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Der Untergang der alten Cultur in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung ist ein Vorgang, dessen ernste Räthsel zum grossen Theile noch ungelöst sind.
Wie schwierig es auch ist, die verworrenen Vorgänge der römischen Kaiserzeit in ihrem grossen Massstabe zu überblicken und sich an den hervorstechenden Thatsachen zu orientiren, so ist man doch noch ungleich weniger im Stande, die Wirkung der kleinen, aber unendlich vervielfachten Veränderungen im täglichen Verkehr der Nationen, im Schoss des niederen Volkes, am Herd obscurer Familien des Landes wie der Städte in ihrer vollen Ausdehnung zu würdigen.
Und doch ist so viel gewiss, dass eben aus den unteren und mittleren Schichten der Weltbevölkerung allein jene grosse Umwälzung zu erklären ist.
Man hat sich leider gewöhnt, das sogenannte Entwickelungsgesetz der Philosophie als eine eigne, fast mystisch wirkende Kraft anzusehen, die vom Gipfel der Erkenntniss mit Nothwendigkeit in die Nacht des Aberglaubens zurückführt, um sodann unter neuen und höheren Formen ihren Kreislauf wieder zu beginnen. Es ist mit dieser Triebkraft der Völkerentwickelung wie mit der Lebenskraft der Organismen. Sie ist vorhanden, aber eben nur als die Resultirende aller einzelnen natürlichen Kräfte; ihre Annahme erleichtert oft die Betrachtung, verhüllt aber die Unwissenheit und führt zu Fehlern, wenn man sie als Erklärungsgrund ergänzend neben jene Elemente setzt, mit deren Gesammtheit sie eins ist.
Für unsere Aufgabe ist wohl festzuhalten, dass ein für allemal Unwissenheit nicht die eigene Consequenz des Wissens, phantastische Willkür nicht die Consequenz der Methode sein kann, dass Aufklärung nicht und nie für und durch sich selbst zum Aberglauben zurückleitet.
Wir haben gesehen, wie im Alterthum unter dem Fortschritt der Aufklärung, des Wissens, der Methode, die geistige Aristokratie von den Massen sich löste. Der Mangel einer durchgreifenden Volksbildung musste diese Lösung beschleunigen und tödtlicher machen.
In den abergläubischen Massen begann der zunehmende Völkerverkehr die Religionen zu mischen. Orientalische Mystik hüllte sich in hellenische Formen. In Rom, wo die besiegten Nationen zusammenströmten, gab es bald nichts mehr, das nicht Gläubige fand, wie es nichts mehr gab, das nicht von der Mehrzahl verspottet wurde. Dem Fanatismus der Verblendeten stand hier nur leichtfertiger Hohn oder blasirte Gleichgültigkeit gegenüber; die Bildung schroffer, wohl disciplinirter Parteien musste bei der allgemeinen Zersplitterung der Interessen unmöglich sein.
In diese Masse drangen durch die unglaublich angeschwollene Literatur, durch desultorische Studien unberufener Geister, durch den täglichen Verkehr abgerissene Elemente wissenschaftlicher Errungenschaften ein und erzeugten jenen Zustand der Halbbildung, den man auch an unsern Tagen, jedenfalls mit geringerem Grunde, charakteristisch finden will. Man darf aber nicht vergessen, dass eben diese Halbbildung vor Allem auch der Zustand der Reichen und Mächtigen, der einflussreichen Männer war, bis auf den Kaiserthron. Die vollendetste Weltbildung, feine gesellige Formen und ein grossartiger Ueberblick der Verhältnisse sind im philosophischen Sinne nur zu oft mit der kläglichsten Halbheit vereinigt, und die Gefahren, die man den Lehren der Philosophen andichtet, pflegen sich in solchen Kreisen, wo die geschmeidige, principlose Halbbildung nur der natürlichen Neigung oder der entfesselten Leidenschaft dient, allerdings zu verwirklichen.
Wenn Epikur in grossartiger Erhebung die Fesseln der Religion zu Füssen warf, um zur eignen Lust gerecht und edel zu sein, so kamen jetzt jene verruchten Günstlinge des Augenblicks auf, wie schon Horaz und in reicher Auswahl Juvenal und Petronius sie schildern, die in Lastern der unnatürlichsten Art mit dreister Stirn einherschritten: und wer schützte die arme Philosophie, wenn solche Elende sich den Namen Epikurs, wo nicht gar den der Stoa vindicirten?
Die Verachtung des Pöbelglaubens ward hier zur Maske der inneren Hohlheit, der völligen Leere an allem Glauben und an allem wahren Wissen; das Lächeln über die Idee der Unsterblichkeit ward eine Devise des Lasters; aber das Laster ruhte auf den Zeitverhältnissen und hatte sich trotz der Philosophie, nicht durch sie gebildet.
