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Wenn wir die eigentliche Erneuerung einer ausgebildeten materialistischen Weltanschauung auf Gassendi zurückführen, so bedarf die Stellung, welche wir diesem damit einräumen, einiger verteidigenden Worte. Wir legen vor allen Dingen Gewicht darauf, dass Gassendi das vollendetste materialistische System des Alterthums, das System Epikurs wieder ans Licht gezogen und den Zeitverhältnissen gemäss umgebildet hat. Allein gerade hierauf hat man sich gestützt, um Gassendi aus der mit Baco und Descartes hereinbrechenden neuen Zeit einer selbständigen Philosophie zurück zu weisen und ihn als blossen Fortsetzer der überwundenen Periode der Reproduction altclassischer Systeme zu betrachten.
Hierin liegt eine Verkennung des wesentlichen Unterschiedes, der zwischen dem epikureischen und jedem andern alten Systeme im Verhältniss zu der Zeit, in der Gassendi lebte, bestand. Während die herrschende aristotelische Philosophie, so sehr sie auch den Kirchenvätern noch zuwider war, sich im Laufe des Mittelalters mit dem Christenthum fast verschmolzen hatte, blieb Epikur gerade das Sinnbild des extremen Heidenthums und zugleich des directen Gegensatzes gegen Aristoteles. Nimmt man hierzu den undurchdringlichen Schutt traditioneller Verläumdungen, mit denen Epikur überhäuft war, und deren Haltlosigkeit erst hie und da einsichtige Philologen gelegentlich bemerkt hatten, ohne einen entscheidenden Streich zu fuhren, so muss gerade die Ehrenrettung Epikurs verbunden mit der Erneuerung seiner Philosophie als eine That erscheinen, die schon bloss von ihrer negativen Seite, als die vollendete Opposition gegen Aristoteles, sich den selbständigsten Unternehmungen jener Zeit zur Seite setzen darf. Allein auch diese Betrachtung erschöpft die volle Bedeutung der That Gassendis nicht.
Gassendi traf nicht zufällig oder aus blosser Oppositionssucht auf Epikur und seine Philosophie. Er war Naturforscher und zwar Physiker und Empiriker. Nun hatte schon Baco dem Aristoteles gegenüber auf Demokrit hingewiesen als den grössten der alten Philosophen. Gassendi, dem eine gründliche philologisch-historische Bildung einen Ueberblick über die sämmtlichen Systeme des Alterthums gab, griff mit sicherm Blick dasjenige heraus, was gerade der neuen Zeit, und zwar der empirischen Richtung in dieser neuen Zeit, am vollständigsten entsprach.
Bedenklich könnte es freilich erscheinen, den Probst von Digne, den orthodoxen katholischen Geistlichen Gassendi, zum Stammvater des neueren Materialismus zu machen; allein Materialismus und Atheismus sind ja eben nicht zusammenfallende, wenn auch verwandte Begriffe; auch Epikur opferte den Göttern. Die Naturforscher dieser Zeit hatten durch längere Uebung eine wahre Virtuosität darin erlangt, mit der Theologie sich formell auf gutem Fusse zu erhalten. Descartes leitete z. B. seine Theorie von der Entstehung der Welt aus kleinen Körperchen mit der Bemerkung ein, dass zwar ganz gewiss Gott die Welt auf einmal erschaffen habe, dass es aber doch von grossem Interesse sei, zu sehen, wie die Welt hätte entstehen können, obwohl wir wüssten, dass sie es nicht gethan habe. Einmal mitten in der naturwissenschaftlichen Theorie angelangt, steht dann ausschliesslich jene Entstehungshypothese im Gesichtskreis; sie steht mit allen Thatsachen in bester Harmonie und man vermisst nicht das Geringste. So wird die göttliche Schöpfung zu einer bedeutungslosen Formel der Anerkennung. Ebenso geschieht es mit der Bewegung, wo Gott die erste Ursache ist, die aber den Naturforscher gar nicht weiter kümmert. Das Princip der Erhaltung der Kraft durch beständige Uebertragung der mechanischen Stossbewegung erhält zu seinem sehr untheologischen Inhalt doch eine theologische Form. In derselben Weise geht nun auch der Probst Gassendi zu Werke. Mersenne, ein anderer naturforschender Theolog, zugleich ein tüchtiger Hebräer, gab damals einen Commentar zur Genesis heraus, in welchem alle Einwürfe der Atheisten und Naturalisten widerlegt waren; aber so, dass mancher den Kopf dazu schüttelte, und jedenfalls der grösste Fleiss auf die Zusammenstellung, nicht auf die Widerlegung jener Einwürfe verwandt wurde. Mersenne nahm eine vermittelnde Stellung ein zwischen Descartes und Gassendi; mit beiden, wie mit dem Engländer Hobbes befreundet. Dieser war ein entschiedener Parteigänger des Königs und der bischöflichen Hochkirche und wird nebenbei als Haupt und Stammvater der Atheisten betrachtet.
