns zu der Bewegung, welche man als ein Ordnen und Zusammenfassen, als eine zweckmässige Combination der Einzelbewegungen gedeutet hat, scheinen logisch und experimentell besser begründet, als die verschiednen Theorieen über die Thätigkeit der Halbkugeln des grossen Gehirns.
Die Bedeutung der Hirnwindungen für die höhere geistige Organisation des Individuums darf man ebenfalls zu den wenigen festen Punkten in der Gehirnlehre rechnen; namentlich seitdem das Fehlen derselben bei manchen psychisch hoch stehenden Thieren seine Erklärung in dem Verhältniss des gesammten Hirnvolumens zu dem Volumen der peripherischen Schichten gefunden hat. Es ist aber auch wohl festzuhalten, dass damit nicht nur zu keiner Lokalisation der psychischen Funktionen der Anfang gemacht, sondern nicht einmal irgendwie wahrscheinlich gemacht ist, dass das sogenannte Bewusstsein in der grauen Substanz des grossen Gehirns seinen Sitz habe. Huschke meint zwar, man werde künftig die gesammten Hirnorgane nach seinem System der Windungen zu ordnen und danach eine geographische Karte am Schädel zu entwerfen haben. Gegen die Topographie haben wir nichts einzuwenden; nur möge man sich vor dem Irrlicht der »Hirnorgane« hüten. Es liegt hier nicht viel mehr Aussicht auf Erfolg vor, als wenn man aus den verschiednen Dimensionen verschiedner Theile der Lunge auf die Melodieen schliessen wollte, die mittelst solcher Lunge gesungen würden.
Wie tief das Vorurtheil von Lokalisation der Geistesvermögen einwurzeln kann, zeigt noch ein fast rührendes Beispiel aus dem Leben und Wirken eines der ersten Forscher dieses ganzen Zweiges. Flourens, der im Anfang der zwanziger Jahre durch seine berühmten Vivisektionen sich einen europäischen Ruf erwarb, kehrte vierzig Jahre später zu den Untersuchungen über die Hirnfunktionen zurück und wandte dabei eine Methode an, deren Neuheit und Scharfsinnigkeit Bewundrung verdient. Er brachte bei Thieren kleine Metallkugeln auf die Oberfläche des Gehirns und liess sie langsam durchsinken. Die Kugeln drangen in allen Fällen nach Verlauf längerer Zeit durch bis auf die Basis des Gehirns, ohne dass irgend eine Störung der Funktionen erfolgte. Nur wenn die Kugel senkrecht über dem Lebensknoten stand, erfolgte nach vollendetem Durchsinken der Tod. Flourens theilt diese Versuche in einer Abhandlung über die Heilbarkeit der Gehirnwunden mit (Compte rendu 62), welche ausserdem constatirt, dass es von Fällen solcher Verwundungen wimmelt, in denen das Individuum durchaus keinen Nachtheil erlitt, und dass die Hirnwunden sogar mit überraschender Leichtigkeit heilen. Und in derselben Abhandlung erklärt Flourens noch die Theilung der Geistesvermögen nach den Hirnorganen für den Zweck der Wissenschaft!
Soll noch mehr Kraft an dieses Streben verschwendet werden, statt dass man endlich anfängt, die albernen Erfindungen einer scholastischen Psychologie auf die Seite zu werfen und nach Wirkungen des Gehirns zu suchen, die man nicht nur benamsen, sondern auch sehen, messen und berechnen kann?
»Aber irgendwo muss das Bewusstsein doch sitzen« ruft man uns zu. Wirklich? Ich wünschte, man könnte mir einmal ein »Bewusstsein« zeigen. Es ist schwer, sich über Dinge zu verständigen, die Jeder nur bei sich haben kann. Mir ist es z. B. vorgekommen, als ob das eigentliche Denken immer unbewusst sei. Nur die störenden Nebenempfindungen erinnern uns beständig wieder an unsre Person, machen, dass wir von uns selbst wissen. Doch das sei dahingestellt! Jedenfalls ist der Ausdruck »Bewusstsein« im Deutschen durch die Metaphysiker so verdorben, dass man auf eine vollständige Gedankenlosigkeit gefasst sein muss, so oft man ihn hört.
Ein wirklich consequenter Materialismus, aber ein solcher, der die Wissenschaft der Gegenwart und nicht die des vorigen Jahrhunderts zur Basis nimmt, hätte auf diesem Gebiet ausserordentlich aufklärend wirken können. Man wird zwar immer durch consequenten Materialismus ans Ende dieser Weltanschauung kommen, an den Punkt, wo sie in Idealismus umschlägt; aber man wird doch inzwischen mit diesem groben Besen viel Unklarheit und scholastischen Wust hinweggeräumt haben.
Versuchen wir einmal an einem Beispiel consequenten Materialismus zu üben!
Ein Kaufmann sitzt behaglich im Lehnstuhl und weiss selbst nicht, ob die Majorität seiner Ichheit sich mit Rauchen, Schlafen, Zeitungslesen oder Verdauen beschäftigt. Herein tritt der Bediente, bringt eine Depesche und darin steht: »Antwerpen etc. Jonas & Comp, fallirt.« – »Jakob soll anspannen!« Der Bediente fliegt. Der Herr ist aufgesprungen, vollkommen nüchtern; einige Dutzend Schritte durchs Zimmer – hinunter ins Comptoir, den Prokuristen bedeutet, Briefe diktirt, Depeschen aufgegeben, dann eingestiegen. Die Rosse schnauben; er ist auf der Bank, auf der Börse, bei Geschäftsfreunden – ehe eine Stunde herum ist, wirft er sich zu Hause wieder in seinen Lehnsessel mit dem Seufzer: »Gottlob, für den schlimmsten Fall bin ich gedeckt. Nun weiter überlegen!«
Ein prächtiger Anlass für ein Seelengemälde! Schrecken, Hoffnung, Erfindung, Berechnung – Untergang und Sieg in einen Augenblick zusammengedrängt. Und das Alles durch eine einzige Vorstellung erregt! Was umfasst nicht das menschliche Bewusstsein!
Gemach! Betrachten wir unsern Mann als ein Objekt der körperlichen Welt! – Er springt auf. Warum springt er auf? Seine Muskeln contrahirten sich in entsprechender Weise. Warum dies? Es traf sie ein Impuls der Nerventhätigkeit, welcher den aufgespeicherten Vorrath von Spannkräften auslöste. Woher dieser Impuls? Aus dem Centrum des Nervensystems. Wie entstand er dort? Durch die – – » Seele«. Der Vorhang fällt; der salto mortale aus der Wissenschaft in die Mythologie ist vollbracht.
Doch wir wollten consequenten Materialismus. Die Seele sei das Gehirn! Also aus dem Gehirn. Bleiben wir hier nun stehn, so ist die Sache genau eben so mythisch wie zuvor. Es kann Alles nichts helfen. Wir müssen die physische Causalreihe ohne irgend welche Berücksichtigung des sogenannten Bewusstseins durch das Hirn hindurch bis zu der ersten Veranlassung der ganzen plötzlichen Bewegung zurückverfolgen. Oder betreten wir den umgekehrten Weg! Was kam in den Mann hinein? Das Bild einiger Striche mit Blaustift auf weissem Grunde. Gewisse Lichtstrahlen trafen die Netzhaut, die in ihren Schwingungen an sich nicht mehr lebende Kraft entwickeln, als andre Lichtstrahlen auch. Die lebende Kraft für den Nervenimpuls, die nicht so unbedeutend sein kann, wird also wohl auch im Centralorgan erzeugt und durch den unendlich schwachen Impuls der Lichtwelle nur ausgelöst werden, wie die Spannkräfte der Pulvertonne durch das glimmende Fünkchen. Aber wie kommt es nun, dass grade diese Linien in diesem Menschen grade diese Wirkung hervorbringen? Jede Antwort, welche sich hier auf »Vorstellungen« und dergleichen beruft, gilt einfach als gar keine Antwort. Ich will die Leitungen sehen, die Wege der lebenden Kraft, den Umfang, die Fortpflanzungsweise und die Quellen der physikalischen und chemischen Processe, aus welchen die Nervenimpulse hervorgehen, die grade in der zum Aufspringen dienenden Weise erst den musculus psoas, dann den rectus femoris, die vasti und die ganze mithelfende Gesellschaft zur Thätigkeit bringen. Ich will die ungleich wichtigeren Nervenströme sehen, welche sich in die Sprach Werkzeuge, in die Athemmuskeln verbreiten, Befehl, Wort und Ruf erzeugen, die auf dem Wege der Schallwellen und der Hörnerven andrer Individuen dasselbe Spiel zehnfach erneuern. Ich will mit einem Wort die sogenannte psychische Aktion einstweilen den Schulpedanten schenken und will die physische, die ich sehe, aus physischen Ursachen erklärt haben.
Der Leser wird mir nicht zutrauen, dass ich Unmöglichkeiten fordere, um schliesslich doch an einen deus ex machina zu appelliren. Ich gehe von dem Grundsatz aus, dass der Mensch durch und durch begreiflich ist, und wenn man nicht gleich das Ganze begreifen kann, so bin ich genugsam. Wie dem paläontologischen Forscher die einzige Kinnlade aus dem Sommethal eine ganze Menschenrasse der Vorzeit mit all ihren Generationen vertritt, so will ich zufrieden sein, wenn man mir nur einmal den Zusammenhang zwischen dem ersten Eindruck der Lichtwelle und den mit der genaueren Fixirung der Buchstaben verbundnen Bewegungsimpulsen so klar machte, wie uns ungefähr die Reflexbewegung in der Zuckung eines Froschschenkels ist. Statt dessen schürft man im Gehirn nach »Denken«, »Fühlen« und »Wollen« herum, als wenn man in den Unterarmmuskeln eines Klavierspielers Dur, Moll, Allegro, Adagio und Fortissimo jedes in einem besondern Schlupfwinkel entdecken wollte.
Man sagt mir: »Aber Furcht, Hoffnung, Eifer deines Kaufmannes sind doch auch etwas; du magst nun den Ausdruck »Bewusstsein« als unklar verwerfen; aber der Mann empfindet doch etwas. Soll denn das keinen Grund haben?« In der That, beinahe hätten wir den nervus sympathicus vergessen, den Einfluss des nervus vagus auf die Herzbewegung und alle die zahlreichen durch den ganzen Körper sich erstreckenden Wirkungen der Revolution, welche im Gehirn vorgeht, wenn ein so kleiner Impuls der Aussenwelt den Menschen in die lebhafteste Bewegung versetzt. Wir wollen auch diese Ströme kennen lernen, bevor wir uns zufrieden geben. Wir wollen von den zahlreichen bald starken, bald verschwindenden Empfindungen, die der Eine auf der Zunge, der Andre in der Magengegend, Dieser in den Waden, Jener auf dem Rücken verspürt, möglichst genau wissen, wie sie entstehen; ob bloss in den Centraltheilen, oder durch einen Kreislauf centrifugaler und centripetaler Leitungen. Dass letzterer eine grosse Rolle in allen Empfindungen spielt, geht aus zahllosen Erscheinungen mit Sicherheit hervor.
Czolbe wurde von seinen Gegnern besonders mitgenommen, weil er zur Entstehung des Selbstbewusstseins eine in sich selbst zurücklaufende Bewegung des Nervenfluidums verlangte, die er in den einzelnen Ganglienkugeln vor sich gehen liess. Es ist mir dabei immer aufgefallen, dass der wirklich stattfindende Kreislauf der Nerventhätigkeit, welcher in allen Empfindungen eine so grosse Rolle spielt, bisher fast gar nicht beachtet wird. Bei jeder lebhaften Erregung der Hirnthätigkeit läuft ein Strom von positiven oder negativen Wirkungen mittelst der vegetativen und motorischen Nerven durch den ganzen Körper, und erst indem wir von den dadurch in unserm Organismus bewirkten Veränderungen mittelst der sensiblen Nerven wieder Rückwirkungen erhalten, »empfinden« wir unsre eigne Gemüthsbewegung. Ob nun der subjektive Zustand, den wir Empfindung nennen, mit diesem ganzen Kreislauf verbunden ist, oder mit den Spannungszuständen, die nach seiner Vollendung im Centralorgan entstehen, oder mit andern, gleichzeitig entstehenden Bewegungen und Spannungszuständen innerhalb der Centralorgane, das lassen wir dahingestellt; wenn man uns nur diese Spannungszustände nachweisen und die Regeln jenes Kreislaufs mit all seinen millionenfach verschiednen Combinationen enthüllen könnte.
Man wendet ein, dass wir über der Betrachtung blosser Symptome die Sache verlieren. Ja, wenn uns Jemand zeigen könnte, dass nach Beseitigung aller der Symptome, die wir betrachten möchten, überhaupt noch eine Sache übrig bliebe! Man mache sich doch klar, was man hinter den Nervenströmen und Spannungszuständen des Empfindungsaktes überhaupt noch suchen kann! Dies ist entweder der subjektive Zustand des Empfindenden, oder der geistige Werth des Empfindungsinhaltes. Den ersteren wird natürlich Niemand je inne werden, ausser an sich selbst, und es ist bei den zahlreichen Erörterungen von Vogts berühmtem Urin-Vergleich wohl klar genug geworden, dass man nicht den »Gedanken« als ein besondres Produkt neben den stofflichen Vorgängen ansehen kann, sondern dass eben der subjektive Zustand des empfindenden Individuums zugleich für die äussere Beobachtung ein objektiver, eine Molekularbewegung ist. Dieser objektive Zustand muss nach dem Gesetz der Erhaltung der Kraft in die lückenlose Causalreihe eingefügt werden. Man stelle uns diese Reihe vollständig dar! Dies muss geschehen können, ohne irgend eine Rücksicht auf den subjektiven Zustand, da dieser ja kein besondres Glied in der Kette der organischen Vorgänge ist, sondern gleichsam nur die Betrachtung irgend eines dieser Vorgänge von einer andern Seite her. Wir stossen hier zwar auf eine Grenze des Materialismus, aber nur, indem wir ihn mit strengster Consequenz durchführen. Wir sind in der That der Ansicht, dass in der Empfindung ausser und neben den erwähnten Nervenvorgängen schwerlich irgend etwas überhaupt zu suchen ist; nur haben diese Vorgänge selbst noch eine ganz andre Erscheinungsweise, nämlich diejenige, welche das Individuum Empfindung nennt. Es ist sehr wohl denkbar, dass man einmal dahin gelangen wird, den Theil der physischen Vorgänge genauer zu bestimmen, welcher zeitlich mit dem Entstehen einer Empfindung des Individuums zusammenfällt. Dies würde äusserst interessant sein, und man könnte gewiss nichts dagegen einwenden, wenn dieser bestimmte Theil des Kreislaufes der Nervenprocesse dann schlechthin als »die Empfindung« bezeichnet würde. Eine genauere Bestimmung des Verhältnisses des subjektiven Empfindungsvorganges zu dem objektiv beobachteten Nervenvorgang dürfte dagegen unmöglich sein.
Was nun aber den geistigen Werth des Empfindungsinhaltes betrifft, so wird sich auch dieser in keiner Weise von der physischen Erscheinung völlig trennen lassen. Ein Meisterwerk der Bildhauerkunst und eine rohe Copie desselben geben allerdings der Netzhaut des Betrachtenden eine ähnliche Menge von Lichtreizen, aber sobald das Auge den Linien folgt, entstehen schon andre Bewegungsempfindungen in den Augenmuskeln. Dass diese nicht nach der absoluten Masse der Bewegung, sondern nach den feinsten Zahlenverhältnissen zwischen den einzelnen Bewegungsimpulsen weiter wirken, kann uns nicht unnatürlich vorkommen, wenn wir bedenken, welche Rolle die Zahlenverhältnisse schon in der ersten Bildung der Sinnesempfindungen spielen. Freilich wird grade dieser Punkt zu den letzten und schwierigsten Räthseln der Natur gehören, aber wir haben deshalb doch nicht die mindeste Veranlassung, das geistig Bedeutungsvolle, die künstlerisch gestaltete Empfindung oder den sinnvollen Gedanken ausserhalb der gewöhnlichen Empfindungsprocesse zu suchen. Nur darf man freilich nicht verfahren, wie ein Mensch, der die Melodieen, die eine Orgel spielen kann, in den einzelnen Pfeifen entdecken wollte. Selbst der abstrakteste Begriff ist in dem Subjekt, welches ihn denkt, schwerlich etwas andres als eine Summe unendlich vieler sehr verwickelt zusammenhängender Nervenimpulse, von denen die einzelnen ausserordentlich schwach sind.
