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Wir haben gesehen, wie früh der Materialismus in Deutschland Boden fasste. Gerade in Deutschland erhob sich aber auch mit besonderer Kraft eine Reaction gegen diese Geistesrichtung, welche sich durch einen grossen Theil des achtzehnten Jahrhunderts hinzieht, und deren Betrachtung wir nicht unterlassen dürfen. Gleich zu Anfang des Jahrhunderts verbreitete sich die Leibnitz'sche Philosophie, die in ihrem Ausgangspunkt gegen Locke, gegen Spinoza und endlich (in der Theodicee) gegen Bayle gerichtet schien, deren wesentliche Grundzüge aber auf einen grossartigen Versuch hinauslaufen, dem Materialismus mit einem Schlage zu entrinnen. Niemand kann die Verwandtschaft der Monaden mit den Atomen der Physiker verkennen. Der Ausdruck principia rerum oder elementa rerum, den Lucrez für die Atome anwendet, könnte ebenso gut einen gemeinsamen Oberbegriff für Monaden und Atome bezeichnen. Leibnitzens Monaden sind allerdings die Urwesen, die wahren Elemente der Dinge in seiner metaphysischen Welt, und man hat längst erkannt, dass der Gott, den er als den »zureichenden Grund der Monaden« in sein System aufgenommen hat, eine mindestens ebenso überflüssige Rolle spielt, als die Götter Epikurs, die sich schattenhaft in den Zwischenräumen der Welten herumtreiben. Leibnitz, der ein Diplomat und ein Universal-Genie war, der aber, wie Lichtenberg scharf treffend sagt, »wenig Festes hatte«, vermochte es mit gleicher Leichtigkeit, sich in die Abgründe der tiefsten Speculation zu versenken, und im seichten Fahrwasser alltäglicher Erörterung die Klippen zu umschiffen, mit denen das practische Leben den standhaften Denker bedroht. Es wird vergeblich sein, die Widersprüche seines Systems bloss aus der abgerissenen Form seiner gelegentlichen Productionen zu erklären; als ob jener reiche Geist in sich selbst eine vollkommen klare Weltanschauung gehegt hätte, als ob er irgend einen Uebergang, eine Erläuterung nur zufällig verschwiegen hätte, die uns mit einem Schlage den Schlüssel zu allen Räthseln seiner Schriften geben würde. Jene Widersprüche sind da; sie sind auch wohl Zeugen von Characterschwächen; allein wir dürfen nicht vergessen, dass wir es hier nur mit dem Schatten im Bild eines wahrhaft grossen Mannes zu thun haben.
Leibnitz, der einen Toland bei seiner königlichen Freundin Sophie Charlotte einführte, musste selbst wissen, dass die verschwommenen und zweideutigen Gründe seiner Theodicee nur einen schwachen und für den eigentlichen Denker überhaupt gar keinen Damm gegen den Materialismus bilden konnten. Serena wird auch aus diesem Werke ebensowenig viel Beruhigung geschöpft haben, als aus Bayles Lexicon und Tolands Briefen ernsthafte Beunruhigung. – Für uns ist einzig die Lehre von den Monaden und der prästabilirten Harmonie von Bedeutung. Diese zwei Begriffe haben mehr philosophischen Gehalt, als manches breit ausgesponnene System. Es genügt, sie zu erklären, um ihre Bedeutung zu gewahren.
Wiederholt haben wir gesehen, wie schwierig, ja unmöglich es für den Materialismus, sofern er Atome annimmt, bleiben muss, von dem Ort der Empfindungen und überhaupt der bewussten Vorgänge Rechenschaft zu geben. Sind sie in der Verbindung der Atome? Dann sind sie in einem Abstractum, d. h. objectiv nirgends. Sind sie in der Bewegung? Das wäre dasselbe. Man kann nur das bewegte Atom selbst als Sitz der Empfindung annehmen. Wie setzt sich nun Empfindung zusammen zu einem Bewusstsein? Wo ist letzteres? In einem einzelnen Atom oder wieder in Abstractionen, oder gar im leeren Raum, der dann eben nicht leer wäre, sondern mit einer eigentlichen immateriellen Substanz erfüllt?
Das scharfe Durchdenken dieser Begriffe treibt unwiderstehlich dazu, das Selbstbewusstsein überhaupt als objective Einheit geradezu zu läugnen, und alle Erscheinungen, die man diesem Wesen zuschreibt, einfach als Wirkungen einer Summe von Empfindungen zu erklären, die keinen weiteren Zusammenhang haben, als etwa die Bewegungen der Atome eines fallenden Körpers. Will man dagegen die Einheit des Selbstbewusstseins retten, die wir, vielleicht durch überlieferte Worte und Vorurtheile verleitet, unmittelbar zu empfinden glauben; dann bleibt kein anderer Weg, als es ganz in ein einziges Atom zu versetzen. Ein solches Atom brauchte noch keine Monade zu sein, wie Leibnitz sie will; man könnte noch annehmen, dass es von allen andern Atomen eines Organismus, welche für sich vielleicht ebenfalls einfachere oder zusammengesetztere Empfindungen hegen, gewisse physische Einflüsse erfährt, welche in ihm, als dem bevorzugten Central-Atom, das vollkommenste Bewusstsein erzeugen. Es läge sogar nahe, hier sich auf das Bild des Magneten zu stützen, der durch eine Reihe treppenförmig angelegter Magnete verstärkt und zu höchster Wirkung gebracht wird. Allein hier kommt noch eine andere Frage in den Weg, welche jeden Atomismus in Verlegenheit setzen muss.