Und in diesen nämlichen Schichten fanden die Priester der Isis, die Thaumaturgen und Propheten mit ihrem gauklerischen Gefolge eine reiche Nahrung; gelegentlich auch die Juden einen Proselyten.
Die völlig ungebildete niedere Menge theilte in den Städten den Charakter der Charakterlosigkeit mit den Grossen in ihrer Halbbildung. Daher entstand denn in diesen Zeiten in höchster Blüthe jener sogenannte praktische Materialismus, der Materialismus des Lebens.
Auch auf diesem Punkte bedürfen die herrschenden Begriffe einer Aufklärung. Es giebt auch einen Materialismus des Lebens, der, von den einen geschmäht, von den andern gepriesen, sich doch neben jeder praktischen Richtung von anderm Charakter darf blicken lassen.
Wenn das Streben nicht auf flüchtigen Genuss, sondern auf wirkliche Vervollkommnung der Zustände gerichtet ist, wenn die Energie des materiellen Unternehmungsgeistes geleitet ist durch eine klare Berechnung, die bei Allem die Grundlage bedenkt und daher zum Ziele kommt: dann entsteht jener riesige Fortschritt, der in unseren Tagen England binnen zwei Jahrhunderten gross gemacht hat, der in Athen zur Zeit des Perikles mit der höchsten Blüthe geistigen Lebens, die je von einem Staate erreicht worden ist, Hand in Hand ging.
Ganz anders war der Materialismus Roms zur Zeit der Kaiser, der sich in Byzanz und Alexandria und in allen Hauptstädten des Reichs wiederholte. Auch hier beherrschte die Frage nach Geld die zersplitterten Massen, wie Juvenal und schon Horaz es in schneidenden Zügen schildern; allein es fehlten die grossen Principien der Hebung nationaler Kraft, der gemeinnützigen Ausbeutung natürlicher Hülfsquellen, welche eine materielle Zeitrichtung adeln, weil sie zwar vom Stoff ausgehen, aber an ihm die Kraft entwickeln. Dieses wäre der Materialismus des Gedeihens; Rom kannte den des Faulens; die Philosophie verträgt sich mit dem ersteren, wie mit allem, das Principien hat; sie schwindet, oder vielmehr sie ist schon verschwunden, wenn jene Greuel hereinbrechen, deren Schilderung wir uns hier sparen wollen.
Hinweisen müssen wir jedoch auf die unwidersprechliche Thatsache, dass in jenen Jahrhunderten, als die Scheusslichkeiten eines Nero und Caligula oder gar eines Heliogabalus den Erdkreis befleckten, keine Philosophie unangebauter lag, keine dem ganzen Geist der Zeiten fremder war, als gerade jene, welche unter allen das kälteste Blut, die ruhigste Betrachtungsweise, die nüchternste, am reinsten prosaische Untersuchung forderte: die Philosophie des Demokrit und des Epikur.
Das Zeitalter des Perikles war die Blüthezeit der materialistischen und sensualistischen Philosophie des Alterthums, ihre Früchte reiften in der Zeit des alexandrinischen Studiums, in den beiden letzten Jahrhunderten vor Christo.
Als aber in der Kaiserzeit die Massen trunken wurden von dem doppelten Taumel der Laster und der Mysterien: da fand sich kein nüchterner Schüler mehr und die Philosophie fand ihr Ende von selbst. Bekanntlich herrschten in jener Zeit neuplatonische und neupythagoreische Systeme vor, in denen sich mit manchen edleren Elementen vergangener Zeit Schwärmerei und orientalische Mystik durchdrangen. Plotinus schämte sich einen Leib zu haben und wollte niemals sagen, von welchen Eltern er stamme. Hier haben wir den Gipfel der antimaterialistischen Richtung bereits in der Philosophie, ein Element, das mächtiger war auf dem Boden, dem es wahrhaft angehörte, auf dem Boden der Religion. Niemals haben die Religionen im buntesten Gemisch von den reinsten bis zu den abscheulichsten Formen üppiger gewuchert, als in den drei ersten Jahrhunderten n. Chr. Geburt.
Man hat oft gesagt, dass Unglauben und Aberglauben einander befördern und hervorrufen, allein auch hier darf man sich durch den Schimmer der Antithese nicht blenden lassen. Erst die Erwägung der specifischen Ursachen und strenge Sonderung von Zeiten und Zuständen zeigt, was daran ist.