Huschke macht einmal die treffende Bemerkung: »Während wir denken, sprechen wir fortwährend mit. Unser Denken ist ein heimliches Reden, wobei auch wohl selbst die Zunge zu sympathischen Bewegungen mit fortgerissen wird, aber ohne weder Consonanten noch Vokale wirklich hervorzubringen.« Er schreibt diese merkwürdige Sympathie zwischen Denken und Sprechen einem Zusammenhang des Stirnhirns mit dem n. hypoglossus zu und vermuthet in consequentem Verfolg seines Vorurtheils auch einen besondren Zusammenhang des Hörnerven mit dem Stirnhirn, wobei er die durch Longet widerlegte Ansicht festhält, dass die des grossen Gehirns beraubten Thiere nicht mehr hören. Er meint, die logische Intelligenz hange genau mit der Sprache, die poetische Einbildungskraft dagegen mit dem Gesichtssinn zusammen. Ein etwas weiteres Nachdenken über die von ihm beobachtete »Sympathie« hätte leicht zeigen müssen, dass die Sache sich anders verhält Denkt man den Begriff der Höhe oder Tiefe, oder irgend einer Lage im Raum, so ist sehr leicht zu spüren, dass nicht nur in die Sprachorgane eine leise Innervation dringt, sondern nicht minder auch in die Augenmuskeln. Wird das Auge dabei auch still gehalten, so kann man den Reiz zur Bewegung doch ganz deutlich spüren. Auf der andern Seite setzt auch die poetische Einbildungskraft sehr häufig die Sprachorgane in Bewegung, und da diese Impulse sich bis ins Unmerkliche verlieren, so liegt die Vermuthung sehr nahe, dass es auch solche giebt, welche keine gesonderte einzelne Empfindung mehr hervorrufen, und doch auf den Empfindungszustand im Ganzen Einfluss üben, wie sehr kleine Lichtpunkte, welche das Bild einer matt erleuchteten Fläche geben.
Und wie steht es mit dieser Erscheinung bei dem Blinden, bei dem Taubstummen? Er hat ähnliche Bewegungsempfindungen in den Tastorganen, oder in den Händen, insofern er mit ihnen die Fingersprache spricht. Beobachten wir uns genau, so sehen wir aber, dass solche Empfindungen auch beim Vollsinnigen nicht fehlen; nur dass hier an die Stelle einer Fingersprache, die er nicht gelernt hat, leise Impulse zu den Geberden treten, mit denen eine besonders lebhaft erfasste Vorstellung thatsächlich begleitet wird, oder zu einer Zweckbewegung, die bei der Bildung der Vorstellung ihre Rolle spielte.
Verfolgt man diese Gedanken weiter, so wird eine Hypothese daraus, die mindestens etwas besser sein dürfte, als die unglückliche Lokalisations-Hypothese, welche schon so vielfache Vergeudung tüchtiger Kräfte verschuldet hat. Uns interessirt hier nur die Thatsache, dass die materialistische Auffassungsweise der Anthropologie eine fatale Neigung hat, zu viel im einzelnen Massenelement zu suchen und zu wenig in den Zahlenverhältnissen und der Art und Weise des Zusammenwirkens der organischen Vorgänge. Die materialistische Physiologie hat Grosses geleistet durch das Princip der Anschaulichkeit, der Fasslichkeit aller Vorgänge; aber sie führt leicht irre, wo das Wesen des Gegenstandes in mathematischen Verhältnissen besteht.
Als Sömmering entdeckt zu haben glaubte, dass das Wasser der Hirnhöhlen das wahre Seelenorgan sei, dachte man sich die Vorstellungen darin schwimmend, wie Karpfen im Fischteich. Kant meinte dagegen, es könne durch den Reiz der verschiednen Sinnesnerven das Wasser in verschiedner Weise chemisch afficirt werden, so dass also die Wirkung jeder einzelnen Vorstellung sich durch das ganze Organ, nur in qualitativ verschiedner Weise erstreckte. Diese beiden rohen, aber sinnlich klaren und nicht mit inneren Widersprüchen behafteten Vorstellungsweisen können uns in sehr anschaulicher Weise zeigen, wie verschiedne Wege eine materialistische und eine formalistische Geistesrichtung einschlagen können, ohne den Boden naturwissenschaftlicher Hypothesen zu verlassen. Die Stichwörter des Materialismus und des Formalismus bezeichnen hier natürlich nicht den Ausfluss fertiger Systeme, sondern verschiedne Neigungen und Richtungen, die mit dem philosophischen Standpunkt oft nur sehr indirekt zusammenhängen. Da das Glück der Forschung von einer Wechselbeziehung zwischen Individuum und Stoff bedingt wird, die oft mit den allgemeinen Eigenschaften des Fleisses, Scharfsinnes und der Ausdauer nicht ganz übereinstimmt und jedenfalls den Erfolg derselben erstaunlich erhöhen oder schwächen kann, so darf man sich denn auch nicht wundern, dass grade auf denjenigen Gebieten, wo mathematische Verhältnisse die grösste Rolle spielen, unsre Materialisten trotz ihres guten Willens fast nichts Positives entdeckt haben. Vermuthlich wird es auch mit dem Einblick in das Wesen der Gehirnthätigkeit besser werden, wenn man dazu übergeht, ohne irgend welche Rücksicht auf psychologische Begriffe bestimmte einzelne Vorgänge der exakten Betrachtung zu unterwerfen und die organischen Vorgänge mit Rücksicht auf das Gesetz der Erhaltung der Kraft vorurteilsfrei zu untersuchen.
Was wird denn aber die Psychologie dazu sagen! Haben wir doch in neuerer Zeit nicht nur eine naturwissenschaftliche, sondern sogar auch eine mathematische Psychologie erhalten, und es giebt eine Reihe ganz verständiger und verdienstvoller Leute, welche alles Ernstes glauben, Herbart habe mit seinen Differenzialgleichungen die Welt der Vorstellungen so gründlich erkannt, wie Kopernikus und Kepler die Welt der Himmelskörper. Das ist nun freilich eine so gründliche Selbsttäuschung wie die Phrenologie, und was die Psychologie als Naturwissenschaft betrifft, so ist mit dieser schönen Bezeichnung ein solcher Unfug getrieben worden, dass man. leicht in Gefahr kommen könnte, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wir werden jedoch den Anfängen einer wirklich naturwissenschaftlichen und in einzelnen Theilen selbst mathematischen Behandlungsweise psychologischer Fragen ihren vollen Werth beilegen können, ohne den eben dargelegten Standpunkt irgendwie zu verlassen.
Vor allen Dingen ist zu erwähnen, dass der Begriff der Psychologie nur für den Scholastiker oder den unwissenden Pedanten ein ganz festbegrenzter und vollständig klarer sein kann. Es haben zwar recht wackre und scharfsinnige Männer ihre angeblich naturwissenschaftlichen Untersuchungen mit einem Abschnitt vom »Wesen der Seele« begonnen; aber das ist dann eben eine Nachwirkung der hohlen scholastischen Metaphysik, wenn sie sich einbildeten, in dieser Weise eine sichre Grundlage der Untersuchung gewinnen zu können. Ausgenommen sind natürlich die Fälle, wo der Begriff der Seele nur geschichtlich oder kritisch erörtert wird. Wer aber noch positive Sätze von der Seele, wie z. B. von ihrer Einfachheit, Ausdehnungslosigkeit u. dgl. voranstellt, oder wer das Gebiet der Seelenlehre zum voraus glaubt nach allen Seiten sorgfältig einzäunen zu müssen, bevor er zu bauen anfängt, bei dem ist an eine naturwissenschaftliche Behandlung des Stoffes kaum zu denken. Was sollte man von einem Naturforscher sagen, welcher damit anfinge, sich das Wesen der Natur klar zu machen, und welcher erst dann seine Forschungen für zweckdienlich halten wollte, wenn er sich zuvor genau klar gemacht, was die Natur sei? Noch deutlicher wird die Sache bei speciellen Gebieten. Hätte Gilbert seine Bernsteinstückchen nicht gerieben, bevor er über das Wesen der Elektricität im Klaren war, so würde er vermuthlich nie einen wichtigen Schritt zur Erkenntniss ihres Wesens gethan haben. Welcher Forscher möchte wohl heute genau bestimmen, was Magnetismus ist? Unter den Händen der Forscher gestaltet sich der Begriff um. Aus der Kraft des Magneten das Eisen anzuziehen wird eine allgemeinere Kraft. Die Erde wird als Magnet erkannt. Der Zusammenhang mit der Elektricität wird entdeckt. Der Diamagnetismus wird durch eine Fülle der überraschendsten Erscheinungen verfolgt. Wo wären die glänzenden Entdeckungen eines Oersted, Faraday, Plücker geblieben, wenn diese erst den Begriff des Magnetismus hätten metaphysisch ergründen und dann ihre naturwissenschaftlichen Forschungen beginnen wollen!
Es bleibt ein merkwürdiges Denkmal der philosophischen Gährung in Deutschland, dass ein so feiner Kopf wie Herbart, ein Mann von einer bewunderungswürdigen Schärfe der Kritik und von grosser mathematischer Bildung auf einen so abenteuerlichen Gedanken kommen konnte, wie der ist, das Princip für eine Statik und Mechanik der Vorstellungen durch Spekulation zu finden. Noch auffallender ist, dass ein so aufgeklärter, in ächt philosophischer Weise dem praktischen Leben zugewandter Geist sich in die mühevolle und undankbare Arbeit verlieren konnte, ein ganzes System der Statik und Mechanik des Geistes nach seinem Princip auszuarbeiten, ohne irgend eine Gewähr der Richtigkeit an der Erfahrung zu haben. Wir sehen hier, wie eigentümlich die Gaben und Leistungen des Menschen zusammenhängen. Dass ein Gall durch seine grosse Erfahrung, seine ausgedehnten und speciellen Kenntnisse nicht vor der Erfindung der Phrenologie bewahrt werden konnte, ist uns bei dem phantasievollen, feurig schaffenden Charakter dieses Mannes leicht begreiflich; aber dass Herbart die mathematische Psychologie erfinden konnte, während er in den Eigenschaften, welche vor solchen Bahnen zu bewahren pflegen, gradezu eminent war, wird immer als ein höchst denkwürdiges Zeugniss gelten müssen für die Gewalt des metaphysischen Strudels, welcher in jener Zeit in unserm Vaterlande auch den Widerstrebenden ergriff und in die geistige Kometenbahn gegenstandloser Entdeckungen hinausschleuderte.
Immerhin verdient Herbarts gewaltiges Streben eine bessere Widerlegung, als die des blossen Nichtbeachtens. Die bisherigen Versuche einer würdigen kritischen Beseitigung der mathematischen Psychologie leiden aber an dem Mangel, dass sie sich in allerlei Ausstellungen verlieren und den logischen Elementarfehler in der Ableitung der Fundamentalformel theils gar nicht, theils mit nicht genügender Schärfe bezeichnen. Wir haben in einer besondern Abhandlung (der fundamentale Fehler in Herbarts math. Psych. Duisb. 1865) versucht, diese Lücke in unsrer philosophischen Literatur auszufüllen, weil unsre Verwerfung der mathematischen Psychologie nicht so ganz unbewiesen in die Welt gehen soll; an dieser Stelle aber würde die mühsame Arbeit des Beweises den Zusammenhang stören und die Uebersichtlichkeit der Kritik, soweit sie sich auf den Materialismus bezieht, verwischen. Bestände die mathematische Psychologie, so müssten wir sie schon deshalb in Betracht ziehn, weil sie der sicherste Beweis für jene Gesetzmässigkeit alles psychischen Geschehens wäre, welche der Materialismus mit Recht behauptet, und zugleich die vollständigste Widerlegung der Zurückführung alles Bestehenden auf den Stoff. Wir müssten zugleich unsre obige Darstellung des Verhältnisses zwischen Gehirn und Seele bedeutend modificiren, da Herbarts mathematische Psychologie von seiner Metaphysik schwerlich zu trennen ist. So aber ist die mathematische Psychologie für uns nicht vorhanden, und nur in dieser hätten wir einen Grund finden können, auf eine metaphysische Grundlage der Psychologie nach Kant überhaupt noch einmal genauer einzugehn. Wenn es später einmal allgemein zugegeben ist, dass wir über den letzten Grund aller Dinge nichts wissen können, wenn man sich entschlossen hat, den Bautrieb der Speculation unter die Kunsttriebe zu zählen; wenn man darüber einig ist – in diesem Punkt über Kant hinausschreitend – dass der Einheitstrieb der Vernunft stets zur Dichtung führt, die der Wissenschaft nur indirekt zu gute kommt; dann darf man auch Herbarts Metaphysik ohne Gefahr der Begriffsverwirrung wieder hervorziehen, und man wird einen Punkt in ihr entdecken, der eine merkwürdige Analogie mit den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft unsrer heutigen mathematischen Physiker darbietet. Das wirklich Existirende ist nach Herbart eine Vielheit von einfachen Wesen, welche sich jedoch von Leibnitz' Monaden sehr wesentlich unterscheiden. Diese bringen die ganze Welt – als Vorstellung – aus sich hervor; Herbarts »Reale« dagegen sind für sich genommen ganz vorstellungslos; sie wirken aber aufeinander ein und sie streben diese Einwirkungen von sich abzuwehren. Die Seele ist ein solches einfaches Wesen, ein »Reales«, welches mit andern einfachen Wesen in Conflikt geräth. Ihre Akte der Selbsterhaltung sind Vorstellungen. Wie ohne Druck kein Gegendruck, so würde ohne Störung kein Vorstellen sein. Neu ist hier jedenfalls und für zukünftigen metaphysischen Hausgebrauch beachtenswerth die Anschauung, nach welcher das Wesen der Seelenthätigkeit in einer Rückwirkung auf eine äussere Einwirkung besteht. Man muss damit nothwendig die Ansicht der neueren Molekular-Theoretiker vergleichen, nach welcher der Begriff einer Kraft dem einzelnen Atom durchaus nicht zukommt und eben nur in der Wechselbeziehung mehrerer Atome statt hat. Herbart ist freilich nie darüber ins Klare gekommen, dass er consequenter Weise hätte sagen müssen, dass alle Vorstellungen nicht in der »Seele«, dem einfachen Wesen, liegen, sondern dass sie Wechselbeziehungen sind zwischen den einzelnen Realen, wie die physikalischen Kräfte zwischen den Atomen. Mit dieser Consequenz seiner Grundanschauung hätte Herbart zahllose Widersprüche vermieden, die sich daraus ergaben, dass die Seele einfach und unveränderlich, ohne alle inneren Zustände sein und doch die Vorstellungen in sich tragen sollte. Er erhält dadurch eine Art von Unsterblichkeit der Seele, die aber einem ewigen Tode gleichkommt, wenn sich keine andern einfachen Wesen finden, die mit ihr in eine so enge Wechselwirkung treten, wie die Bestandtheile des Leibes. Das heisst einen hohlen Begriff theuer bezahlen.
Da aus Herbarts Schule grade die Bestrebungen grossentheils hervorgegangen sind, eine naturwissenschaftliche Psychologie zu gründen, so ist es oft von Interesse, die versteckten Widersprüche hervorzuziehn, mit welchen die Annahme einer absolut einfachen und dennoch vorstellenden Seele nothwendig verbunden ist. Das absolut Einfache ist auch keiner inneren Veränderung fähig, weil wir uns diese nur in der Form wechselnder Ordnung der Theile denken können. Deshalb sagt Herbart auch nicht, dass die Realen aufeinander wirken, sondern dass sie Einwirkungen von einander erleiden würden, wenn sie diesen nicht durch einen Akt der Selbsterhaltung Widerstand leisteten. Als ob damit etwas andres gesagt werden könnte, als mit der Annahme einer einfachen Wechselwirkung! Waitz legt in seiner Psychologie (S. 81) viel Werth auf den Unterschied zwischen Dispositionen zu einem Zustand und wirklichen Zuständen. So geht es in der Metaphysik. Zustände darf die Seele nicht haben; bei Leibe nicht, sonst ginge ja ihre absolute Einheit verloren! Aber Dispositionen, das ist ganz etwas andres; »Strebungen«, warum nicht? Der Metaphysiker widerlegt mit einem enormen Aufwand von Scharfsinn alle möglichen andern Ansichten, und wo er seine eigne Meinung entwickelt, schiesst er einen logischen Purzelbaum von der gewöhnlichsten Sorte. Jeder Andre sieht, dass eine Disposition zu einem Zustand auch ein Zustand ist, dass Selbsterhaltung gegen eine drohende Einwirkung nicht ohne eine, wenn auch noch so feine wirkliche Einwirkung denkbar ist. Der Metaphysiker sieht dies nicht. Er hat sich mit seiner Dialektik an den Rand des Abgrundes getrieben, alle Begriffe hundertmal herumgewendet, hervorgezogen, weggeworfen, und endlich muss durchaus und durchaus etwas gewusst werden. Also die Augen zugedrückt und den salto mortale herzhaft gemacht – von den Höhen der schärfsten Kritik hinab in die allergewöhnlichste Verwechslung von Wort und Begriff! Ist dies gelungen, dann geht es munter weiter. Je mehr Widersprechendes in die erste Grundlegung aufgenommen wird, desto freier lässt sich schliessen, wie man denn bekanntlich aus mathematischen Sätzen, welche den Faktor Null in versteckter Weise enthalten, oft die merkwürdigsten Dinge ableiten kann.
