Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI. Die Resultate der antiken Naturwissenschaft und der Antheil des Materialismus an der Erzielung derselben.

Wenn unsere bisherige Darstellung den Materialismus des Alterthums in ein günstigeres Licht stellt, als das, in welchem man ihn zu sehen gewohnt ist, so haben wir doch nichts weniger unternommen, als eine Apologie oder eine verherrlichende Anpreisung dieser Weltanschauung.

Das gegenwärtige Kapitel giebt uns Gelegenheit, ein Verhältniss, das auch in der Gegenwart wieder vielfach missverstanden wird, aufzuklären: das Verhältniss des Materialismus zur eigentlichen Naturwissenschaft.

Unsere Materialisten vergessen nur zu häufig, dass sie – ganz einerlei, ob sie von Beruf etwa Professoren der Physiologie sind oder nicht – sich alsbald auf dem Boden der Philosophie und nicht der Naturwissenschaft befinden, wenn sie sich zu einer Gesammtanschauung des Weltganzen zu erheben versuchen, und dass sie dogmatische Philosophen sind, wenn sie die Resultate ihrer Anschauungen kategorisch als Thatsachen vortragen. Sie vergessen aber namentlich leicht, dass auch andere philosophische Systeme zur Naturwissenschaft in die fruchtbarste Wechselwirkung treten, und dass solche Systeme häufig genug den ganzen Bildungsstoff des Materialismus mit all seinen negativen und positiven Ergebnissen und mit all seinen Beziehungen zur Naturwissenschaft zur Grundlage haben, auf der erst eine fernere, tiefer in das Wesen der Erscheinungswelt eindringende Untersuchung beginnt.

Es wäre kein übles Zeugniss für die Berechtigung oder gar Alleinberechtigung des Materialismus, wenn alle grossen Entdeckungen und alle tiefen Blicke in das Wesen der Dinge, welche die Nachwelt bestätigen muss, in der Schule der Materialisten erwachsen wären. So verhält sich nun aber die Sache nicht. Sehen wir, um das wahre Verhältniss festzustellen, zunächst zu, was die wissenschaftliche Naturerkenntniss der Alten überhaupt geleistet hat! Und hier müssen wir denn ersuchen, jener kindischen Geringschätzung gegenüber, welche, stolz auf die staunenswerthen Leistungen unserer Tage, dem Alterthum kaum den Namen einer Naturwissenschaft zugestehen möchte, vor allen Dingen einen gerechten Massstab und Hochachtung vor den tapferen Ueberwindern der Schwierigkeit des Anfangs mitzubringen.

Wer die homerische Welt mit ihren unaufhörlichen Wundern, ihrem engen Kreis des Erdrundes und ihren naiven Vorstellungen vom Himmel und den Gestirnen bedenkt, wird zugeben müssen, dass das befähigte Volk der Griechen in seiner Weltanschauung recht von vorn anzufangen hatte. Von der Weisheit der Inder, der Aegypter kamen ihm nur Bruchstücke zu, die ohne eigenes Entgegenkommen niemals zu einer bedeutenden Entwickelung hätten gelangen können. Die verzogene Zeichnung der wenigen Länder um das Mittelmeer herum, von denen schon Plato erkannte, dass sie nur einen sehr kleinen Theil des Erdganzen bilden müssten, die Fabeln von den Hyperboräern und den Völkern, die im äussersten Westen jenseit des Sonnenuntergangs wohnen, die Mährchen von der Scylla und Charybdis: alles das sind Züge, die uns erkennen lassen, dass hier Erkenntniss und Dichtung kaum dem Begriff nach von einander geschieden sind. Dem Schauplatz entsprechen die Vorgänge. Jedes Naturereigniss erscheint in Götterspuk gehüllt. Diese Wesen, aus denen der Schönheitssinn des Volkes so herrliche Typen menschlicher Kraft und Anmuth schuf, sind überall und nirgends und heben jeden Gedanken an einen festen Zusammenhang von Ursache und Wirkung auf. Die Götter sind weder principiell allmächtig, noch giebt es eine feste Schranke ihrer Macht. Alles ist möglich und nichts sicher zu berechnen. Der apagogische Beweissatz der griechischen Materialisten, »dann könnte ja aus Allem Alles werden«, hat in dieser Welt keine Kraft; es wird wirklich aus Allem Alles, und da sich kein Blatt regen, kein Nebelstreif erheben, kein Lichtstrahl blinken kann – von Blitz und Donner zu schweigen – ohne dass eine Gottheit dahinter ist, so ist scheinbar gar nicht einmal ein Anfang für die Wissenschaft da.