Wenn ein strenges wissenschaftliches System, auf soliden Principien ruhend, mit wohlgefügten Gründen den Glauben vom Wissen ausschliesst, so schliesst es ganz gewiss noch weit vollkommener jede vage Form des Aberglaubens aus. In Zeiten und Kreisen aber, wo das wissenschaftliche Studium ebenso zerrüttet und zersplittert ist, wie die nationalen und urwüchsigen Formen des Glaubens, da hat allerdings jener Satz seine Geltung. So war es in der Kaiserzeit.
Und in der That gab es keine Richtung, kein Bedürfniss des Lebens, dem nicht auch eine religiöse Form entgegengekommen wäre; allein neben den üppigen Festen des Bacchus, den geheimnissvoll reizenden Mysterien der Isis verbreitete sich im Stillen mehr und mehr die Neigung zu strenger, der Welt entsagender Ascese.
Wie unter den Individuen blasirte Entnervtheit nach Erschöpfung aller Lüste zuletzt nur noch einen Reiz der Neuheit übrig lässt, den eines strengen, entsagenden Lebens: so ging es der alten Welt im Grossen. Und da ist denn natürlich, dass eine Uebertreibung im entgegengesetzten Sinn erfolgte.
Das Christenthum mit seiner wundersam ergreifenden Lehre von dem Reiche, das nicht von dieser Welt ist, schien dazu den trefflichsten Anhalt zu bieten. Die Religion der Unterdrückten und der Sclaven, der Mühseligen und Beladenen lockte auch den genusssüchtigen Reichen, dem Genuss und Reichthum keine Befriedigung mehr boten. Bald entstanden die mannichfaltigsten Secten, welche das Christenthum in jener Richtung noch zu überbieten strebten. Man schärfte den Dualismus zwischen Geist und Welt, Licht und Finsterniss durch Aufnahme von Elementen aus der Lehre Zoroasters. Die Gnostiker betrachteten zum Theil die Welt als eine Schöpfung des Teufels, ihre Sittenlehre war daher eine Lehre der Entkörperung, charakteristisch genug auf zwei grundverschiedenen Wegen durchgeführt: von den Einen durch die strengste Ascese, von Andern durch sinnliche Ausschweifungen: beide verfolgten den ausgesprochenen Zweck, den Körper zu verderben, den Geist zu befreien.
Suchten die Gnostiker das einfache Christenthum durch tiefsinnige Phantasieen und moralische Extreme zu überbieten, so ward ihm nicht minder Concurrenz gemacht von Seiten der Wunderthäter. Es ist unglaublich, wie wundersüchtig jene Zeiten waren. Was die neuere Zeit von einem Cagliostro und Gassner erlebt hat, ist nur ein schwaches Abbild von den Leistungen eines Appollonius von Thyana, des gefeiertsten der Propheten, dessen Wunder und Weissagungen zum Theil selbst von Lucian und Origenes zugegeben werden. Allein es zeigte sich auch hier wieder, dass auf die Dauer nur das einfache und consequente Princip Wunder thut: das Wunder wenigstens, welches die zerrissenen Nationen und Confessionen allmälig um die Altäre der Christen vereinigte.
Indem das Christenthum den Armen das Evangelium verkündete, hob es die antike Welt aus den Angeln. Was sinnlich in der Vollendung der Zeiten erscheinen wird, das erfasste das gläubige Gemüth im Geiste: das Reich der Liebe, in welchem die Letzten die Ersten sein werden. Dem starren Rechtsbegriff der Römer, welcher die Ordnung auf die Gewalt baut und das Eigenthum zur unerschütterlichen Grundlage der menschlichen Verhältnisse macht, trat mit unbegreiflicher Uebermacht die Forderung entgegen, allem Eignen zu entsagen, den Feind zu lieben, die Schätze zu opfern und den Verbrecher am Galgen sich selbst gleich zu achten. Ein unheimliches Grauen vor diesen Lehren erfasste die alte Welt und vergeblich suchten die Gewalthaber – unter ihnen zum Theil gerade die aufgeklärtesten und besten Regenten – durch grausame Verfolgungen eine Revolution zu erdrücken, welche alles Bestehende umstürzte und nicht nur des Kerkers und Scheiterhaufens, sondern auch der Religion und der Gesetze spottete. In kühner Selbstgenügsamkeit des Heiles, welches ein jüdischer Hochverräther, der den Sclaventod erlitten, vom Himmel selbst als Gnadengeschenk des ewigen Vaters herniedergebracht hatte, eroberte diese Secte Land um Land, und wusste, an ihrem Grundgedanken festhaltend, allmälig