Herbart hat selbst einmal gesagt, dass uns statt einer Geschichte der Psychologie, wie F. A. Carus sie geschrieben, vielmehr eine Kritik der Psychologie noth thäte. Wir fürchten, wenn diese jetzt geschrieben würde, dürfte von der ganzen vermeintlichen Wissenschaft nicht viel übrig bleiben.
Dennoch ist die naturwissenschaftliche Psychologie in ihren ersten Anfängen vorhanden, und zwar bildet die Schule Herbarts für Deutschland ein wichtiges Glied der Uebergangs-Epoche, obwohl sich hier die Wissenschaft erst mühsam von der Metaphysik loszuringen beginnt. Waitz, ein scharfsinniger Denker, der aber offenbar, wie es Privatdocenten und ausserordentlichen Professoren zu gehen pflegt, viel zu früh zu schreiben begann, und so gleichsam mitten im Fluss der Entwicklung erstarrte, machte sich von Herbart so weit los, dass er die mathematische Psychologie verwarf und die ganze metaphysische Grundlage der Herbartschen Psychologie in eine angebliche Hypothese über das Wesen der Seele umschuf. Damit ist denn aber freilich nur wenig gewonnen. Klare Hypothesen zu haben statt unklarer und widersinniger Dogmen wäre schon ein grosser Fortschritt; aber was soll uns eine Hypothese über das Wesen der Seele, oder auch nur eine Hypothese über das Vorhandensein einer Seele, so lange wir noch so wenig Genaues über die einzelnen Erscheinungen wissen, auf welche sich doch jede exakte Forschung zunächst erstrecken muss? In den wenigen Erscheinungen, welche einer genaueren Beobachtung bisher zugänglich gemacht sind, liegt nicht die mindeste Veranlassung, eine Seele, in irgendwelchem näher bestimmten Sinne, überhaupt anzunehmen, und der versteckte Grund zu dieser Annahme liegt eigentlich immer nur in der Ueberlieferung, oder in dem stillen Drang des Herzens, dem verderblichen Materialismus entgegenzutreten. Dadurch wird denn ein doppeltes Unheil angerichtet. Die naturwissenschaftliche Psychologie wird verpfuscht und verfälscht; die Rettung und Stärkung des Idealen aber, das man durch den Materialismus bedroht glaubt, wird versäumt, weil man Wunders was geleistet zu haben wähnt, wenn man für das alte Fabelwesen der Seele einen neuen Schimmer von Beweisführung vorbringt.
»Aber heisst denn Psychologie nicht Lehre von der Seele? Wie ist denn überhaupt eine Wissenschaft denkbar, welche es zweifelhaft lässt, ob sie überhaupt ein Objekt hat?« Nun, da haben wir wieder ein schönes Pröbchen der Verwechslung von Namen und Sache! Wir haben einen überlieferten Namen für eine grosse, aber keineswegs genau abgegrenzte Gruppe von Erscheinungen. Dieser Name ist überliefert aus einer Zeit, in welcher man die gegenwärtigen Anforderungen strenger Wissenschaft noch nicht kannte. Soll man ihn verwerfen, weil das Objekt der Wissenschaft sich geändert hat? Das wäre unpraktische Pedanterei. Also nur ruhig eine Psychologie ohne Seele angenommen! Es ist doch der Name noch brauchbar, so lange es hier irgend etwas zu thun giebt, was nicht von einer andern Wissenschaft vollständig mit besorgt wird. Freilich sind die Grenzen gegen die Physiologie nicht leicht zu ziehen. Das schadet aber auch gar nichts. Wenn dieselben Entdeckungen auf zwei verschiednen Wegen gemacht werden, so ist ihr Werth um so grösser. Doch genauer lässt sich dies Verhältniss erst einsehen, wenn wir die Frage nach dem Verfahren der Psychologie stellen, wo denn namentlich der berüchtigte Begriff der Selbstbeobachtung der Kritik unterliegt.
Kant trägt einige Schuld an der Begriffsverwirrung auf diesem Gebiete. Seine Unterscheidung des äusseren und des inneren Sinns ist noch eben so roh aus veralteten Anschauungen hinübergenommen, wie jene Annahme verschiedner Geistesvermögen, welche, sammt der ganzen überlieferten Psychologie, einen so tiefgreifenden Einfluss auf die Gestaltung seines Systems behauptete. Man bildete sich ein, der Mensch habe gleichsam zwei Geistesorgane, deren eines, nach innen gekehrt, der Selbstbeobachtung diene, während das andre der Erfassung der Aussenwelt gewidmet sei. Der äussere Sinn bedient sich der Sinnesorgane; man kann Schmerzempfindungen, obwohl man ihren Sitz in den eignen Körper verlegt, mit dem äusseren Sinn wahrnehmen; während die eignen Gedanken und Gefühle, das sogenannte Selbstbewusstsein u. dgl. dem inneren Sinn zugeschrieben werden.
Von dem »Beobachten seiner selbst« sagt Kant, es sei eine methodische Zusammenstellung der an uns selbst gemachten Wahrnehmungen, welche den Stoff zu einem Tagebuch des Beobachters seiner selbst abgiebt »und leichtlich zu Schwärmerei und Wahnsinn hinführt.« Er warnt davor, »sich mit der Ausspähung und gleichsam studirter Abfassung einer inneren Geschichte des unwillkürlichen Laufs seiner Gedanken und Gefühle durchaus nicht zu befassen«, und zwar »weil es der grade Weg ist in Kopfverwirrung vermeinter höherer Eingebungen und ohne unser Zuthun, wer weiss woher, auf uns einfliessenden Kräfte, in Iluminatismus oder Terrorismus zu gerathen.« »Denn unvermerkt machen wir hier vermeinte Entdeckungen von dem, was wir selbst in uns hineingetragen haben, wie eine Bourignon oder ein Pascal, und selbst ein sonst vortrefflicher Kopf, Albrecht Haller, der, bei seinem lang geführten, oft auch unterbrochenen Diarium seines Seelenzustandes zuletzt dahin gelangte, einen berühmten Theologen, seinen vormaligen akademischen Collegen, den Dr. Less zu befragen: ob er nicht in seinem weitläufigen Schatz der Gottesgelahrtheit Trost für seine beängstigte Seele antreffen könne.« Und weiterhin: »dass übrigens die Kenntniss des Menschen durch innere Erfahrung, weil er darnach grossentheils auch Andere beurtheilt, von grosser Wichtigkeit, aber doch zugleich von vielleicht grösserer Schwierigkeit sei, als die richtige Beurtheilung Anderer, indem der Forscher seines Innern leichtlich, statt bloss zu beobachten, manches in das Selbstbewusstsein hineinträgt, macht es auch rathsam und sogar nothwendig, von beobachteten Erscheinungen in sich selbst anzufangen und dann allererst zu Behauptung gewisser Sätze, die die Natur des Menschen angehen, d. i. zur inneren Erfahrung fortzugehen.«
Kant gründete deshalb seine eigne empirische Psychologie nicht auf Selbstbeobachtung, sondern wesentlich auf die Beobachtung Anderer. Er hatte jedoch einmal dem »inneren Sinn« ein Gebiet angewiesen, und der Missbrauch dieses Tummelplatzes metaphysischer Willkür konnte nicht ausbleiben. Zwar die Schwärmerei und den Wahnsinn liess man dem vorigen Jahrhundert, dessen aufgeregte Naturen dafür geeigneter waren; was aber phantastische Willkür und ruheloser Spekulationstrieb leisten können, das ist durch Hineintragen beliebiger Erfindungen in das angebliche Beobachtungsfeld des inneren Sinnes redlich geleistet worden. Ein Muster in dieser Beziehung hat uns namentlich Fortlage geboten, welcher als ausserordentlicher Professor in Jena (1855) zwei dicke Bände schuf, denen er den Titel gab: »System der Psychologie als empirischer Wissenschaft aus der Beobachtung des inneren Sinns.« Zuerst macht er sich den inneren Sinn zurecht, dem er eine Reihe von Funktionen zuschreibt, die sonst dem äusseren Sinn zugeschrieben wurden; dann steckt er sich sein Beobachtungsfeld ab und beginnt zu beobachten. Man würde vergeblich einen Preis darauf setzen, wenn Jemand in den beiden dicken Bänden eine einzige wirkliche Beobachtung auftriebe. Das ganze Buch bewegt sich in allgemeinen Sätzen mit einer Terminologie von eigner Erfindung, ohne dass je eine einzelne bestimmte Erscheinung mitgetheilt wird, von welcher Fortlage angeben könnte, wann und wo er sie gehabt hätte, oder wie man es etwa machen müsste, um sie auch zu haben. Es wird uns ganz schön beschrieben, wie z. B. bei der Betrachtung eines Blattes, sobald man die Gestalt desselben auffallend findet, diese Gestalt zum Focus der Aufmerksamkeit wird, »wovon die nothwendige Folge ist, dass die der Gestalt des Blatts nach dem Gesetz der Aehnlichkeit angeschmolzene Gestaltscala dem Bewusstsein hell wird.« Es wird uns gesagt, dass das Blatt nun »im Einbildungsraum in der Scala der Gestalten zergeht,« aber wann, wie und wo dies einmal so begegnet ist, und auf welche Erfahrung sich eigentlich diese »empirische« Erkenntniss begründet, bleibt eben so unklar, als die Art und Weise, wie der Beobachter den »inneren Sinn« anwendet, und die Beweise dafür, dass er sich eines solchen Sinnes bedient, und nicht etwa seine Einfalle und Erfindungen aufs Gerathewohl zum System krystallisiren lässt
Unsres Erachtens ist zwischen innerer und äusserer Beobachtung in keiner Weise eine feste Grenze zu ziehen. Wenn der Astronom nach einem Stern sieht, so nennt man das äussere Beobachtung; sobald er aber auf den ersten Blick erkennt, dass er den Mars vor sich hat, so muß er nach Fortlage zugleich den inneren Sinn gebraucht haben, denn das Auge sieht nur den hellen Punkt; der Astronom sieht sofort und ohne weiteres Nachdenken den Mars, weil er ihn kennt. Hat er nun deshalb ein andres Geistesorgan gebraucht, als der Mensch, welcher nur den Stern sieht, oder das Kind, welches nur den hellen Punkt ansieht und auch von Sternen noch nichts weiss? Fortlage sagt: »Wer sich durch Studium der Musik und Anhörung meisterhafter Tonstücke zu einer erhöheten musikalischen Auffassung befähigt, der bewaffnet seinen äussern Sinn durch den innern, und wenn er hinterher in einem Musiksatze Fehler von Schönheiten, Charakteristik von Flachheit, direkte Bewegung von Gegenbewegung, Dur von Moll sogleich im Gefühl unterscheidet, so ist das Unterscheidungsvermögen hier nicht minder ein durch den innern Sinn bewirktes und hinzugebrachtes, als wie bei einer fremden Sprache, die man erst dann versteht, wenn man sie gelernt hat.« Nach unsrer Ansicht liegt ein höchst interessantes Problem zukünftiger Psychologie oder Physiologie darin, zu suchen, worauf es beruhen mag, dass die mühsam gewonnene Verbindung zwischen Schallempfindung und andern Gehirnthätigkeiten ihre Wirkung später ganz unmittelbar zu äussern scheint. So lange man keine Methode kennt, dieser Frage durch Verfolgung der eignen Empfindungen oder durch andre Mittel beizukommen, thut man gut, dabei stehen zu bleiben, dass man vermuthlich in beiden Fällen mittelst der Ohren hört.
Was soll man mit den Fällen anfangen, in welchen das unmittelbare Sehen jedes gesunden Auges, ohne alle besondre Ausbildung, schon eine Elimination, eine Ergänzung oder Abänderung des mechanisch hervorgebrachten Bildes bewirkt? Sieht man stereoskopisch mit dem inneren Sinn oder mit dem äusseren? Ergänzt man die Stellen des Sehfeldes, welche auf die Eintrittsstelle des Sehnerven treffen, mit dem inneren Sinn? Hört man den Acoord als solchen mit dem äusseren? – Wir können aber weiter gehen und fragen: Ist es äussere Beobachtung, wenn man die Nervenenden der Haut mit zwei Zirkelspitzen berührt, die bald als einfach, bald als doppelt empfunden werden? Ist es Selbstbeobachtung, wenn man seine Aufmerksamkeit einem schmerzenden Hühnerauge zuwendet? Wenn man einen galvanischen Strom durch den Kopf gehen lässt und dabei subjektive Farben oder Töne wahrnimmt, in welches Gebiet ist das zu zählen? Mit »Innen« und »Aussen« kann man von vornherein nichts ausrichten, denn ich kann überhaupt keine Vorstellungen ausser mir haben, wenn auch die Theorie richtig sein sollte, nach welcher ich die wahrgenommenen Gegenstände nach Aussen versetze. Sehen und Denken ist gleich innerlich und gleich äusserlich. Will ich meine Gedanken noch einmal denken, so rufe ich jene Empfindungen in den Sprachwerkzeugen hervor, welche wir oben gleichsam als den Körper des Gedankens kennen lernten. Ich empfinde sie so äusserlich, als jede andre Empfindung, und was Geist, Inhalt, Bedeutung dieses Complexes feinster Empfindungen betrifft, so verhält es sich damit nicht anders, als mit dem ästhetischen Werth einer Zeichnung. Er ist von den Linien der Zeichnung nicht zu trennen, obwohl er etwas andres ist. Ein ähnlicher Gegensatz zwischen Form und Stoff der Empfindung kommt aber in unzähligen Abstufungen immer wieder vor, ohne dass ich bei einer bestimmten Klasse von Empfindungen auf einmal behaupten könnte, dass hier das Innere anfängt und das Aeussere aufhört
Wie arglos definirt Fortlage, das Beobachtungsfeld der Physiologie sei der Mensch, sofern derselbe mit dem äusseren Sinn wahrgenommen wird, das der Psychologie aber der Mensch, sofern er mit dem innern Sinn wahrgenommen wird! Die Meisten würden es zur Psychologie rechnen, wenn man die ersten Worte eines Kindes beobachtete, um daraus Schlüsse auf den Entwicklungsgang des Geistes zu ziehen; dagegen zur Physiologie, wenn man neugeborne Kinder mit einer Nadel sticht, oder kitzelt, um die Reflexbewegungen in ihrem Uebergang zur Willkür zu belauschen. Und doch braucht mau zu beiden Beobachtungen die gewöhnlichen Sinne, und nach Fortlages Definition den inneren Sinn noch dazu, weil in beiden Fällen das Gesehene und Gehörte erst der entgegenkommenden Deutung bedarf. – Ueberhaupt ist wohl nicht gar schwer einzusehen, dass die Natur aller und jeder Beobachtung dieselbe ist, und dass der Unterschied hauptsächlich nur darin liegt, ob eine Beobachtung so beschaffen ist, dass sie von Andern gleichzeitig oder später ebenfalls gemacht werden kann, oder ob sie sich jeder solchen Aufsicht und Bestätigung entzieht Die äussere Beobachtung würde nie zu einer sichern empirischen, oder gar zu einer exakten Wissenschaft geführt haben, wenn nicht jede Beobachtung hätte geprüft werden können. Die Elimination der Einflüsse vorgefasster Ansichten und Neigungen ist das wichtigste Element des exakten Verfahrens, und dies Element grade wird bei denjenigen Beobachtungen, die sich auf eigne Gedanken, Gefühle und Triebe richten, unanwendbar; es sei denn, dass man die eignen Gedanken etwa ganz unbefangen durch Schrift oder andre Mittel fixirt hat, und nun nachträglich den Vorstellungsverlauf prüft, wie den eines Fremden. Die Wahrheit zu sagen, so ist aber wohl diese Art von Selbstbeobachtung eben ihrer Vergleichs weisen Zuverlässigkeit wegen sehr wenig beliebt, und die ganze gepriesene Selbstbeobachtung scheint uns eben hauptsächlich ihrer Fehler wegen so beliebt zu sein. Denn wenn auch nicht, wie Kant befürchtete, Schwärmerei und Wahnsinn in ihrem Gefolge sind, so wird sie doch stets ein Mittel bleiben, den willkürlichsten Gebilden der Metaphysik den Schein empirischer Ableitung verleihen zu können.
