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Es war aber unterdessen ein neues Volk auf den Schauplatz der Geschichte getreten. Rom schlägt die Nationen in seine Fesseln und wird der Mittelpunkt aller neuen Entwickelungen.
Unter allen Völkern des Alterthums stand vielleicht keines von Haus aus materialistischen Anschauungen ferner als das der Römer. Ihre Religion wurzelte tief im Aberglauben, ihr ganzes Staatsleben war von abergläubischen Formeln eingeschränkt. Die ererbten Sitten wurden mit eigensinniger Starrheit festgehalten, Kunst und Wissenschaft hatten wenig Reize für die Römer, die Vertiefung in das Wesen der Natur noch weniger. Die praktische Richtung ihres Lebens herrschte über jede andere, aber auch sie war nicht materialistisch, sondern durchweg spiritualistisch. Herrschaft ging ihnen über Reichthum, Ruhm über Wohlbefinden, ein Triumph über Alles. Ihre Tugenden waren nicht die der Friedensliebe, des unternehmenden Kunstfleisses, der Gerechtigkeit, sondern die des Muthes, der Ausdauer, der Mässigkeit. Die Laster der Römer waren ursprünglich nicht Ueppigkeit und Genusssucht, sondern Härte, Grausamkeit und Treulosigkeit. Das Talent der Organisation in Verbindung mit jenem kriegerischen Charakter hatte die Nation gross gemacht und sie war sich dessen mit Stolz bewusst. Jahrhunderte lang dauerte seit ihrer ersten Berührung mit den Griechen die Abneigung, die aus der Verschiedenheit der Nationen hervorging. Griechische Kunst und Literatur drangen in Rom erst nach der Besiegung Hannibals allmählig ein, aber gleichzeitig auch Luxus und Ueppigkeit und die Schwärmerei und Unsittlichkeit asiatischer und afrikanischer Völkerschaften. Die besiegten Nationen drängten sich in ihre neue Hauptstadt und bereiteten hier eine Mischung aller Elemente des alten Völkerlebens vor, während die Grossen mehr und mehr an Bildung und feinerem Lebensgenuss Geschmack fanden. Feldherren und Statthalter raubten die Werke griechischer Kunst zusammen, allein die Betrachtung blieb eine äusserliche; Schulen griechischer Philosophen und Redner wurden eröffnet und mehrmals wieder verboten; man fürchtete das auflösende Element der griechischen Bildung, aber man konnte seinen Reizen je länger je weniger widerstehen. Der alte Cato selbst lernte Griechisch, und als erst die Sprache und Literatur bekannt wurde, konnte die Einwirkung der Philosophie nicht ausbleiben.
In den letzten Zeiten der Republik war dieser Process so weit vollendet, dass jeder gebildete Römer Griechisch verstand, dass die jungen Adeligen ihre Studien in Griechenland machten, und dass die besten Köpfe die vaterländische Literatur nach dem Muster der griechischen umzubilden strebten.
Damals waren es unter allen Schulen griechischer Philosophen zwei, welche besonders die Römer fesselten, die der Stoiker und der Epikureer: erstere mit ihrem rauhen Tugendstolz von Haus aus dem römischen Charakter verwandt, letztere mehr im Geiste der Zeit und ihres Fortschrittes, beide aber, und dies ist für den Charakter der Römer bezeichnend, von praktischer Tendenz und dogmatischer Form.
Diese Schulen, die so manches Gemeinsame hatten bei all ihren schroffen Gegensätzen, trafen sich freundlicher in Rom als in ihrem Heimathlande. Zwar verpflanzten sich die masslosen Verläumdungen der Epikureer, welche seit Chrysippus von den Stoikern geflissentlich waren verbreitet worden, alsbald auch nach Rom.