sogar die abergläubischen Vorstellungen, die sinnlichen Neigungen, die Leidenschaften und die Rechtsbegriffe des Heidenthums, da sie sich nicht vernichten liessen, in den Dienst der neuen Schöpfung hineinzuziehen. An die Stelle des mythenreichen Olymp traten die Heiligen und Märtyrer. Die Bischöfe rissen Reichthümer an sich und führten ein übermüthiges, weltliches Leben; der Pöbel der grossen Städte berauschte sich in Hass und Fanatismus. Die Armenpflege verfiel und der wuchernde Reiche schützte seinen Raub durch Polizei und Justiz. Die Feste glichen bald an Ueppigkeit und Prunk denen des verfallenden Heidenthums, und devote Andacht schien im Schwall ungeordneter Empfindungen den Lebenskeim der neuen Religion ersticken zu wollen. Er erstickte ihn aber nicht. Ringend gegen die fremden Massen brach er immer wieder durch. Selbst die Philosophie des Alterthums, welche aus trüben neuplatonischen und aristotelischen Quellen sich in die christliche Welt ergoss, musste sich dem Charakter derselben fügen. Und während List, Verrath und Greuel halfen, den christlichen Staat – einen Widerspruch in sich – zu begründen, blieb doch der Gedanke der gleichmässigen Berufung aller Menschen zu einem höheren Dasein die Grundlage der neueren Völkergeschichte. »So ward,« sagt Schlosser, »selbst der Wahn und Trug der Menschen eins der Mittel, durch welche die Gottheit aus den vermodernden Trümmern der alten Welt ein neues Leben entwickelte.«
Es erwächst nunmehr für uns die Aufgabe, zu untersuchen, welchen Einfluss das durchgebildete christliche Princip auf die Geschichte des Materialismus haben musste, und wir werden hiermit die Berücksichtigung des Judenthums und des vorzüglich wichtigen Mohammedanismus verbinden.
Was diese drei Religionen gemeinsam haben, ist der Monotheismus.
Wenn der Heide Alles voll von Göttern sieht, und sich gewöhnt hat, jeden einzelnen Naturvorgang als einen besonderen dämonischen Wirkungskreis zu betrachten, so sind die Schwierigkeiten, welche dadurch der materialistischen Erklärung in den Weg gelegt werden, tausendfältig wie die Gliederung des Götterstaates. Hat daher ein Forscher den grossen Gedanken gefasst, Alles was ist aus Nothwendigkeit geschehen zu lassen, Gesetze anzunehmen und einen unsterblichen Stoff, dessen Verhalten geregelt ist, so giebt es im Grunde keinerlei Versöhnung mehr mit der Religion. Epikurs künstliche Vermittelung ist daher schwächlich anzusehen und consequenter waren jene Philosophen, welche das Dasein der Götter leugneten. Der Monotheist hat hier der Wissenschaft gegenüber eine andere Stellung. Wir geben zu, dass auch der Monotheismus eine niedere und sinnliche Auffassung zulässt, bei der jeder einzelne Naturvorgang wieder der besonderen und lokalen Thätigkeit Gottes in menschenähnlicher Weise zugeschrieben wird. Es ist das um so leichter möglich, da doch jeder Mensch nur an sich und seinen Kreis zu denken pflegt. Die Idee der Allgegenwart bleibt für dieses Denken eine fast leere Formel und man hat im Grunde wieder unzählige Götter, mit dem stillschweigenden Vorbehalt, dass man sie alle als ein und denselben denken will.
Bei diesem Standpunkt, der recht eigentlich der des Köhlerglaubens ist, bleibt die Wissenschaft ebenso unmöglich, wie sie es beim heidnischen Glauben war.
Allein wenn nun in freier und grossartiger Weise dem einen Gott auch ein einheitliches Wirken aus dem Ganzen und Vollen zugeschrieben wird, so wird der Zusammenhang der Dinge nach Ursache und Wirkung nicht nur denkbar, sondern er ist sogar eine nothwendige Consequenz der Annahme. Denn wenn ich irgendwo tausend und aber tausend Räder bewegt sähe und nur einen Einzigen vermuthete, der sie zu treiben schiene, so würde ich schliessen müssen, dass ich einen Mechanismus vor mir hätte, in welchem jedes kleinste Theilchen in seiner Bewegung durch den Plan des Ganzen unabänderlich bestimmt ist. Dies vorausgesetzt muss ich aber auch die Structur jener Maschine erkennen, ihren Gang wenigstens stückweise begreifen können, und der Raum für die Wissenschaft ist vorläufig frei.