Mit vollem Recht ist daher von neueren Psychologen die gewöhnliche, streng methodische Beobachtungsweise, welche in den Naturwissenschaften so treffliche Dienste gethan hat, auch auf die Psychologie angewandt worden. Hier hat Lotze durch seine »medicinische Psychologie« (1852) vortreffliche Dienste gethan; aber er liess sich doch durch den Titel seines Buches nicht abhalten, den empirisch-kritischen Untersuchungen hundert und siebenzig Seiten Metaphysik voranzuschicken, welche denn auch bewirkt haben, dass die Mediciner aus diesem Buche nicht den Nutzen zogen, den sie sonst daraus hätten gewinnen können. Später empfahl sich der jüngere Fichte den Naturforschern und Aerzten mit seiner Anthropologie (1856) gleichsam als philosophischer Hausarzt und Gewissensrath. Obwohl sein Buch durch logische Schwäche und anspruchsvolle Wiederholung veralteter Irrthtümer grade bei den Naturforschern dem Ansehen der Philosophie nur geschadet hat, so hat es doch in andern Kreisen viel dazu beigetragen, den nahen Zusammenhang der Psychologie und Physiologie dem allgemeinen Bewusstsein fühlbarer zu machen. Ja, es geschah in diesen Zeiten sogar das Wunder, dass die Epigonen der Hegel'schen Philosophie sich zum Theil einer nüchternen, fast naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise der Psychologie zuwandten. George schrieb ein tüchtiges Büchlein über die fünf Sinne; Schaller sah sich durch seinen Kampf gegen den Materialismus zur eingehenden Berücksichtigung des Physiologischen gezwungen. Später gaben beide Männer eine Psychologie heraus, und beide diese Werke lassen den Zug der Zeit nicht verkennen. Es verdient alles Lob, dass sie sich vollkommen bewusst sind, in der Hauptsache noch auf dem Boden der Spekulation zu stehen, während sie dies doch nicht mehr thun, als auch die Urheber der angeblich naturwissenschaftlichen Psychologie. Es muss dagegen immer wieder bekämpft werden, wenn die Prätension wieder auftaucht, als sei das spekulative Wissen ein höheres und glaubwürdigeres als das empirische, zu dem es sich einfach wie eine höhere Stufe zur niederen verhalte. Mögen unsre Leser sich's nicht verdriessen lassen. Es gehört eben zu den Kernwahrheiten einer hereinbrechenden neuen Periode der Menschheit – nicht dass man, wie Comte wollte, die Spekulation abschaffe, wohl aber, dass man ihr ein für allemal ihren Platz anweise, dass man wisse, was sie für das Wissen leisten kann und was nicht.
Schaller äussert sich über dies Verhältniss so: »Die Naturwissenschaft kann sich eines exakten Wissens rühmen, wenn sie sich damit begnügt, aus der Beobachtung der Erscheinungen die Gesetze derselben zu finden, und die quantitativen Verhältnisse, welche unmittelbar in diesen gefundenen Gesetzen enthalten sind, zu formuliren. Natürlich steht es jedem frei, mit diesem exakten Wissen sich zu begnügen; damit resignirt er aber auch nothwendig auf die Beantwortung aller der Fragen, mit welchen sich von jeher die Philosophie beschäftigt hat.« Nun dann! Wie verschieden die Philosophie die Fragen beantwortet hat, mit denen sie sich von jeher beschäftigt, ist bekannt genug. Die Uebereinstimmung, welche dagegen in den Naturwissenschaften herrscht, rührt aber nicht daher, dass sich diese Wissenschaften auf ein Feld beschränken, wo sich Alles von selbst versteht, sondern von der Anwendung einer Methode, deren ebenso kunstvoll entfaltete als naturgemässe Lehren sich der Menschheit erst nach langem Streben enthüllt haben, und von deren Anwendbarkeit man die Grenzen nicht kennt. Der Kernpunkt aller der zahlreichen Vorsichtsmassregeln dieser Methode liegt aber grade darin, dass der Einfluss der Subjektivität des Forschers neutralisirt wird. Die subjektive Natur des einzelnen Menschen ist es aber grade, welcher die Spekulation ihre jedesmalige Gestaltung verdankt. Auch hier müssen wir annehmen, dass in der ähnlichen Organisation aller Menschen und in der gemeinsamen Entwicklung der Menschheit ein objektiver Grund der einzelnen Erscheinungen liegt, etwa wie in der Baukunst, in der Musik bei verschiednen und getrennten Völkern ähnliche Grundzüge zur Erscheinung kommen. Wer sich nun damit begnügen will, von diesem geheimen Bautrieb der Menschheit erfasst, einen Tempel von Begriffen aufzubauen, welcher zwar dem gegenwärtigen Zustand der positiven Wissenschaften nicht sehr widerspricht, aber von jedem methodisch gewonnenen Fortschritt umgeworfen oder von jedem späteren Baulustigen bis auf den Grund abgerissen und in anderm Style neu gebaut wird, der mag sich freilich eines anmuthigen und in sich vollendeten Kunstwerkes rühmen, aber er verzichtet damit auch nothwendig darauf, das wahre und bleibende Wissen, auf welchem Felde es auch sei, auch nur um einen einzigen Schritt zu fördern. Was nun Jeder wählen will, muss ihm selbst überlassen bleiben. In der Regel wird Jedem das am höchsten scheinen, was er selbst treibt.
Ob nun die naturwissenschaftliche Methode auf die Psychologie anwendbar ist oder nicht, muss sich durch den Erfolg zeigen; es ist aber von vornherein nicht der mindeste Grund daran zu zweifeln. Wir wollen vorab bemerken, dass es nicht etwa nur die Grenzgebiete der Nervenphysiologie sind, welche eine exakte Behandlung zulassen. Wie unbestimmt man auch die Grenzen der Psychologie lassen mag, so wird man doch jedenfalls einstweilen nicht nur die Thatsachen des Empfindungslebens dahin rechnen, sondern auch die Erforschung des menschlichen Handelns und Redens, überhaupt aller Lebensäusserungen, soweit aus ihnen ein Schluss auf die Natur und den Charakter des Menschen möglich ist. Der klarste Beweis dafür ist das Bestehen einer Thierpsychologie, deren Material man doch nicht gut durch Beobachtung mittelst des »inneren Sinnes« aufbringen kann. Hier, wo die äussere Beobachtung uns zunächst nur Bewegungen, Geberden, Handlungen zeigt, deren Deutung dem Irrthum unterliegt, lässt sich dennoch ein vergleichsweise sehr exaktes Verfahren durchführen, da man das Thier leicht Experimenten aussetzen und in Lagen bringen kann, welche die genaueste Beobachtung jeder neuen Regung und die willkürliche Wiederholung oder Unterlassung jedes Reizes zu einer psychischen Thätigkeit möglich machen. Dadurch wird jene Grundbedingung alles Exakten gegeben, nach welcher der Irrthum nicht etwa unbedingt vermieden, wohl aber durch die Methode unschädlich gemacht werden kann. Ein genau beschriebenes Verfahren mit einem genau beschriebenen Thier kann immer wiederholt werden, wodurch die Deutung, wenn sie etwa an variable Nebenumstände anknüpft, sofort korrigirt und jedenfalls von dem Einfluss persönlicher Vorurtheile, die bei der sogenannten Selbstbeobachtung eine so grosse Rolle spielen, gründlich geläutert wird. Haben wir nun auch noch kein System der Thierpsychologie, so haben wir doch die Anfänge von Beobachtungen, die an Genauigkeit und Ergiebigkeit weit über den Standpunkt eines Reimarus und Scheitlin hinausführen. Die immer grössere Verbreitung der zoologischen Gärten unterstützt diese Studien, und wie sehr auch das freie Wesen der Thiere in Wald und Feld sich vom Zustande der Gefangenschaft unterscheiden mag, so ist doch eine auf den letzteren Zustand gegründete exakte Beobachtung deshalb nicht minder werthvoll, wo es sich um die Gewinnung allgemeiner Sätze handelt. Für die Fragen des Materialismus oder Idealismus wird sich übrigens vielleicht späterhin, der interessanteste Stoff da finden, wo man ihn bisher am wenigsten sucht: in der Beobachtung der niederen Thiere in Beziehung auf ihre Sinneswahrnehmungen. Schon Moleschott hat ja darauf hingewiesen, dass ein Räderthier mit einem Auge, das nur Hornhaut hat, andere Bilder von den Gegenständen aufnehmen muss, als die Spinne, die auch Linse und Glaskörper besitzt. So sehr wir in der Kritik des Zusammenhangs jener Stelle eine klare Vorstellung von dem Verhältniss des Objektes zum Subjekt vermissten, so gewiss ist doch eben diese Bemerkung von Bedeutung; ja, es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich hier in einem ungleich weiteren Sinne die merkwürdigsten Dinge enthüllen, wenn erst die Reihe der exakten Beobachtung an die Sinnesthätigkeit von Geschöpfen kommt, die so abweichend von uns organisirt sind. Man wird die Wirkung der verschiedenen Vibrationen, welche die Physik uns kennen lehrt, hier ganz unabhängig davon prüfen müssen, ob dieselben unsern Organen bestimmte Sinneswahrnehmungen verursachen oder nicht. Sollten sich z. B. Geschöpfe finden, welche das Licht riechen oder schmecken (d. h. durch Organe wahrnehmen, die unsern Geruchs- oder Geschmacksorganen ähnlich sind), oder welche durch eine für uns dunkle Wärmequelle Gesichtsbilder erhalten, so würde dadurch die Lehre von der Gestaltung der Sinnenwelt durch das Subjekt eine neue Unterstützung erhalten; sollte dagegen sich zeigen, dass es durch die ganze Mannigfaltigkeit der Thierwelt muthmasslich keine wesentlich andern Empfindungen giebt, als die unsrigen, so käme dies dem Materialismus zu gute.
Ein wichtiger Beitrag zu den Fundamenten einer zukünftigen Psychologie liegt ferner unzweifelhaft in den erst in neuester Zeit systematisch angestellten Versuchen an Neugebornen. Will man das Getriebe der psychischen Vorgänge erfassen, so muss man vor allen Dingen die ersten und einfachsten Elemente dieses Getriebes zu beobachten suchen. Es ist erstaunlich, mit welchem Phlegma unsre guten Philosophen über die Entstehung des Bewusstseins raisonniren können, ohne je das Bedürfniss zu empfinden, einmal in die Kinderstube zu gehen und genau zuzusehen, was sich etwa ereignet, das mit diesem Problem zusammenhängt. Aber so lange die Worte sich geduldig zu einem System zusammenfügen, die Studenten dies System geduldig niederschreiben, die Verleger es geduldig drucken lassen und das Publikum den Inhalt solcher Bücher für sehr wichtig hält, findet der Philosoph zu weiteren Schritten so leicht keine Veranlassung. Dann kommt endlich der Physiologe, giebt den Neugebornen Zucker- oder Chininlösung zu schmecken, hält ihnen ein Licht vor, oder erzeugt ein Geräusch vor ihren Ohren und verzeichnet auf das Genaueste, was er für Bewegungen, Muskelverzerrungen u. dgl. beobachtet hat. Er combinirt die Beobachtungen, die er bei zu früh gebornen oder voll ausgetragenen Kindern gemacht hat, merkt sich genau die Unterschiede und vergleicht damit die Erfahrungen der Anatomie und Pathologie. Er sucht endlich seine Beobachtungen so zu ordnen, dass er von der einfachen Reflexbewegung bis zu den sichern Zeichen des Bewusstseins aufsteigt, und schliesslich weiss er eine Masse Dinge, die der Philosoph auf seinem einsamen Studirzimmer nicht erfahrt, und die doch oft zur Entscheidung wichtiger Fragen ganz unentbehrlich sind. Wenn auch weiter nichts aus diesen empirischen Untersuchungen folgte, als die Thatsache, dass von der reinen Reflexbewegung bis zur bewussten Zweckthätigkeit der unmerklichste Uebergang stattfindet, und dass die Anfange der letzteren weit in das Leben vor der Geburt zurückweichen, so wäre das im Lichte wirklicher Wissenschaft schon weit mehr, als man aus ganzen Bänden speculativer »Untersuchungen« lernen kann.
Ein andrer hieher gehöriger Gegenstand neuerer Bemühungen ist die » Völkerpsychologie«, die jedoch noch keine hinlänglich bestimmte Form und Methode gewonnen hat, um eine Besprechung zu fordern, zumal da die Fragen des Materialismus mit diesem Gebiete in weniger enger Verbindung stehen. Bemerkenswerth ist jedoch, dass die Linguistik, die man mit Recht als eine der wesentlichsten Quellen der Völkerpsychologie betrachtet, sehr dazu beigetragen hat, die Sprache in den Bereich naturwissenschaftlicher Betrachtungen zu ziehen und dadurch die frühere Kluft zwischen den Wissenschaften des Geistes und denen der Natur auf einem neuen, bedeutungsvollen Punkte auszufüllen. Auch in dieser Beziehung ist die erste Hälfte unsres Jahrhunderts Epoche machend. W. v. Humboldt's berühmtes Werk über die Kawisprache und Bopp's Grammatik der Sanskritsprache und vergleichende Grammatik erschienen in der auch sonst so reichhaltigen Periode von 1820-1835. Seitdem machte die linguistische Forschung nach allen Seiten bewunderungswürdige Fortschritte, und Steinthal namentlich bemühte sich in einer Reihe bedeutender Schriften, das psychologische Wesen der Sprache in ein helles Licht zu stellen und der beständigen Verwechslung des logischen Denkens mit der an der Hand der Sprache vor sich gehenden Vorstellungsbildung einen Riegel vorzuschieben. Leider hindert ihn ein Rest metaphysischer Dogmatik (er glaubt an die mathematische Psychologie Herbart's und hält Lotze für den grössten Denker unsrer Zeit) seinen Untersuchungen noch grössere Erfolge zu sichern. Auffallend geringe Resultate für unsre Fragen haben bisher die zahlreichen wissenschaftlichen Reisen ergeben; dagegen ist durch die Zusammenstellung und Verarbeitung des ethnographischen und geschichtlichen Stoffes unverkennbar die naturwissenschaftliche Betrachtung der menschlichen Handlungen und Meinungen sehr gefördert worden. Wie erstaunlich verschroben und dürftig ist noch die Auffassungsweise des weiland so berühmten Prichard, wenn man sein Werk mit denen eines Waitz, Bastian, Radenhausen u. a. vergleicht! Und doch liegt der ganze Fortschritt nicht sowohl in der Benutzung fortgeschrittner Entdeckungen und genauerer Berichte, als vielmehr wesentlich in der Anwendung einer nach naturwissenschaftlicher Methode vergleichenden Analyse, die um so grössere Erfolge gewinnt, je unbefangener der Mensch mit allen andern Objekten der Naturforschung gleichmässig behandelt wird. Die erfreulichsten Resultate mussten sich deshalb da ergeben, wo es gelang, die Beobachtung auf Zahlen zu stützen und aus der methodischen Vergleichung von Zahlen, Zahlenreihen und Durchschnittswerthen allgemeine Sätze abzuleiten, wie dies namentlich in der Moralstatistik versucht wurde.