Was ist Wirkung in die Ferne? Ist sie? Ist sie nicht? Wo ist sie? Zwei gegen einander gravitirende Himmelskörper – haben sie eine materielle Verbindung, welche den Aether durchdringt und, von Atom zu Atom übertragen, nach Naturgesetzen bekannter oder zukünftig zu entdeckender Kräfte die grosse Wirkung der Anziehung hervorbringen? Und wie soll bei dieser Uebertragung, wie soll überhaupt bei allen Naturvorgängen ein Atom auf das andere wirken? Es giebt kein anschauliches Princip, als das des Stosses. Eine zahllose, bald so bald anders aufeinanderfolgende Menge von Stössen soll nun also in dem erschütterten Atom die Empfindung hervorbringen. Dies scheint noch ebenso denkbar, als etwa, dass die Erschütterung einer Saite oder eines Theiles der Luft einen Schall hervorbringt. Aber wo ist der Schall? Schliesslich, sofern wir uns seiner bewusst werden, im hypothetischen Central-Atome; d. h. unser Bild hilft nichts. Wir sind nicht weiter als zuvor. Es fehlt uns im Atom das zusammenfassende Princip. Es ist immer dieselbe Schwierigkeit, vor der wir stehen. Man denke sich das Atom wie man wolle – mit starren oder beweglichen Theilchen, mit Unteratomen, »innerer Zustände« fähig oder nicht: auf die Frage, wo und wie die Stösse aus ihrer Mannigfaltigkeit in die Einheit der Empfindung übergehen, ist nicht nur keine Antwort da, sondern es fehlt auch, sobald man der Sache auf den Grund geht, jede Denkbarkeit, geschweige denn Anschaulichkeit eines solchen Vorganges. Erst wenn wir gleichsam das Auge unseres Verstandes entfernen, wird uns ein solches Zusammenwirken der Stösse zur Erzeugung der Empfindung natürlich vorkommen, wie uns mehrere Punkte, wenn wir das physische Auge entfernen, in einen einzigen zusammenfliessen. Liegt etwa die Begreiflichkeit der Dinge darin, dass man von seinem Verstand, wie die schottischen Querköpfe Reid, Beattie, Oswald grundsätzlich nur einen mittelmässigen Gebrauch macht? Das war keine Rolle für einen Leibnitz! Wir sehen ihn der Schwierigkeit gegenüber: Stoss, wie Epikur schon wollte, oder Wirkung in die Ferne – oder – – vielleicht gar keine Wirkung.
Das ist der salto mortale zur prästabilirten Harmonie. Ob Leibnitz durch ähnliche Untersuchungen, oder sprungweise, oder wie immer auf seine Lehre gekommen ist, fragen wir nicht. Hier liegt aber der Punkt, der dieser Lehre überhaupt Bedeutung giebt, und es ist genau dieser Punkt, der sie auch für die Geschichte des Materialismus so wichtig macht. Die Einwirkungen der Atome aufeinander, so dass dadurch in einem oder mehreren derselben Empfindungen erzeugt werden, sind undenkbar; also sind sie auch nicht anzunehmen. Das Atom bringt seine Empfindungen aus sich hervor; es ist eine nach seinen eignen inneren Lebensgesetzen sich entfaltende Monade. Die Monade hat keine Fenster. Es geht nichts aus ihr hinaus, es kommt nichts in sie hinein. Die Aussenwelt ist ihre Vorstellung, und diese Vorstellung entsteht in ihrem Innern. Jede Monade ist so eine Welt für sich; keine gleicht der andern. Die eine ist reich an Vorstellungen, die andre arm. Der Vorstellungsinhalt aller Monaden steht aber in einem ewigen Zusammenhang, in einer vollkommenen Harmonie, die vor Anbeginn der Zeiten festgestellt (prästabilirt) ist, und die sich im beständigen Wechsel aller Zustände aller Monaden beständig erhält. Jede Monade stellt sich, verworren oder deutlich, das ganze Universum, die ganze Summe alles Geschehens vor, und die Summe aller Monaden ist das Universum. Die Monaden der unorganischen Natur haben nur Vorstellungen, die sich ganz neutralisiren, wie die des Menschen im traumlosen Schlafe. Höher stehen die Monaden der organischen Welt, die niedere Thierwelt besteht aus träumenden Monaden; in der höheren stellt sich Empfindung und Gedächtniss ein; beim Menschen das Denken.