Bei den Römern stand es, abgesehen davon, dass sie ihre wissenschaftlichen Anregungen erst von den Griechen erhielten, wo möglich noch schlimmer; nur dass die Vogelschau und besonders die Gewitterbeobachtung, von den Etruskern mit Sorgfalt gepflegt, eine Reihe positiver Thatsachen aus dem Gebiete der Naturvorgänge bekannt machte. So fand die beginnende griechisch-römische Cultur von Astronomie und Meteorologie kaum die dürftigsten Anfänge, von Physik und Physiologie keine Spur, von Chemie keine Ahnung. Was vorging, war alltäglich, zufällig oder wunderbar, aber nicht Gegenstand wissenschaftlichen Erkennens. Mit einem Worte, es fehlte der erste Anfang der Naturwissenschaft: die Hypothese.

Beim Endpunkte der kurzen und glänzenden Bahn, welche die alte Cultur durchlaufen, finden wir Alles verändert. Der Grundsatz von der Gesetzmässigkeit und Erkennbarkeit der Naturvorgänge steht über jeden Zweifel erhaben; das Streben nach dieser Erkenntniss hat seine geordneten Bahnen gefunden. Die positive Naturwissenschaft, auf scharfe Erforschung des Einzelnen und lichtvolle Zusammenstellung der Ergebnisse dieser Forschungen gerichtet, hat sich bereits völlig getrennt von der spekulativen Naturphilosophie, die über die Grenzen der Erfahrung hinaus zu den letzten Gründen der Dinge hinabzusteigen sucht. Die Naturforschung hat eine bestimmte Methode gewonnen. Willkürliche Beobachtung ist an die Stelle der zufälligen getreten; Instrumente dienen die Beobachtung zu schärfen und ihre Ergebnisse festzuhalten: man experimentirt.

Die Hypothese, nur zu üppig entwickelt, erstreckt sich bereits über den ganzen Kreis der Naturvorgänge; allein sie schliesst nicht, wie es bei einseitiger Betrachtung der epikureischen Philosophie erscheinen könnte, die rastlose Forschung aus.

Diese Forschung ist einem Stande anheimgefallen; der grosse Process der Differenzirung hat unter den Nationen des Alterthums seinen Gipfel erreicht. Auf wenigen Geistern ruht das ganze Gebäude des wissenschaftlichen Fortschrittes, und die gährenden Massen versagen zuletzt rein gestimmte Schüler und verschlingen den Keim, der für sich betrachtet gerade in der gedeihlichsten Entwickelung ist.

Betrachtet man die Erdtafel des Ptolemäus, so findet man freilich noch das fabelhafte Südland, welches Afrika mit Hinterindien verbindet und den indischen Ocean zu einem zweiten und grösseren Mittelmeer macht; allein Ptolemäus giebt dies Land nur als Hypothese; und wie sauber sieht es bereits in Europa und den näheren Theilen von Asien und Afrika aus! Längst war die Kugelgestalt der Erde allgemein angenommen. Eine methodische Ortsbestimmung durch Längen- und Breitengrade bildet ein festes Gerüst zur Behauptung des Errungenen und Einfügung aller neuen Entdeckungen. Selbst der Umfang der ganzen Erde ist schon nach einer sinnreichen Sternbeobachtung abgeschätzt. Lief hierbei ein Irrthum unter, so war es eben dieser Irrthum, welcher zur Entdeckung Amerikas führte, als Columbus, auf Ptolemäus fussend, den westlichen Seeweg nach Ostindien suchte.