Im Grunde ist fast die ganze Statistik für die exakte Anthropologie zu verwerthen, und es ist ein Irrthum, wenn man glaubt, psychologische Schlüsse nur aus den Angaben über die Zahl und Art der Verbrechen und Processe, über die Verbreitung des Selbstmords oder der unehelichen Geburten, oder über die Verbreitung des Unterrichts, der Erzeugnisse der Literatur u. dgl. ableiten zu können. Bei glücklicher Combination der zu vergleichenden Werthe müssen sich aus den Ergebnissen des Handels und der Schifffahrt, aus der Transportstatistik der Eisenbahnen für Güter wie für Personen, aus den Durchschnittswerthen der Erndte-Erträge und des Viehbestandes, den Resultaten der Gütertheilung und der Verkoppelung und unzähligen andern Angaben eben so gut psychologische Schlüsse ziehen lassen, als aus den bevorzugten Thematen der Moralstatistik. Umgekehrt hat man, weil man die Mannigfaltigkeit der Verhältnisse und Motive nicht beachtete, oder weil man den Menschen noch zu sehr im Lichte einer veralteten Psychologie betrachtete, aus jenen Zahlen der Moralstatistik oft vorschnell Resultate gezogen. Der verdienstvolle Quételet hat namentlich durch den unglücklichen Ausdruck »Hang zum Verbrechen« (penchant vers le crime) viel falsche Vorstellungen verbreitet, obwohl bei ihm selbst dieser Ausdruck nur ein ziemlich gleichgültiger Name für einen an sich tadellosen mathematischen Begriff ist. So wenig irgend eine durch Abstraktion ermittelte Wahrscheinlichkeit als objektiv vorhandne Eigenschaft eines einzelnen Dinges betrachtet werden darf, welches zu der Klasse gehört, auf die die Abstraktion angewandt wurde, so wenig ist auch daran zu denken, durch einfache Ermittlung einer Wahrscheinlichkeitszahl einen Hang zum Verbrechen zu entdecken, der als wirklicher Faktor menschlicher Handlungen eine psychologische Bedeutung hätte. Man hat nun aber den Hang zum Verbrechen, die Neigung zum Selbstmord, den Trieb zur Ehe und andre solche statistische Begriffe nur zu oft wörtlich verstanden und aus der merkwürdigen Regelmässigkeit der jährlich wiederkehrenden Zahlen einen Fatalismus abgeleitet, der mindestens eben so sonderbar ist, als der Versuch Quételet's, die Willensfreiheit neben der allgemeinen Gesetzmässigkeit zu retten. Quételet lässt nämlich den freien Willen, d. h. natürlich den freien Willen nach der französisch-belgischen Schul-Ueberlieferung, innerhalb der grossen Kreise erwiesener Gesetzmässigkeit noch als accidentelle Ursache gelten, deren Wirkung, bald positiv, bald negativ eingreifend, sich nach dem Gesetz der grossen Zahlen neutralisiert. Es ist ja keinem Zweifel unterworfen, dass es solche individuelle Willensimpulse giebt, welche bald dahin wirken, dem Jahres-Budget der gewollten Handlungen eine Einheit hinzuzufügen, bald ihm eine zu entziehen, während die Durchschnittsziffer schliesslich besser stimmt, als eine östreichische Finanzrechnung. Wenn nun aber der Durchschnittswille, der zugleich die grosse Masse aller einzelnen Willensimpulse annähernd vertritt, durch die Einflüsse von Alter, Geschlecht, Klima, Nahrung, Arbeitsweise u. s. w. naturhistorisch bestimmt ist, würde man dann nicht auf jedem andern Gebiete schliessen, dass auch die individuelle Regung naturhistorisch bedingt ist? Würde man nicht voraussetzen, dass sie sich zu dem Durchschnittsergebniss nur so verhält, wie z. B. die Regenmenge des 1. Mai oder irgend eines andern Kalendertages zur durchschnittlichen Regenmenge des Jahres? In der That ist denn auch, von dem scholastischen Vorurtheile abgesehen, nicht der leiseste Grund vorhanden, für jene individuellen Schwankungen neben den zahlreichen accidentellen Ursachen, die wir naturhistorisch verfolgen können, noch eine besondere anzunehmen, welche das Eigentümliche hat, dass sie auf sehr enge Grenzen der Wirkung eingeschränkt, jedoch innerhalb derselben von der allgemeinen Causalverbindung der Dinge unabhängig ist. Es ist dies eine ganz überflüssige und in der That unnütz störende Annahme, auf die kein Vernünftiger, geschweige denn ein Quételet verfallen würde, wenn er nicht in den überlieferten Vorurtheilen einer modern zugestutzten Scholastik aufgewachsen wäre.
Da man in Deutschland längst an die Vorstellung einer Einheit von Geist und Natur gewöhnt war, so ist es natürlich, dass unsre Philosophen durch den Widerspruch zwischen den Resultaten der Statistik und der veralteten Doktrin der Willensfreiheit nicht so sehr afficirt wurden. A. Wagner hat es in seiner schönen Arbeit über die Gesetzmässigkeit in den scheinbar willkürlichen menschlichen Handlungen (Hamburg 1864) für nöthig gehalten, unsern Philosophen einen Vorwurf daraus zu machen, dass sie sich so wenig um Quételet und seine Forschungen gekümmert haben, allein dieser Vorwurf trifft nicht ganz die richtige Stelle. Männer wie Waitz, Drobisch, Lotze und zahlreiche andre, bei denen Wagner eine solche Berücksichtigung gesucht haben mag, sind über jenen Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit so weit hinaus, dass es ihnen gewiss schwer wird, sich auf einen Standpunkt zurückzuversetzen, für den hier noch ein ernsthaftes Problem vorliegt. Wir dürfen hier wohl auf das verweisen, was wir in dem Abschnitt über Kant über das Problem der Willensfreiheit gesagt haben. Zwischen der Freiheit als Form des subjektiven Bewusstseins und der Notwendigkeit als Thatsache objektiver Forschung kann so wenig ein Widerspruch sein, wie zwischen einer Farbe und einem Ton. Dieselbe Schwingung einer Saite giebt für das Auge das Bild der schwirrenden Bewegung, für die Rechnung eine bestimmte Zahl von Schwingungen in der Secunde und für das Ohr den einheitlichen Ton. Aber diese Einheit und jenes Vielfache widersprechen sich nicht, und wenn das gewöhnliche Bewusstsein der Schwingungszahl einen höheren Grad von Wirklichkeit zuschreibt als dem Ton, so ist dabei nicht viel zu erinnern. So interessant und förderlich auch Quételet's bahnbrechende Studien sind, so sind sie doch für den aufgeklärteren deutschen Philosophen nicht eben wegen ihrer Beziehungen zur Willensfreiheit interessant, da die empirische Bedingtheit und strenge Causalität aller menschlichen Handlungen, die Quételet nicht einmal vollständig zu behaupten wagt, seit Kant ohnehin schon als sicher und gewissermassen als eine bekannte und abgemachte Sache gilt. Auch das ist ganz in der Ordnung, dass dem materialistischen Fatalismus gegenüber die Bedeutung der Freiheit aufrecht erhalten wird, namentlich für das sittliche Gebiet. Denn hier gilt es nicht nur zu behaupten, dass das Bewusstsein der Freiheit eine Wirklichkeit ist, sondern auch, dass der mit dem Bewusstsein der Freiheit und Verantwortlichkeit verbundene Vorstellungsverlauf eine eben so wesentliche Bedeutung für unser Handeln hat, als diejenigen Vorstellungen, in welchen uns eine Versuchung, ein Trieb, ein natürlicher Reiz zu dieser oder jener Handlung unmittelbar zum Bewusstsein kommt. Wenn daher Wagner meint, der Grund der Nichtbeachtung der Moralstatistik liege in der Abneigung gegen Zahlen und Tabellen, so ist er entschieden im Irrthum. Wie sollte wohl eine solche Abneigung bei Drobisch zu suchen sein, der sich's nicht verdriessen liess, Tabellen für die hypothetischen Schwellenwerthe seiner mathematischen Psychologie zu entwerfen, und der in der That auch Quételets Forschungen nicht nur kennt, sondern sie in jeder Beziehung versteht und so weit eben seine Ueberschätzung der mathematischen Psychologie Raum dafür lässt, auch zu würdigen weiss? Aber wie schwer ist auch ein solcher deutscher Philosoph selbst für wissenschaftlich tüchtige Leser zu verstehen, wenn sie nicht die Systeme und ihre Geschichte im Zusammenhang vor Augen haben! So sagt Drobisch z. B. in einer kurzen und treffenden Kritik der moralstatistischen Folgerungen (Zeitschr. f. ex. Phil. IV, 329): »In allen solchen Thatsachen spiegeln sich nicht reine Naturgesetze ab, denen der Mensch wie einem Verhängniss unterliegen müsste, sondern zugleich die sittlichen Zustände der Gesellschaft, die durch die mächtigen Einflüsse des Familienlebens, der Schule, Kirche, Gesetzgebung bedingt, daher der Verbesserung durch den Willen der Menschen gar wohl fähig sind.« Wer sollte nicht ohne genauere Kenntniss der Herbart'schen Psychologie und Metaphysik darin eine apologetische Aeusserung für die alte Willensfreiheit finden, wie man sie von einem französischen Professor nicht anders erwarten würde? Und doch ist der menschliche Wille auch nach dem System, welchem Drobisch sich angeschlossen hat, nur eine in strenger Causalität erzeugte Folge von Zuständen der Seele, welche wieder in letzter Linie nur durch ihre Wechselwirkung mit andern realen Wesen erzeugt werden. –
In der That hätte Wagner schon durch Buckle, dessen geistvolle Studien ihm sonst mehrfach zur Anregung gedient haben, darauf gebracht werden können, dass die deutsche Philosophie in der Lehre von der Willensfreiheit nun einmal einen Vorsprung hat, der sie diese neuen Studien mit Gemüthsruhe betrachten lässt; denn Buckle fusst vor allen Dingen auf Kant, indem er dessen Zeugniss für die empirische Nothwendigkeit der menschlichen Handlungen anführt und die transscendentale Freiheitslehre bei Seite schiebt (vgl. seine Note am Schluss vom Kap. I.). – Obwohl sonach Alles, was der Materialismus aus der Moralstatistik schöpfen kann, schon von Kant eingeräumt ist und alles Uebrige im Voraus zurückgewiesen, so bleibt es dennoch für die praktische Geltung einer materialistischen Zeitrichtung gegenüber dem Idealismus keineswegs gleichgültig, ob die Moralstatistik und, wie wir wünschen, die gesammte Statistik, in den Vordergrund anthropologischer Studien gerückt wird, oder nicht. Denn die Moralstatistik richtet den Blick nach Aussen auf die wirklich messbaren Fakta des Lebens, während die deutsche Philosophie, trotz ihrer Klarheit über die Nichtigkeit der alten Freiheitslehre, ihren Blick noch immer gern nach Innen, auf die Thatsachen des Bewusstseins richtet. Nur mit dem ersteren Verfahren jedoch darf die Wissenschaft hoffen, allmählig Errungenschaften von dauerndem Werthe zu bekommen.
Freilich müssen dabei die Methoden noch ungleich feiner und namentlich die Schlussfolgerungen ungleich behutsamer werden, als sie durch Quételet geworden sind, und man kann in dieser Hinsicht die Moralstatistik als einen der feinsten Prüfsteine vorurtheilsfreien Denkens betrachten. So gilt es z. B. noch immer als Axiom, dass die Zahl der verbrecherischen Handlungen, welche in einem Lande jährlich vorkommen, als ein Maassstab der Sittlichkeit zu betrachten sei. Nichts kann verkehrter sein, sobald man einen Begriff der Sittlichkeit im Auge hat, welcher sich einigermassen über das Princip kluger Vermeidung der Strafen erhebt. Von vornherein schon müsste man mindestens, um eine der Sittlichkeit proportionale Zahl zu finden, die Zahl der strafbaren Handlungen dividiren durch die Zahl der Gelegenheiten oder Versuchungen zu strafbaren Handlungen; es ist ganz selbstverständlich, dass eine gewisse Zahl von Wechselfälschungen in einem Bezirk mit lebhaftem Wechselverkehr nicht dieselbe Bedeutung hat, wie dieselbe Zahl in einem gleich grossen Bezirk, dessen Wechselverkehr um die Hälfte geringer ist. Die Kriminalstatistik summirt aber nur die absolute Zahl der Fälle, und wo sie sich zu Verhältnisszahlen versteigt, nimmt sie höchstens die Bevölkerungszahl als Maassstab und nicht die Zahl der Handlungen oder Geschäfte, aus welchen durch Missbrauch Verbrechen hervorgehen können. Für manche Arten von Vergehungen ist aber auch der passende Nenner zur Herstellung einer richtigen Verhältnisszahl gar nicht zu finden, und doch besteht eine Verschiedenheit der ganzen moralischen Entwicklung zwischen den Bevölkerungsgruppen, die man vergleichen möchte, bei welcher gar nicht daran zu denken ist, dass die auf den Kopf berechnete Verhältnisszahl der Verbrechen in beiden Fällen dieselbe ethische und psychologische Bedeutung hätte. Da dieser Punkt von den Moralstatistikern noch nicht hinlänglich beachtet ist – es müsste denn in Guerry's neuestem Werke sein, dessen Benutzung mir leider nicht mehr möglich ist – so gestatte ich mir, hier kurz auf die wichtige Erscheinung der ethischen Evolution hinzuweisen, die ich zuerst in meinen Vorlesungen über Moralstatistik an der Bonner Universität (Winter 1857/58) entwickelt und seitdem stets bestätigt gefunden habe, ohne zu einer Veröffentlichung Zeit zu gewinnen. Vergleicht man nämlich den Zustand einer einförmig dahinlebenden Hirtenbevölkerung, wie wir sie etwa in mehreren Departements des innern Frankreich finden, mit dem Zustand einer Bevölkerung, die von der industriellen, literarischen, politischen Bewegung der Geister ergriffen ist, bei der das tägliche Leben an sich schon eine reichere Fülle von Vorstellungen erweckt, Handlungen und Entscheidungen fordert, Zweifel erregt und zu Gedanken spornt, und bei welcher noch dazu für den Einzelnen, wie für die Gesammtheit der Wechsel von Glück und Unglück grösser ist und aussergewöhnliche Krisen häufig werden, so sieht man leicht, dass bei der letzteren Bevölkerung, wie schon eine Betrachtung der Gesichter, der Gestalten, Trachten und Gewohnheiten zeigt, eine ungleich grössere Verschiedenheit zwischen den Individuen eintreten muss, und dass jedes einzelne Individuum einem viel stärkeren Wechsel der Einflüsse aller Art ausgesetzt ist. Da nun in ethischer Beziehung eine solche Evolution eben so gut edle wie unedle Eigenschaften fördert und ebensowohl ausserordentliche Handlungen der Aufopferung und uneigennützigen Nächstenliebe oder eines heroischen Kampfes für das Gemeinwohl hervorruft, als sie anderseits die Erscheinungen der Habsucht, des Egoismus und maassloser Leidenschaften erzeugt, so kann man einen ethischen Schwerpunkt der Handlungen dieser Bevölkerung fingiren, von welchem sich die einzelnen Akte bald nach der guten, bald nach der schlimmen Seite hin, bald in der Richtung irgend einer sittlich gleichgültigen Excentricität entfernen. Bei einer Bevölkerung von geringerer Evolution werden sich sämmtliche Handlungen näher um den Schwerpunkt gruppiren, d. h. es werden excentrische und ausnehmend edle Handlungen verhältnissmässig eben so selten sein, als sehr schlechte. Da nun das Gesetz sich um die grosse Masse der Handlungen gar nicht kümmert und nur nach gewissen Richtungen hin dem Egoismus und den Leidenschaften eine Schranke zieht, jenseit welcher die Verfolgung und Bestrafung beginnt; so ist es ganz natürlich, dass eine Bevölkerung von höherem Evolutionsgrade bei gleichem ethischen Schwerpunkt eine grössere Zahl unsittlicher Handlungen hat, theils weil auf den Kopf überhaupt mehr einzelne erhebliche Willensakte kommen, theils aber auch, weil die grössere Excentricität der Individuen sich sowohl im guten wie im schlechten Sinne weiter von der Mitte entfernt, während nur ein Theil der Handlungen letzterer Art zur Aufzeichnung kommt. Wie ein starker Wellenschlag auch bei niedrigem Wasserstand leichter über den Uferdamm spritzt als ein schwacher bei höherem, so muss es sich auch hier hinsichtlich der strafbaren Handlungen verhalten.
Eine weitere Ausführung dieses Gegenstandes ist hier nicht an der Stelle, und wir begnügen uns damit zu zeigen, wie weit die Moralstatistik noch davon entfernt ist, schon jetzt in das Innere der Psychologie einzudringen. Um so wichtiger sind jedoch die Aussenwerke, und man darf nie vergessen, dass, wenn nur eine scharfe Kritik für festen Boden sorgt, hier die geringfügigsten Kleinigkeiten einen bleibenden Werth gewinnen, während ganze Systeme der Spekulation; nachdem sie für einen Augenblick ein blendendes Licht verbreitet haben, für immer der Geschichte anheimfallen.
Wir haben bisher auf allen Gebieten gesehen, wie es die naturwissenschaftliche, die physikalische Betrachtung der Erscheinungen ist, welche auch über den Menschen und sein geistiges Wesen das Licht wirklichen Wissens, wenn auch zunächst noch in spärlichen Strahlen zu verbreiten vermag. Jetzt gelangen wir zu dem Felde menschlicher Forschung, auf welchem die empirische Methode ihre höchsten Triumphe gefeiert hat, und auf welchem sie dennoch zugleich bis unmittelbar an die Grenzen unsres Wissens fährt und uns von dem jenseitigen Gebiete wenigstens soviel verräth, dass wir von dem Vorhandensein eines solchen überzeugt sein müssen. Es ist die Physiologie der Sinnesorgane.