So gelangt man von einem verstandesmässig begründeten Ausgangspunkt durch eine geniale Erfindung mitten in die Poesie der Begriffe. Woher wusste Leibnitz, wenn die Monade alle Vorstellungen aus sich hervorbringt, dass ausser seinem Ich noch andere Monaden da seien? Hier liegt für ihn noch dieselbe Schwierigkeit vor, wie für Berkley, der durch den Sensualismus hindurch zu demselben Punkte gelangte, den wir hier durch den Atomismus erreichen. Auch Berkley nahm die ganze Welt als Vorstellung; ein Standpunkt, den Holbach nicht recht zu widerlegen wusste. Einige Franzosen sollen so weit gegangen sein, wirklich zu bezweifeln, dass ausser ihrem eignen Wesen, welches Thun und Leiden, Lust und Weh, Kraft und Schwäche als seine eignen Vorstellungen aus sich hervorbringt, irgend etwas auf der weiten Welt existire. Manche werden glauben, eine solche Weltanschauung sei leicht durch eine Douche oder Brause bei angemessener Diät zu widerlegen; aber nichts wird den auf diesem Punkte angelangten Denker hindern, Brause, Arzt, seinen eigenen Körper und eben kurzweg das ganze Universum für seine Vorstellung zu halten, ausserhalb welcher nichts existirt. Auch wenn man bei diesem Standpunkt andere Wesen – was immerhin als denkbar wird zugegeben werden – annehmen will, so folgt daraus noch lange nicht die Nothwendigkeit der prästabilirten Harmonie. Es könnten die Vorstellungswelten dieser Wesen in dem schreiendsten Widerspruch zu einander stehen; Niemand würde etwas davon merken. Aber grossartig, edel und schön ist freilich der Gedanke, den Leibnitz zum Fundament seiner Philosophie machte, wie wenige andere. Sollte vielleicht überhaupt das Aesthetische, das Practische auch in der erkennenden Philosophie eine durchgreifendere Bedeutung haben, als man gemeiniglich annimmt?
Die Monaden mit der prästabilirten Harmonie enthüllen uns das wahre Wesen der Dinge so wenig, wie die Atome und die Naturgesetze. Sie geben aber eine reine, in sich abgeschlossene Weltanschauung wie der Materialismus und bergen weniger innere Widersprüche in sich, als dieser. Die Opposition gegen den Materialismus stützt sich aber nicht deshalb so gern auf Leibnitz, sondern aus andern Gründen. Der Radicalismus der Monadenlehre ist zwar viel grösser als der des Materialismus, allein er ist auch für die oberflächliche Verwendung der philosophischen Begriffe, wie das Leben sie braucht, weit verborgener. Es geht in dieser Beziehung nichts über eine tüchtige Abstraction. Der Schulfuchs, welcher sich vor dem Gedanken entsetzt, dass die Ahnherrn des Menschengeschlechtes einst unsern heutigen Affen möchten geglichen haben, schluckt die Monadenlehre gemüthlich herunter, welche die menschliche Seele für wesentlich gleichartig erklärt mit allen Wesen des Universums bis zum verachtetsten Stäubchen herab, die alle in sich das Universum spiegeln, alle für sich kleine Götter sind und denselben Vorstellungsinhalt nur in verschiedner Ordnung und Entwickelung in sich tragen. Man merkt dabei nicht gleich, dass auch die Affenmonaden mit in der Reihe sind, dass sie so unsterblich sind, wie die Menschenmonaden, und dass sie in fernerer Entwickelung vielleicht noch zu einem ganz schön geordneten Vorstellungsinhalt gelangen könnten. Wenn dagegen der Materialist mit plumper Hand den Affen neben den Menschen setzt, ihn dem Taubstummen vergleicht und ihn gleich einem Christenmenschen erziehen und bilden will, da hört man die Bestie die Zähne fletschen, man sieht ihre wilden Grimmassen und geilen Geberden, man fühlt mit unendlichem Abscheu die Gemeinheit und Widerlichkeit dieses Wesens in Körperform und Charakter, und – die bündigsten Vernunftschlüsse, von denen aber jeder ein Loch hat, strömen in reicher Fülle hervor, um das Widersinnige, Undenkbare, Vernunftwidrige einer solchen Annahme ganz klar und für jedermann fasslich darzuthun.
Wie in diesem Falle die Abstraction ihre Dienste thut, so auch in allen übrigen Punkten. Der Theologe kann die Vorstellung einer ewigen, grossartigen, göttlichen Harmonie alles Geschehens gelegentlich vortrefflich brauchen. Dass die Naturgesetze blosser Schein, nur niedre Erkenntnissweise des empirischen Verstandes sind, dient ihm vorzüglich, während ihm die Consequenzen dieser Weltanschauung sobald sie sich gegen den Kreis seiner Lehren wenden, durchaus nicht lästig fallen. Sie sind ja gleichsam nur im Keim des Begriffs vorhanden, und den Menschen, der Widersprüche aller Art zu seiner täglichen Speise zählt, stört nichts, als was ihm sinnlich greifbar gegenübertritt. So war denn auch die Herstellung der Immaterialität und Einfachheit der Seele vor allen Dingen ein herrlicher Fund für die philosophischen Todtengräber, deren eigentlicher Beruf darin liegt, eine bedeutende Idee mit dem Trümmerwerk und Schutt der Alltagsvorstellungen zu überdecken und unschädlich zu machen. Dass diese Immaterialität eine solche war, welche mit kühnem Ruck den alten Gegensatz von Geist und Materie für immer, und gründlicher als es der Materialismus konnte, beseitigte, darum kümmerte man sich nicht im mindesten. Man hatte die Immaterialität, diesen herrlichen, erhabenen Gedanken, bewiesen durch den grossen Leibnitz! Wie verachtend konnte man auf die Thorheit derjenigen hinabblicken, welche die Seele für materiell hielten und ihr Bewusstsein mit einer so niedrigen Vorstellungsweise befleckten!
