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Wenn es in unserm Plane läge, den einzelnen Verzweigungen materialistischer Weitanschauung durch alle Windungen zu folgen, die grössere oder geringere Consequenz der Denker und Schriftsteller zu prüfen, die bald dem Materialismus nur gelegentlich huldigen, bald sich in langsamer Entwickelung ihm mehr und mehr nähern, bald endlich entschieden materialistische Gesinnungen nur gleichsam wider Willen verrathen: so würde keine Epoche uns einen so reichen Stoff bieten, als die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, und kein Land würde in unserer Darstellung einen breiteren Raum einnehmen, als Frankreich. Da ist vor Allen Diderot, der Mann voll Geist und Feuer, der in einem Leben voll rastloser Thätigkeit als Haupt und Heerführer der Materialisten galt und dennoch nicht nur einen langen Entwickelungsgang brauchte, bevor er zu einem Standpunkt gelangte, den man wirklich als Materialismus bezeichnen kann, sondern auch bis zum letzten Augenblick in einer Gährung blieb, die ihn nicht zur Abrundung und Klärung seiner Ansichten gelangen liess. Diese edle Natur, welche alle Tugenden und Fehler des Idealisten in sich hegte, vor allen Dingen den Eifer für das Wohl des Menschen, aufopfernde Freundesliebe und einen unerschütterlichen Glauben an das Gute, Schöne und Wahre und an die Vervollkommnung der Welt, aber auch die Neigung zur Selbsttäuschung und phantasievollen Uebertreibung – sie wurde durch die Uebermacht der Thatsachen, welche damals Kunst und Wissenschaft auf allen Gebieten, wie eine Schlachtreihe von Kerntruppen ins Feld schickten, für den Materialismus selbst erst erobert, indem sie schon für andre, minder vielseitige Geister eine reiche Quelle materialistischer Gedanken und Anschauungen geworden war. Diderots Freund und Arbeitsgenosse, D' Alembert, war dagegen schon weit über den Materialismus hinaus, indem er sich »versucht fühlte zu meinen, dass Alles, was wir sehen, nur Sinnenerscheinung sei, dass es Nichts ausser uns giebt, was dem, was wir zu sehen glauben, entspricht.« Er hätte für Frankreich werden können, was Kant für die Weltgeschichte geworden ist, wenn er diesen Gedanken festgehalten und nur einigermassen über das Niveau einer skeptischen Anwandlung erhoben hätte. So aber ist er nicht einmal der Protagoras geworden, zu dem ihn Voltaires Scherz zu machen suchte. Der rücksichtsvolle und zurückhaltende Buffon, der verschlossene und diplomatische Grimm, der eitle und oberflächliche Helvetius: sie alle stehn dem Materialismus nahe, ohne uns jene festen Gesichtspunkte und jene folgerichtige Durchführung eines Grundgedankens darzubieten, durch welche De la Mettrie bei aller Frivolität des Ausdrucks sich dennoch auszeichnete. Wir müssten Buffon als Naturforscher erwähnen, und vor allen Dingen auch auf Cabanis, den Vater der materialistischen Physiologie hier näher eingehen, wenn es nicht unser Endzweck mit sich brächte, rasch den entscheidenden Boden zu betreten und der geschichtlichen Darlegung der Grundfragen, um die es sich handelt, erst später einen Blick in die speciellen Wissenschaften folgen zu lassen. So scheint es berechtigt, wenn wir gerade jene Periode zwischen dem Erscheinen des homme machine und des système de la nature, welche dem Literarhistoriker eine so reiche Ausbeute gewährt, nur beiläufig berühren und sofort zu dem Werke übergehen, welches man oft als den Codex oder als die Bibel des gesammten Materialismus bezeichnet hat.
Das System der Natur mit seiner geraden, ehrlichen Sprache, seinem fast deutschen Gedankengang und seiner doctrinären Ausführlichkeit gab auf einmal das klare Resultat aller jener geistreich gährenden Zeitgedanken, und dies Resultat in seiner starren Geschlossenheit stiess selbst diejenigen zurück, welche zu seiner Erzielung am meisten beigetragen hatten. De la Mettrie hatte hauptsächlich Deutschland erschreckt. Das System der Natur erschreckte Frankreich. Wirkte dort die Frivolität mit, die dem Deutschen in innerster Seele zuwider ist, so hatte hier der lehrhafte Ernst des Buches gewiss seinen Antheil an der Entrüstung, der es begegnete; noch mehr bewirkte freilich die Zeit des Erscheinens im Verhältniss zu dem ganzen Stand der Geistesthätigkeit beider Nationen. Frankreich näherte sich der Revolution, während man in Deutschland der Blüthenzeit der Literatur und Philosophie entgegenging.
Es war im Jahre 1770, als das Werk unter dem Titel Système de la nature, ou des lois du monde physique et du monde moral, angeblich in London, in Wirklichkeit aber in Amsterdam erschien. Es trug den Namen des seit zehn Jahren verstorbenen Mirabaud, und zum Ueberfluss noch eine kurze Skizze über das Leben und die Schriften dieses Mannes, welcher Secretair der Academie gewesen war. Niemand glaubte an diese Autorschaft; aber merkwürdiger Weise errieth auch Niemand den wahren Ursprung des Buches, obwohl es aus dem eigentlichen Mittelpunkt des materialistischen Heerlagers hervorgegangen war und im Grunde nur ein Glied in einer langen Kette schriftstellerischer Erzeugnisse eines ebenso originellen als bedeutenden Mannes bildete.
Paul Heinrich Dietrich von Holbach, ein reicher deutscher Baron, zu Heidelsheim in der Pfalz 1723 geboren, war schon in früher Jugend nach Paris gekommen und hatte gleich seinem Landsmanne Grimm, mit dem er eng befreundet war, sich ganz in die französische Nationalität hineingelebt. Betrachtet man den Einfluss, den diese beiden Männer auf ihre Umgebung ausübten, und vergleicht man die Charaktere des heitern und geistreichen Kreises, der sich um Holbachs gastlichen Herd zu versammeln pflegte, so sieht man leicht, dass den beiden Deutschen in den philosophischen Fragen, die hier erörtert wurden, eine tonangebende Rolle von Haus aus zuzuschreiben ist. Still, zäh und unverwandt, wie selbstbewusste Steuerleute sitzen sie in diesem Strudel aufbrausender Talente. Mit der Rolle der Beobachter verbinden sie, jeder in seiner Weise, einen tiefgreifenden Einfluss, der um so unwiderstehlicher ist, je unmerklicher er sich vollzieht. Holbach insbesondere schien fast nur der ewig gutmüthige und freigebige maître d'hôtel der philosophischen Kreise, von dessen Humor und Herzensgüte Jeder eingenommen wurde, dessen Wohlthätigkeit, dessen häusliche und gesellschaftliche Tugenden, dessen bescheidenen, schlichten Sinn inmitten des Ueberflusses man um so freier bewunderte, je mehr jedes Talent in seiner Nähe die vollste Anerkennung fand, ohne dass Holbach selbst auf irgend eine andere Rolle, als auf die des liebenswürdigen Wirthes Anspruch gemacht hätte. In dieser Bescheidenheit des Mannes liegt auch eigentlich der wesentlichste Grund der Thatsache, dass man sieh so schwer entschliessen konnte, Holbach selbst als den Verfasser des Buches, welches die gebildete Welt in Aufruhr versetzte, zu betrachten. Selbst als es längst feststand, dass das Werk aus seinem engeren Kreise hervorgegangen sei, wollte man die eigentliche Autorschaft noch bald dem Mathematiker Lagrange zuschreiben, der als Hauslehrer in Holbachs Familie gewirkt hatte, bald Diderot, bald einer systematischen Vereinigung mehrerer Kräfte. Es ist jetzt keinem Zweifel mehr unterworfen, dass Holbach der wahre Verfasser ist, obwohl bei der Ausführung einzelner Abschnitte auch Lagrange, der Fachmann, Diderot, der Meister des Stils, und Naigeon, ein literarischer Gehülfe Diderots und Holbachs, betheiligt waren. Holbach war nicht nur der eigentliche Verfasser des Ganzen, sondern namentlich auch der systematische Kopf, der die Arbeit beherrschte und die Richtung angab. Auch besass Holbach keineswegs bloss seine Tendenz, sondern er beherrschte eine reiche Fülle naturwissenschaftlicher Kenntnisse. Er hatte namentlich auch Chemie studirt, Artikel aus diesem Fach für die Encyclopädie geliefert und mehrere chemische Werke aus dem Deutschen ins Französische übersetzt. »Es verhielt sich mit seiner Gelehrsamkeit,« schreibt Grimm, »wie mit seinem Vermögen. Nie hätte man es geahnt, hätte er es verbergen können, ohne seinem eigenen Genuss und besonders dem Genuss seiner Freunde zu schaden.«
Holbachs übrige Schriften, deren eine grosse Reihe ist, behandeln grösstenteils dieselben Fragen wie das System der Natur; zum Theil, wie in der Schrift: Le bon sens, ou Idées naturelles opposées aux Idées surnaturelles (1772), in populärer Form und mit der bestimmten Absicht auf die Massen zu wirken. Auch die politische Richtung Holbachs war klarer und bestimmter, als die der meisten seiner französischen Genossen; obwohl er sich nicht für eine bestimmte Staatsform entscheidet. Die unklare Schwärmerei für die auf so ganz unübertragbaren Verhältnissen ruhenden Einrichtungen Englands theilt er nicht. Mit ruhiger, leidenschaftsloser Gewalt entwickelt er das Recht der Völker auf Selbstbestimmung, die Verpflichtung aller Obrigkeiten, sich diesem Recht zu beugen und dem Lebenszweck der Nationen zu dienen, das Verbrecherische jeder gegen die Volkssouverainetät gerichteten Anmassung und die Nichtigkeit aller Verträge, Gesetze und Rechtsformen, welche solche verbrecherische Anmassungen einzelner zu stützen suchen. Das Recht der Völker auf Revolution in entarteten Zuständen gilt ihm wie ein Axiom, und hierin traf er genau den Nagel auf den Kopf. Nicht irgend welche kunstvolle Verfassungen zu machen, sondern die Regenten, welche sie auch seien, zu zwingen ihre Pflicht zu erfüllen: das war das punctum saliens der lebendigen Geschichte jener Zeit; es ist ein Punkt, der noch heute von Bedeutung ist.