Während die allgemeine Nervenphysiologie von Fortschritt zu Fortschritt das Leben mehr und mehr als ein Produkt mechanischer Vorgänge erscheinen liess, führte die genauere Betrachtung der Empfindungsprocesse in ihrem Zusammenhang mit der Natur und Wirkungsweise der Sinnesorgane unmittelbar dazu, uns auch zu zeigen, wie mit derselben mechanischen Notwendigkeit, mit welcher sich Alles bisher gefügt hat, auch Vorstellungen in uns erzeugt werden, welche ihr eigenthümliches Wesen unsrer Organisation verdanken, obwohl sie von der Aussenwelt veranlasst werden. Um die grössere oder geringere Tragweite der Consequenzen dieser Beobachtungen dreht sich die ganze Frage vom Ding an sich und der Erscheinungswelt. Die Physiologie der Sinnesorgane ist der entwickelte oder der berichtigte Kantianismus und Kants System kann gleichsam als ein Programm zu den neueren Entdeckungen auf diesem Gebiete betrachtet werden. Einer der erfolgreichsten Forscher, Helmholtz, hat sich der Anschauungen Kants als eines heuristischen Princips bedient und dabei doch nur mit Bewusstsein und Consequenz denselbigen Weg verfolgt, auf welchem auch Andre dazu gelangten, den Mechanismus der Sinnesthätigkeit unsrem Verständniss näher zu bringen.
Anscheinend ist die Enthüllung jenes Mechanismus den Theorieen der Materialisten nicht ungünstig. Die Erweiterung der Akustik durch Zurückführung der Vokale auf die Wirkung mitschwingender Obertöne ist zugleich eine Ergänzung des mechanischen Princips der Naturerklärung. Der Klang als Produkt einer Mehrheit von Tonempfindungen bleibt eben doch eine Wirkung von Bewegungen des Stoffes. Finden wir das Hören bestimmter musikalischer Töne bedingt durch den Resonanzapparat des Corti'schen Organs oder die Lage der Gesichtsbilder im Räume bedingt durch das Muskelgefühl im Bewegungsapparat des Auges, so scheint es nicht, als ob wir diesen Boden verliessen. Nun kommt aber weiter das Stereoskop und zerlegt uns die Empfindung des Körperlichen beim Sehen in die Zusammenwirkung zweier Empfindungen von Flächenbildern. Man macht es uns wahrscheinlich, dass selbst das Wärmegefühl und das Druckgefühl des Tastorganes zusammengesetzte Empfindungen sind, die sich nur durch die Gruppirung der Empfindungs-Elemente unterscheiden. Wir lernen, dass die Farben-Empfindung, die Vorstellungen von der Grösse und Bewegung eines Objektes, ja selbst das Aussehen einfacher grader Linien nicht in unveränderter Weise vom gegebnen Objekt bedingt werden, sondern dass das Verhältniss der Empfindungen zueinander die Qualität jeder einzelnen bestimmt; ja, dass Erfahrung und Gewohnheit eben nicht nur auf die Deutung der Sinnesempfindungen Einfluss haben, sondern auf die unmittelbare Erscheinung selbst. Die Thatsachen häufen sich von allen Seiten und der Induktionsschluss wird unvermeidlich, dass unsre scheinbar einfachsten Empfindungen nicht nur durch einen Naturvorgang veranlasst werden, der an sich ganz etwas andres ist als Empfindung, sondern, dass sie auch unendlich zusammengesetzte Produkte sind; dass ihre Qualität keineswegs nur durch den äusseren Reiz und die stabile Einrichtung eines Organs bedingt ist, sondern durch die Constellation sämmtlicher andrängenden Empfindungen. Wir sehen sogar, wie bei concentrirter Aufmerksamkeit eine Empfindung von einer andern, disparaten, vollständig verdrängt werden kann.
Sehen wir nun zu, was sich vom Materialismus noch halten lässt!
Der antike Materialismus mit seinem naiven Glauben an die Sinnenwelt ist weg; auch die materialistische Vorstellungsweise vom Denken, welche das vorige Jahrhundert hegte, kann nicht mehr bestehen. Wenn für jede bestimmte Empfindung eine bestimmte Faser im Hirn vibriren soll, so kann die Relativität und Solidarität der Empfindungen und ihr Zerfallen in unbekannte Elementarwirkungen nicht bestehen; geschweige denn, dass man gar Gedanken lokalisiren könnte. Was aber sehr wohl mit den Thatsachen bestehen kann, ist die Annahme, dass alle jene Wirkungen der Constellation einfacher Empfindungen auf mechanischen Bedingungen beruhen, die wir bei hinlänglichem Fortschritt der Physiologie noch zu entdecken vermöchten. Die Empfindung und damit das ganze geistige Dasein kann immer noch das in jeder Sekunde wechselnde Resultat des Zusammenwirkens unendlich vieler unendlich mannigfach verbundner Elementarthätigkeiten sein, die an sich lokalisirt sein mögen, etwa wie die Pfeifen einer Orgel lokalisirt sind, aber nicht ihre Melodieen.
Wir schreiten nun mitten durch die Consequenz dieses Materialismus hindurch, indem wir bemerken, dass derselbe Mechanismus, welcher sonach unsre sämmtlichen Empfindungen hervorbringt, jedenfalls auch unsre Vorstellung von der Materie erzeugt. Er hat hier aber keine Bürgschaft bereit für einen besondren Grad von Objektivität. Die Materie im Ganzen kann so gut bloss ein Produkt meiner Organisation sein – muss es sogar sein – wie die Farbe oder wie irgend eine durch Contrasterscheinungen hervorgebrachte Modifikation der Farbe.
Hier sieht man nun auch, warum es gänzlich gleichgültig ist, ob man von einer geistigen oder physischen Organisation redet, weshalb wir so oft den neutralen Ausdruck brauchen durften; denn jede physische Organisation, und wenn ich sie unter dem Mikroskop sehen oder mit dem Messer vorzeigen kann, ist eben doch nur meine Vorstellung und kann sich in ihrem Wesen nicht von dem, was ich sonst geistig nenne, unterscheiden.
Zur Zeit Kant's lag die Erkenntniss der Abhängigkeit unsrer Welt von unsern Organen allgemein in der Luft. Man hatte den Idealismus des Bischofs Berkley nie recht verwinden können; allein wichtiger und einflussreicher wurde der Idealismus der Naturforscher und Mathematiker. D'Alembert zweifelte entschieden an der Erkennbarkeit der wahren Objekte; Lichtenberg, der Kant's System gern widersprach, weil sich seine Natur gegen jeden, auch den verstecktesten Dogmatismus sträubte, hatte den einen Punkt, um den es sich hier handelt, selbständig und unabhängig von Kant klarer erfasst, als irgend ein Nachfolger des letzteren. Er, der bei all seinem Philosophiren nie den Physiker verleugnete, erklärt es für unmöglich, den Idealismus zu widerlegen. Aeussere Gegenstände zu erkennen sei ein Widerspruch; es sei dem Menschen unmöglich aus sich heraus zu gehen. »Wenn wir glauben, wir sähen Gegenstände, so sehen wir bloss uns. Wir können von Nichts in der Welt Etwas eigentlich erkennen, als uns selbst und die Veränderungen, die in uns vorgehen.« »Wenn etwas auf uns wirkt, so hängt die Wirkung nicht allein von dem wirkenden Dinge ab, sondern auch von dem, auf welches gewirkt wird.«
Ohne Zweifel wäre grade Lichtenberg im Stande gewesen, uns auch die Mittelglieder zwischen diesen spekulativen Gedanken und den gewöhnlichen physikalischen Theorieen darzulegen; allein er fand dazu, wie zu so vielem andern weder Zeit noch Neigung. Erst geraume Zeit nach Kant geschah in dieser Beziehung in Deutschland der erste Schritt, und so scharf hier auch das Richtige auf der einen und der Irrthum auf der andern Seite liegt, so vermag doch noch heute die stumpfsinnige Tradition den trivialsten Irrthum mit der Glorie des Empirismus zu verklären, während eine faktische Bemerkung, die so einfach und bedeutungsvoll ist, wie das Ei des Columbus, als müssige Spekulation verkannt wird. Es handelt sich um die Theorie der Versetzung der Objekte nach Aussen in Verbindung mit dem berüchtigten Problem des Aufrechtsehens.
Johannes Müller war es, der die wahre Lösung dieses Problems zuerst, wenn auch noch nicht mit völliger Consequenz aussprach, indem er darauf hinwies, dass das Bild des eigenen Körpers ja durchaus unter denselben Verhältnissen erblickt wird, wie die Bilder der Aussendinge.
Wurde es den Menschen einst erstaunlich schwer, sich diese feste Erde, auf der wir stehen, das Urbild der Ruhe und Stetigkeit, bewegt zu denken, so wird es ihnen noch schwerer werden, in ihrem eignen Körper, der ihnen das Urbild aller Wirklichkeit ist, ein blosses Schema der Vorstellung zu erkennen, ein Produkt unsres optischen Apparates, welches eben so gut von dem Gegenstand unterschieden werden muss, der es veranlasst, wie jedes andre Vorstellungsbild.
Der Körper nur ein optisches Bild? – »Wir sehen ihn ja,« kann man darauf nicht mehr antworten, aber »wir haben ja die unmittelbare Empfindung unsrer Wirklichkeit!« »Weg mit den müssigen Spekulationen! Wer will mir abstreiten, dass dies meine Hand ist, die ich mit meinem Willen bewege, deren Empfindungen mir so unmittelbar zum Bewusstsein kommen?«
Man kann sich diese Expektorationen des natürlichen Vorurtheils nach Belieben weiter ausführen. Die entscheidende Gegenbemerkung liegt nicht fern. Unsre Empfindungen müssen nämlich in jedem Falle mit dem optischen Bilde erst verschmelzen, man mag nun zugeben, dass das Bild des Körpers nicht der Körper selbst ist, oder man mag an der naiven Vorstellung seiner Identität mit dem Objekte festhalten. Der operirte Blindgeborne muss die Zusammengehörigkeit seiner Gesichts- und seiner Tast-Empfindungen erst lernen. Wir haben hier nur eine Ideen-Association nöthig, und diese muss auf alle Fälle dasselbe Resultat ergeben, man möge über die Wirklichkeit des vorgestellten Köpers denken, wie man wolle.
Müller selbst gelangte, wie bereits angedeutet, nicht zur völligen Klarheit, und es will uns bedünken, als sei grade die Naturphilosophie mit ihrem Begriffsspiel von Subjekt und Objekt, von Ich und Aussenwelt ihm noch im Wege gewesen. Statt dessen schob man natürlich die richtige Bemerkung ihrer kolossalen Paradoxie wegen der Philosophie in die Schuhe. Man kann heutzutage vielfach das Urtheil hören, dass Müllers Schrift über die Physiologie des Gesichtssinnes (1826) eine noch unreife, von naturphilosophischen Ideen getrübte Erstlingsarbeit des berühmten Physiologen gewesen sei. Wir wollen deshalb die entscheidende Stelle über das Geradesehen nach dem Handbuch der Physiologie (2. Bd. 1840) geben:
»Nach optischen Gesetzen werden die Bilder in Beziehung zu den Objekten verkehrt auf der Netzhaut dargestellt ... Es entsteht nun die Frage, ob man die Bilder in der That, wie sie sind, verkehrt, oder ob man sie aufrecht, wie im Objekte, sehe. Da Bilder und afficirte Netzhauttheilchen eins und dasselbe sind, so ist die Frage physiologisch ausgedrückt, ob die Netzhauttheilchen beim Sehen in ihrer naturgemässen Relation zum Körper empfunden werden.«
»Meine Ansicht der Sache, welche ich bereits in der Schrift über die Physiologie des Gesichtssinnes entwickelte, ist die, dass, wenn wir auch verkehrt sehen, wir niemals als durch optische Untersuchungen zu dem Bewusstsein kommen können, dass wir verkehrt sehen und dass, wenn Alles verkehrt gesehen wird, die Ordnung der Gegenstände auch in keiner Weise gestört wird. Es ist, wie mit der täglichen Umkehrung der Gegenstände mit der ganzen Erde, die man nur erkennt, wenn man den Stand der Gestirne beobachtet, und doch ist es gewiss, dass innerhalb 24 Stunden Etwas im Verhältniss zu den Gestirnen oben ist, was früher unten war. Daher findet beim Sehen auch keine Disharmonie zwischen Verkehrtsehen und Geradefühlen statt; denn es wird eben Alles, und auch die Theile unsres Körpers verkehrt gesehen und Alles behält seine relative Lage. Auch das Bild unserer tastenden Hand kehrt sich um. Wir nennen daher die Gegenstände aufrecht, wie wir sie eben sehen. Eine blosse Umkehrung der Seiten im Spiegel, wo die rechte Hand den linken Theil des Bildes annimmt, wird schon kaum bemerkt und unsere Gefühle treten, wenn wir nach dem Spiegelbilde unsre Bewegungen reguliren, wenig in Widerspruch mit dem, was wir sehen. Z. B. wenn wir nach dem Spiegelbilde eine Schleife an der Halsbinde machen.« u. s. w. –
Diese Entwicklung lässt an Klarheit und Schärfe nichts zu wünschen übrig, und wir heben ausdrücklich hervor, dass sich an der ganzen Stelle keine Spur von jener Begriffsspielerei findet, welche die Naturphilosophie kennzeichnet. Wenn diese Ansicht auf der Naturphilosophie ruht, so ist der Einfluss derselben in diesem Falle zu loben. Möglich immerhin, dass die Beschäftigung mit der abstrakteren Philosophie in diesem Falle Müller wenigstens durch die Losreissung von der gedankenlosen Ueberlieferung gefördert hat. Wo aber bleiben die Consequenzen?
Wer einmal die einfache Wahrheit erkannt hat, dass das Geradesehen gar kein Problem ist, weil das Gesichtsbild unsres Körpers unter denselben Verhältnissen steht wie alle übrigen Bilder, für den sollte von einer Projektion der Bilder nach Aussen gar nicht mehr die Rede sein können. Weshalb sollten denn etwa alle übrigen Bilder in dem einzigen Bilde des Körpers stecken, da doch die Gegenstände der Aussenwelt keineswegs in dem wirklichen Körper stecken, der ja im Verhältniss zu unsrer Vorstellung auch Aussenwelt ist! Von einem Vorstellen der Bilder an der Stelle der vorgestellten Netzhaut kann sonach gar keine Rede sein. Es wäre dies die paradoxeste Annahme, die es giebt. Wie soll denn nun erst ein so fabelhafter Vorgang wie die sogenannte Projektion dazu gehören, um die vorgestellten Aussendinge ausserhalb des ebenfalls bloss vorgestellten Kopfes erscheinen zu lassen? Um hier überhaupt ein Erklärungsprincip zu suchen, muss man über, das ganze Verhältniss im Unklaren sein. Und Müller, der das Lösungswort des Räthsels in seinem Kapitel über Verkehrtsehen und Geradesehen so bestimmt ausgesprochen, kommt dennoch im folgenden Kapitel (»Richtung des Sehens«) auf die Lehre von der Projektion zurück und meint, die Gesichtsvorstellung könne »gleichsam als eine Versetzung des ganzen Sehfeldes der Netzhaut nach vorwärts gedacht werden.« Darin ist denn wieder die vorgestellte, von Spiegelbildern und von der Erscheinung andrer Personen oder von anatomischen Untersuchungen abstrahirte Netzhaut mit der wirklichen Netzhaut verwechselt. Und nimmermehr hätte Müller in diese Unklarheit zurückfallen können, wenn er nicht in den Begriffen der Naturphilosophie von Subjekt und Objekt befangen gewesen wäre. Sagt er doch in einem früheren Kapitel, das nach Aussen Setzen des Gesehenen sei nichts Anderes »als ein Unterscheiden des Gesehenen vom Subjekt, ein Unterscheiden des Empfundenen vom empfindenden Ich.«
Ein hohes Verdienst hat sich deshalb Ueberweg erworben, indem er nicht nur Müllers mit Unrecht vernachlässigte Bemerkung über das Geradesehen wieder an's Licht zog, sondern auch das Verhältniss des Körperbildes zu den andern Bildern der Aussenwelt vollkommen klar machte (Henle u. Pfeuffer III. V. 268 ff.). Ueberweg bedient sich zu diesem Zweck eines interessanten Vergleichs. Die Platte einer camera obscura wird, wie die Statue Condillac's, mit Leben und Bewusstsein begabt; ihre Bilder sind ihre Vorstellungen. Ein Bild von sich selbst kann sie an sich so wenig auf ihrer Platte darstellen, wie unser Auge sein eignes Bild auf der Netzhaut. Die Camera könnte aber hervorragende Theile, gliederartige Ansätze haben, die sich auf der Platte abmalten und zu einer Vorstellung würden. Sie kann andre, ähnliche Wesen spiegeln; kann vergleichen, abstrahiren und sich so zuletzt eine Vorstellung von sich selbst bilden. Diese Vorstellung wird dann irgend einen Ort auf der Platte einnehmen, da, wo die hervorragenden Glieder sich zu spiegeln pflegen, oder von wo diese Glieder auszugehen scheinen. Mit musterhafter Klarheit hat Ueberweg dargethan, dass von einer Projektion nach Aussen gar keine Rede sein kann, eben weil die Bilder ausserhalb des Bildes sind, genau wie wir uns die veranlassenden Gegenstände als ausserhalb unsres gegenständlichen Körpers denken müssen.