Die Aufstellung eines Gottesbegriffes bei Leibnitz ist nicht gerade als eine Reaction gegen den Materialismus zu fassen, denn das konnten die Materialisten jener Zeit auch. Gott ist »der zureichende Grund« der Monaden. Was thut aber dieser zureichende Grund? An der Welt der Monaden und der prästabilirten Harmonie hatte Leibnitz nichts zu flicken übrig gelassen, wie Newton an seiner Welt der Gravitation. Der Gedanke, dass die Monaden und die Harmonie von Ewigkeit her sind, liegt gerade so nahe, wie beim Atomismus die Ewigkeit des Stoffes. Dazu kommt, dass Leibnitz selbst schwankt. Es kommt vor, dass er die Gottheit selbst als Monade fasst – ein schöner Gedanke, der aber viel zu bestimmt ist, um in irgend einem dogmatischen Lehrgebäude Dienste thun zu können. Auch der Optimismus und die Lehre vom Ursprung des Bösen, welche Leibnitz in der Theodicee entwickelt, konnten seinem System die Bedeutung einer Ueberwindung des Materialismus nicht geben. Der Optimismus oder die Lehre, dass die von Gott geschaffene Welt unter allen denkbaren Welten die beste sei, war ein trefflicher Gegenstand für die Satyre Voltaires, aber kein wesentliches Moment im Entwickelungsgang der Philosophie. Ueber den Ursprung des Bösen hat Leibnitz viel Schwankendes und Spitzfindiges gesagt; wenn er aber unter Anderm die ebenso verständliche als tiefsinnige Bemerkung macht, das Böse, welches Gott doch jedenfalls direct oder indirect geschaffen hat, spiele in der Welt nur dieselbe Rolle, wie der Schatten im Gemälde oder die Dissonanz in der Musik, so liegt das von Holbachs Leugnung einer absoluten moralischen Weltordnung gar nicht weit ab.
Es ist also nur die Monadenlehre selbst, die den Materialismus wenigstens an Consequenz überbietet, wenn sie ihn auch nicht völlig überwindet, in welcher das achtzehnte Jahrhundert den ersten grossen Sturm gegen die bloss empirische Auffassung der Dinge unternimmt. Bemerkenswerth als bedeutungsvoller Streitgegenstand ist dabei noch besonders die Lehre von den angebornen Vorstellungen. Locke hatte diese Lehre erschüttert; Leibnitz stellte sie wieder her, und die Materialisten, De la Mettrie an der Spitze, verhöhnen Leibnitz deswegen. Wer hat in diesem Punkte recht? – Leibnitz lehrt, dass alle Gedanken aus dem Geist selbst hervorgehen, dass eine äussere Einwirkung auf den Geist überhaupt nicht statt finde. Hiergegen lässt sich kaum etwas Sicheres einwenden. Man sieht aber auch gleich, dass die angebornen Ideen der Scholastiker und der Cartesianer ganz anderer Art sind. Bei diesen gilt es, gewisse allgemeine Begriffe, denen man denn auch die Vorstellung eines vollkommensten Wesens beizugesellen pflegt, vor allen andern Vorstellungen durch ihr Ursprungs-Attest zu bevorzugen und ihnen eine höhere Glaubwürdigkeit zu sichern – ein Verfahren, in welchem sich Richtiges und Unrichtiges sonderbar mischte. Wäre Leibnitz wirklich auf diese Pfade zurückgekehrt und dabei der Theologie gegenüber etwas charakterfester gewesen, so hätte sein systematisirender Geist vielleicht Kant zuvorkommen können in der Auffindung der Categorien; allein in Wahrheit führte sein Weg nach einer ganz andern Seite. Indem nach ihm alle Vorstellungen angeboren sind, schwindet der Unterschied zwischen empirischer und angeblich ursprünglicher Erkenntniss völlig dahin. Für Locke ist der Geist anfänglich ganz leer; nach Leibnitz enthält er das Universum. Locke lässt alle und jede Erkenntniss von aussen kommen, Leibnitz gar keine. Das Resultat dieser Extreme ist, wie so häufig, ziemlich dasselbe. Gesetzt man giebt Leibnitz zu, dass dasjenige, was wir äussere Erfahrung nennen, in der That innere Entwicklung ist: dann muss Leibnitz hinwiederum zugeben, dass es ausser den Erfahrungserkenntnissen keine specifisch andern giebt. Sonach hat Leibnitz von den angebornen Ideen im Grunde nur den Schein gerettet. Sein ganzes System ist immer wieder zurückzuführen auf einen einzigen grossen Gedanken – einen Gedanken, der nicht zu beweisen, der aber auch vom Standpunkt des Materialismus nicht zu widerlegen ist, und der von der offenbaren Unzulänglichkeit des Materialismus seinen Ausgangspunkt nimmt.