Auch in Rom hielt die Masse den Epikureer für einen Sklaven seiner Lüste, und mit doppelter Oberflächlichkeit glaubte man über seine Naturphilosophie absprechen zu können, weil kein Gehege unverständlicher Ausdrücke sie beschirmte. Leider hat auch Cicero die Epikureische Lehre im schlimmen Sinne des Wortes popularisirt und dadurch manches in einen Schein der Lächerlichkeit gebracht, der in strengerer Fassung verschwindet. Allein bei alle dem waren die Römer meist vornehme Dilettanten, die sich das Interesse für ihre Schulen nicht so tief gehen liessen, dass sie nicht auch im Stande gewesen wären, Entgegengesetztes zu schätzen. Die Sicherheit ihrer weltlichen Stellung, die Universalität ihrer Lebensbeziehungen erhielt diese Männer vorurtheilsfrei. Daher kommen selbst bei Seneca noch Aeusserungen vor, die Gassendi einen Anhaltspunkt gegeben haben, ihn zum Epikureer zu machen. Brutus, der Stoiker, und Cassius, der Epikureer, tauchen gemeinsam ihre Hände in das Blut des Cäsar. – Aber dieselbe populäre und abgeflachte Auffassung der epikureischen Lehre, welche uns bei Cicero zum Nachtheil derselben entgegentritt, macht es nicht nur möglich, dass zwischen dem Epikureismus und den verschiedensten anderen Schulen Freundschaft besteht, sondern sie verwischt auch den Charakter der meisten römischen Epikureer selbst und giebt so den gemeinen Vorwürfen einen Anhaltpunkt in der Wirklichkeit. Bereits zu einer Zeit, wo ihnen die griechische Bildung noch ganz äusserlich war, hatten die Römer angefangen, die rauhe Strenge der alten Sitten gegen eine Neigung zu Schwelgerei und Ueppigkeit umzutauschen, welche, wie man es bei Individuen häufig bemerkt, um so massloser wurde, je fremder und ungewohnter ihnen die freiere Sitte war. Schon zu den Zeiten des Marius und Sulla war diese Veränderung entschieden, die Römer waren praktische Materialisten geworden und zwar oft im schlimmsten Sinne des Wortes, bevor sie die Theorie kennen gelernt hatten. Die Theorie eines Epikur war aber durchweg reiner und edler als die Praxis dieser Römer, und daher konnte nun ein doppelter Weg eingeschlagen werden: entweder sie liessen sich veredeln und nahmen Zucht und Mass an, oder sie verdarben die Theorie und mengten die Ansichten von Freund und Feind über dieselbe durcheinander, um alsdann einen Epikureismus zu haben, wie sie ihn brauchten. Selbst edlere Naturen und gründlichere Kenner der Philosophie verweilten mit Vorliebe bei dieser bequemeren Auffassung. So Horaz, wenn er sich als »ein Schwein von der Heerde Epikurs« bezeichnet; offenbar mit schalkhafter Ironie, aber nicht in dem ernsten und nüchternen Geiste des alten Epikureismus. Derselbe Horaz bezeichnet nicht selten den Cyrenaiker Aristipp als sein Vorbild.
Gediegener hielt sich Virgil, der auch einen Epikureer zum Lehrer hatte, aber mannichfache Elemente anderer Systeme sich aneignete. Unter all diesen Halbphilosophen steht als ein ganzer und ächter Epikureer Titus Lucretius da, dessen Lehrgedicht »de rerum natura« mehr als irgend etwas anderes dazu beigetragen hat, beim Aufleben der Wissenschaften auch die Lehren Epikurs wieder hervor zu ziehen und in einem besseren Lichte erscheinen zu lassen. Noch die Materialisten des vorigen Jahrhunderts studirten und liebten den Lucretius, und erst in unseren Tagen scheint sich der Materialismus vollständig von den alten Traditionen losgemacht zu haben.
T. Lucretius Carus wurde geboren im Jahre 99 und starb schon 55 v. Chr. Von seinem Leben ist fast nichts bekannt. Es scheint, dass er unter den Wirren der Bürgerkriege einen Halt für sein inneres Leben gesucht und ihn in der Philosophie Epikurs gefunden hatte. Daher unternahm er sein grosses Gedicht, um seinen Freund, den Dichter Memmius, für diese Schule zu gewinnen. Die grosse Begeisterung, mit der er das Heil seiner Philosophie dem trüben und nichtigen Gehalt der Gegenwart gegenüber setzt, giebt seinem Werk etwas Erhabenes, einen Schwung des Glaubens und der Phantasie, der allerdings über die harmlose Heiterkeit des epikureischen Lebens sich erhebt und oft einen stoischen Anlauf nimmt. Dagegen ist es doch verfehlt, wenn Bernhardy in seiner römischen Literaturgeschichte behauptet, »von Epikur und seinen Anhängern empfing er nichts als das Geripp einer Naturphilosophie«. Es liegt hierin eine Verkennung Epikurs, die sich noch deutlicher in folgender Aeusserung des hervorragenden Philologen ausspricht:
»Lucretius baut zwar auf dieser Grundlegung der mechanischen Natur, indem er aber bemüht war, das Recht der persönlichen Freiheit und der Unabhängigkeit von aller religiösen Tradition zu retten, sucht er das Wissen in die Praxis einzuführen, den Menschen durch Einsicht in den Urgrund und das Wesen der Dinge zu befreien und auf eigne Füsse zu stellen«.