Eine Consequenz der Anschauung Ueberwegs ist, dass der ganze Raum, den wir wahrnehmen, eben nur der Raum unsres Bewusstseins ist, wobei es einstweilen dahingestellt bleibt, ob die Netzhaut selbst das Sensorium dieser Gesichtsbilder ist, oder ob ein solches weiter rückwärts im Gehirn zu suchen ist
Wollte man nun einstweilen annehmen, dass unsre Sinnlichkeit weiter nichts an den Dingen ändert, als was wir aus der Betrachtung des Bildes auf der Netzhaut entnehmen können, so würde sich daraus als wahrscheinliche Ansicht von der Wirklichkeit der Dinge eine fremdartig kolossale Vorstellung ergeben. Die Dinge stehen alle, sammt uns selbst, umgekehrt wie sie uns erscheinen, und die ganze Welt, welche ich sehe, liegt innerhalb meines Gehirns. Jenseit desselben dehnen sich in entsprechender Proportion die wirklichen Dinge aus.
Nicht um der Sache ihren abenteuerliehen Anstrich zu nehmen (denn dieser hat mit ihrer logischen Wahrscheinlichkeit nicht das mindeste zu schaffen) sondern nur um das Licht einen Schritt weiter zu tragen, bemerken wir zunächst, dass es eine Uebereilung wäre, die Entfernungsmaasse des fernsten Sternbildes als Maassstab zur Ausmessung unsres Sensoriums zu benutzen. Die Billionen von Meilen, welche sich aus der Rechnung für solche Entfernungen ergeben, sind nicht ein Produkt unsrer Sinnlichkeit, sondern unsres rechnenden Verstandes, und nur die Wirkung der Ideenassociation lässt die Vorstellung dieser Entfernungsmaasse mit dem sinnlichen Bilde der Sterne verschmelzen. Dem operirten Blindgebornen erscheinen die Gegenstände der Gesichtswahrnehmung erdrückend nah; das Kind greift nach dem Monde, und auch dem Erwachsenen liegt das Bild des Mondes oder der Sonne noch nicht eben ferner als das Bild der Hand, die den Mond mit einem Silbergroschen zudeckt. Er deutet dies Bild nur anders, und diese Deutung wirkt allerdings auf den unmittelbaren Eindruck des Gesehenen zurück. Die ganze Ausarbeitung der auf dem Sehen beruhenden Raumvorstellung ist ein ähnlicher Process der Association, wie die Verschmelzung der Tastempfindungen und der Gefühle mit den Gesichtsbildern. Um dies noch klarer zu machen, wollen wir Ueberwegs Vergleich einen andern hinzufügen.
In einem guten Diorama lässt die Täuschung in Beziehung auf die Perspektive des Bildes nichts zu wünschen übrig. Ich sehe den Vierwaldstätter See vor mir und erblicke die wohlbekannten Riesenhäupter der Ufergebirge und die dämmernden Höhen in der Ferne mit dem vollen Gefühl der Weite und Grossartigkeit dieser gewaltigen Naturscene, obwohl ich weiss, dass ich mich Wolfsstrasse 5 in Köln befinde, wo für solche Entfernungen in Wirklichkeit kein Raum ist. Nun läutet das Glöcklein in der Kapelle, und ich verbinde den Klang und das Bild zu der Einheit jenes feierlich-friedlichen Eindrucks, den ich in der Natur so oft genossen.
Jetzt nehme ich an, das Ich, das Bewusstsein oder sonst ein fingirtes Wesen sitze im Innern des Schädels und betrachte das Netzhautbild, einerlei durch welches Medium, wie das Bild eines Diorama's mit der herrlichsten Perspektive; zugleich belebt, wie das Bild der camera obscura. Das Wesen, welches ich fingire, ist sehr hingebend an seine Anschauung; es ist ausser dieses Bildes überhaupt keiner Gesichtswahrnehmung fähig; sieht von sich selbst nichts, auch nichts von dem Medium, durch welches es sieht. Wohl aber ist dasselbe fingirte Wesen noch anderer Eindrücke fähig; es hört, es fühlt u. s. w. – Was wird geschehen? – Der Schall wird wohl sehr leicht mit dem Gesichtsbilde verschmelzen. Bewegt sich ein Glöcklein auf dem Bilde in einiger Harmonie mit dem entsprechenden Klang, so ist die Association gleich fertig. Von sich selbst als Zuschauer und Zuhörer kann unser Wesen freilich auch so nichts erfahren.
Wir gehen weiter. Unser Wesen soll auch empfinden, allein auch die Empfindung soll ihm nur peripherische Vorstellungen geben; nichts von seiner eignen Lage und seiner nächsten Umgebung im Hirnschädel. Jetzt soll es in seinem Diorama ein Gebilde erblicken, dessen Bewegungen in vollständiger Harmonie mit seinen Empfindungen stehen, dessen Glieder zusammenfahren, wenn es einen Schmerz empfindet, sich ausstrecken, wenn es ein Verlangen empfindet. Dies Gebilde ist ganz im Vordergrund der Scene. Seine sonderbaren, unvollständig zusammenhängenden Theile fahren oft wie riesige Schatten über das ganze Sehfeld.
Andre Gebilde zeigen sich, perspektivisch kleiner, sehr ähnlich, aber vollständiger, zusammenhängender, als das grosse Wesen im Vordergrund, mit welchem die Empfindungen von Schmerz und Lust so unzertrennbar zusammenhängen. Unser Wesen combinirt, abstrahirt, und da es von sich selbst ausser seinen Empfindungen gar nichts weiss, so verschmelzen auch seine Empfindungen mit dem grossen unvollständigen Gebilde im Vordergrunde des Sehfeldes; durch die Vergleichung mit andern aber wird dies Gebilde in der Vorstellung rückwärts ergänzt. Nun haben wir Ich, Körper, Aussenwelt, Perspektive, Alles wie sich's gebührt, vom Standpunkt einer Art von Seele betrachtet, die durch die Ideen-Association zu einem Ich-Begriff kommt, ohne von ihrem wahren Selbst irgend etwas zu wissen. Der Ich-Begriff ist vorläufig, wie dies ursprünglich beim Menschen zu sein pflegt, vom Begriff des Körpers ganz unzertrennlich, und dieser Körper ist der Diorama-Körper, der Netzhautbild-Körper, verschmolzen mit dem Körper der Tastempfindungen, der Empfindungen von Schmerz und Lust
Wer nicht streng den Faden unsres Gedankenganges im Auge hat, könnte glauben, wir wollten uns hier plötzlich zu Lotze's punktueller Seele bekehren; allein man bedenke wohl, dass wir nur eine Fiktion machten. Wir personificirten einen Vorgang, und dieser Vorgang ist kein anderer, als die Verschmelzung der Sinneswahrnehmungen selbst. Die Mittelperson ist überflüssig. Dass sich ein ganzes Seelenleben in dem Sinne, in welchem wir dies Wort zu nehmen pflegen, aus den Empfindungen in ihrer unendlichen Abstufung, Mannigfaltigkeit und Zusammensetzung aufbauen kann, haben wir früher gesehen. Hier genügt es zu bemerken, dass uns nicht einmal ein einheitlicher Verbindungspunkt nöthig scheint, um die Funktionen aller Sensorien – falls es deren mehrere giebt – verschmelzen zu lassen. Wenn nur Verbindung überhaupt da ist.
Weiter hinaus hört freilich von dieser Seite der Boden sicherer Schlussfolgerung auf. Mag man sich mit Ueberweg die Sinnesbilder für sich als mit Bewusstheit begabt denken, wo dann eine Art von Gehirn-Aether zur Vermittlung und Aufbewahrung der Bilder zu Hülfe gezogen wird, oder mag man, wie ich es vorziehen würde, die Bewusstheit eben in der Wechselbeziehung, im Akt der Correspondenz von Empfindungsraum zu Empfindungsraum suchen: jedenfalls bleibt so viel gewiss, dass unsre Vorstellungen eben unsre Vorstellungen sind, dass von einem Problem der Projektion keine Rede sein kann, dass auch der Körper ein Vorstellungsbild ist, wie alle andern, und dass die Wirklichkeit ausserhalb unsres Vorstellungsraumes von dem Inhalt des letzteren zu unterscheiden ist. Wie gross oder wie klein die Unterschiede sind, bleibt hier noch dahingestellt
Wer nun nicht mit Czolbe die extremsten Consequenzen des Glaubens an die Erscheinungswelt zu ziehen wagt, wird heutzutage leicht zugeben, dass die Farben, Klänge, Gerüche u. s. w. nicht den Dingen an sich zukommen, sondern dass sie eigenthümliche Erregungsformen unsrer Sinnlichkeit sind, welche durch entsprechende aber qualitativ sehr verschiedene Vorgänge in der Aussenwelt hervorgerufen werden. Es würde zu weit führen, an die zahllosen Thatsachen hier zu erinnern, welche diese Lehre bestätigen; nur einige Umstände müssen wir hervorheben, welche ihr Licht weiter werfen, als die grosse Masse der physikalischen und physiologischen Beobachtungen.
Zunächst bemerken wir, dass das Grundprincip der Sinnesapparate, namentlich von Auge und Ohr, darin besteht, dass aus dem Chaos von Vibrationen und Bewegungen jeder Art, von welchen wir uns die umgebenden Media erfüllt denken müssen, gewisse Formen einer in bestimmten Zahlen Verhältnissen wiederholten Bewegung herausgehoben, relativ verstärkt und so zur Perception gebracht werden, während alle übrigen Formen der Bewegung ohne irgend einen Eindruck auf die Empfindung zu machen, vorübergehen. Es ist also zunächst nicht nur auszusagen, dass Farbe, Klang u. s. w. Vorgänge im Subjekt sind, sondern auch, dass die veranlassenden Bewegungen in der Aussenwelt durchaus nicht die Rolle spielen, welche sie für uns in Folge ihrer Wirkung auf die Sinne haben müssen.
Der verschwindend hohe Ton und die gar nicht mehr hörbare Luftvibration sind im Objekt nicht durch eine solche Kluft geschieden, wie sie zwischen Hörbarkeit und Unhörbarkeit besteht. Die ultravioletten Strahlen haben nur für uns eine verschwindende Bedeutung, und alle die zahlreichen Vorgänge in der Materie, von denen wir nur indirekt Kenntniss erhalten, die Elektricität, der Magnetismus, die Schwerkraft, die Spannungen der Affinität, Cohäsion u. s. w. üben ihren Einfluss auf das Verhalten der Materie so gut wie die direkt wahrnehmbaren Schwingungen. Denkt man sich Atome, so können diese nicht nur nicht leuchten, klingen u. s. w., sondern sie haben tatsächlich nicht einmal die Bewegungsformen, welche den Farben und Tönen entsprechen, die wir wahrnehmen. Vielmehr haben sie nothwendig irgend welche höchst verwickelte Bewegungsformen, die ans unzähligen andern resultiren. Unsre Sinnesapparate sind Abstraktions-Apparate; sie zeigen uns irgend eine bedeutende Wirkung einer Bewegungsform, die im Objekt an sich gar nicht einmal vorhanden ist.
Sagt man uns, die Abstraktion führe ja auch im Denken zur Erkenntniss der Wahrheit, so bemerken wir, dass dies nur eine relative Richtigkeit hat, sofern nämlich eben von derjenigen Erkenntniss die Rede ist, die mit Notwendigkeit aus unsrer Organisation hervorgeht und sich deshalb niemals widerspricht. Wir kehren den Spiess um, indem wir hier noch nach materialistischer Methode das angebliche Uebersinnliche, das Denken, aus dem Sinnlichen erklären. Ist die Abstraktion, welche unsre Sinnes-Apparate mit ihren Stäbchen, Zapfen, Corti'schen Fasern u. s. w. zu Stande bringen, nachweisbar eine Thätigkeit, welche durch Beseitigung der grossen Masse aller Einwirkungen ein ganz einseitiges, von der Structur der Organe bedingtes Weltbild schafft, so wird es sich vermuthlich mit der Abstraktion im Denken ebenso verhalten.
Die neuere Beobachtung hat sehr interessante Beziehungen zwischen der Vorstellung und der scheinbar unmittelbaren Sinneswahrnehmung entdeckt, und es ist bisweilen ein ziemlich unfruchtbarer Streit darüber geführt worden, ob ein beobachtetes Faktum physiologisch oder psychologisch zu erklären sei. So bei der Erscheinung des stereoskopischen Sehens. Für die Grundfragen, mit denen wir es zu thun haben, ist es sehr gleichgültig, ob z. B. die Lehre von den identischen Stellen der Netzhaut in der Erklärung der Erscheinungen ihren Platz behauptet oder nicht Forschern von rein physikalischer, wenn auch nicht eben materialistischer Richtung ist es unangenehm, auf ein scheinbar so vages Ding wie die »Vorstellung« eine Thatsache der anscheinend unmittelbaren Sinnesthätigkeit zurückzuführen. Sie überlassen dergleichen Theorieen lieber den Philosophen und suchen selbst einen Mechanismus zu finden, der die Sache mit Notwendigkeit hervorbringt. Angenommen aber, sie hätten diesen gefunden, so würde damit keineswegs bewiesen sein, dass die Sache mit der »Vorstellung« nichts zu thun hätte, sondern es würde vielmehr zugleich ein wichtiger Schritt geschehen sein, um das Vorstellen selbst mechanisch zu erklären. Ob diese Erklärung etwas weiter zurück liegt oder nicht, ist vorläufig gleichgültig; ebenso, ob der Mechanismus, der noch zu entdecken ist, angeboren oder durch die Erfahrung entstanden und mit ihr wieder veränderlich ist. Ungemein wichtig ist dagegen, dass solche Fundamente der Sinnlichkeit, wie das körperliche Sehen, die Erscheinung des Glanzes u. dgl. in ihre Bedingungen zerlegt und als Produkt verschiedner Umstände nachgewiesen werden. Damit muss allmählig die bisherige Auffassung des Körperlichen und Sinnlichen selbst eine andre werden. Es ist einstweilen ganz gleichgültig, ob die Erscheinungen der Sinnenwelt auf die Vorstellung oder auf den Mechanismus der Organe zurückgeführt werden, wenn sie sich nur als Produkte unsrer Organisation im weitesten Sinne des Wortes erweisen. Sobald dies nicht nur in Beziehung auf einzelne Erscheinungen, sondern mit genügender Allgemeinheit erwiesen ist, ergiebt sich folgende Reihe von Schlüssen:
Die Sinnenwelt ist ein Produkt unsrer Organisation.
Unsre sichtbaren (körperlichen) Organe sind gleich allen andern Theilen der Erscheinungswelt nur Bilder eines unbekannten Gegenstandes.
Unsre wirkliche Organisation bleibt uns daher ebenso unbekannt, wie die wirklichen Aussendinge. Wir haben stets nur das Produkt von Beiden vor uns.
Wir gelangen gleich zu einer weiteren Reihe von Schlüssen. Zunächst noch einige Bemerkungen über den Zusammenhang von Sinneseindruck und Vorstellung. – Beim stereoskopischen Sehen liessen wir es dahingestellt, wo die Mechanik der hieher gehörigen Erscheinungen eigentlich liege. Wir haben aber eine Gruppe höchst merkwürdiger Erscheinungen, bei denen das Eingreifen eines Schlusses, und zwar eines Fehlschlusses, in die unmittelbare Gesichtsempfindung unverkennbar scheint. Bekanntlich ist die Eintrittsstelle des Sehnerven im Auge unempfindlich gegen das Licht; sie bildet einen blinden Fleck auf der Netzhaut, dessen wir uns übrigens nicht bewusst sind. Nicht nur ergänzt ein Auge das, was dem andern fehlt – sonst müsste jeder Einäugige den blinden Fleck kennen – sondern es tritt noch eine Ergänzung von wesentlich andrer Art hinzu.
Eine gleichförmig gefärbte Fläche, auf der man einen Fleck von irgend einer andern Farbe anbringt, erscheint ununterbrochen in der Grundfarbe, sobald man diesen Fleck durch richtige Einstellung der Augenachse auf den blinden Fleck der Netzhaut fallen lässt. Die Gewohnheit der Ergänzung einer Fläche stellt sich also hier unmittelbar als sinnliche Farbenempfindung dar. Ist die Grundfarbe roth, so wird auch an der blinden Stelle roth – wenn der Ausdruck richtig verstanden wird – gesehen. Diese Empfindung lässt sich nicht auf die abstrakte Annahme zurückführen, dass dieser Punkt sich von der übrigen Fläche nicht unterscheiden werde, auch nicht auf die leicht unterscheidbare Natur eines Phantasiebildes, sondern man sieht, so deutlich wie man überhaupt mit einer vom gelben Fleck ziemlich weit entfernten Stelle der Netzhaut zu sehen pflegt, die Farbe, die nach der blossen Einrichtung des äusseren Organs an der betreffenden Stelle durchaus nicht erscheinen könnte.