Eben deshalb konnten hier jahrhundertelange Entwickelungen vor sich gehen und die Wissenschaft mit positivem Material bereichern, bevor man glaubte schliessen zu müssen, dass jene Maschine ein perpetuum mobile sei. Einmal gefasst musste dieser Schluss dann aber auch mit einem Gewicht von Thatsachen auftreten, neben denen das Rüstzeug der alten Sophisten uns äusserst schwach und dürftig erscheint.
Hier können wir also die Wirkung des Monotheismus vergleichen mit einem ungeheueren See, der die Fluthen der Wissenschaft sammelt, bis sie plötzlich den Damm zu durchbrechen beginnen.
Dann aber tritt ein neuer Vorzug des Monotheismus ans Licht. Der Grundbegriff desselben besitzt eine dogmatische Dehnbarkeit und speculative Vieldeutigkeit, welche ihn geeignet macht, unter den wechselndsten Culturzuständen und bei den grössten Fortschritten wissenschaftlicher Bildung als Träger des religiösen Lebens zu dienen. Statt dass die Vermuthung einer in sich zurücklaufenden und ewigen Gesetzen folgenden Regulirung des Weltganzen gleich zu einem Vernichtungskampfe zwischen Religion und Wissenschaft führen müsste, ergiebt sich der Versuch, das Verhältniss von Gott und Welt demjenigen von Leib und Seele gleichzusetzen. Die drei grossen monotheistischen Religionen haben daher alle in der Zeit der höchsten Geistesbildung ihrer Träger eine Wendung zum Pantheismus genommen. Auch dabei ergiebt sich ein Kampf mit der Ueberlieferung, jedoch noch lange kein Vernichtungskampf.
Es ist der mosaische Glaube, der von allen Religionen zuerst die Idee der Schöpfung als einer Schöpfung aus Nichts gefasst hat.
Erinnern wir uns, wie der junge Epikur der Sage nach noch als Schulknabe sich der Philosophie zuzuwenden begann, als er hatte lernen müssen, dass alle Dinge aus dem Chaos stammen, und als nun keiner seiner Lehrer ihm erklären konnte, woher denn das Chaos sei.
Es giebt Völker, welche glauben, dass die Erde auf einer Schildkröte ruhe; worauf aber die Schildkröte, darf man nicht fragen. So leicht begnügt sich der Mensch Generationen hindurch mit einer Auskunft, die noch Niemand im Ernste genügend finden konnte.
Solchen Erdichtungen gegenüber ist die Schöpfung der Welt aus dem Nichts zum mindesten klar und ehrlich. Sie enthält einen so unverholenen und directen Widerspruch gegen jedes Denken, dass sich alle schwächlicheren und versteckteren Widersprüche daneben schämen müssen.
Allein, was mehr ist: auch diese Idee ist einer Umbildung fähig, auch sie hat einen Theil jener Elasticität, welche den Monotheismus charakterisirt; man konnte den Versuch wagen, die Priorität eines weltlosen Gottes in eine bloss begriffliche umzuwandeln, und die Tage der Schöpfung wurden zu Aeonen der Entwickelung.
Neben diesen Zügen, die schon das Judenthum bietet, ist es aber wichtig, dass im Christenthum zuerst Gott von jeder sinnlichen Gestalt entkleidet und im strengen Ausdruck als ein unsichtbarer Geist gefasst werden soll. Der Anthropomorphismus ist damit im Princip beseitigt, kehrt aber fürs Erste in der volksthümlich getrübten Auffassung und in der breiten geschichtlichen Entfaltung des Dogmas hundertfach wieder.
Man könnte denken, dass bei diesen Vorzügen des Christenthums sogleich eine neue Wissenschaft mit dem Siege desselben hätte herrlicher erblühen können; allein es ist leicht zu sehen, warum das nicht der Fall war. Einerseits muss man bedenken, dass das Christenthum eine Religion des Volkes war, die sich bis zu dem Punkte, wo sie Staatsreligion wurde, von unten herauf entwickelt und ausgebreitet hatte. Am fernsten standen ihr gerade die Philosophen, und um so ferner, je minder sie zu Schwärmerei und zügellosen Neuerungen neigten. Sodann verpflanzte sich gar bald das Christenthum zu neuen, der Cultur bis dahin unzugänglichen Nationen, und es ist kein Wunder, dass hier, in einer von vorn anfangenden Schule, alle jene vorbereitenden Stufen wieder durchzumachen waren, die das alte Griechenland und Italien seit den Zeiten der frühesten Colonisationen durchlaufen hatte.
Vor Allem aber hat man zu bedenken, dass der Nachdruck der christlichen Lehre ursprünglich keineswegs auf jenen grossen theologischen Grundsätzen ruhte, sondern vielmehr auf dem Gebiet der sittlichen Läuterung durch Entsagung von der Weltlust, auf der Theorie der Erlösung und auf der Hoffnung der Zukunft Christi.