Mit der Rettung Epikurs und der Herstellung seiner Lehre durfte sichs Gassendi nicht ganz so bequem machen. Man sieht es seiner Vorrede zu dem Buche über Leben und Sitten Epikurs wohl an, dass es gewagter erschien Epikur zu bekennen, als eine neue Kosmogonie aufzustellen. Dessenungeachtet sind die Rechtfertigungsgründe seines Schrittes wohlweislich nicht aus der Tiefe geschöpft, sondern nur mit grossem Aufwand von dialectischer Kunst äusserlich zusammen gefügt; ein Verfahren, das der Kirche gegenüber stets besser weggekommen ist, als ein tiefsinniger und selbständiger Versuch der Vermittelung zwischen ihren Lehren und fremden oder feindlichen Bestandtheilen.
Ist Epikur ein Heide, so war Aristoteles das auch; bekämpft Epikur den Aberglauben und die Religion, so hatte er Recht, denn er kannte ja eben die wahre Religion nicht; lehrt er, dass die Götter weder lohnen noch strafen, und verehrt er sie um ihrer Vollkommenheit willen, so zeigt sich darin der Gedanke der kindlichen Verehrung an der Stelle der knechtischen, also eine reinere, dem Christenthum näher stehende Auffassung. Epikurs Irrthümer sollen sorgfältig verbessert werden; es geschieht aber in jenem cartesianischen Geiste, den wir eben an der Lehre von der Weltschöpfung und von der Bewegung kennen lernten. Der unumwundenste Eifer zeigt sich darin, Epikur unter allen Philosophen des Alterthums die grösste Sittenreinheit zu vindiciren. So wird es denn wohl gerechtfertigt erscheinen, wenn wir Gassendi als den wahren Erneuerer des Materialismus betrachten, um so mehr, wenn man bedenkt, wie gross der thatsächliche Einfluss seines Vorgehens auf die nächstfolgenden Generationen war.
Pierre Gassendi wurde 1592 in der Nähe von Digne in der Provence als Sohn armer Landleute geboren. Er studirte und war bereits mit 16 Jahren Lehrer der Rethorik, 3 Jahre später Professor der Philosophie zu Aix. Damals schrieb er schon ein Werk, das seine Richtung in negativer Hinsicht bezeichnet: die Exercitationes paradoxicae adversus Aristoteleos, ein Werk voll jugendlichen Eifers, einer der schärfsten und übermüthigsten Angriffe gegen die aristotelische Philosophie. Diese Schrift wurde erst später, 1624 und 1645, theilweise gedruckt, fünf Bücher auf den Rath seiner Freunde verbrannt. Durch den gelehrten Parlamentsrath Peirescius befördert, wurde Gassendi bald darauf Canonicus, dann Probst zu Digne.
Als im Jahre 1641 Descartes seine meditationes de philosophia prima herausgab, war Gassendi bereits fest genug in seinen eigenen Anschauungen, um diesem Werk gegenüber eine entschiedene Stellung einzunehmen. Mit Descartes einig in der Bekämpfung des Aristoteles, verwandt in der Tendenz mechanischer Welterklärung, fand er sich doch von der metaphysischen Schöpfung desselben keineswegs befriedigt. Wie Descartes von der Vernunft (wenigstens scheinbar), so ging er von der Erfahrung aus; war jener Mathematiker, so war er Physiker; der Corpusculartheorie Descartes' gegenüber ergriff er die Atomistik.