Man hat nun dies Experiment durch viele Variationen verfolgt. Man bringt auf der weissen Fläche einen schwarzen Stab an und lässt die Mitte desselben auf den blinden Fleck fallen. Der Stab erscheint vollständig, einerlei, ob er vollständig ist, oder ob er an der blinden Stelle unterbrochen ist. Das Auge macht gleichsam einen Wahrscheinlichkeitsschluss, einen Schluss aus der Erfahrung, eine unvollständige Induktion. Wir sagen das Auge macht diesen Schluss. Der Ausdruck ist absichtlich nicht bestimmter, weil wir damit nur jenen gesammten Kreis der Einrichtungen und Vorgänge vom Centralorgan bis zur Netzhaut kurz bezeichnen wollen, dem man auch die Thätigkeit des Sehens zuschreibt. Wir halten es für methodisch unzulässig, in diesem Falle das Schliessen und das Sehen als zwei gesonderte Akte von einander zu trennen. Dies kann man nur in der Abstraktion thun. Wenn man an dem wirklichen Vorgang nicht künstlich deutet, so ist in diesem Falle das Sehen selbst ein Schliessen und der Schluss vollzieht sich in Form einer Gesichtsvorstellung, wie er sich in andern Fällen in der Form sprachlich ausgedrückter Begriffe vollzieht
Dass hier wirklich Sehen und Schliessen eins sind, zeigt schon die blosse Erwägung, dass man ja gleichzeitig durch Vermittlung von Begriffen mit vollkommner Sicherheit das Gegentheil von demjenigen schliesst, was die unmittelbare Sinneserscheinung giebt. Gehörte dem Organe des Sehens bloss die sinnliche Empfindung als solche an; geschähe alles Schliessen in einem besondern Organ des Denkens, so könnte man diesen Widerspruch zwischen Schliessen und Schliessen schwerlich erklären, ganz abgesehen von der besondren Schwierigkeit des unbewussten Denkens. Diese letztere ist sogar einer allgemeinen Lösung näher gebracht, wenn wir annehmen, dass Operationen, die mit dem Schliessen in ihren Bedingungen und in ihrem Resultat identisch sind, mit der blossen Sinnesthätigkeit einheitlich verschmolzen sein können.
Wie gross in der That die Einheit des Schliessens und des Sehens in diesen Erscheinungen ist, zeigt der Erfolg einer Variation des Experimentes, durch welche gleichsam, das Auge auf die Mangelhaftigkeit seiner Prämissen aufmerksam gemacht wird. Man stellt ein Kreuz aus verschiednen Farben her und lässt die Stelle, auf welcher die beiden Stäbe sich decken, den Kreuzungspunkt, auf den blinden Fleck fallen. Welchen Arm soll die Vorstellung nun ergänzen, da beide gleiches Anrecht geltend machen? Man nimmt gewöhnlich an, dass in diesem Falle die Farbe, welche den lebhaftesten psychischen Eindruck macht, durchdringe, dass auch wohl ein Wechsel eintrete, indem bald der eine, bald der andre Stab durchgezogen erscheint. Allerdings kommen diese Erscheinungen vor, allein sie sind schon von Anfang an weniger deutlich als bei dem einfachen Experiment, und bei häufiger Wiederholung und Aenderung des Versuches hört zuletzt das Sehen an dieser Stelle ganz auf. Es gelingt nicht mehr, weder den einen noch den andern Arm durchgezogen zu sehen. Das Auge kommt gleichsam zu dem Bewusstsein, dass an dieser Stelle nichts zu sehen ist und corrigirt seinen ursprünglichen Trugschluss.
Ich will nicht unterlassen hier zu bemerken, dass ich nach sehr langer Beschäftigung mit diesen Versuchen überhaupt die ursprüngliche Frische der ergänzten Farben und Formen abnehmen sah; das Auge schien auch bei den einfacheren Experimenten misstrauisch geworden zu sein. Nach längerer Unterbrechung der Versuche fand sich die ursprüngliche Sicherheit der Ergänzung wieder ein.
Drobisch (Zeitschr. f. ex. Phil. IV., 334 ff.) hat geglaubt, Werth darauf legen zu dürfen, dass Helmholtz die Sinneswahrnehmungen aus psychischen Thätigkeiten ableitet; es liege darin nichts Geringeres als eine »Zurückweisung des Materialismus«. Allein wenn Helmholtz uns zeigt, dass die Wahrnehmungen so zu Stande kommen, als wenn sie durch Schlüsse gebildet wären, so können darauf folgende zwei Sätze angewandt werden:
Wir haben bisher für die Eigentümlichkeiten der Wahrnehmung stets physische Bedingungen gefunden, also müssen wir vermuthen, dass auch die Analogie mit Schlüssen auf physischen Bedingungen beruhe.
Giebt es im rein sinnlichen Gebiet, wo für alle Erscheinungen organische Bedingungen anzunehmen sind, Vorgänge, welche mit den Verstandesschlüssen wesensverwandt sind, so wird es dadurch bedeutend wahrscheinlicher, dass auch die letzteren auf einem physischen Mechanismus beruhen. –
Hätte die Sache nicht noch eine ganz andre Seite, so würde der Materialismus in den hieher gehörigen Untersuchungen nur eine neue Stütze finden. Die Zeit, wo man sich einen Gedanken als Secret eines besondern Gehirntheils oder als Schwingung einer bestimmten Faser denken konnte, ist freilich vorüber. Man wird sich heute schon daran gewöhnen müssen, die verschiednen Gedanken als verschiedne Thätigkeitsformen derselben mannigfach zusammenwirkenden Organe aufzufassen. Was könnte nun dem Materialismus willkommener sein, als der Nachweis, dass bei Gelegenheit der Sinneswahrnehmungen in unserm Körper sich ganz unbewusste Vorgänge ereignen, welche in ihrem Resultat vollständig mit den Schlüssen übereinstimmen? Sind nicht dadurch die höchsten Funktionen der Vernunft einer wenigstens theilweisen materiellen Erklärung um einen bedeutenden Schritt näher geführt? Wenn man den Materialisten mit dem unbewussten Denken kommt, so haben sie dagegen nicht nur die Waffe des gesunden Menschenverstandes, dem darin ein Widerspruch zu liegen scheint, sondern sie können sofort so schliessen: Was unbewusst ist, muss körperlicher Natur sein, da man ja die ganze Annahme einer Seele nur auf das Bewusstsein gründet. Kann der Körper ohne das Bewusstsein logische Operationen vollziehen, die man bisher nur dem Bewusstsein glaubte zuschreiben zu dürfen, dann kann er das Schwierigste, was die Seele leisten soll. Es hindert uns dann nichts mehr, auch das Bewusstsein dem Körper als Eigenschaft zuzuschreiben.
Der einzige Weg, welcher sicher über die Einseitigkeiten des Materialismus hinausführt, geht mitten durch seine Consequenzen hindurch. Es sei denn also, dass es im Körper einen physischen Mechanismus giebt, welcher die Schlüsse des Verstandes und der Sinne hervorbringt; dann stehen wir unmittelbar vor den Fragen: Was ist der Körper? Was ist der Stoff? Was ist das Physische? Und die heutige Physiologie muss uns, so gut wie die Philosophie, auf diese Fragen antworten, dass dies Alles nur unsre Vorstellungen sind; nothwendige Vorstellungen, nach Naturgesetzen erfolgende Vorstellungen, aber immerhin nicht die Dinge selbst.
Die consequent materialistische Betrachtung schlägt dadurch sofort um in eine consequent idealistische. Es ist keine Kluft in unserem Wesen anzunehmen. Wir haben nicht einzelne Funktionen unsres Wesens einer physischen, andre einer geistigen Natur zuzuschreiben, sondern wir sind in unserm Recht, wenn wir für Alles, auch für den Mechanismus des Denkens, physische Bedingungen voraussetzen und nicht rasten, bis wir sie gefunden haben. Wir sind aber nicht minder in unserm Recht, wenn wir nicht nur die uns erscheinende Aussenwelt, sondern auch die Organe, mit denen wir diese auffassen, als blosse Bilder des wahrhaft Vorhandenen betrachten. Das Auge, mit dem wir zu sehen glauben, ist selbst nur ein Produkt unsrer Vorstellung, und wenn wir finden, dass unsre Gesichtsbilder durch die Einrichtungen des Auges hervorgerufen werden, so dürfen wir nie vergessen, dass auch das Auge sammt seinen Einrichtungen, der Sehnerv sammt dem Hirn und all den Structuren, die wir dort noch etwa als Ursachen des Denkens entdecken möchten, nur Vorstellungen sind, die zwar eine in sich selbst zusammenhängende Welt bilden, jedoch eine Welt, die über sich selbst hinausweist. Dabei ist freilich noch zu untersuchen, inwiefern es wahrscheinlich ist, dass sich die Erscheinungswelt von der Welt der veranlassenden Dinge so total unterscheidet, wie etwa Kant es wollte, indem er Raum und Zeit als bloss menschliche Formen der Anschauung ansah, oder ob wir denken dürfen, dass wenigstens die Materie mit ihrer Bewegung objektiv vorhanden und Grund aller übrigen Erscheinungen ist, wie sehr auch diese Erscheinungen von den wirklichen Formen der Dinge abweichen mögen. Ohne Objektivität von Raum und Zeit kann in keinem Falle etwas unsrer Materie und der Bewegung Aehnliches gedacht werden. Sonach bleibt es die letzte Zuflucht des Materialismus zu behaupten, dass die räumliche und zeitliche Ordnung den Dingen an sich zukomme.
Sehen wir von dem sittlichen Beweis für die Wirklichkeit der Erscheinungswelt, wie wir ihn bei Czolbe finden, hier ab, so hat keiner unsrer Materialisten diesen Beweis zu führen versucht; dagegen finden wir einen beachtenswerthen, aber nach unsrer Ueberzeugung nicht stichhaltigen Versuch in Ueberweg's Logik, §§. 38-44. Ueberweg bestreitet mit Recht die Art, in welcher Kant Raum und Zeit als Form der Wahrnehmung von dem Stoff derselben unterschied. Er geht sodann von dem Satze aus, dass die innere Wahrnehmung ihre Objekte so, wie sie an sich sind, mit materialer Wahrheit aufzufassen vermöge. Mit musterhafter Klarheit unterscheidet er das Wesen der Empfindung von dem Wesen der Dinge, durch welche dieselbe veranlasst wird. Nur das Wesen der psychischen Gebilde in unserm eignen Bewusstsein, glaubt Ueberweg, vermöchten wir genau so zu erkennen, wie es ist. Da nun unsre innere Erfahrung zeitlich verläuft, so hält er die Wirklichkeit der Zeit für erwiesen. Die Zeitordnung setzt aber die Gesetze der Mathematik voraus und diese setzen den Raum von den drei Dimensionen voraus, womit der Gang des Beweises abschliesst.
Abgesehen davon, dass der Fundamentalsatz wenigstens hinsichtlich der Reproduktion gerechten Bedenken unterliegt, scheint mir ein ganz bestimmter Fehler darin zu liegen, dass die Realität der Zeit in uns auf die Realität der Zeit ausser uns übertragen wird. In uns hat nicht nur die Zeit Realität, sondern auch der Raum, ohne dass dazu eine Vermittlung durch den Zusammenhang der mathematischen Gesetze nöthig wäre. Nun müssen wir allerdings aus dem Zusammenhang der Dinge in uns mit Notwendigkeit auf einen correspondirenden Zusammenhang der Dinge ausser uns schliessen; allein dieser Zusammenhang braucht eben keineswegs Uebereinstimmung zu sein. Wie sich die Vibrationen der berechneten Erscheinungswelt zu den Farben der unmittelbar gesehenen verhalten, so könnte sich auch eine für uns ganz unfassbare Ordnung der Dinge zu der räumlich-zeitlichen Ordnung verhalten, die in unsern Wahrnehmungen herrscht.
Sonne, Mond und Sterne sammt ihren regelmässigen Bewegungen und sammt dem ganzen Universum sind ja nach Ueberwegs eigner genialer Bemerkung nicht nach Aussen reflektirte Bilder, sondern Elemente, gleichsam Theile unsres Innern. Wenn Ueberweg sagt, sie seien Bilder in unserm Gehirn, so darf man dabei nicht vergessen, dass unser Gehirn auch nur ein Bild oder die Abstraktion eines Bildes ist, nach den Gesetzen entstanden, welche unser Vorstellen beherrschen. Es ist ganz in der Ordnung, wenn man zur Vereinfachung der wissenschaftlichen Reflexion in der Regel bei diesem Bilde stehen bleibt; allein man darf nie vergessen, dass man damit nur eine Relation zwischen den übrigen Vorstellungen und der Gehirnvorstellung hat, aber keinen festen Punkt ausserhalb dieses subjektiven Gebietes. Es lässt sich über diesen Kreis durchaus nicht anders hinauskommen, als durch Vermuthungen, die sich denn auch den gewöhnlichen Regeln der Logik des Wahrscheinlichen unterwerfen müssen.
Nun sehen wir schon, wie gross der Unterschied zwischen einem unmittelbar gesehenen Objekt und einem nach den Lehren der Physik gedachten Objekt ist; wir sehen schon auf dem engen Gebiet, innerhalb dessen eine Erscheinung die andre corrigiren und ergänzen kann, wie ungeheuren Veränderungen das Objekt unterliegt, wenn es von einem Medium mit seinen Wirkungen in ein andres hinübertritt: müssen wir da nicht schliessen, dass der Uebertritt von Wirkungen eines Dinges an sich in das Medium unsres Seins muthmasslich ebenfalls mit bedeutenden, vielleicht noch ungleich bedeutenderen Umgestaltungen verbunden ist?
Die mathematischen Gesetze können hieran nichts ändern.
Denken wir uns, um dies zu sehen, einen Augenblick ein Wesen, welches sich den Raum nur in zwei Dimensionen vorstellen kann. Es möge ganz nach der Analogie von Ueberwegs beseelter Camera-Platte gedacht werden. Würde nicht für dies Wesen auch ein mathematischer Zusammenhang der Erscheinungen gegeben sein, obwohl es niemals den Gedanken unsrer Stereometrie fassen könnte? Der relativ wirkliche Raum, d. h. unser Raum mit seinen drei Dimensionen kann seiner Erscheinungswelt gegenüber als »Ding an sich« gedacht werden. Dann ist der mathematische Zusammenhang zwischen der veranlassenden Weit und der Erscheinungswelt dieses Wesens ganz ungestört, und doch kann aus der Flächen-Projektion im Bewusstsein des letzteren kein Schluss auf die Natur der veranlassenden Dinge gezogen werden.
Man wird leicht sehen, dass hiernach auch Wesen denkbar sind mit raumähnlichen Anschauungen von mehr als drei Dimensionen, obwohl wir uns dergleichen schlechterdings nicht anschaulich vorstellen können. – Es ist überflüssig solche Möglichkeiten weiter aufzuzählen; vielmehr genügt es vollständig zu constatiren, dass ihrer unendlich viele sind, und dass die Gültigkeit unsrer Anschauung von Raum und Zeit für das Ding an sich daher äusserst zweifelhaft erscheint. Damit ist nun freilich kein Materialismus irgend welcher Art mehr zu behaupten; denn wenn auch unsre auf sinnliche Anschauungen angewiesene Forschung mit unvermeidlicher Consequenz darauf ausgehen muss, für jede geistige Regung entsprechende Vorgänge an Stoff nachzuweisen, so ist doch dieser Stoff selbst mit Allem, was aus ihm gebildet ist, nur eine Abstraktion von unsern Vorstellungsbildern. Der Streit zwischen Körper und Geist ist zu Gunsten des letzteren geschlichtet, und damit erst ist die wahre Einheit des Bestehenden gesichert. Denn während es stets eine unüberwindliche Klippe für den Materialismus blieb, zu erklären, wie aus stofflicher Bewegung eine bewusste Empfindung werden könnte, so ist es dagegen keineswegs schwer zu denken, dass unsre ganze Vorstellung von einem Stoff und seinen Bewegungen das Resultat einer Organisation von rein geistigen Empfindungs-Anlagen ist.
Sonach hat Helmholtz vollkommen Recht, wenn er die Sinnesthätigkeit auf eine Art von Schluss zurückführt.
Wir haben wiederum Recht, wenn wir bemerken, dass dadurch die Forschung nach einem physikalischen Mechanismus des Empfindens wie des Denkens nicht überflüssig oder unzulässig wird.
Endlich aber sehen wir ein, dass ein solcher Mechanismus gleich jedem andern vorgestellten Mechanismus doch selbst wieder nur ein mit Notwendigkeit auftauchendes Bild eines unbekannten Sachverhaltes sein muss.