Wenn in Leibnitz deutscher Tiefsinn gegen den Materialismus reagirte, so war es bei seinen Nachbetern die deutsche Pedanterei. Die Unart, endlose Begriffsbestimmungen aufzustellen, mit denen zuletzt gar nichts Sachliches ausgemacht wird, war unserer Nation tief eingewurzelt. Sie überwuchert noch das ganze System Kants und erst der frischere Geist, den der Aufschwung unsrer Poesie, der positiven Wissenschaften und der practischen Bestrebungen mit sich gebracht hat, befreit uns allmählig – noch ist der Process nicht vollendet – von den Formelnetzen der metaphysischen Wegelagerer. Den Reigen führte ein wackrer, freidenkender Mann, aber ein höchst mittelmässiger Philosoph, der Professor Christian Wolff, der eine neue Scholastik erfand, die von der alten erstaunlich viel sich zu assimiliren wusste. Wolff brachte die Lehre von der prästabilirten Harmonie nur in einem Winkel seines Systems an und reducirte die Monadenlehre in der Hauptsache auf den alt-scholastischen Satz, dass die Seele eine einfache und unkörperliche Substanz sei.
Diese Einfachheit der Seele, welche zum metaphysischen Glaubensartikel erhoben wurde, spielt nun im Kampf gegen den Materialismus die wichtigste Rolle. Der ganze grosse Parallelismus zwischen Monaden und Atomen, Harmonie und Naturgesetz, in welchem die Extreme so schroff und doch so nah verwandt einander gegenüberstehen, schrumpft zusammen in einige Lehrsätze der sogenannten »rationellen Psychologie«, einer von Wolff erfundenen scholastischen Disciplin. Wolff hatte recht, sich dagegen zu sträuben, als sein ungleich schärfer denkender Schüler Bilfinger den Namen der Leibnitz-Wolffschen Philosophie aufbrachte. Bilfinger, ein Mann, den Holbach im System der Natur mehrmals mit Achtung citirt, verstand jedenfalls Leibnitz ganz anders. Er verlangte in der Psychologie das Aufgeben der bisherigen Weise der Selbstbeobachtung und die Einführung einer naturwissenschaftlichen Methode. Mit geringerer Schärfe strebte übrigens auch Wolff in seiner empirischen Psychologie, die er neben der rationalen bestehen liess, diesem Ziele zu, und es ergab sich überhaupt aus den ermüdenden Kämpfen um das Wesen der Seele als natürlicher Rückschlag die Neigung, welche sich durch das ganze achtzehnte Jahrhundert hindurch zieht, über das Seelenleben möglichst viel positive Thatsachen zusammenzutragen.
Fehlte es auch diesen Untersuchungen meist sehr an scharfer Kritik und fester Methode, so ist doch ein förderlicher methodischer Grundzug darin zu erkennen, dass man vor allen Dingen die Thierpsychologie anbaute. Der alte Streit zwischen den Anhängern von Rorarius und Descartes hatte nie geruht, und nun kam Leibnitz, der mit seiner ungeheuren Autorität durch die Monadenlehre auf einmal den Unterschied aller Seelen zu einem bloss graduellen machte. Anlass genug zu erneuter Vergleichung! Man verglich, prüfte, sammelte Anekdoten, und unter dem Einfluss der wohlwollenden, sympathischen Geistesrichtung, welche die Bildung des vorigen Jahrhunderts, und namentlich die rationalistische Richtung auszeichnet, kam man immer mehr dazu, in den höheren Thieren sehr nah verwandte Wesen zu finden.
Diese Richtung auf eine allgemeine und vergleichende, Mensch und Thier umfassende Psychologie hätte an sich dem Materialismus ganz gelegen kommen können; allein die ehrliche Consequenz der Deutschen hielt so lange als irgend möglich an den religiösen Vorstellungen fest, und man konnte sich an die Weise der Engländer und Franzosen, welche den Zusammenhang von Glauben und Wissen einfach ignorirten, durchaus nicht gewöhnen. Es blieb kein andrer Weg, als der, die Seelen der Thiere nicht nur gleich denen der Menschen für immateriell, sondern auch für unsterblich zu erklären. Niemals kümmerte den Deutschen die Heterodoxie als solche. Er will nur Zusammenhang und Einklang in seinen Vorstellungen und seinem Thun, und wenn die Behauptung eines ihm unentbehrlichen Dogmas es zu fordern scheint, andre zu opfern, so zögert er nicht. Leibnitz hatte für die Lehre von der Unsterblichkeit der Thierseelen den Ton angegeben. Ihm folgten Baier und Thomasius, Mediciner der Universität Nürnberg. Im Jahre 1742 trat eine ganze Gesellschaft von Thierfreunden auf, die eine Reihe von Jahren hindurch gesammelte Abhandlungen aus der Thierpsychologie veröffentlichten; wesentlich alle im Leibnitz'schen Sinne. Am berühmtesten wurde das Werk des Professors G. F. Meier, Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere, welches 1749 zu Halle erschien. Meier begnügte sich nicht mit der Behauptung, dass die Thiere Seelen hätten, sondern er ging sogar so weit, die Hypothese aufzustellen, dass diese Seelen verschiedene Stufen durchmachen und endlich zur Staffel der Geister gelangen, d. h. mit dem Menschen gleich stehn werden.