Im Jahre 1643 gab er seine Disquisitiones Anticartesianae heraus, ein Werk, das mit Recht als Muster einer eben so feinen und höflichen, als gründlichen und witzigen Polemik bezeichnet wird. Wenn Descartes damit begann, an allem, selbst an der Wahrheit des sinnlich Gegebenen zu zweifeln, so zeigte Gassendi, dass es schlechthin unmöglich sei, eine Abstraction von allem sinnlich Gegebenen in Wirklichkeit durchzuführen, dass also auch das Cogito ergo sum nichts weniger als die höchste und erste Wahrheit sei, aus welcher sich alle übrigen ableiten liessen. Bemerkenswerth ist, dass Gassendis Einwand, man könne die Existenz ebensowohl aus jeder anderen Thätigkeit folgern, z. B. ich gehe spazieren, also bin ich, im Wesentlichen zusammentrifft mit der Bemerkung Büchners, dass dieser Schluss genau so viel werth sei, als wenn man sage: der Hund bellt, also ist er. Hinsichtlich der Form des Schlusses ist dies unzweifelhaft wahr, allein Descartes leugnet die Gewissheit der Prämisse für alle anderen Fälle mit Ausnahme des Zweifelns, d. h. Denkens. Der erste Einwand Gassendis ist dagegen allerdings haltbar.
Von einem ernsthaften Zweifel an der Wahrheit des sinnlich Gegebenen – etwa im Sinne eines Hume oder Kant – ist auch bei Descartes gar keine Rede; sobald sich Gelegenheit findet, nimmt er den ganzen Inhalt unseres sogenannten Bewusstseins mit allen Schulvorurtheilen und gedankenlosen Ueberlieferungen einfach in seine Schlusskette hinein. Das Schärfste, was man über das Cogito ergo sum sagen kann, hat übrigens Lichtenberg mit einem einzigen Worte gesagt: Descartes konnte mit Recht nur schliessen: Cogitat – » Es denkt«.
Materialistisch ist besonders folgender Einwand Gassendis gegen Descartes: dass durchaus nicht erhelle, warum die körperliche und die denkende Substanz bei aller Verschiedenheit ihrer Begriffe nicht doch im Wesen dieselben sein sollten. Wenn aber Körper und Seele zwei verschiedene Substanzen seien, so bleibe es völlig unbegreiflich, wie sie auf einander wirken und ein Wesen mit einander darstellen möchten.
Bald nach der Veröffentlichung dieses Angriffes auf Descartes wurde Gassendi königlicher Professor der Mathematik zu Paris, wo er unter grossem Beifall lehrte, jedoch bald durch ein Brustleiden in seinem Wirken unterbrochen wurde. In diese Zeit fällt seine Thätigkeit für die Philosophie Epikurs und damit zugleich die positive Ausbildung seiner eigenen Lehren. In derselben Zeit verfasste Gassendi auch ausser mehreren astronomischen Werken eine Reihe gediegener Biographien, unter denen besonders die des Kopernikus und des Tycho Brahe beachtenswerth sind; die Schrift de vita et moribus Epicuri wurde noch zu Digne verfasst. Gassendi ist unter allen hervorragenden Vertretern des Materialismus der einzige, der mit historischem Sinne begabt ist, und er ist es in eminentem Masse. Auch in seinem syntagma philosophicum behandelt er jeden Gegenstand zuerst historisch nach allen verschiedenen Auffassungsweisen.