Zudem war es eine psychologische Nothwendigkeit, dass, sobald einmal durch diesen ungeheuren Erfolg das allgemeine Wesen der Religion wieder in seine alten Rechte eingetreten war, die heidnischen Elemente massenhaft in das Christenthum eindrangen, so dass es nun bald seine eigene reiche Mythologie gewonnen hatte. So ward denn nicht nur der Materialismus, sondern jede consequente monistische Philosophie auf Jahrhunderte hinaus zu einer Unmöglichkeit.
Ganz besonders aber fiel auf den Materialismus ein schwerer Schatten. Jene dualistische Richtung der Zend-Avesta-Religion, nach der Welt und Materie das Böse repräsentiren, Gott und das Licht das Gute, ist dem Christenthum in der Grundidee und noch mehr in der geschichtlichen Entwickelung verwandt. Nichts konnte daher fortan entsetzlicher scheinen, als gerade jene Richtung der alten Philosophie, welche nicht nur eine ewige Materie annahm, sondern sogar diese Materie für die einzige wahrhaft existirende Substanz erklärte. Nimmt man das Sittlichkeitsprincip Epikurs hinzu, so ist allerdings, so rein man es auch auffassen möge, das wahre Gegenbild der christlichen Anschauung vollendet, und man begreift die verkehrte Beurtheilung dieses Systems, welche im Mittelalter vorherrschte.
In diesem letzteren Punkte ist die dritte der grossen monotheistischen Religionen, der Mohammedanismus, dem Materialismus günstiger; auch entwickelte sich in dieser jüngsten derselben, im Zusammenhang mit dem glänzenden Aufschwung der arabischen Cultur, am frühesten ein freier philosophischer Geist, der zunächst auf die Juden des Mittelalters und sodann auf die abendländischen Christen mächtig zurückwirkte.
Allein die Lehren des Avicenna, des Tophail, des Averroes nahmen eine pantheistische Richtung und haben für den Materialismus nur ein indirectes Interesse. Durch ihre Neigung zu Aristoteles dienten sogar die Araber dazu, die Scholastik im Abendlande anzuregen. Und gerade diese Form der Philosophie bewachte im Bunde mit der Lehre der Kirche die langsam heranwachsende Cultur mit Argusaugen und hielt in terroristischer Streitsucht alle fremdartigen Lebensregungen so darnieder, dass man von ihrem Sturz erst das wahre Morgenroth der neuen Zeit datirt.
Dem gegenüber steht nun als ein Element der arabischen Cultur des Mittelalters, welches der späteren Hervorbildung des Materialismus günstig war, die mächtige Anregung der positiven Naturwissenschaften. Die glänzenden Leistungen der Araber auf dem Gebiete der Astronomie und der Mathematik sind bekannt genug. Diese Studien aber waren es vorzüglich, die, an die Ueberlieferungen der Griechen anknüpfend, der Idee von der Gesetzmässigkeit und Regelmässigkeit des Weltganges wieder Raum schafften. Dies geschah zu einer Zeit, wo der entartete Glaube in der christlichen Welt die sittliche und logische Ordnung der Dinge schlimmer verwirrt hatte, als dies in irgend einer Periode des griechisch-römischen Heidenthums der Fall war; zu einer Zeit, in der Alles als möglich, Nichts als nothwendig betrachtet und der Willkür von Wesen, denen man immer neue Eigenschaften andichtete, ein unbegrenzter Spielraum zugewiesen wurde.
Die Verbindung der Astronomie mit den Phantasieen der Sterndeuterei war eben deshalb keineswegs so nachtheilig als man denken sollte. Die Astrologie sowohl wie die wesensverwandte Alchymie besassen durchaus die geregelte Form von Wissenschaften und waren in der reineren Weise, in welcher die Araber und die christlichen Gelehrten des Mittelalters diese Künste betrieben, weit entfernt von dem masslosen Schwindel, der im 16. und besonders im 17. Jahrhundert sich einstellte, nachdem die strengere Wissenschaft diese abergläubischen Elemente von sich ausgestossen hatte. Abgesehen davon, dass der Trieb nach Erforschung unergründlicher und wichtiger Geheimnisse durch jene frühe Verbindung den wissenschaftlichen Entdeckungen in der Astronomie und Chemie zu Hülfe kam, so war auch ganz an sich schon in jenen tiefen und geheimnissvollen Studien der Glaube an einen geregelten und ewigen Gesetzen folgenden Gang aller Ereignisse die nothwendige Voraussetzung. Dieser Glaube aber gehörte zu den mächtigsten Triebfedern in der ganzen Fortbildung der Cultur vom Mittelalter zur Neuzeit.