Holbachs Ethik ist ernst und rein, obwohl er nicht über den Begriff der Glückseligkeit hinausgeht. Es fehlt ihr die Innigkeit und der poetische Hauch, welcher Epikurs Lehre von der Harmonie des Gemüthslebens beseelt; dagegen nimmt sie einen bedeutenden Anlauf dazu, den Standpunkt des Individuums zu überwinden und die Tugenden des Staates und der Gesellschaft zu begründen. Gerade in diesem Stück fehlt freilich die tiefere Begründung, wie sie sich wohl auch vom Standpunkte des Materialismus aus hätte geben lassen, obwohl minder leicht und natürlich, als von dem des Idealismus. Um so mehr Anerkennung verdient das Streben, diese Begründung der Sittlichkeit zu gewinnen; ein Streben, welches sich in Condorcet fortsetzt, welches die Leiter der französischen Revolution so ernsthaft beschäftigt, und welches in Frankreich erst in unserm Jahrhundert durch Comte zu einem bedeutungsvollen Abschlusse gelangt ist.
Wo wir im System der Natur eine frivole Wendung zu finden meinen, da liegt nicht sowohl das oberflächliche und leichtfertige Spielen mit dem Sittlichen selbst zu Grunde – und das wäre doch eigentlich das Frivole – als vielmehr die völlige Verkennung des sittlichen und ideellen Gehaltes der überlieferten Institutionen, insbesondere der Kirche und des Offenbarungsglaubens. Folgt diese Verkennung schon aus dem unhistorischen Sinn des achtzehnten Jahrhunderts, so ist sie doch doppelt begreiflich unter einer Nation, welche, wie die französische damals, keine eigentliche Poesie hat; denn aus diesem Lebensquell sprudelt Alles hervor, was eine tief im Wesen des Menschen begründete Kraft des Daseins und des Schaffens hat, ohne auf die verstandesmässige Rechtfertigung zu warten. So ist denn auch in Goethes berühmtem Urtheil über das System der Natur die tiefste Kritik mit der grössten Ungerechtigkeit in naiver Selbstgewissheit des eignen Thuns und Schaffens zu einer grossartigen Opposition des jugendfrischen deutschen Geisteslebens gegen die scheinbare »Greisenheit« Frankreichs verschmolzen.
Das System der Natur zerfällt in zwei Theile, von denen der erste die allgemeinen Grundlagen und die Anthropologie enthält, der zweite – sofern, dieser Ausdruck noch anwendbar ist – die Theologie. Gleich in der Vorrede zeigt sich, dass das Streben für die Glückseligkeit der Menschheit zu wirken der wahre Ausgangspunkt des Verfassers ist.
»Der Mensch ist unglücklich,« beginnt die Vorrede, »bloss weil er die Natur misskennt. Sein Geist ist so von Vorurtheilen angesteckt, dass man glauben sollte, er sei für immer zum Irrthum verdammt; die Fesseln des Wahns, mit denen man von der Kindheit an ihn umschlingt, sind so mit ihm verwachsen, dass man sie nur mit der grössten Mühe ihm wieder nehmen kann. Zu seinem Unglück strebt er sich über die sichtbare Welt zu erheben und stets belehren ihn schmerzliche Erfahrungen über die Nichtigkeit seines Beginnens. Der Mensch verachtete das Studium der Natur, um Phantomen nachzujagen, die gleich Irrlichtern ihn blendeten und ihn ablenkten von dem einfachen Pfade der Wahrheit, ohne die er nicht zum Glücke gelangen kann. Es ist daher Zeit, in der Natur die Heilmittel gegen die Uebel zu suchen, in welche die Schwärmerei uns gestürzt hatte. – Es giebt nur eine Wahrheit und sie kann niemals schaden. – Vom Irrthum stammen die schmählichen Ketten, mit denen Tyrannen und Priester allerwärts die Nationen zu fesseln vermochten; vom Irrthum stammte die Sclaverei, der die Nationen erlegen sind; vom Irrthum die Schrecken der Religion, die bewirkten, dass die Menschen in Furcht verdumpften oder in Fanatismus sich würgten für Phantome. Von Irrthum stammt der eingewurzelte Hass und die grausamen Verfolgungen; das beständige Blutvergiessen und die empörenden Tragödien, deren Schauplatz die Erde werden musste im Namen der Interessen des Himmels.«
»Versuchen wir daher die Uebel der Vorurtheile zu verscheuchen und dem Menschen Muth und Achtung vor seiner Vernunft einzuflössen! Wer auf jene Träumereien nicht verzichten kann, möge wenigstens Andern verstatten, sich ihre Ansichten auf ihre Weise zu bilden und sich überzeugen, dass es für die Erdenbewohner hauptsächlich darauf ankomme, gerecht, wohlthätig und friedsam zu sein.«
Fünf Kapitel behandeln die allgemeine Grundlage der Naturbetrachtung. Die Natur, die Bewegung, der Stoff, die Gesetzmässigkeit alles Geschehens und das Wesen der Ordnung und des Zufalls sind die Gegenstände, an deren Untersuchung Holbach seine Fundamentalsätze anknüpft. Unter diesen Kapiteln ist es besonders das letzte, welches durch seine schroffe Beseitigung jedes Restes von Teleologie die Deisten von den Materialisten für immer trennte, und welches namentlich auch Voltaire zu heftigen Angriffen gegen das System der Natur veranlasste. –
Die Natur ist das grosse Ganze, dessen Theil der Mensch ist, und unter dessen Einflüssen er steht. Wesen, die man jenseits der Natur setzt, sind jederzeit Geschöpfe der Einbildungskraft, von deren Wesen wir uns ebensowenig eine Vorstellung machen können, als von ihrem Aufenthaltsort und ihrer Handlungsweise. Es giebt nichts und kann nichts geben jenseit des Kreises, der alle Wesen einschliesst. Der Mensch ist ein physisches Wesen und seine moralische Existenz ist nur eine besondere Seite der physischen, ein gewisser, aus seiner eigentümlichen Organisation abgeleiteter Modus des Handelns.
Alles, was der menschliche Geist zur Verbesserung unserer Lage ersonnen hat, war nur eine Folge der Wechselwirkung zwischen den in ihn gelegten Trieben und der umgebenden Natur. Auch das Thier schreitet von einfachen Bedürfnissen und Formen zu immer zusammengesetzteren fort; ähnlich die Pflanze. Unmerklich wächst die Aloë durch eine Reihe von Jahren, bis sie endlich die Blüthen treibt, welche ein Vorbote ihres nahen Todes sind. Der Mensch als physisches Wesen handelt nach wahrnehmbaren sinnlichen Einflüssen; als moralisches Wesen nach Einflüssen, welche unsre Vorurtheile uns nicht erkennen lassen. Bildung ist Entwickelung; wie denn schon Cicero sagt: »Est autem virtus nihil aliud quam in se perfecta et ad summum perducta natura«. An all unsern ungenügenden Begriffen ist Mangel an Erfahrung schuld und jeder Irrthum ist mit Schaden verknüpft. Aus Mangel an Kenntniss der Natur hat der Mensch sich Gottheiten gebildet, die alleiniger Gegenstand seiner Hoffnungen und Befürchtungen wurden, ohne zu bedenken, dass die Natur weder Hass noch Liebe kennt und fort und fort, bald Wohl bald Wehe bereitend, nach unwandelbaren Gesetzen wirkt. Die Welt zeigt uns allenthalben Nichts als Materie und Bewegung. Sie ist eine unendliche Kette von Ursachen und Wirkungen; die mannigfaltigsten Stoffe stehen in beständiger Wechselwirkung, und ihre verschiedenen Eigenschaften und Zusammensetzungen bilden für uns das Wesen der Einzeldinge. Die Natur im weiteren Sinne ist also die Zusammenfassung der verschiedenen Stoffe in allen Einzeldingen überhaupt; im engeren Sinne ist die Natur eines Dinges die Zusammenfassung seiner Eigenschaften und Wirkungsformen. Wenn daher gesagt wird, die Natur bringe eine Wirkung hervor, so soll damit nicht die Natur als Abstractum personificirt werden, sondern es soll nur gesagt sein, dass die betreffende Wirkung ein notwendiges Resultat der Eigenschaften eines der Wesen ist, die das grosse Ganze bilden, welches wir sehen.
In der Lehre von der Bewegung steht Holbach ganz auf der Basis, welche Toland in der Abhandlung, die wir oben erwähnten, gelegt hat. Er definirt die Bewegung zwar schlecht, aber er behandelt sie allseitig und gründlich, jedoch ohne jedes Eingehen auf die mathematischen Theorien, wie denn überhaupt in dem ganzen Werk, gemäss seiner praktischen Absicht, das Positive und Specielle vor Betrachtungen und Abstractionen zurücktritt. –
Jedes Ding ist vermöge seiner eigentümlichen Natur auch zu gewissen Bewegungen fähig. So sind unsre Sinne fähig, Eindrücke von gewissen Objecten zu empfangen. Von keinem Körper können wir etwas wissen, wenn er nicht direct oder indirect eine Veränderung in uns hervorbringt. Alle Bewegung, die wir wahrnehmen, versetzt entweder einen ganzen Körper an einen andern Ort, oder sie findet zwischen den kleinsten Theilchen desselben Körpers statt und bringt Störungen oder Veränderungen hervor, die wir erst an den veränderten Eigenschaften des Körpers bemerken. Bewegungen solcher Art liegen auch dem Wachsen der Pflanzen und Thiere und der intellectuellen Erregung des Menschen zu Grunde.