Der Verfasser dieses Werkes hatte sich aber auch bereits durch die Bekämpfung des Materialismus einen Namen gemacht. Schon im Jahre 1743 erschien von ihm der »Beweis, dass keine Materie denken könne«, der 1751 in neuer Bearbeitung herauskam. Dies Schriftchen hat aber bei weitem nicht so viel Originelles, als die Thierpsychologie. Es dreht sich lediglich im Kreise Wolff'scher Begriffsbestimmungen umher. Um dieselbe Zeit ungefähr versuchte sich der Königsberger Professor Martin Knutzen an der grossen Zeitfrage, ob die Materie denken könne. Knutzen lehnt sich in freierer Weise an Wolff an und giebt nicht nur ein metaphysisches Gerippe, sondern auch eingehende Beispiele und historisches Material, das von vieler Belesenheit zeugt. Dennoch fehlt auch hier dem eigentlichen Beweis jegliche Schärfe, und es ist kein Zweifel, dass solche Schriften der gelehrtesten Professoren gegen eine als ganz unhaltbar, frivol, paradox und unsinnig verschrieene Lehre sehr dazu beitragen mussten, das Ansehen der Metaphysik in den Grundfesten zu erschüttern.
Durch solche und ähnliche Schriften, bei denen wir noch Reimanns historia atheismi (1725) und ähnliche Werke eines vageren Charakters ganz bei Seite lassen, war in Deutschland die materialistische Frage mächtig angeregt worden, als plötzlich der homme machine wie eine von unbekannter Hand geschleuderte Bombe auf die literarische Bühne fuhr. Natürlich säumte die selbstgewisse Schulphilosophie nicht lange, ihre Ueberlegenheit an diesem Gegenstande des Aergernisses zu erproben. Während man sich noch darüber herumstritt, ob der Marquis d'Argens, ob Maupertuis oder irgend ein persönlicher Feind des Herrn von Haller das Werk verfasst habe, erschien bereits eine Fluth von Kritiken und Streitschriften.
Von den deutschen Gegenschriften wollen wir nur einige hier berühren. Ein Magister Frantzen suchte dem homme machine gegenüber die Göttlichkeit der ganzen Bibel und die Glaubwürdigkeit der sämmtlichen Erzählungen des alten und neuen Testamentes mit den üblichen Gründen darzuthun. Er hätte sich an eine bessere Adresse wenden können, allein er bewies wenigstens so viel, dass in damaliger Zeit selbst ein orthodoxer Theologe einen De la Mettrie leidenschaftslos angreifen konnte.
Interessanter ist die Schrift eines berühmten Breslauer Arztes, des Herrn Tralles. Dieser, ein überschwenglicher Bewunderer des Herrn von Haller, den er den doppelten Apollo (in Medicin und Dichtkunst) nennt, ist zwar wohl zu unterscheiden von dem bekannten Physiker Tralles, der beträchtlich später lebte, dagegen dürfte er ein und dieselbe Person sein mit dem Nachahmer Hallers, welchen Gervinus gelegentlich als den Verfasser eines »unglaublich elenden« Lehrgedichtes über das Riesengebirge erwähnt. Er schrieb ein dickes Buch in lateinischer Sprache gegen den homme machine und widmete es Herrn von Haller, vermuthlich um ihn wegen De la Mettrie's perfider Dedication zu trösten.
Tralles geht davon aus, dass der homme machine die Welt überreden will, alle Aerzte seien nothwendig Materialisten. Er streitet für die Ehre der Religion und die Unschuld der Arzneiwissenschaft. Für die Naivetät seines Standpunktes ist es bezeichnend, dass er die Gründe seiner Widerlegungen aus allen vier Hauptwissenschaften hernimmt, deren Beweiskraft ihm coordinirt scheint, wo nicht gar nach der Rangordnung der Facultäten abgestuft. In allen Hauptpunkten sind es freilich die landläufigen, der Wolff'schen Philosophie entlehnten Beweise, die auch hier überall wiederkehren.