Vorzüglich müssen wir hier auch der Medicin gedenken, die ja heutzutage gewissermassen die Theologie der Materialisten geworden ist. Diese Wissenschaft wurde von den Arabern mit besonderem Eifer ergriffen. Auch hier vorzüglich an die Ueberlieferungen der Griechen anknüpfend, wandten sie sich doch mit selbständigem Sinn der exacten Beobachtung zu und förderten namentlich die Lehre vom Leben, die zu den Fragen des Materialismus in so enger Beziehung steht. Beim Menschen, wie im Thier- und Pflanzenreich, allenthalben in der organischen Natur verfolgte der feine Sinn der Araber nicht nur die Einzelnheiten der gegebenen Gebilde, sondern die Entwickelung, das Werden und Vergehen, also gerade jene Gebiete, in denen die mystische Auffassung des Lebens ihren Stammsitz hat.
Bekannt ist die frühe Entstehung medicinischer Schulen auf jenem Boden Unteritaliens, wo Saracenen und gebildetere Christenstämme sich so nah berührten. Schon im 11. Jahrhundert lehrte im Kloster von Monte Cassino der Mönch Constantin, jener Mann, den die Zeitgenossen den zweiten Hippokrates nannten, und der, nachdem er den ganzen Orient durchwandert hatte, seine Musse der Uebersetzung medicinischer Werke aus dem Arabischen widmete. Zu Monte Cassino und später zu Salerno und Neapel entstanden dann jene berühmten Schulen der Medicin, zu denen aus dem ganzen Abendlande Wissbegierige zusammenströmten.
Beachten wir wohl, dass es derselbe Boden ist, auf dem am frühesten in Europa die Freigeisterei entstand, die mit dem ausgebildeten Materialismus zwar nicht zu verwechseln, die aber jedenfalls sehr nahe mit ihm verwandt ist. Jene Landstriche Unteritaliens und besonders Siciliens, in denen heutzutage blinder Aberglaube und toller Fanatismus in höchster Blüthe stehen, waren damals die Heimstätten aufgeklärter Geister und die Wiege des Gedankens der Toleranz.
Ob Kaiser Friedrich II., der hochgebildete Freund der Saracenen, der naturkundige Förderer der positiven Wissenschaften, jene berüchtigte Aeusserung von den drei Betrügern, Moses, Mohammed und Christus, wirklich gethan oder nicht: jedenfalls brachte diese Zeit und diese Gegend solche Anschauungen hervor. Nicht umsonst zählt Dante die kühnen Zweifler, die in feurigen Gräbern ruhend noch immer die Hölle verachten, nach Tausenden. Bei jener nahen Berührung der verschiedenen monotheistischen Religionen – denn auch die Juden waren dort zahlreich vertreten und standen an Bildung kaum hinter den Arabern zurück – musste sich nothwendig, sobald einmal ein geistiger Verkehr eintrat, die Hochachtung des Specifischen abstumpfen; und im Specifischen liegt die Kraft der Religion, wie im Individuellen die Kraft der Dichtung.
Was man Friedrich II. zutraute, zeigt die Beschuldigung, dass er sich sogar mit den Assassinen eingelassen, jenem mordenden Jesuitenorden des Mohammedanismus, der eine Geheimlehre gehabt haben soll, welche in den höchsten Graden den vollen Atheismus mit allen Consequenzen eines genuss- und herrschsüchtigen Egoismus offen und rückhaltlos aussprach. Wäre dasjenige wahr, was von der Lehre der Assassinen überliefert wird, so müssten wir dieser Secte eine grössere Ehre anthun, als die der beiläufigen Erwähnung. Es würden dann die Assassinen der höchsten Grade das Urbild eines Materialisten abgeben, wie unwissende und fanatische Polemiker unsrer Tage ihn sich vorstellen, um ihn vortheilhaft bekämpfen zu können. Das Assassinenthum würde das einzige Beispiel der Geschichte sein von einer Verbindung der materialistischen Philosophie mit Grausamkeit, Herrschsucht und systematischen Verbrechen.