Uebertragen heissen die Bewegungen, wenn sie von Aussen einem Körper aufgenöthigt werden; selbständig, wenn die Ursache der Bewegung in dem Körper selbst ist. Hieher rechnet man beim Menschen Gehen, Sprechen, Denken, obwohl wir bei genauerer Betrachtung finden können, dass es nach strengen Begriffen keine selbständigen Bewegungen giebt. – Der menschliche Wille wird durch äussere Ursachen bestimmt.
Die Mittheilung der Bewegung von einem Körper auf den andern ist nach notwendigen Gesetzen geregelt. Alles im Universum ist beständig in Bewegung, und jede Ruhe ist nur scheinbar. Selbst das, was die Physiker nisus genannt haben, ist nur durch Bewegung zu erklären. Wenn ein 500 Pfund schwerer Stein auf der Erde ruht, so drückt er jeden Augenblick mit seinem ganzen Gewicht, und empfängt einen Gegendruck der Erde. Man dürfte nur die Hand dazwischen legen, um zu sehen, wie der Stein Kraft genug entwickelt, um sie zu zerquetschen, trotz seiner scheinbaren Ruhe. Action ist nie ohne Reaction. Die sogenannten todten und die lebendigen Kräfte sind daher von derselben Art und entwickeln sich nur unter verschiedenen Umständen. Auch die dauerhaftesten Körper sind beständigen Veränderungen unterworfen. Die Materie und die Bewegung ist ewig, und die Schöpfung aus Nichts ist ein leeres Wort. Zu dem Ursprung der Dinge zurückgehen wollen, heisst nur die Schwierigkeiten hinausschieben und sie der Prüfung unsrer Sinne entziehen. – Der schwächste Punkt in diesem Kapitel ist die Lehre von der Gravitation. Holbach führt sie zwar auf den allgemeinen Begriff aller Bewegung zurück; allein indem er jede mystische Erklärung bekämpft, hat er doch für die zu Grunde liegende Attraction nur die mystische Erklärung des Empedokles. In der That war die Anschauung Epikurs von der ursprünglich gradlinigen Bewegung der Atome, die allmählig mit einander in Verwickelung gerathen und nur durch den Stoss die mannigfachsten Bewegungsformen erzeugen, durch die Naturwissenschaften gründlich beseitigt. Seitdem ist es aber auch nicht mehr gelungen, ein anschauliches Princip der Bewegung aufzustellen, welches alle Erscheinungen umfasste.
Was die Materie betrifft, so ist Holbach kein strenger Atomist Er nimmt zwar elementare Theilchen an, erklärt jedoch das Wesen der Stoffe für unbekannt. Wir kennen nur einige ihrer Eigenschaften. Alle Modifikationen der Materie sind Folge von Bewegung; diese verwandelt die Gestalt der Dinge, löst ihre Bestandtheile auf und nöthigt dieselben zur Entstehung oder Erhaltung von Wesen ganz anderer Art beizutragen.
Zwischen den sogenannten drei Reichen der Natur findet ein beständiger Austausch und Kreislauf der Theile der Materie statt. Das Thier erwirbt neue Kräfte durch Verzehrung von Pflanzen oder andern Thieren; Luft, Wasser, Erde und Feuer dienen zu seiner Erhaltung. Dieselben Elemente aber unter andern Formen der Verbindung werden die Ursache seiner Auflösung, und alsdann werden dieselben Bestandtheile in neue Bildungen verarbeitet oder wirken zu neuen Zerstörungen.
»Das ist der unwandelbare Gang der Natur; das ist der ewige Kreislauf, den Alles beschreiben muss, was existirt. In dieser Weise lässt die Bewegung die Theile des Universums entstehen, erhält sie eine Weile und zerstört sie allmählig, die einen durch die andern; während die Summe des Vorhandenen immer dieselbe bleibt. Die Natur erzeugt durch ihre verbindende Thätigkeit die Sonnen, welche in den Mittelpunkt eben so vieler Systeme treten; sie erzeugt die Planeten, die durch ihr eigenes Wesen gravitiren und ihre Bahnen um die Sonnen beschreiben. Ganz allmählig verändert die Bewegung die einen wie die andern und sie wird vielleicht eines Tages die Theilchen wieder zerstreuen, aus denen sie die wunderbaren Massen gebildet hat, welche der Mensch während der kurzen Spanne seines Daseins nur im Vorübergehen erblickt.«
Während übrigens Holbach so in den allgemeinen Sätzen ganz mit dem heutigen Materialismus übereinstimmt, steht er – ein Beweis, wie fern diese Abstractionen von der eigentlichen Bahn der Naturwissenschaft lagen – in seinen Ansichten vom Stoffwechsel noch ganz auf dem Boden der alten Zeit. Ihm ist noch das Feuer das Lebensprincip der Dinge. Wie bei Epikur, wie bei Lucrez und Gassendi sind auch bei ihm die Theilchen feuriger Natur bei allen Vorgängen des Lebens im Spiel und bringen, bald sichtbar, bald unter der übrigen Materie verborgen, eine Fülle von Erscheinungen hervor. Vier Jahre nachdem das System der Natur erschien, entdeckte Priestley den Sauerstoff, und während Holbach noch schrieb oder mit seinen Freunden seine Grundsätze erörterte, arbeitete Lavoisier schon an jener grossartigen Reihe von Versuchen, denen wir die wahre Lehre von der Verbrennung und damit eine ganz neue Grundlage jener Wissenschaft verdanken, welche auch Holbach studirt hatte. Dieser begnügte sich, wie Epikur, mit den logischen und sittlichen Resultaten der bisherigen Forschung; jener war von einer Idee ergriffen, der er sein Leben widmete.
In der Lehre von der Gesetzmässigkeit alles Geschehens geht Holbach auf die Grundkräfte der Natur zurück. Attraction und Repulsion sind die Kräfte, von welchen alle Verbindung und Trennung der Theilchen in den Körpern herrührt; sie verhalten sich, wie schon Empedokles einsah, wie Liebe und Hass in der moralischen Welt Auch diese Verbindung und Trennung ist nach strengsten Gesetzen geregelt. Manche Körper, die an und für sich keine Vereinigung zulassen, können durch vermittelnde Körper dazu gebracht werden. – Sein heisst nichts, als sich auf eine individuelle Art bewegen; sich erhalten heisst solche Bewegungen mittheilen oder empfangen, welche die Fortführung individueller Existenz bedingen. Der Stein leistet der Zerstörung Widerstand durch das blosse Zusammenhalten seiner Theile; die organisirten Wesen durch complicirte Mittel. Den Trieb der Erhaltung nennt die Physik Beharrungsvermögen, die Moral Selbstliebe.
Zwischen Ursache und Wirkung waltet die Notwendigkeit in der moralischen wie in der physischen Welt. Staub- und Wassertheilchen bei Sturm und Wirbelwind bewegen sich mit derselben Notwendigkeit, wie ein einzelnes Individuum in den stürmischen Bewegungen einer Revolution.
»In den schrecklichen Erschütterungen, welche bisweilen die politischen Gesellschaften ergreifen und nicht selten den Umsturz eines Reiches herbeiführen, giebt es keine einzige Handlung, kein Wort, keinen Gedanken, keine Willensregung, keine Leidenschaft in den Handelnden, die als Zerstörer oder als Schlachtopfer an der Revolution betheiligt sind, welche nicht nothwendig ist, welche nicht wirkt, wie sie wirken muss, welche nicht unfehlbar die Folgen zu Stande bringt, die sie nach der Stellung, welche die Handelnden in diesem moralischen Wirbelsturm einnehmen, zu Stande bringen muss. Dies würde einer Intelligenz offenbar sein, welche im Stande wäre, jede Wirkung und Gegenwirkung aufzufassen und zu würdigen, welche in Geist und Körper der Betheiligten vorgeht.«
Holbach starb den 21. Juni 1789; wenige Tage, nachdem sich die Abgeordneten des dritten Standes als Nationalversammlung constituirt hatten. Die Revolution, welche seinen Freund Grimm wieder nach Deutschland verschlug und Lagrange oft genug in Lebensgefahr brachte, trat auf die Schwelle der Wirklichkeit, als der Mann verschied, der ihr so mächtig vorgearbeitet hatte, indem er sie als ein nothwendiges Naturereigniss betrachten lehrte.
Von besonderer Wichtigkeit ist endlich das Kapitel von der Ordnung, gegen welches Voltaire seinen ersten erbitterten Angriff richtete. Voltaire ist hier, wie so oft, der Vertreter des gemeinen Menschenverstandes, der mit seinen verschwommenen Gefühlsurtheilen und Verstandesdeclamationen gegenüber einer philosophischen Betrachtungsweise, und wäre es die niedrigste, ganz und gar bedeutungslos ist. Dennoch wird es dem Zweck unserer Schrift entsprechend sein, hier einmal Gründe und Gegengründe gegen einander abzuwägen, um zu sehen, dass es ganz andrer Mittel bedarf, um über den Materialismus hinaus zu gelangen, als sie selbst dem gewandten und scharfsinnigen Voltaire zu Gebote standen.