Schon lange vor Ptolemäus hatten die riesigen Forschungen des Aristoteles eine Fülle von Kenntnissen über die Thier- und Pflanzenwelt naher und ferner Länder verbreitet. Genaue Beschreibungen, anatomisches Erforschen des inneren Baues der organischen Körper bildete die Vorstufe zu einer zusammenfassenden Betrachtung der Formen, die, von den niedersten zur höchsten hinauf, als eine fortlaufende Betätigung gestaltender Kräfte erfasst wurden, welche im Menschen endlich das vollendetste Gebilde der Erde darstellen. Liefen auch zahlreiche Irrthümer hier noch mit unter, so war doch, so lange der Geist fernerer Forschung anhielt, die Basis von unendlichem Werth. Alexanders Eroberungszüge im Orient kamen der Bereicherung der Wissenschaften zu gut und befreiten und erweiterten den Gesichtskreis durch Vergleichung. Alexandrias Fleiss mehrte und sichtete das Material. Als daher der ältere Plinius in seinem allumfassenden Werk das Ganze der Natur und Cultur zur Darstellung zu bringen suchte, konnten schon tiefere Blicke in den Zusammenhang des Menschenlebens mit dem Weltganzen gethan werden. Diesem rastlosen Geist, der sein grosses Werk mit einer Anrufung der Allmutter Natur beschloss und sein Leben in der Beobachtung eines Vulkans endete, war der Einfluss der Natur auf das geistige Leben des Menschen ein fruchtbarer Gesichtspunkt der Betrachtung und ein begeisternder Stachel der Forschung.

Die exakten Wissenschaften hatten an einer glänzenden Bereicherung und Vervollkommnung der Mathematik jenes Werkzeug gewonnen, welches den Griechen, den Arabern und den germanisch-romanischen Völkern der Neuzeit Stufe um Stufe die grossartigsten praktischen und theoretischen Errungenschaften zuführte. Plato und Pythagoras hauchten ihren Schülern den Trieb mathematischen Sinnes ein. Die Bücher Euklids bilden nach mehr als zweitausend Jahren im Vaterlande Newtons noch die erste Grundlage des mathematischen Unterrichts, und die uralte synthetische Methode feierte noch in den »mathematischen Elementen der Naturphilosophie« ihren letzten und grössten Triumph.

Die Astronomie leistete an der Hand feiner und verwickelter Hypothesen über die Bewegung der Himmelskörper ungleich mehr als jene uralten Beobachter der Gestirne, die Völker von Indien, Babylonien und Aegypten je zu erreichen vermocht hatten. Eine sehr nahe zutreffende Berechnung des Planetenstandes, der Mond- und Sonnenfinsternisse, genaue Verzeichnung und Gruppirung der Fixsterne bildet noch nicht die Grenze des Geleisteten. Selbst der Grundgedanke des kopernikanischen Systems, die Versetzung der Sonne in den Mittelpunkt des Weltalls, findet sich bei Aristarch von Samos, dessen Ansicht Kopernikus sehr wahrscheinlich gekannt hat.

In der Physik umfasst die Wissenschaft der Alten eine auf Experimente begründete Einsicht in die Grundlagen der Akustik, der Optik, der Statik, der Lehre von den Gasen und Dämpfen. Von den Untersuchungen der Pythagoreer über Höhe und Tiefe der Töne, bedingt durch die Massenverhältnisse der tönenden Körper, bis zu den Experimenten des Ptolemäus über die Brechung des Lichtes legte der Geist hellenischer Forschung einen weiten Weg erfolgreichen Schaffens zurück. Die gewaltigen Bauwerke, Kriegsmaschinen und Erdarbeiten der Römer beruhten auf einer wissenschaftlichen Theorie und wurden mit exakter Anwendung derselben so schnell und leicht als möglich ausgeführt, während die vielfach noch kolossaleren Leistungen der Orientalen mehr durch grossartige Verwendung von Zeit und Menschenkraft unter dem Druck despotischer Dynastieen zu Stande gekommen sind.

Die wissenschaftliche Medicin, gipfelnd in Galenus aus Pergamus, hatte das körperliche Leben in seinem schwierigsten Element, der Nerventhätigkeit, bereits aufgeklärt. Das Gehirn, früher als todte Masse betrachtet, deren Nutzen man noch weniger einsah, als die Neueren den der Milz, war zum Sitz der Seele und der Functionen der Empfindung erhoben worden. Sömmering fand im vorigen Jahrhundert die Gehirnlehre noch fast auf demselben Punkte, wo Galen sie gelassen. Man kannte im Alterthum auch die Bedeutung des Rückenmarks, man wusste, Jahrtausende vor Ch. Bell, Empfindungs- und Bewegungsnerven zu unterscheiden, und Galen heilte Lähmungen der Finger zum Staunen seiner Zeitgenossen durch Einwirkung auf diejenigen Theile des Rückenmarks, denen die betreffenden Nerven entspringen. Kein Wunder, dass Galen auch die Vorstellungen schon als Resultate der Zustände des Körpers ansah.