Vergessen wir aber nicht, dass alle Nachrichten über diese Secte von ihren erbittertsten Feinden herrühren. Es hat die höchste innere Unwahrscheinlichkeit, dass gerade aus der harmlosesten aller Weltanschauungen jene furchtbare, die äusserste Anspannung aller Seelenkräfte erfordernde Energie hervorgegangen sei, die wir sonst nur im Bunde mit religiösen Grundgedanken erblicken. Diese sind auch in ihrer furchtbaren Erhabenheit und ihrem hinreissenden Zauber das einzige Element in der Weltgeschichte, dem wir selbst die äussersten Greuel des Fanatismus vom höchsten Standpunkte der Betrachtung aus noch verzeihen können; und dies ist tief in der menschlichen Natur begründet. Wir würden es nicht wagen, unsere Vermuthung, dass auch in den höchsten Graden der Assassinen noch religiöse Grundgedanken mitwirkten, der Ueberlieferung gegenüber auf bloss innere Gründe zu basiren, wenn nicht die Quellen unserer Nachrichten von den Assassinen solchen Bedenken Raum gäben. Dass ein hoher Grad von Freigeisterei sich mit fanatischer Erfassung eines religiösen Grundgedankens verbinden kann, zeigen uns auch die Jesuiten, mit deren ganzem Wesen überhaupt das der Assassinen eine auffallende Aehnlichkeit hat.
Kehren wir zu den Naturwissenschaften der Araber zurück, so können wir schliesslich nicht umhin, noch den kühnen Ausspruch Humboldts anzuführen, dass die Araber als die eigentlichen Gründer der physischen Wissenschaften zu betrachten sind, »in der Bedeutung des Wortes, welche wir ihm jetzt zu geben gewohnt sind«. Das Experiment und das Messen sind die grossen Werkzeuge, durch welche sie ihren Fortschritten Bahn brachen und sich zu einer Stufe erhoben, die zwischen den Leistungen der kurzen inductiven Epoche Griechenlands und denen der neueren Naturwissenschaften in die Mitte zu stellen ist.
Dass es gerade der Mohammedanismus ist, in dem sich jene Förderung der Naturstudien, die wir dem monotheistischen Princip zuschreiben, am schärfsten zeigt, hängt zusammen mit der Begabung der Araber, mit der geschichtlichen und räumlichen Stellung derselben zu den hellenischen Ueberlieferungen, aber ohne Zweifel auch mit dem Umstande, dass der Monotheismus Mohammeds der schroffste war und sich vergleichsweise von mythischen Zuthaten am freiesten hielt. Heben wir schliesslich unter den neuen Bildungselementen, die in ihrem Verfolg auf eine materialistische Anschauung der Natur einwirken konnten, noch eines hervor, das Humboldt im zweiten Bande seines Kosmos ausführlich behandelt: es ist die Entwicklung der ästhetischen Naturbetrachtung unter dem Einflusse des Monotheismus und der semitischen Cultur.
Das Alterthum hatte die Personification aufs strengste durchgeführt und war darüber nur selten dazu gekommen, die Natur als Natur anzuschauen oder gar darzustellen. Ein schilfbekränzter Mann war der Ocean, eine Nymphe der Quell, ein Faun oder Pan die Flur und der Hain. Mit der Entgötterung der Gefilde begann die wahre Naturbetrachtung und die Freude an der reinen Grösse und Schönheit der Naturerscheinungen.
»Es ist ein charakteristisches Kennzeichen der Naturpoesie der Hebräer,« sagt Humboldt, »dass, als Reflex des Monotheismus, sie stets das Ganze des Weltalls in seiner Einheit umfasst, sowohl das Erdenleben, als die leuchtenden Himmelsräume. Sie weilt seltener bei dem Einzelnen der Erscheinung, sondern erfreut sich der Anschauung grosser Massen. Man möchte sagen, dass in dem einzigen 104. Psalm das Bild des ganzen Kosmos dargelegt ist: Der Herr, mit Licht umhüllt, hat den Himmel wie einen Teppich ausgespannt. Er hat den Erdball auf sich selbst gegründet, dass er in Ewigkeit nicht wanke. Die Gewässer quellen von den Bergen herab in die Thäler, zu den Orten, die ihnen beschieden: dass sie nie überschreiten die ihnen gesetzten Grenzen, aber tränken alles Wild des Feldes. Der Lüfte Vögel singen unter dem Laube hervor. Saftvoll stehen des Ewigen Bäume, Libanons Cedern, die der Herr selbst gepflanzt, dass sich das Federwild dort niste, und auf Tannen sein Gehäus der Habicht baue.«
Aus den Zeiten des christlichen Anachoretenlebens stammt ein Brief Basilius des Grossen, der nach Humboldts Uebersetzung eine prächtige und gefühlvolle Beschreibung der einsamen Waldgegend giebt, in der die Hütte des Einsiedlers stand.
So rinnen von allen Seiten die Quellen zusammen zu dem mächtigen Strome des modernen Geisteslebens, in dem wir unter mancherlei Modificationen den Gegenstand unserer Forschung, den Materialismus, wieder aufzusuchen haben.