Ursprünglich, sagt das System der Natur, bedeutete das Wort Ordnung nur die Art und Weise, ein Ganzes, dessen Seins- und Wirkungsformen mit den unsrigen eine gewisse Uebereinstimmung darbieten, in seinen einzelnen Beziehungen mit Leichtigkeit aufzufassen. (Man bemerkt den bekannten Zeitfehler, wonach der strengere Begriff als der ursprüngliche genommen wird, während er in Wahrheit sich erst sehr spät entwickelt). Dann hat der Mensch seine eigentümliche Anschauungsweise auf die Aussenwelt übertragen. Da aber in der Welt Alles gleich nothwendig ist, so kann es auch in der Natur nirgendwo einen Unterschied zwischen Ordnung und Unordnung geben. Beide Begriffe gehören nur unserm Verstande an; es entspricht ihnen, wie allen metaphysischen Begriffen, nichts ausser uns. Will man jene Begriffe doch auf die Natur anwenden, so kann man unter Ordnung nichts anderes verstehen, als die regelmässige Folge von Erscheinungen, welche von unabänderlichen Naturgesetzen herbeigeführt wird; die Unordnung dagegen bleibt ein relativer Begriff, welcher nur die Erscheinungen befasst, durch die ein einzelnes Wesen in der Form seines Daseins gestört wird, während doch eine Störung vom Standpunkt des grossen Ganzen betrachtet, gar nicht vorhanden ist. Ordnung und Unordnung der Natur giebt es nicht. Wir finden Ordnung in Allem, was unserm Wesen conform ist; Unordnung in Allem, was ihm zuwider ist. Es ergiebt sich aus dieser Anschauung unmittelbar, dass es auch in der Natur keinerlei Wunder geben, kann. Ebenso schöpfen wir auch den Begriff einer nach Zwecken verfahrenden Intelligenz und seinen Gegensatz, den Begriff des Zufalls, lediglich aus uns. Das Ganze kann keinen Zweck haben, weil es ausser ihm nichts giebt, wonach es streben könnte. Wir fassen solche Ursachen als intelligente auf, welche nach unsrer Art wirken, und sehen die Wirkungsweise anderer als ein Spiel des blinden Zufalls an. Und doch hat das Wort Zufall nur einen Sinn im Gegensatz gegen jene Intelligenz, deren Begriff wir nur aus uns geschöpft haben. Es giebt aber keine blind wirkenden Ursachen, sondern wir selbst sind blind, indem wir die Kräfte und Gesetze der Natur verkennen, deren Wirkung wir dem Zufall beimessen.
Hier finden wir das System der Natur ganz in den Bahnen, welche Hobbes durch seinen energischen Nominalismus gebrochen hat. Es ist selbstverständlich, dass auch die Begriffe von gut und böse, obwohl Holbach dies auszuführen vermieden hat, in derselben Weise als blos relative und menschlich subjective gelten müssen, wie die der Ordnung und Unordnung, der Intelligenz und des Zufalls. Von diesem Standpunkt aus ist ein Rückweg nicht mehr möglich; da der Nachweis der Relativität dieser Begriffe und ihrer Begründung in der menschlichen Natur nun einmal der unerlässliche erste Schritt zur geläuterten und vertieften Erkenntniss bleibt; vorwärts hinaus ist freilich die Bahn noch frei. Mitten hindurch durch die Lehre vom Ursprung dieser Begriffe aus der Organisation des Menschen führt der Weg, welcher über die Schranken des Materialismus hinausleitet; gegen jede auf dem Boden des gewöhnlichen Vorurtheils wurzelnde Opposition stehen dagegen die Sätze des Systems der Natur unerschütterlich fest: Wir schreiben dem Zufall die Wirkungen zu, deren Verknüpfung mit den Ursachen wir nicht sehen. – Ordnung und Unordnung sind nicht in der Natur. –
Was sagt nun Voltaire dazu? Hören wir seine Worte! Wir werden uns erlauben im Namen Holbachs zu antworten. –
»Wie? Im Gebiet des Physischen, ist da ein blindgebornes Kind, ein Kind ohne Beine, eine Missgeburt nicht gegen die Natur des Geschlechtes? Ist es nicht die gewöhnliche Regelmässigkeit der Natur, welche die Ordnung bildet und die Unregelmässigkeit, welche die Unordnung ist? Ist nicht ein Kind, dem die Natur den Hunger gegeben und die Speiseröhre verschlossen hat, eine gewaltige Störung und eine tödtliche Unordnung? Die Entleerungen aller Art sind nothwendig, und doch entbehren die Ausführungswege oft der Oeffnung, so dass man die Heilkunst anwenden muss. Diese Unordnung hat ohne Zweifel ihre Ursache; keine Wirkung ohne Ursache; aber diese Wirkung ist doch eine grosse Störung der Ordnung.«
Allerdings ist nicht zu leugnen, dass nach unsrer unwissenschaftlichen Denkweise des täglichen Lebens die Missgeburt ein grosser Verstoss gegen die Natur des Geschlechtes ist; aber was ist denn diese »Natur des Geschlechtes« anders, als ein vom Menschen empirisch gebildeter Begriff, der für die objective Natur gar keine Verbindlichkeit und gar keine Bedeutung hat? Es ist nicht genug, zuzugeben, dass die Wirkung, welche uns durch ihre nahe liegende Beziehung auf unsre eignen Empfindungen als Störung erscheint, eine Ursache hat; man muss, auch zugeben, dass diese Ursache mit allen andern Ursachen des Universums in einem notwendigen und unabänderlichen Zusammenhang steht; und dass also dasselbe grosse Ganze, in derselben Weise und nach denselben Gesetzen in der Mehrzahl der Fälle die vollständige Organisation erzeugt und in einigen Fällen die unvollständige. Vom Standpunkt des grossen Ganzen betrachtet – und auf den hätte sich eben Herr Voltaire versetzen sollen, wenn er nicht ungerecht sein wollte – kann doch unmöglich dasjenige Unordnung sein, was ein Ausfluss seiner ewigen Ordnung, d. h. seines gesetzmässigen Verlaufes ist; dass aber dem empfindenden, mitleidvollen Menschen dergleichen Erscheinungen den Eindruck der Unordnung, der entsetzlichen Störung machen, hat das System der Natur gar nicht geleugnet. Voltaire hat also nichts bewiesen, als was von vorn herein zugegeben war und hat den Kern der Frage mit keiner Silbe berührt. Doch sehen wir, ob er für die moralische Welt mehr beweist!
»Der Mord eines Freundes, eines Bruders, ist das nicht eine entsetzliche Störung im moralischen Gebiet? Die Verläumdungen eines Garasse, eines Tellier, eines Doucin gegen die Jansenisten, und die der Jansenisten gegen die Jesuiten; die Betrügereien eines Patouillet und Paulian, sind das nicht kleine Unordnungen? Die Bartholomäusnacht, die Metzeleien in Irland u. s. w. u. s. w., sind das nicht verfluchte Unordnungen? Diese Verbrechen haben ihre Ursachen in den Leidenschaften, aber ihre Wirkung ist verabscheuungswürdig; die Ursache ist verhängnissvoll; diese Ursache macht uns schaudern.«
Allerdings ist der Mord ein Gegenstand, vor welchem der Mensch schaudert, und den er als eine entsetzliche Störung der sittlichen Weltordnung betrachtet. Allein dessenungeachtet können wir zu der Einsicht gelangen, dass jene Verwirrungen und Leidenschaften, welchen die Verbrechen entspringen, nur nothwendige Seiten des menschlichen Thuns und Treibens sind, wie der Schatten neben dem Licht. Wir werden aber diese Nothwendigkeit unbedingt zugeben müssen, sobald wir nicht nur mit dem Begriff der Ursache spielen, sondern vielmehr ernsthaft annehmen, dass auch die Handlungen des Menschen untereinander und mit der gesammten Natur der Dinge in einem vollständigen und determinirenden Causalzusammenhange stehen. Denn dann ist in gleicher Weise auch hier, wie im physischen Gebiet, ein gemeinsames, durch den Causalzusammenhang in allen seinen Theilen unauflöslich verbundenes Grundwesen da – die Natur selbst – welches nach ewigen Gesetzen handelt und nach gleicher Ordnung sowohl die Tugend als das Verbrechen hervorbringt, und sowohl das Entsetzen über das Verbrechen, als auch die Einsicht, dass die mit diesem Entsetzen verbundene Vorstellung einer Störung der Weltordnung eine einseitige und unzulängliche menschliche Vorstellung ist. Den Determinismus selbst haben wir hier nicht zu vertheidigen, da er von Voltaire nicht angefochten wird.
»Es bleibt nur übrig, den Ursprung dieser Unordnung nachzuweisen, aber sie ist einmal vorhanden.«
Der Ursprung liegt eben in der menschlichen Vorstellung; da ist sie allerdings vorhanden, und weiter hat Voltaire auch nichts bewiesen. Der ungenaue und unmethodische Menschenverstand aber, und wenn er dem geistreichsten Manne angehört, hat zu allen Zeiten seine empirischen Vorstellungen mit der Natur der Dinge an sich verwechselt und wird es vermuthlich auch ferner thun.
Ohne nun hier schon auf eine tiefere Kritik des Holbach'schen Standpunktes einzugehen, die sich im Verlaufe unserer Arbeit von selbst findet, wollen wir nur darauf hinweisen, dass die Materialisten gar zu leicht, indem sie die Gesetzmässigkeit alles Geschehens siegreich verfechten, in diesem Vorstellungskreise mit einer Einseitigkeit verharren, welche die richtige Würdigung des geistigen Lebens, sofern eben bloss menschliche Vorstellungen eine berechtigte Rolle darin spielen, sehr beeinträchtigt. Indem durch den kritischen Verstand den Vorstellungen der Teleologie, der Intelligenz in der Natur, der Ordnung und Störung u. s. w. die vermeintliche Objectivität abgesprochen wird, tritt gar zu leicht die Wirkung ein, dass diese Vorstellungen in ihrem Werth für den Menschen viel zu gering angeschlagen, wo nicht gar wie taube Nüsse weggeworfen werden. Holbach erkennt zwar jenen Vorstellungen als solchen eine gewisse Berechtigung zu: der Mensch mag sich ihrer bedienen, wenn er nur von ihnen frei ist, und weiss, dass er es nicht mit äusseren Dingen, sondern mit unzutreffenden Vorstellungen von denselben zu thun hat. Dass aber solche, den Dingen an sich keineswegs entsprechende Vorstellungen in weiten Lebensgebieten nicht nur als bequeme und unschädliche Angewöhnungen der Kindheit zu dulden, sondern dass sie trotz – und vielleicht sogar wegen ihrer Geburt aus dem Menschengeist zu den edelsten Gütern des Menschen gehören und ihm ein Glück verleihen können, das in dieser Weise durch nichts anderes zu ersetzen ist – das sind Gedanken, welche dem Materialisten fern liegen; und zwar liegen sie ihm nicht etwa deshalb fern, weil sie seinem System widersprächen, sondern weil seine durch den Kampf und die Arbeit sich bildende Gedankenrichtung ihn von dieser Seite des menschlichen Lebens ablenkt.