Sehen wir so nach allen Seiten Erkenntnisse sich sammeln, die tief in das Wesen der Natur eindringen und die Annahme der Gesetzmässigkeit alles Geschehens schon im Princip voraussetzen, so müssen wir nunmehr die Frage stellen: Welchen Antheil hat der Materialismus des Alterthums an der Erzielung dieser Kenntnisse und Anschauungen?

Wir setzten in einem früheren Abschnitte die materialistische Philosophie in einen bestimmten Zusammenhang mit dem Beginn der gelehrten Specialforschung im grossen Ganzen. Hier ist unsere Aufgabe eine andere. Dort wurde darauf hingewiesen, wie der Materialismus als erste und letzte Form systematischer Philosophie zwar die tieferen speculativen Systeme in die Mitte nimmt, aber zugleich den naturgemässen Uebergang bildet zu der grossen Epoche der Specialforschung.

Es handelte sich darum zu zeigen, wie mit dem Materialismus nicht die geistige Nacht hereinbrach, sondern eine Zeit, welche das Licht zwar nicht mehr so bestimmt in einzelne Brennpunkte sammelt, wohl aber im Ganzen eine ungleich grössere Fülle von Licht erzeugt, als die vorhergehende Periode. Hier handelt es sich um die Frage, wie sich in den einzelnen Erfindungen und Entdeckungen und in den Lichtblicken wahrer Theorie die materialistische Schule gegenüber den anderen erweist. Da springt denn schon bei einem flüchtigen Ueberblick ein höchst eigenthümliches Resultat in die Augen.

Es gehört nämlich nicht nur von den grossen Erfindern und Entdeckern, mit alleiniger Ausnahme des Demokritos, kaum ein einziger bestimmt der materialistischen Schule an, sondern wir finden gerade unter den ehrwürdigsten Namen eine grosse Reihe von Männern, die einer möglichst entgegengesetzten, idealistischen, formalistischen oder gar enthusiastischen Richtung angehören.

Vor allen Dingen ist hier die Mathematik ins Auge zu fassen. Plato, der Stammvater einer im Verlauf der Geschichte bald schön und tiefsinnig, bald fanatisch und verwirrend hervortretenden Schwärmerei, ist doch zugleich der geistige Stammvater einer Reihe von Forschern, welche die klarste und consequenteste aller Wissenschaften, die Mathematik, auf den Gipfel der Höhe brachten, die sie im Alterthum erreichen sollte. Euklid war sein Schüler und Freund; durch diesen war Archimedes angeregt, der grösste Erfindergeist des Alterthums. Die alexandrinischen Mathematiker hielten fast Alle zur Schule Platos, und selbst als die Ausartungen des Neuplatonismus begannen, und die trüben Gährungen der grossen Religionswende in die Philosophie hineinspielten, brachte diese Schule noch grosse Mathematiker hervor. Theon und seine edle, vom christlichen Pöbel zu Tode gemarterte Tochter Hypatia mögen diese Stufe bezeichnen. Eine ähnliche Richtung ging von Pythagoras aus, dessen Schule in Archytas einen Mathematiker vom ersten Range erzeugte. Kaum dass der Epikureer Polyänus neben diesen genannt werden darf. Auch Aristarch von Samos, der Vorläufer des Kopernikus, knüpfte an altpythagoreische Ueberlieferungen an; der grosse Hipparch, der Entdecker des Vorrückens der Nachtgleichen, glaubte an den göttlichen Ursprung der menschlichen Seelen; Eratosthenes hielt sich zur mittleren Akademie, welche den Platonismus mit skeptischen Elementen versetzte. Plinius, Ptolemäus, Galenus huldigten ohne strenges System pantheistischen Grundsätzen und hätten sich vielleicht vor 200 Jahren unter dem gemeinsamen Namen der Atheisten und Naturalisten mit den eigentlichen Anhängern des Materialismus zusammen werfen lassen. Allein Plinius verräth nirgend philosophische Consequenz, Ptolemäus ist in der Astrologie befangen und Galenus hält sich nicht frei vom Glauben an übernatürliche Eingebungen.