Was das Weltgebäude betrifft, so erklärte er das Ptolemäische, das Kopernikanische und das Tychonische für die Hauptsysteme. Unter diesen verwirft er das Ptolemäische vollständig, das Kopernikanische erklärt er für das einfachste und der Wirklichkeit durchaus am besten entsprechende: allein das System Tychos müsse man annehmen, weil die Bibel offenbar der Sonne Bewegung zuschreibe. Es eröffnet uns einen Blick in die Zeit, dass der sonst so vorsichtige Gassendi, der in allen anderen Punkten seinen Materialismus im Frieden mit der Kirche durchführte, den Kopernikus nicht einmal verwerfen konnte, ohne sich durch seine lobenden Aussprüche den Vorwurf einer ketzerischen Ansicht vom Weltgebäude zuzuziehen. Baco und Descartes erklärten sich noch hundert Jahre nach Kopernikus mit einer Entschiedenheit gegen dessen Ansichten, welche unser höchstes Befremden erregen muss.
Die Welt hält Gassendi für ein geordnetes Ganze, und es fragt sich nur, in welcher Weise sie dies ist; namentlich ob sie beseelt ist oder nicht. Versteht man unter der Weltseele Gott, und soll nur behauptet werden, dass Gott durch sein Wesen und durch seine Gegenwart Alles erhalte, regiere und so gewissermassen beseele, so mag dies immerhin gelten. Auch stimmen Alle überein, dass die Wärme durch die ganze Welt ausgegossen sei; diese Wärme könnte auch die Seele der Welt genannt werden. Jedoch der Welt im eigentlichen Sinne eine vegetirende, empfindende oder denkende Seele zu ertheilen, widerspricht der wirklichen Erscheinung. Denn die Welt erzeugt weder eine andere Welt, wie die Thiere und Pflanzen es thun, noch wächst sie oder ernährt sich durch Speise und Trank; noch weniger hat sie Gesicht, Gehör und andere Functionen des Beseelten.
Ort und Zeit betrachtet Gassendi als etwas unabhängig für sich Bestehendes, weder Substanz noch Accidens; wo alle körperlichen Dinge aufhören, dehnt sich doch schrankenlos der Raum noch aus, und die Zeit floss vor Erschaffung der Welt so gleichmässig dahin wie jetzt. Unter dem materiellen Princip oder der ersten Materie ist diejenige Materie zu verstehen, welche sich nicht weiter auflösen lässt. So besteht der Mensch aus Kopf, Brust, Bauch u. s. w.; diese Theile wieder aus Knochen, Nerven, Muskeln u. s. w.; diese sind geformt aus Chylus und Blut; diese wieder aus der Nahrung, die Nahrung aus den sogenannten Elementen; aber auch diese wieder aus Atomen, weiche also das materielle Princip oder die erste Materie sind. Daher hat die Materie an sich noch keine Form. Ohne materielle Masse aber giebt es auch keine Form, und sie ist das beharrliche Substrat, während die Formen wechseln und vergehen. Daher ist die Materie an sich unzerstörbar und unerzeugbar und kein Körper kann aus Nichts entstehen, womit jedoch die Erschaffung der Materie durch Gott nicht geleugnet werden soll. Die Atome sind sämmtlich der Substanz nach identisch, der Figur nach verschieden.
Die weitere Ausführung über die Atome, den leeren Raum, Nichttheilbarkeit ins Unendliche, Bewegung der Atome u. s. w. folgt ganz Epikur. Bemerkenswerth ist nur, dass Gassendi die Schwere oder das Gewicht der Atome mit der natürlichen inneren Fähigkeit derselben sich zu bewegen identificirt. Uebrigens ist auch diese Bewegung von Anbeginn den Atomen durch Gott anerschaffen.
Gott, der die Erde und das Wasser, Pflanzen und Thiere hervorbringen liess, schuf eine bestimmte Anzahl von Atomen so, dass sie die Samen aller Dinge bildeten. Hiernach fing erst die Reihe von Erzeugungen und Zerstörungen an, welche noch heute besteht und auch ferner bestehen wird.
»Die erste Ursache von Allem ist Gott«; allein die ganze Abhandlung hat es im Verlauf nur mit den secundären Ursachen zu thun, welche zunächst jede einzelne Veränderung hervorbringen. Das Princip derselben muss aber nothwendig körperlich sein. In den künstlichen Producten ist freilich das bewegende Princip von dem Stoff verschieden; in der Natur aber wirkt das Agens innerlich und ist nur der thätigste und beweglichste Theil der Materie. Von den sichtbaren Körpern wird immer einer vom andern bewegt; das sich selbst bewegende Princip sind die Atome.