Daher kommt es denn auch, dass der Materialismus nicht nur im Kampf gegen die Religion gefährlicher wird, als andere Waffen, sondern dass er sich auch der Poesie und der Kunst mehr oder weniger feindlich zeigt, die doch den Vortheil haben, dass in ihnen das freie Schaffen des menschlichen Geistes im Gegensatz gegen die Wirklichkeit offen eingeräumt wird, während es in den Dogmen der Religionen und in den Architecturstücken der Metaphysik mit dem falschen Anspruch an Objectivität durch und durch verschmolzen ist.
Die Stellung der Religion und der Metaphysik zum Materialismus hat denn auch noch tiefere Seiten, die sich später finden werden. Für einstweilen möchten wir uns aber bei Gelegenheit des Kapitels von der Ordnung und Unordnung einen Seitenblick auf die Kunst gestatten.
Sind Ordnung und Unordnung nicht in der Natur, so wird auch der Gegensatz des Schönen und des Hässlichen nur in der menschlichen Vorstellung beruhen. Der Materialist wird dadurch allein schon, dass ihm dieser Gedanke beständig gegenwärtig ist, dem Gebiet des Schönen leicht einigermassen entfremdet; das Gute steht ihm schon näher; das Wahre am nächsten. Soll nun ein Materialist als Kunstrichter auftreten, so wird er nothwendig eher als ein Kritiker anderer Richtung dazu neigen, in der Kunst die Naturwahrheit zu betonen, das Ideale aber und das eigentlich Schöne, namentlich da, wo es mit der Naturwahrheit in Conflict tritt, zu verkennen und gering zu schätzen. So finden wir denn auch Holbach fast ohne Sinn für Poesie und Kunst; wenigstens verräth sich in seinen Schriften nichts davon. Diderot aber, der anfangs wider Willen, später mit ausserordentlichem Eifer das Fach der Kunstkritik ergriff, zeigt uns in überraschender Weise die Einwirkung des Materialismus auf die Beurteilung des Schönen.
Sein Versuch über die Malerei ist mit Goethes meisterhaften Anmerkungen in Jedermanns Händen. Wie zäh hält da Goethe fest an der idealen Aufgabe der Kunst, während Diderot hartnäckig bemüht ist, den Gedanken der Consequenz der Natur zum Princip der bildenden Künste zu erheben! Ordnung und Unordnung giebt es nicht in der Natur. Ist nicht also vom Standpunkte der Natur (wenn unser Auge nur die feinen Züge consequenter Durchbildung zu erspähen wüsste!) die Gestalt des Buckligen so gut wie die der Venus? Ist nicht unser Begriff von Schönheit im Grunde nur menschliche Beschränktheit? Indem der Materialismus diese Gedanken breiter und immer breiter ausspinnt, beeinträchtigt er die reine Freude an. der Schönheit und die erhabene Wirkung des Ideals; ein schlimmer Uebelstand, der sich nur dadurch beseitigen lässt, dass die menschlichen Ideen selbst wieder als urnothwendige und nach Gesetzen entstandene Gebilde der allgemeinen Naturkraft auf dem besondern Gebiete des Menschengeistes erfasst werden. Das menschliche Dichten und Trachten erzeugt die Idee der Ordnung, wie es die Idee des Schönen erzeugt. Nun tritt die naturphilosophische Erkenntniss ein und zerstört sie; aber aus den verborgenen Tiefen des Gemüthes spriesst sie stets aufs Neue hervor. In diesem Kampf der schaffenden Seele mit der erkennenden ist nichts Unnatürlicheres, als in irgend einem Ringen der Elemente der Natur oder in dem Vernichtungskampf lebender Wesen, die sich ihrer Existenz wegen gegenseitig befeinden. Muss doch, vom abstractesten Standpunkte aus, auch der Irrthum geläugnet werden, so gut wie die Unordnung. Auch der Irrthum entsteht aus der nach Gesetzen geregelten Wechselwirkung zwischen der Person mit ihren Organen und den Eindrücken der Aussenwelt Der Irrthum ist so gut wie die bessere Erkenntniss eine Art und Weise, in der sich die Dinge der Aussenwelt im Bewusstsein des Menschen gleichsam projiciren. Giebt es eine absolute Erkenntniss der Dinge an sich? Der Mensch scheint sie jedenfalls nicht zu haben. Wenn es aber für ihn eine seinem Wesen zusagende höhere Erkenntnissweise giebt, der gegenüber der gewöhnliche Irrthum, obwohl er auch eine gesetzmässige Erkenntniss weise ist, doch lediglich als Irrthum, d. h. als verwerfliche Abweichung von jener höheren Weise zu bezeichnen ist: soll es dann nicht auch eine im Wesen des Menschen begründete Ordnung geben, die etwas besseres verdient, als dass man sie mit ihrem Gegensatz, der Unordnung, d. h. eben den abweichenden und der menschlichen Natur schlechthin widerstrebenden Ordnungen ohne Weiteres auf eine und dieselbe Stufe setzt? Könnte nicht das Universum unendlich viele denkende Wesen zählen, deren mit Nothwendigkeit entstehende Vorstellungen von Ordnung und Unordnung ebenso annähernde Aehnlichkeit mit den unsrigen haben, als ihre Erkenntnisse? Vielleicht nennen sie Einiges Unordnung, was uns Ordnung däucht; vielleicht auch Einiges Irrthum, was uns Wahrheit scheint. Trotzdem aber könnte all diesen Vorstellungsbildungen ein gemeinsames Gesetz zu Grunde liegen, wie etwa der Bildung der Organe bei Pflanzen und Thieren. Es könnten unsre Ideen von Ordnung und Unordnung vielleicht ebenso tief mit dem Wesen der Dinge zusammenhängen, als unsere ganze Erkenntniss, sammt allen logischen und mathemathischen Regeln. – Doch wenn nun Holbach uns antworten sollte, wie wir ihn oben Voltaire antworten Hessen, so würde er uns vermuthlich mit ironischem Lächeln erklären, das seien lauter Möglichkeiten, die nicht nur nicht erwiesen sind, sondern auch ihrer Natur nach gar nicht erwiesen werden können. Es sei besser und sicherer, sich an die strenge Erkenntniss zu halten, deren Gesetze man begreifen und einsehen könne. – Elf Jahre, nachdem das System der Natur erschien, noch bei Lebzeiten Holbachs, unternahm es ein kühner Denker, wenigstens einen Theil jener Möglichkeiten zur Gewissheit zu erheben, und zu zeigen, wie die Anschauungen von Raum und Zeit, die tiefsten Grundlagen aller Naturwissenschaft, sammt allen Kategorieen des Verstandes nur Geltung haben innerhalb der Welt unserer Erfahrung, jenseit welcher die schrankenlose, unserer Forschung unzugängliche Welt der Dinge an sich zu suchen sei.
So breit und wiederholungsreich auch das System der Natur geschrieben ist, so enthält es doch manche Ausführungen, die theils ihrer Energie und Gesundheit wegen bemerkenswerth, theils aber auch besonders geeignet sind, uns die engen Grenzen, in welchen die materialistische Weltanschauung sich bewegt, in ein helles Licht zu setzen.
Während De la Mettrie eine boshafte Freude daran hatte, sich für einen Cartesianer auszugeben, und, vielleicht in gutem Glauben, die Behauptung aufzustellen, Descartes habe den Menschen mechanisch erklärt und ihm nur der Pfaffen wegen eine überflüssige Seele angehängt, schiebt Holbach umgekehrt die Verantwortung für das Dogma von der Spiritualität der Seele hauptsächlich auf Descartes. »Obgleich man sich schon vor ihm die Seele spiritualistisch vorstellte, so ist er doch der erste, der den Satz aufgestellt hat, dass das Denkende von der Materie verschieden sein muss, woraus er denn ferner schliesst, dass das Denkende in uns ein Geist sei, d. h. eine einfache und untheilbare Substanz. Wäre es nicht natürlicher gewesen zu schliessen: weil der Mensch, ein stoffliches Wesen, thatsächlich denkt, geniesst also auch die Materie die Fähigkeit zu denken?« Nicht besser kommt Leibnitz weg mit seiner prästabilirten Harmonie oder gar Mallebranche, der Erfinder des Occasionalismus. Holbach nimmt sich nicht die Mühe, diese Männer eingehend zu widerlegen; er kommt nur immer wieder auf die Abgeschmacktheit ihrer ersten Grundsätze zurück. Von seinem Standpunkte aus nicht ganz mit Unrecht; denn wenn man das Ringen dieser Männer nach einer Gestaltung der in ihnen lebenden Idee nicht zu schätzen weiss, wenn man ihre Systeme rein verstandesmässig prüft, so kann allerdings kaum ein Ausdruck der Geringschätzung stark genug sein, um die Oberflächlichkeit und Leichtfertigkeit zu bezeichnen, mit welcher jene viel bewunderten Philosophen die Grundlage ihrer Systeme in das reine Nichts hineinstellten. Holbach sieht überall nur den Einfluss der Theologie und verkennt den metaphysischen Productionstrieb völlig, der doch ebenso tief in unserer Natur zu liegen scheint, als beispielsweise der Sinn für Architectur. »Es darf uns nicht überraschen«, meint Holbach, »die ebenso scharfsinnigen als unbefriedigenden Hypothesen zu sehen, zu denen die tiefsten Denker der Neuzeit, durch theologische Vorurtheile gezwungen, ihre Zuflucht nehmen müssen, so oft sie es versucht haben, die spirituelle Natur der Seele mit der physischen Einwirkung stofflicher Wesen auf diese immaterielle Substanz zu vereinigen und die Rückwirkung der Seele auf diese Wesen, sowie überhaupt ihre Vereinigung mit dem Körper, zu erklären.« Nur ein einziger Spiritualist macht ihm zu schaffen, und wir erkennen darin wieder die Fundamentalfrage, welcher unsere ganze Betrachtung uns immer näher führt. Es ist Berkley, der als Bischof der englischen Kirche gewiss mehr als Descartes und Leibnitz von theologischen Vorurteilen geleitet war, der aber gleichwohl auf eine consequentere und vom Kirchenglauben gewiss weiter entfernte Weltanschauung gerieth, als diese beiden.