Aristoteles, mehr Philosoph und weniger Forscher als diese Alle, nimmt dennoch als umfassendster Beherrscher und schärfster Sichter des ganzen naturwissenschaftlichen Stoffes seiner Zeit in den positiven Wissenschaften die erste Stelle ein. Das Register zu Humboldts Kosmos, welches die Epikureer kaum kennt, widmet ihm drei dichtgedrängte Seiten. Vor allen Dingen aber dürfte folgender Ausspruch Humboldts zu erwähnen sein: »In Plato's hoher Achtung für mathematische Gedankenentwickelung wie in den alle Organismen umfassenden morphologischen Ansichten des Stagiriten lagen gleichsam die Keime aller späteren Fortschritte der Naturwissenschaft. Sie wurden der Leitstern, welcher den menschlichen Geist durch die Verirrungen der Schwärmerei finsterer Jahrhunderte sicher hindurch geleitet, sie haben die gesunde wissenschaftliche Geisteskraft nicht ersterben lassen.«

Man sieht aber auch leicht, dass diese geringe Betheiligung des Materialismus an den Errungenschaften der positiven Forschung nicht zufällig, dass sie namentlich nicht etwa lediglich dem quietistischen und beschaulichen Charakter des Epikureismus zuzuschreiben ist, sondern dass in der That gerade das ideelle Moment bei den Eroberern der Wissenschaft mit ihren Entdeckungen und Erfindungen im engsten Zusammenhang steht.

Hier dürfen wir uns eine Vertiefung in die grosse Wahrheit nicht entgehen lassen, dass das objectiv Richtige und Verstandesmässige nicht immer das ist, was den Menschen am meisten fordert, ja nicht einmal das, was ihn zu der grössten Fülle objectiv richtiger Erkenntnisse führt. Wie der gleitende Körper auf der Brachystochrone schneller zum Ziele kommt, als auf der geneigten Ebene, so bringt die Gesammtorganisation des Menschen es mit sich, dass in manchen Fällen der Umweg durch den Schwung der Phantasie schneller zur Erfassung der nackten Wahrheit führt, als die nüchterne Bemühung, die nächsten und buntesten Hüllen zu zerreissen.

Es ist keinem Zweifel unterworfen, dass die Atomistik der Alten, weit entfernt, absolute Wahrheit zu haben, doch dem objectiven Wesen der Dinge ungleich näher kommt, als die Zahlenlehre der Pythagoreer und die Ideenlehre Plato's; zum mindesten ist sie ein viel directerer und geraderer Schritt auf die gegebenen Naturerscheinungen zu, als jene fast ganz aus dem speculativen Dichten der individuellen Seele hervorgequollenen tiefsinnig schwankenden Philosopheme. Allein die Ideenlehre Plato's ist nicht zu trennen von der grenzenlosen Liebe des Mannes zu den reinen Formen, in denen bei gänzlichem Wegfall alles Zufälligen und Gestörten, die mathematische Idee aller Gestalten angeschaut wird. Nicht anders steht es mit der Zahlenlehre der Pythagoreer. Die innere Liebe zu allem Harmonischen, der Zug des Gemüthes zur Vertiefung in die reinen Zahlenverhältnisse der Musik und der Mathematik, zeugte in der individuellen Seele den erfindenden Gedanken. So zog sich von der ersten Aufstellung des Μηδεὶς ἀγεω-μέτϱητος εἰςίτω bis zum Abschluss der alten Cultur der gemeinsame Grundzug durch die Geschichte der Erfindungen und Entdeckungen, dass gerade die Richtung des Gemüthes auf das Uebersinnliche die Gesetze der sinnlichen Erscheinungswelt auf dem Wege der Abstraction erschliessen half.

Wo bleiben denn nun die Verdienste des Materialismus? Oder soll etwa gerade der phantastischen Speculation neben sonstigen Verdiensten um Kunst, Poesie, Gemüthsleben auch noch gar der Vorzug in Beziehung auf die exacten Wissenschaften eingeräumt werden? Offenbar nicht. Die Sache hat ihre Kehrseite, und diese findet sich, wenn man die indirecte Wirkung des Materialismus und sein Verhältniss zur wissenschaftlichen Methode betrachtet.