Was De la Mettrie aus dem Einfluss der Temperamente, aus den Wirkungen von Schlaf, Opiumgenuss, Fieber, Hunger, Trunkenheit, Schwangerschaft, Aderlass, Klima u. s. w. schliessen will, wird einfach damit abgefertigt, dass aus all jenen Beobachtungen nur eine gewisse Uebereinstimmung zwischen Leib und Seele folge. Die Sätze von der Bildungsfähigkeit der Thiere veranlassen zu der nahe liegenden Bemerkung, dass gewiss Niemand dem Maschinenmenschen das Scepter in dem neu zu begründenden Affenstaate streitig machen werde. Redende Thiere gehören nicht zur besten Welt, sonst würden sie schon längst da sein. Könnten aber die Thiere auch reden, so könnten sie doch gewiss keine Geometrie lernen. – Eine äussere Bewegung kann niemals zur inneren Empfindung werden. Unsere Gedanken, welche mit den Veränderungen in den Nerven verknüpft sind, kommen bloss vom göttlichen Willen her. Der homme machine sollte lieber Wolffs Psychologie studiren, um seine unrichtigen Begriffe von der Einbildungskraft zu verbessern.
Feiner und gewandter als Tralles geht der Professor Hollmann zu Werke, der den Anonymen anonym, den Satyriker satyrisch, den Franzosen in fliessender französischer Sprache bekämpfte; wobei denn freilich für die Vertiefung der Erkenntniss keine Frucht gewonnen wurde. Der lettre d'un anonyme fand besonders viel Beifall durch die humoristische Fiction, dass es wirklich einen Maschinenmenschen gebe, der dann freilich nicht anders denken kann und das Höhere zu begreifen unfähig ist. Diese Annahme giebt Veranlassung zu einer Reihe von witzigen Wendungen und erspart dem Briefsteller alle Beweise. Was jedoch De la Mettrie mehr als aller Spott ärgerte, war die Aeusserung der Vermuthung, dass der homme machine ein Plagiat an dem Vertrauten Briefwechsel enthalte.
Gegen Schluss des anonymen Briefes tritt mehr und mehr ein prosaischer Fanatismus hervor. Besonders muss der Spinozismus herhalten. »Ein Spinozist ist in meinen Augen ein elender und verworrener Mensch, mit dem man Mitleid haben und wenn ihm noch zu helfen ist, mit ein paar nicht gar tiefsinnigen Anmerkungen aus der Vernunftlehre und einer deutlichen Erklärung, was »eins«, was »viel« heisse, und was eine Substanz sei, zu Hülfe zu kommen suchen muss. Wer hiervon deutliche und von allen Vorurtheilen gereinigte Begriffe hat, der wird sich schämen, wenn ihn die verworrenen Einfälle der Spinozisten nur eine Viertelstunde beunruhigt haben.«
Kaum ein Menschenalter später hatte Lessing das ἓν ϰαὶ πᾶν gesprochen und Jakobi erklärte der Vernunft selbst den Krieg, weil er annahm, dass sie Jeden, der ihr allein folgt, mit unbedingter Notwendigkeit zum Spinozismus führen müsse.
Ging in diesem unmittelbaren Sturm gegen den Maschinenmann der Zusammenhang zwischen der allgemeinen Psychologie und der Reaction gegen den Materialismus einstweilen verloren, so trat er doch später wieder deutlich hervor. Reimarus, der bekannte Verfasser der Wolfenbütteler Fragmente, war entschiedener Deist und ein eifriger Freund der Teleologie, also ein Gegner des Materialismus von Haus aus. Seine Betrachtungen über die Kunsttriebe der Thiere, die seit 1760 eine Reihe von Auflagen erlebten, benutzt er, die Zweckmässigkeit der Schöpfung und die Spuren eines Schöpfers allenthalben nachzuweisen. So sind es gerade die beiden Stimmführer des deutschen Rationalismus, Wolff, den der König von Preussen wegen seiner Lehre mit dem Strang bedrohte, und Reimarus, dessen Fragmente ihren Herausgeber Lessing in so schlimme Streitigkeiten verwickelten, in denen wir die Reaction gegen den Materialismus am kräftigsten hervortreten sehen.
Hennings Geschichte von den Seelen der Menschen und Thiere (1774), ein Werk von ausgezeichneter Belesenheit, welches zwar wenig beweist, aber einen trefflichen Blick in die Kämpfe jener Zeit eröffnet, kann fast von Anfang bis zu Ende als ein Versuch zur Widerlegung des Materialismus betrachtet werden.
Der Sohn des Fragmentisten Reimarus, der die Untersuchungen seines Vaters zur Thierpsychologie fortsetzte, ein tüchtiger Mediciner und ein freidenkender Mann, veröffentlichte später im Göttingischen Magazin für Wissenschaften und Literatur eine Reihe von »Betrachtungen über die Unmöglichkeit körperlicher Gedächtniss-Eindrücke und eines materiellen Vorstellungs-Vermögens«, Aufsätze, die man wohl als das Gediegenste betrachten darf, was die Reaction des achtzehnten Jahrhunderts gegen den Materialismus hervorgebracht hat. Allein schon ein Jahr nach diesen Aufsätzen erschien von Königsberg her ein Werk, welches nicht mehr unter dem Gesichtspunkte jener Reaction betrachtet werden darf, und dessen durchgreifender Einfluss für einstweilen dem Materialismus mit sammt der alten Metaphysik für Alle, die auf der Höhe der Wissenschaft standen, ein Ende machte.