»Was sollen wir von einem Berkley sagen, der sich Mühe giebt, uns zu beweisen, dass Alles in der Welt nur eine chimärische Täuschung ist, und dass das Universum nur in uns selbst und in unserer Phantasie existirt, die das Dasein aller Dinge zweifelhaft macht mit Hülfe von Sophismen, welche unlösbar sind für Alle, die an der Spiritualität der Seele festhalten?« Wie diejenigen, welche nicht gerade auf das Festhalten der immateriellen Seele erpicht sind, mit Berkley fertig werden sollen, hat Holbach vergessen darzuthun, und in einer Anmerkung gesteht er, dass dies extravaganteste System auch am schwersten zu bekämpfen sei. Der Materialismus nimmt hartnäckig die Welt des Sinnenscheins für die Welt der wirklichen Dinge. Was hat er für Waffen gegen den, der diesen naiven Standpunkt anficht? Sind die Dinge so wie sie scheinen? Sind sie überhaupt? Das sind Fragen, die in der Geschichte der Philosophie ewig wiederkehren, und auf die erst die Gegenwart eine halbwegs genügende Antwort geben kann, die sich denn freilich für keines von beiden Extremen entscheidet.
Vorzügliche und gewiss aufrichtige Sorgfalt wandte Holbach auf die Grundlagen der Ethik. Wenn man versucht ist, sein Verhältniss zu De la Mettrie in dieser Beziehung mit demjenigen Epikurs zu Aristipp zu vergleichen, so kann die nähere Bestimmung dieses Verhältnisses nur zu Holbachs Vortheil ausfallen. Wie Epikur setzte auch er den Zweck des menschlichen Strebens in die dauernde Glückseligkeit; nicht in die vergängliche Lust. Das System der Natur enthält aber zugleich den Versuch einer physiologischen Begründung der Sittenlehre und in Verbindung damit eine energische Hervorhebung der bürgerlichen Tugenden.
»Wenn man die Erfahrung statt des Vorurtheils befragen würde, so könnte die Medicin der Moral das Räthsel des menschlichen Herzens lösen, und man könnte versichert sein, dass sie durch die Pflege des Körpers bisweilen den Geist heilen würde.« Erst zwanzig Jahre später begründete der edle Pinel, ein Arzt aus Condillac's Schule, die neuere Psychiatrie, welche uns mehr und mehr dahin brachte, zu grosser Erleichterung der schrecklichsten Leiden des Menschengeschlechtes, die Irren wohlwollend zu pflegen und in einem grossen Theil der Verbrecher Geisteskranke zu erkennen. – Das Dogma von der Immaterialität der Seele hat aus der Moral eine Wissenschaft der Vermuthungen gemacht, welche uns gar nichts lehrt von den wahren Mitteln, durch die man auf die Menschen wirken kann. Wenn wir, gestützt auf die Erfahrung, die Elemente kennten, welche die Grundlage des Temperamentes eines Menschen oder der Mehrzahl der Individuen eines Volkes bildeten, so wüssten wir, was für ihre Natur passt, die Gesetze, welche ihnen nothwendig sind und die Einrichtungen, welche ihnen nützlich sind. Mit einem Wort, die Moral und die Politik könnten aus dem Materialismus Vortheile ziehen, welche das Dogma von der Immaterialität der Seele ihnen niemals geben kann und an die es uns sogar zu denken verhindert.« Dieser Gedanke Holbachs hat noch jetzt seine Zukunft; nur dass wahrscheinlich fürs Erste die Moralstatistik mehr für die Physik der Sitten leisten wird, als die Physiologie.
Alle moralischen und intellectuellen Fähigkeiten leitet Holbach ab aus der Erregbarkeit für die Eindrücke der Aussenwelt »Ein empfindsames Gemüth ist nichts als ein menschliches Gehirn, welches so beschaffen ist, dass es mit Leichtigkeit die ihm mitgetheilten Bewegungen aufnimmt. So nennen wir den empfindsam, welchen der Anblick eines Unglücklichen oder die Erzählung eines schrecklichen Vorfalls, oder der blosse Gedanke an eine betrübende Scene zu Thränen rühren.« Hier stand Holbach unmittelbar vor den Anfängen einer materialistischen Moralphilosophie, welche uns bis jetzt noch fehlt, und deren Ausbildung wir wünschen müssen, auch wenn wir nicht beabsichtigen, auf dem Standpunkt des Materialismus stehen zu bleiben. Es handelt sich darum, das Princip zu finden, welches über den Egoismus hinausführt. Allerdings reicht das Mitleid hiezu nicht aus; nimmt man aber die Mitfreude hinzu, erweitert man seinen Gesichtskreis so weit, dass man die ganze natürliche Theilnahme in Betracht zieht, welche der feiner organisirte Mensch für die Wesen empfindet, deren Gleichartigkeit oder Aehnlichkeit mit sich selbst er erkennt: dann ist schon eine Grundlage da, auf welcher sich allenfalls annähernd beweisen liesse, dass auch die Tugenden allmählig durch die Augen und Ohren in den Menschen hineinkommen. Ohne mit Kant den grossen Schritt zu wagen, welcher das ganze Verhältniss der Erfahrung zum Menschen und seinen Begriffen umkehrt, könnte man doch auch jener Ethik eine tiefe Begründung leihen, indem man ausführte, wie durch den Rapport der Sinne sich allmählig im Lauf der Jahrtausende eine Gemeinsamkeit des Menschengeschlechtes in allen Interessen herstellt, welche darauf beruht, dass jeder Einzelne die Schicksale des Ganzen in der Harmonie oder Disharmonie seiner eignen Empfindungen und Vorstellungen mit durchlebt.
Statt diesen natürlichen Gedankengang zu verfolgen, geht Holbach vielmehr nach einigen stark an Helvetius erinnernden Ausführungen über das Wesen des Geistes (esprit) und der Phantasie (imagination) dazu über, die Moral aus dem rein verstandesmässigen Erkennen der Mittel zur Glückseligkeit abzuleiten – ein Verfahren, in dem sich wieder der ganze unhistorische und Abstractionen zugewandte Sinn des vorigen Jahrhunderts spiegelt.
Die politischen Stellen des Werkes, das uns beschäftigt, sind ohne Zweifel bedeutender, als man gewöhnlich annehmen mag. Sie tragen einen so entschiedenen Charakter einer festen, in sich geschlossenen und durchaus radicalen Doctrin; sie bergen, oft unter dem Schein grossartiger Objectivität oder philosophischer Resignation, einen so verbissenen Groll gegen das Bestehende, dass sie gewiss tiefer wirken mussten, als lange Tiraden einer geistreichen und aufgeregten Rhetorik. Man würde sie ohne Zweifel mehr beachtet haben, wenn sie nicht kurz und vereinzelt wären.
»Da die Regierung ihre Gewalt nur von der Gesellschaft hat, und nur zu ihrem Wohle errichtet ist, so versteht es sich von selbst, dass diese, wenn es ihr Interesse fordert, ihre Vollmacht zurücknehmen, die Regierungsform ändern und die Gewalt erweitern oder beschränken kann, welche sie den Häuptern anvertraut, über die sie eine ewige Oberhoheit bewahrt, nach dem unabänderlichem Gesetz der Natur, welches den Theil dem Ganzen unterordnet.« Diese Stelle aus dem Kapitel (IX) über die Grundlagen der Moral und der Politik giebt die allgemeine Regel; enthält nicht die folgende aus dem Kapitel über die Willensfreiheit (XI) einen deutlichen Wink über die Anwendbarkeit derselben auf die Gegenwart? »Nur deshalb sehen wir eine solche Menge von Verbrechen auf der Erde, weil Alles sich verschwört, die Menschen verbrecherisch und lasterhaft zu machen. Ihre Religionen, ihre Regierungen, ihre Erziehung, die Beispiele, welche sie vor Augen haben, treiben sie unwiderstehlich zum Bösen. Vergebens predigt dann die Moral die Tugend, die nur ein schmerzliches Opfer des Glücks sein würde, in Gesellschaften, wo das Laster und die Verbrechen beständig gekrönt, gepriesen und belohnt werden, und wo die scheusslichsten Frevel nur an denen bestraft werden, welche zu schwach sind, um das Recht zu haben, sie ungestraft zu begehen. Die Gesellschaft straft an den Geringen die Vergehungen, welche sie an den Grossen ehrt, und oft begeht sie die Ungerechtigkeit, den Tod über Leute zu verhängen, welche nur durch die vom Staate selbst aufrecht gehaltenen Vorurtheile ins Verbrechen gestürzt worden sind.«
Was das System der Natur vor den meisten materialistischen Schriften auszeichnet, ist die Unumwundenheit, mit welcher der ganze zweite Theil des Werkes, der noch stärker ist als der erste, in vierzehn weitläufigen Kapiteln den Gottesbegriff in jeder möglichen Form bekämpft. Fast die ganze materialistische Literatur des Alterthums und der Neuzeit hatte diese Consequenz nur schüchtern oder gar nicht zu ziehen gewagt. Selbst Lucrez, der die Befreiung des Menschen von den Fesseln der Religion für die wichtigste Grundlage sittlicher Wiedergeburt hält, lässt wenigstens gewisse Phantome von Gottheiten in den Zwischenräumen der Welten ein räthselhaftes Dasein führen. Hobbes, der dem offnen Atheismus theoretisch gewiss am nächsten stand, hätte in einem atheistischen Staate jeden Bürger hängen lassen, welcher das Dasein Gottes lehrte; aber in England anerkannte er die sämmtlichen Glaubensartikel der anglikanischen Kirche. De la Mettrie, der zwar mit der Sprache herausrückte, aber doch nicht ohne Umschweife und Zweideutigkeiten, widmete sein ganzes Streben nur dem anthropologischen Materialismus; erst für Holbach scheinen gerade die kosmologischen Sätze die wichtigsten zu sein. Sieht man freilich genauer zu, so bemerkt man leicht, dass es hier, wie bei Epikur, wesentlich praktische Gesichtspunkte sind, welche ihn leiten. Indem er die Religion für den Hauptquell aller menschlichen Verderbtheit ansieht, sucht er diesem krankhaften Hang der Menschheit auch die letzten Grundlagen zu entziehen und verfolgt daher die deistischen und pantheistischen Vorstellungen von Gott, welche sein Zeitalter doch so sehr liebte, mit nicht geringerem Eifer als die Ideen der Kirche. Dieser Umstand ist es ohne Zweifel, welcher dem System der Natur auch unter den Freigeistern so heftige Feinde machte.