Wenn wir dem subjectiven Trieb, der individuell gestalteten Ahnung gewisser Endursachen grosse Bedeutung für die Richtung und die Kraft der Bewegung zur Wahrheit hin zuschreiben, so dürfen wir doch keinen Augenblick aus den Augen verlieren, wie es gerade jene phantastische Willkür des mythologischen Standpunktes ist, welche den Fortschritt der Erkenntniss so lang und so mächtig gehemmt hat und in den weitesten Kreisen noch immer hemmt. Sobald der Mensch beginnt, die einzelnen Vorgänge nüchtern, klar und bestimmt zu betrachten, sobald er die Ergebnisse dieser Betrachtung an eine bestimmte, wenn auch irrthümliche, so doch jedenfalls feste und einfache Theorie anknüpft, ist der weitere Fortschritt gesichert. Dieser Vorgang ist von dem Process des Erdenkens und Erdichtens gewisser Endursachen leicht abzutrennen. Hat letzteres, wie wir eben nachwiesen, unter günstigen Umständen einen hohen subjectiven, auf das Ineinandergreifen der Geisteskräfte begründeten Werth, so ist der Anfang jener klaren, methodischen Betrachtung der Dinge gewissermassen erst der wahre Anfang des Verkehrs mit den Dingen selbst. Der Werth dieser Richtung ist objectiver Natur. Die Dinge fordern gleichsam, dass man so mit ihnen verkehrt, und erst bei der geregelten Frage ertheilt die Natur eine Antwort. Hier dürfen wir nun aber auf jenen Ausgangspunkt griechischer Wissenschaftlichkeit verweisen, der in Demokrit und der aufklärenden Wirkung seines Systems zu suchen ist. Diese aufklärende Wirkung kam der ganzen Nation zu gut; sie wurde vollzogen an der einfachsten und nüchternsten Betrachtung der Dinge, welche sich unserm Denken zunächst darbietet und welche nach den mannigfachsten Umbildungen heute noch ihren Werth nicht verloren hat: an der Atomistik.

Allerdings steht unsere heutige Atomistik seit der Ausbildung der Chemie, der Vibrationstheorie und der mathematischen Behandlung der in den kleinsten Theilchen wirkenden Kräfte in ungleich directerem Zusammenhang mit den positiven Wissenschaften; allein die Beziehung aller sonst so räthselhaften Naturvorgänge, des Werdens und Abnehmens, des scheinbaren Verschwindens und des unerklärten Auftauchens von Stoffen auf ein einziges durchgehendes Princip und eine, man möchte sagen handgreifliche Grundanschauung war denn doch im Alterthum für die Naturwissenschaft das Ei des Kolumbus. Der Götter- und Dämonenspuk war mit einem einzigen grossartigen Zuge beseitigt, und was nun auch tiefsinnig angelegte Naturen von Dingen denken mochten, die hinter der Erscheinungswelt liegen: die Erscheinungswelt selbst lag vom Nebel frei vor den Blicken da, und auch die ächten Schüler eines Plato und Pythagoras experimentirten oder sannen nun über die Naturvorgänge, ohne je die Welt der Ideen und der mystischen Zahlen mit dem unmittelbar Gegebenen zu vermengen. Diese Vermengung, in welcher einige neuere Naturphilosophen der Deutschen so stark waren, trat im classischen Alterthum erst ein mit dem Verfall der ganzen Cultur in der Zeit der schwärmerischen Neuplatoniker und Neupythagoreer. Es war die gesunde Sittlichkeit des Denkens, welche, durch das Gegengewicht des nüchternen Materialismus erhalten, die griechischen Idealisten so lange von solchen Irrwegen fern hielt. In gewisser Hinsicht behielt daher das ganze Denken des griechischen Alterthums vom Anfang bis gegen Ende der classischen Zeit ein materialistisches Element. Man erklärte die Erscheinungen der Sinnenwelt wieder aus dem, was man mit den Sinnen wahrnahm oder sich wenigstens als wahrnehmbar vorstellte. Die fanatische Behauptung absoluter Unbegreiflichkeit gewisser Vorgänge kannte das gesundere Alterthum nicht; ebensowenig die lähmende Annahme mystischer Kräfte. Daher hat auch der gesammte Idealismus des Alterthums keine Begriffe aufgestellt, welche gleich der Lebenskraft, dem horror vacui, den Krankheitsgeistern, den homöopathischen Kräften der Neueren geradezu Verwüstungen in den Wissenschaften anrichten mussten. Das einzige entschiedene Beispiel der Art, freilich auch das des grossartigsten und folgenreichsten Irrthums in der ganzen Geschichte der Wissenschaften, der aristotelische Begriff von der Möglichkeit, ist doch ganz anderer Natur und liegt so tief im Wesen des Menschen begründet, dass auf diesem Punkte die wahre Anschauung ohne den vorhergehenden Irrthum kaum denkbar ist. Die aristotelische Form ist im Grunde kein übersinnliches Princip; man sieht ja die Formen, während man die allgemeine Materie nicht sieht. Die spätere materialistische Wendung der peripatetischen Schule ist daher tief begründet.