Das Fallen der Körper erklärt Gassendi aus der Attraction der Erde: diese Attraction kann aber keine actio in distans sein. Wenn nicht etwas von der Erde zu dem Stein hinkäme und ihn ergriffe, würde sich dieser gar nicht um die Erde bekümmern; gerade so, wie auch der Magnet das Eisen wirklich, wenn auch unsichtbar, fassen muss, um es zu sich hinzuziehen. Dass man sich dies nicht ganz roh durch ausgeworfene Harpunen oder Häkchen zu denken habe, zeigt ein merkwürdiges Bild, dessen sich Gassendi zur Erklärung dieser Anziehung bedient: ein Knabe, der von einem Apfel angezogen wird, dessen Bild durch die Sinne zu ihm kam. Es verdient hier bemerkt zu werden, dass auch Newton, der auf diesem Punkte in Gassendis Fusstapfen ging, keineswegs sein Gesetz der Gravitation sich als eine unvermittelte Wirkung in die Ferne dachte.
Das Entstehen und Vergehen der Dinge ist nichts als Verbindung und Trennung der Atome. Wenn ein Stück Holz verbrennt, so haben Flamme, Rauch, Asche u. s. w. den Atomen nach schon vorher existirt, nur in einer anderen Verbindung. Alle Veränderung ist nur Bewegung der Theile eines Dinges, daher das Einfache sich nicht verändern, sondern nur im Räume fortbewegen kann.
Für den Atomismus ist die Frage nach den Qualitäten der Dinge besonders schwierig, und Gassendi hilft sich hier durch ein sinnreiches Beispiel, welches doch im Grunde den Widerspruch nur verhüllt und nicht beseitigt. Die Atome haben nur eine gewisse Grösse, Figur und Bewegung. Sowie nun aber mehrere Atome gegeben sind, kommt gleich ein neues Element hinzu: das der Ordnung und der Lage. Wie nun die einzelnen Buchstaben in verschiedenen Stellungen verschiedenen Sinn ergeben, so können die Atome in verschiedener Verbindung verschiedene Gesammtwirkung ergeben. Dies Beispiel ist der alten epikureischen Lehre entnommen; allein es ist dabei ganz übersehen, dass für den entscheidenden Punkt, für die Einheit der Qualität die Erklärung völlig fehlt. Die Qualitäten werden von den Sinnen wahrgenommen. Das Vorhandensein eines Körpers, an dem die Qualitäten haften, wird geschlossen; nur die Qualitäten erscheinen den Sinnen.
Nun sind aber die Sinne selbst nur Aggregate von Atomen. Setzen wir auch, das Object könne, während nur einzelne Atome vorhanden sind, durch die Zusammensetzung und Ordnung derselben verschiedene Bedeutung gewinnen, so setzt dies doch ein Subject. voraus, welches die betreffende Zahl von Atomen einheitlich auffasst; denn nur bei solcher einheitlichen Auffassung haben die Ausdrücke Lage, Ordnung u. s. w. überhaupt einen Sinn. Dadurch wird aber die Frage der Qualitäten zurückgeführt auf die Frage der subjectiven Empfindung, die wir schon bei Gelegenheit der Lehre des Lucrez erörterten.