Ein Umstand aber, der eine so tiefgehende Reform der Philosophie ermöglichen half, war vor allen Dingen die Niederlage, welche der Materialismus der alten Metaphysik beigebracht hatte. Trotz aller fachmässigen Widerlegungen lebte der Materialismus fort und gewann vielleicht nur um so viel mehr Boden, je weniger er sich systematisch abschloss. Männer wie Forster, wie Lichtenberg neigten sich stark zu dieser Weltanschauung, und selbst religiöse Gemüther und schwärmerische Naturen, wie Herder und Lavater, nahmen bedeutende Elemente derselben in ihren Vorstellungskreis auf. Am meisten Boden gewann die materialistische Auffassungsweise ganz in der Stille in den positiven Wissenschaften, so dass der Doctor Reimarus nicht mit Unrecht seine »Betrachtungen« mit der Bemerkung beginnen konnte, dass in der letzten Zeit die Verrichtungen der Denkkraft in verschiedenen, ja in fast allen dahin gehörigen Schriften körperlich vorgestellt würden. Das schrieb, nachdem die Philosophie so manche Lanze vergeblich gebrochen, ein einsichtsvoller Gegner des Materialismus im Jahre 1780. Die Wahrheit war, dass die gesammte damalige Schulphilosophie kein genügendes Gegengewicht gegen den Materialismus abgeben konnte. Der Punkt, auf welchem Leibnitz wirklich den Materialismus an Consequenz überboten hatte, war zwar nicht vergessen, aber er hatte seine Kraft verloren. Die Unmöglichkeit des Uebergangs äusserer, vielfacher Bewegung in ein einheitliches Inneres, in Empfindung und Vorstellung, wird zwar von fast allen Gegnern des Materialismus gelegentlich hervorgehoben, allein diese Hervorhebung verschwindet in einem Wust anderer, ganz werthloser Gründe, oder steht in abstracter Blässe der Farbenfülle der materialistischen Beweisführung gegenüber. Indem man vollends den positiven Satz der Einfachheit der Seele rein dogmatisch behandelte und damit den lebhaftesten Widerspruch hervorrief, machte man gerade das stärkste Argument zu dem schwächsten. Nur als Fortbildung des Atomismus hat die Monadenlehre Grund, nur als nothwendige Umbildung der Naturnothwendigkeit ist die prästabilirte Harmonie gerechtfertigt. Aus blossen Begriffen abgeleitet und so dem Materialismus schlechthin entgegengesetzt, verlieren diese bedeutenden Gedanken jede Beweiskraft.
Andererseits war aber auch der Materialismus durchaus nicht im Stande, die Lücke auszufüllen und sich zum herrschenden Systeme zu erheben. Man würde weit fehlen, wenn man darin nur den Einfluss der Facultäts-Ueberlieferungen und der Gewalten in Staat und Kirche sähe. Dieser Einfluss hätte einer lebendigen und allgemeinen Ueberzeugung nicht lange Stand halten können. Man war vielmehr auch das ewige Einerlei der materialistischen Dogmatik gründlich müde und verlangte nach Erquickung durch das Leben, durch die Poesie, durch die positiven Wissenschaften.
An den Heroen unserer Literatur, auf welche alle Strömungen der Zeit so lebhaft wirkten, vermögen wir uns zu orientiren. Lessing hielt sich im Stillen an Spinoza und ignorirte den Materialismus. Schiller, der jugendliche Mediciner auf der Karlsschule, sann und schrieb noch voll Eifer über den Zusammenhang zwischen Leib und Seele; allein mehr und mehr kam er zu dem Resultat, sich mit der innigen Einheit beider zu begnügen und die Unlösbarkeit der letzten Fragen der Metaphysik sich unter dem grossen Bilde einer unendlichen Annäherung an das ewig fliehende Ziel gottähnlichen Erkennens zu veranschaulichen. Goethe stiess mit seinen Kameraden auf das System der Natur und konnte die Gefährlichkeit dieses Buches nicht begreifen. »Es kam uns so grau, so cimmerisch, so todtenhaft vor, dass wir Mühe hatten, seine Gegenwart auszuhalten, dass wir davor wie vor einem Gespenste schauderten.« Die Folge des Lesens war für sie nur, dass sie aller Philosophie, besonders aber der Metaphysik, recht herzlich gram wurden und blieben, dagegen aber aufs lebendige Wissen, Erfahren, Thun und Dichten sich nur desto lebhafter und leidenschaftlicher hinwarfen. Hatte doch Goethe schon in Leipzig seinen Respect vor der deutschen Philosophie eingebüsst, als ihm ein Gellert nicht mehr genügte! Und fast könnte man die Verse des hochbegabten Jünglings als prophetisch nehmen:
Ach! ich war auch in diesem Falle:
Als ich die Weisen hört' und las,
Da jeder diese Welten alle
Mit seiner Menschenspanne mass;
Da fragt ich – aber sind sie das,
Sind das die Knaben alle?