Leicht können wir das materialistische Element des griechischen Denkens noch bis auf die Uranfänge der Philosophie bei Thales und Anaximander zurück verfolgen; allein eine solche Ausdehnung der Betrachtung liegt nicht im Zweck unserer Arbeit. Nur des Anaxagoras sei hier mit einigen Worten gedacht. Dieser tiefsinnigste unter den vorsokratischen Denkern hatte neben starken Elementen der Atomistik eine Weltseele angenommen und unterschied sich daher genug vom eigentlichen Materialismus. Wenn er aber schon den Mond für eine zweite Erde ansah, die ihr Licht der Sonne entlehnt und auf unsere Erde niederstürzen müsste, wenn der Schwung aufhörte, der sie im Kreise einhertreibt: dann sehen wir leicht, dass der edle Gottesleugner solche Lichtblicke weit mehr seiner materialistischen Betrachtung der Dinge – inmitten seiner noch ganz vom Mythus bezauberten Zeitgenossen – als seiner Annahme des ordnenden und leitenden Weltgeistes verdankt.

Wenn nun Epikur die Entwickelungsreihe origineller und einheitlicher Systeme bei den Griechen abschliesst, so liegt darin eine gewisse Anerkennung dessen, dass nach all den grossartigen Versuchen der andern Schulen, tiefer in das Wesen der Dinge einzudringen, doch kein Weg gefunden war, der eine bleibende und allgemeine Geltung gewinnen konnte. Die grossen Schulen pflanzten sich durch die Kraft des moralischen Impulses und die Macht der Tradition alle neben einander fort, und während sie sich auf dem Gebiet der Speculation eifrig bekämpften, arbeiteten sie in der Erforschung des Einzelnen und namentlich in der Naturforschung rüstig weiter. Der Materialismus Epikurs spricht als Lehrsatz aus, was die Forscher der andern Schulen zu bethätigen scheinen, dass nämlich hinter den Dingen der Erscheinungswelt weiter gar nichts zu suchen sei; dass die Forschung sich nur auf die Gesetze dieser Erscheinungen und eine Theorie ihres äusserlich verstandenen Entstehens beziehen könne. Diese Richtung auf das unmittelbar Gegebene und Einzelne in seinem nothwendigen Zusammenhang mit dem Nächsten und Gleichartigen bildet aber eben die Temperatur, in welcher die wissenschaftliche Methode vorzüglich gedeiht. Nicht aus Schwäche der Methode, sondern aus Abneigung gegen die mühevolle Arbeit, aus Neigung zur Beschaulichkeit und Bevorzugung der sittlichen und gemüthlichen Seite des Lebens blieben die Epikureer zurück. Sie hielten sich von den Werkstätten der Wissenschaften fern, wie sie sich vom Markte des Lebens fern hielten. Was aber von ihrer Denkweise in die eklektische Anschauung eines Plinius, Ptolemäus und Galenus einging, war gewiss vorwiegend das Element, was diese Männer zu ihren vorurteilsfreien Forschungen befähigte.

So sehen wir die Naturwissenschaften zwischen idealistischem Trieb und materialistischer Methode sich gleichsam in einer Curve bewegen, welche von diesen beiden Elementen als von ihren Coordinaten bestimmt wird. Wenn wir das erste dieser Elemente als ein persönliches, das zweite als ein sachliches bezeichnen, so geschieht dies doch vorbehaltlich einer ferneren, tieferen Betrachtungsweise, die sich erst an Kant und seine Lehre wird anknüpfen lassen.


 << zurück weiter >>