Gassendi unterscheidet sich hier nun zwar von Lucrez durch die Annahme eines unsterblichen und unkörperlichen Geistes; allein dieser Geist steht, gleich dem Gott Gassendis, so ganz ausser Zusammenhang mit dem Systeme, dass man seiner füglich entrathen kann. Es fällt auch Gassendi gar nicht ein, ihn wegen jenes Einheitsproblems anzunehmen; er nimmt ihn an, weil die Religion es fordert. Da nun sein System nur eine materielle, aus Atomen bestehende Seele kennt, so muss der Geist die Rolle der Unsterblichkeit und Unkörperlichkeit übernehmen. Ein Fortschritt gegenüber Lucrez besteht nur darin, dass Gassendi den Seelenatomen von vorn herein, und bevor sie so zusammengestellt sind, dass das aus ihnen bestehende Subject wirklich empfindet, die Anfänge der Empfindung zuschreibt. Es liegt hier auf der Hand, dass diese Anfänge, wenn sie etwas Reales sein sollen und nicht bloss aristotelische »Möglichkeiten«, dem Atom ausser Grösse, Figur und Bewegung noch einen inneren Zustand verleihen; mit anderen Worten, dass in diesen Atomen die leibnitz'sche Monade dem Princip nach schon enthalten ist. Der gordische Knoten des Einheitsproblems kam auch erst Leibnitz vollständig zum Bewusstsein, und Leibnitz zerhieb ihn mit dem Schwert statt ihn zu lösen. Gassendi hat hier nicht viel weiter gedacht als Epikur, und er mochte auch wohl wenig Lust haben, die Fäden dieses Problems weiter zu verfolgen, da sie vom Boden der Erfahrung abführten.
Die Theorie der äusseren Natur, für welche die Atomistik so treffliche Dienste leistet, lag Gassendi überhaupt weit mehr am Herzen als die Psychologie, in welcher er sich zur Abrundung des Systems mit einem Minimum eigener Gedanken behalf, während Descartes auch auf diesem Gebiete, ganz abgesehen von seiner metaphysischen Ichlehre, eine selbständige Leistung versuchte.
An der Universität zu Paris, wo unter den alten Docenten die aristotelische Philosophie noch herrschend war, griffen unter den jüngeren Kräften sowohl die Ansichten Descartes' als Gassendis immer mehr um sich und es entstanden zwei neue Schulen, die der Cartesianer und die der Gassendisten, von denen die eine im Namen der Vernunft, die andere im Namen der Erfahrung der Scholastik den Garaus zu machen beflissen war. Dieser Kampf war um so merkwürdiger, als damals gerade die Philosophie des Aristoteles unter dem Einfluss einer reactionären Zeitrichtung einen neuen Aufschwung genommen hatte. Der Theolog Launoy, übrigens ein grundgelehrter und vergleichsweise freisinniger Mann, ruft bei Erwähnung der Ansichten seines Zeitgenossen Gassendi voll Staunen aus: »Wenn das Ramus, Litaudus, Villonius und Clavius gelehrt hätten, was würde man mit jenen Menschen angefangen haben!«
Gassendi fiel der Theologie nicht zum Opfer, weil es ihm beschieden war der Medicin zum Opfer zu fallen. Eine Fiebercur nach Weise der Zeit hatte ihm alle Kräfte geraubt Vergeblich suchte er eine Zeit lang in seiner südlichen Heimath Erholung. Nach Paris zurückgekehrt, wurde er wieder vom Fieber ergriffen, und dreizehn neue Aderlässe machten seinem Leben ein Ende. Er starb den 24. October 1655 im 63. Jahre seines Alters.
Die Reform der Physik und der Naturphilosophie, welche man gewöhnlich Descartes zuschreibt, ist mindestens ebenso sehr Gassendis Werk. Vielfach hat man, in Folge der Berühmtheit, welche Descartes seiner Metaphysik verdankt, geradezu auf diesen zurückgeführt, was richtiger Gassendi zuzuschreiben wäre; es brachte aber auch die eigentümliche Mischung von Gegensatz und Uebereinstimmung, Bekämpfung und Bundesgenossenschaft zwischen beiden Systemen es mit sich, dass die von ihnen ausgehenden Ströme sich vollständig mischten. So war Hobbes, der Materialist und Freund Gassendis, Anhänger der Corpusculartheorie Descartes', während Newton sich die Atome in der Weise Gassendis dachte. Erst spätere Entdeckungen rührten darauf, beide Theorieen mit einander zu vereinigen und Atome und Molecüle, nachdem beide Begriffe eine entsprechende Fortbildung erhalten hatten, neben einander bestehen zu lassen; so viel ist aber unzweifelhaft, dass unsere heutige Atomistik sich Schritt für Schritt aus den Anschauungen Gassendis und Descartes' entwickelt hat und also in ihren Wurzeln bis auf Leucipp und Demokrit zurück reicht.