Zugleich sind nun aber auch die gegen das Dasein Gottes gerichteten Kapitel grösstenteils überaus langweilig. Die logischen Gebilde, welche Beweise für das Dasein Gottes darstellen sollen, sind durchweg so haltlos und nebelhaft, dass es sich bei der Annahme oder Verwerfung derselben nur um eine grössere oder geringere Neigung zur Selbsttäuschung handeln kann. Wer sich an solche Beweise hält, giebt damit nur seiner Neigung einen Gott anzunehmen, einen scholastischen Ausdruck. Diese Neigung selbst war, längst bevor Kant diesen Weg einschlug, um die Gottesidee zu begründen, stets nur ein Ausfluss der praktischen Geistesthätigkeit oder des Gemüthslebens; nicht aber der theoretischen Philosophie. Der scholastische Hang zu nutzlosem Disputiren kann freilich Befriedigung finden, wenn um Sätze gestritten wird, wie: »Das durch sich selbst existirende Wesen muss unendlich und allgegenwärtig sein«, oder »das notwendig existirende Wesen ist notwendig das einzige«; aber an irgend einen Anhaltspunkt für eine ernsthafte, des Menschen würdige Geistesarbeit ist bei so vagen Begriffen gar nicht zu denken. Was soll man nun dazu sagen, wenn ein Mann wie Holbach fast fünfzig Seiten seines Werkes allein dem Beweise Clarkes für das Dasein Gottes widmet, einem Beweise, der sich durchaus in solchen Sätzen bewegt, die von vorn herein jedes bestimmten Sinnes ermangeln? Mit rührender Sorgfalt schöpft das System der Natur in das Fass der Danaïden. Satz für Satz wird unerbittlich vorgenommen und zergliedert, um immer wieder auf dieselben einfachen Sätze zurückzukehren, dass zur Annahme eines Gottes kein Grund vorliege, und dass die Materie von Ewigkeit her gewesen sei.
Holbach wusste übrigens recht gut, dass er gar nicht gegen einen Beweis, sondern kaum gegen den Schatten eines Beweises kämpfe. Er zeigt an einer Stelle, dass Clarkes eigene Definition des Nichts vollkommen mit seiner Begriffsbestimmung Gottes, die nur negative Prädikate enthält, zusammenfalle. Er macht an einer andern Stelle die Bemerkung, man sage zwar immer, dass uns unsere Sinne nur die Schale der Dinge zeigten; was aber Gott betreffe, so zeigten sie uns nicht einmal die Schale. Besonders treffend ist aber folgende Bemerkung:
»Dr. Clarke sagt uns, es sei genug, dass die Attribute Gottes möglich seien, und so, dass man das Gegentheil nicht beweisen kann. Sonderbare Logik! Die Theologie wäre also die einzige Wissenschaft, in welcher man schliessen kann, dass ein Ding wirklich ist, weil es möglich ist?«
Hätte Holbach hier nicht das Bedenken einfallen können, wie es doch möglich sei, dass Leute von leidlich gesundem Gehirn, die sich auch nicht eben durch Schlechtigkeit auszeichnen, sich mit so vollständig in die Luft gebauten Sätzen begnügen können? Hätte ihn dies nicht darauf führen können, dass die Selbsttäuschung des Menschen in religiösen Sätzen doch anderer Natur ist, als die alltägliche Selbsttäuschung? In der äusseren Natur sah Holbach nicht einmal die Schale eines Gottes. Wenn nun aber diese bodenlosen Beweise gerade eine gebrechliche Schale wären, unter der sich eine tiefere Begründung der Gottesidee auf die Eigenschaften des menschlichen Gemüthes birgt? Doch dazu hätte denn gleichzeitig eine gerechtere Beurtheilung der Religion in Beziehung auf ihren moralischen und culturhistorischen Werth gehört; und das vor allen Dingen war von dem Boden, aus welchem das System der Natur erwuchs, nicht zu erwarten.
Wie schroff der Standpunkt ist, den das System der Natur der Gottesidee gegenüber einnimmt, zeigt am besten das Capitel (IV. im 2. Th.), welches den Pantheismus behandelt. Wenn man bedenkt, dass lange Zeit Spinozist und Materialist als dasselbe galt, und dass man unter der Bezeichnung des Naturalismus beide Richtungen häufig zusammenfasste, ja, dass man sogar bei Männern, die als Stimmführer des Materialismus gezählt werden, oft ganz pantheistische Wendungen findet, so kann man sich über den Eifer verwundern, den Holbach entwickelt, um auch den blossen Namen eines Gottes, wenn man ihn selbst mit der Natur identisch setzt, gänzlich aus dem Bereich menschlichen Denkens zu verbannen. Und doch geht Holbach, wenn man sich auf seinen Standpunkt versetzt, hierin keineswegs zu weit. Ist es doch grade der mystische Zug im Wesen des Menschen, den er als krankhaft ansieht, und dem er die grössten Uebel zuschreibt, welche die Menschheit niederdrücken! Und in der That, sobald ein Gottesbegriff, wie immer begründet, wie immer näher bestimmt, überhaupt nur gegeben ist, so wird das menschliche Gemüth ihn ergreifen, poetisch gestalten, personificiren und ihm irgend einen Cultus, irgend eine Verehrung widmen, bei deren Wirkung im Leben die logische und metaphysische Ableitung des Begriffs sehr wenig mehr in Betracht kommt. Ist dieser Zug zur Religion, welcher immer wieder durch die Schranken der Logik bricht, nicht einmal so viel werth, als die Poesie; ist er vielmehr unbedingt nachtheilig, dann ist allerdings auch der blosse Name eines Gottes zu beseitigen, und hierin liegt dann erst der wahre Schlussstein einer naturgemässen Weltanschauung. Wir müssten dann aber auch Holbach noch eine kleine rhetorische Schwäche zuschreiben, die vielleicht gefährliche Folgen haben könnte, wenn er von dem wahren Cultus der Natur und von ihren Altären spricht.
Wie nah stehen sich doch oft die Extreme! Dasselbe Capitel, in welchem Holbach seine Leser aufruft, die Menschheit auf immer von dem Phantome der Gottheit zu befreien und selbst den Namen desselben zu beseitigen, enthält eine Stelle, welche den Hang des Menschen zum Wunderbaren als so allgemein, so tief gewurzelt, so übergewaltig darstellt, dass man dabei an eine vorübergehende Entwicklungskrankheit der Menschheit gar nicht mehr denken kann; dass man förmlich einen umgekehrten Sündenfall annehmen muss, um der Consequenz zu entgehen, dass dieser Hang zum Wunderbaren dem Menschen gerade so natürlich ist, wie die Liebe zur Musik und zu schönen Farben und Formen, und dass gegen das Naturgesetz, wonach dies so ist, ein Kampf gar nicht denkbar ist.
»So ziehen die Menschen ewig das Wunderbare dem Einfachen vor, das was sie nicht verstehen, dem was sie verstehen können. Sie verachten die Dinge, mit denen sie vertraut sind und schätzen nur diejenigen, welche sie gar nicht zu beurtheilen vermögen. Wenn sie von diesen nur unklare Vorstellungen haben, so schliessen sie eben daraus, dass sie irgend etwas Wichtiges, Uebernatürliches, Göttliches enthalten. Mit einem Wort, sie brauchen den Reiz des Geheimnissvollen, um ihre Phantasie anzuregen, ihren Geist zu beschäftigen und ihre Neugier zu sättigen, die sich niemals stärker rührt, als gerade wenn sie sich mit Räthseln befasst, deren Lösung überhaupt unmöglich ist.«
In einer Anmerkung zu dieser Stelle wird aufgeführt, dass mehrere Völker von einer begreiflichen Gottheit, der Sonne, zu einer unbegreiflichen übergegangen seien. Warum? Weil der verborgenste, geheimnissvollste, unbekannteste Gott stets der Einbildung mehr zusagt, als ein sichtbares Wesen. Alle Religionen brauchen deshalb Mysterien, und – hierin liegt das Geheimniss der Priester. – Auf einmal sollen es wieder die Priester gethan haben, während doch eher geschlossen werden könnte, dass diese Classe ursprünglich aus dem Mysterien-Bedürfniss des Volkes naturgemäss hervorgegangen ist, und dass sie, bei zunehmender Einsicht, nur deshalb das Volk nicht zu reineren Anschauungen erheben kann, weil jener rohe Naturtrieb zum Geheimnissvollen gar zu mächtig bleibt. So zeigt sich, wie in dieser radicalsten Bekämpfung aller Vorurtheile doch auch wieder das Vorurtheil eine höchst bedeutende Rolle spielt.
Die gleiche Erscheinung tritt denn auch namentlich in denjenigen Capiteln hervor, welche dem Verhältnisse zwischen Religion und Moral gewidmet sind. Weit entfernt hier etwa nur kritisch zu verfahren und das Vorurtheil zu bekämpfen, als sei die Religion die alleinige Basis des sittlichen Handelns, geht das System der Natur vielmehr dazu über, die moralische Schädlichkeit der positiven Religionen und besonders des Christenthums darzuthun. Hier bieten sich denn allerdings in den Dogmen, wie in der Geschichte zahlreiche Anhaltpunkte; allein im Wesentlichen bleibt die Untersuchung bei der Oberfläche stehen. So wird beispielsweise ein moralischer Nachtheil daraus hergeleitet, dass die Religion dem Schlechten Verzeihung verheisst, während sie den Guten durch das Uebermass ihrer Forderungen erdrückt. Es wird also jener ermuthigt, dieser abgeschreckt. Wie aber im Laufe der Jahrtausende eben diese Abschwächung des uralten Gegensatzes der »Guten« und der »Bösen« auf die Humanität zurückwirken musste, hat das System der Natur nicht in Betracht gezogen. Und doch sollte uns grade ein achtes System der Natur zeigen, wie jener scharfe Gegensatz erlogen ist, und wie er zur immer tieferen Erdrückung der Armuth, zur Entwürdigung der Schwachheit, zur Misshandlung der Krankheit führt, während die Ausgleichung der Schuld im Bewusstsein der Menschheit, wie das Christenthum sie angebahnt hat, genau mit den Sätzen übereinstimmt, auf welche die exacte Naturbetrachtung und insbesondere die Beseitigung des Begriffes der Willensfreiheit uns führen muss. Die »Guten«, d. h. die Glücklichen, haben von jeher die Unglücklichen tyrannisirt. Allerdings stellt sich in diesem Punkte das christliche Mittelalter ebenbürtig neben das Heidenthum und erst die aufgeklärte Neuzeit hat eine entschiedene Besserung gebracht. Der Geschichtsforscher wird sich die ernste Frage vorlegen müssen, ob nicht gerade die christlichen Grundsätze, nachdem sie Jahrtausende hindurch unter mythischer Form mit der Rohheit der Menschen gerungen haben, endlich ihre grösste Wirkung in dem Augenblicke thun, wo die Form zerfallen kann, weil die Auffassung der Menschheit für den reinen Gedanken gereift ist. Was aber die religiöse Form an sich betrifft; was namentlich die so vielfach mit der Religion verwechselte Neigung des Gemüthes zu Cultus und Ceremonien oder zu erschütternden und auflösenden Processen des Gemüthslebens betrifft; so ist hier sehr die Frage, ob nicht die dadurch gewirkte Weichlichkeit und Sinnlichkeit, verbunden mit der Unterdrückung des richtenden Verstandes und mit der Verfälschung des natürlichen Gewissens oft für Individuen wie für ganze Völkerschaften höchst verderblich ist. Wenigstens liefern die Geschichten der Irrenanstalten, die Annalen der Criminalrechtspflege und die Moralstatistik Thatsachen, die sich vielleicht einmal zu einem empirischen Beweise gruppiren liessen. Holbach weiss hiervon wenig. Er geht überhaupt nicht empirisch, sondern deductiv zu Werke, und alle seine Annahmen über die Wirkungsweise des religiösen Standpunktes setzen eine Vermittlung der Dogmen durch den blossen Verstand voraus. Dabei kann denn freilich das Resultat der Betrachtung nur ein höchst ungenügendes bleiben.
Weit treffender und gedankenreicher sind die Capitel, in welchen der Beweis geführt wird, dass es Atheisten gebe, und dass der Atheismus mit der Moral vereinbar sei. Hier stützt sich Holbach auf Bayle, der zuerst nachdrücklich darauf hinwies, dass die Handlungen der Menschen überhaupt nicht aus ihren allgemeinen Vorstellungen, sondern aus ihren Leidenschaften und Trieben hervorgehen.
Nicht ohne Interesse ist endlich die Behandlung der Frage, ob ein ganzes Volk dem Atheismus huldigen könne. Wiederholt haben wir die democratische Tendenz des französischen Materialismus im Gegensatz zu der Wirkung dieser Weltanschauung auf England hervorgehoben. Holbach ist gewiss nicht weniger revolutionär als De la Mettrie und Diderot; wie kommt es nun, dass er, der sich so viele Mühe gab, populär zu werden, der den Atheismus in einem Auszuge seines Hauptwerkes »für Zofen und Haarkräusler zurecht machte«, wie Grimm sich ausdrückte, doch ganz unumwunden ausspricht, dass diese Wirkungsweise für die Masse des Volkes nicht geeignet sei? Holbach, der seines Radicalismus wegen von den geistreichen Kreisen der Pariser Aristocratie so gut wie ausgeschlossen war, theilt nicht die Unklarheit mancher andern Schriftsteller jener Epoche, die mit aller Macht auf den Umsturz des Bestehenden hinarbeiten und sich doch dabei als Aristocraten geriren, die dummen Bauern verachten und ihnen im Nothfall einen Gott erfinden wollen, damit doch ja der Popanz nicht fehle, der sie in der Furcht hält. Holbach geht von dem Grundsatze aus, dass die Wahrheit niemals schaden kann. Er schliesst dies aus dem Obersatze, dass überhaupt die theoretische Erkenntniss, selbst wenn sie irrt, niemals gefährlich werden kann. Selbst die Irrthümer der Religion erhalten ihren Stachel nur durch die Leidenschaften, die sich mit ihnen verbinden und durch die Staatsgewalt, welche sie tyrannisch aufrecht erhält. »Die extremsten Meinungen können nebeneinander bestehen, wenn man nur keine derselben durch gewaltsame Mittel zur ausschliesslichen Herrschaft zu bringen versucht. Der Atheismus aber, der sich auf die Erkenntniss der Naturgesetze gründet, kann einfach deshalb nicht allgemein werden, weil der grossen Masse der Menschen Zeit und Neigung fehlt, um durch jenes ernste Studium hindurch zu einer völlig neuen Denkungsweise vorzudringen. Das System der Natur ist aber weit entfernt davon, deshalb der grossen Masse die Religion als Surrogat für die Philosophie zu überlassen. Indem es eine unbedingte Denkfreiheit und völlige Indifferenz des Staates verlangt, will es vielmehr die Gemüther der Menschen einer natürlichen Entwickelung überlassen. Mögen sie glauben, was sie wollen, und lernen, was sie können! Die Früchte der philosophischen Forschung werden früher oder später Allen zu Gute kommen, genau wie es mit den Errungenschaften der Naturwissenschaften schon der Fall ist. Zwar werden die neuen Ideen heftigen Widerspruch erfahren, aber man wird durch die Erfahrung lernen, dass sie nur Segen bringen. Man darf aber bei ihrer Verbreitung seinen Blick nicht auf die Gegenwart beschränken; man muss die Zukunft, die ganze Menschheit ins Auge fassen. Die Zeit und der Fortschritt der Jahrhunderte werden einst auch jene Fürsten aufklären, die sich jetzt so hartnäckig der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Freiheit des Menschen entgegenstellen.
Von demselben Geiste ist das Schlusscapitel des ganzen Werkes durchdrungen, in welchem die begeisterte Feder Diderots besonders bemerkbar scheint. Dieser »Abriss des Gesetzbuches der Natur« ist kein trockner und dürrer Katechismus, wie die französische Revolution sie nach Holbachs Grundsätzen schuf, sondern vielmehr ein rhetorisches Prachtstück, und in mancher Beziehung kann man auch sagen, ein Meisterstück. In einem längeren Abschnitte tritt, wie bei Lucrez, die Natur redend auf. Sie fordert die Menschheit auf, ihren Gesetzen zu folgen, das Glück zu geniessen, das ihr beschieden sei, der Tugend zu dienen, das Laster zu verachten, die Lasterhaften aber nicht zu hassen, sondern als Unglückliche zu bemitleiden. Die Natur hat ihre Apostel, welche das Glück des Menschengeschlechtes herbeizuführen unablässig bemüht sind. Wenn ihr Streben nicht gelingt, werden sie wenigstens die Genugtuung haben, einen Versuch gewagt zu haben.
Die Natur und ihre Töchter, die Tugend, Vernunft und Wahrheit werden zum Schluss als die einzigen Gottheiten angerufen, denen allein Weihrauch und Anbetung gebührt. So wird das System der Natur in poetischem Schwunge nach Zerstörung aller Religionen selbst wieder zur Religion. Ob auch diese Religion einst eine herrschsüchtige Priesterschaft erzeugen könnte? Ob die Neigung des Menschen zum Mystischen so gross ist, dass die Sätze des Werkes, welches sogar den Pantheismus verwirft, um selbst den Namen der Gottheit auszurotten, zu Dogmen einer neuen Kirche werden könnten, welche das Verständliche mit Unverständlichem klug zu mengen und Ceremonien und Cultusformen hervorzubringen wüsste?
Wo wird die Natur zur Unnatur? Wie zeugt die ewige Notwendigkeit aller Entwicklung das Verkehrte und Verwerfliche? Worauf beruht unsere Hoffnung einer besseren Zeit? Was soll die Natur in ihre Rechte einsetzen, wenn es überall nichts giebt, als Natur? – Das sind Fragen, auf welche das System der Natur uns keine genügende Antwort giebt. Wir sind bei der Vollendung des Materialismus angelangt, aber auch bei seinen Grenzen. Was das System der Natur in geschlossenem Zusammenhang giebt, das hat die neuere Zeit wieder mannigfach zerstreut und zersplittert. Neue Motive, neue Gesichtspunkte sind in grosser Zahl gewonnen worden; aber der Kreis der Grundfragen ist unabänderlich derselbe geblieben, wie er in Wahrheit schon bei Epikur und Lucrez derselbe war.