Wir haben bereits gesehen, dass dies Streben der Befreiung gerade der Nerv des epikureischen Systemes ist; in Cicero's flacher Darstellung tritt dies freilich zurück; aber nicht umsonst hat uns Diogenes von Laerte in seiner besten Biographie die eigenen Worte Epikurs erhalten, die unserer obigen Darstellung zu Grunde liegen.
Wenn es aber irgend etwas war, was den Lucrez zu Epikur hinzog, was ihm diese lebhafte Begeisterung einhauchte, so war es gerade jene Kühnheit und sittliche Stärke, mit der Epikur dem Götterglauben seinen Stachel raubte, um die Sittlichkeit auf einen unerschütterlicheren Grund zu basiren. Dies deutet Lucrez auch offen genug an, denn gleich nach der herrlichen poetischen Einleitung an Memmius erklärt er sich folgendermassen:
»Da auf Erden das menschliche Leben schnöde unterdrückt lag unter der Last der Religion, die ihr Haupt vom Himmel her zeigte und schauerlich anzusehen den Sterblichen drohte: – da hat es zuerst ein griechischer Mann, ein Sterblicher, gewagt, entgegen die Augen zu richten und entgegen zuerst sich zu stellen; er, den weder die Tempel der Götter, noch Blitze, noch das drohende Krachen des Himmels gebändigt haben; um so mehr nur erhebt er den kühnen Muth seines Geistes, dass er die festen Riegel der Pforten der Natur zuerst aufzubrechen begehrte«.
Dass Lucrez noch mancherlei Quellen benutzt, den Empedokles fleissig studirt und vielleicht im naturhistorischen Theile sogar manches aus eigener Beobachtung hinzugefügt habe, wollen wir nicht leugnen; man darf aber auch hier nicht vergessen, dass wir nicht wissen, was die verlorenen Bücher Epikurs für Schätze enthielten. Fast alle Beurtheiler stellen das Lehrgedicht des Lucrez unter den Productionen des voraugusteischen Zeitalters an Genialität und Kraft der Darstellung obenan; dagegen ist doch der didactische Theil oft trocken und lose, oder durch schroffe Uebergänge mit den poetischen Schilderungen verknüpft.
In der Sprache ist Lucrez in hohem Grade alterthümlich rauh und einfach. Die Dichter des augusteischen Zeitalters, die sich sonst über die rauhe Kunst ihrer Vorgänger weit erhaben fühlten, ehrten den Lucretius sehr. Virgil hat ihm die Verse gewidmet:
Felix, qui potuit rerum cognoscere causas
Atque metus omnes et inexorabile fatum
Subjecit pedibus strepitumque Acherontis avari.
So hat denn auch Lucrez ohne Zweifel auf die Ausbreitung der epikureischen Philosophie unter den Römern mächtig gewirkt. Ihren Höhepunkt erreichte dieselbe unter der Regierung des Augustus, denn wenn auch damals kein Vertreter wie Lucrez mehr da war, so waren doch alle jene heiteren Geister der Dichterkreise, die sich um Mäcenas und Augustus schaarten, vom Geist dieser Philosophie berührt und geleitet.
Als aber unter Tiberius und Nero Greuel aller Art an's Licht traten und fast jeder Genuss durch Gefahr oder durch Schande vergiftet ward, da traten die Epikureer zurück, und in dieser letzten Zeit der heidnischen Philosophie waren es vorzugsweise die Stoiker, die den Kampf gegen Laster und Feigheit aufnahmen und mit unbekümmertem Muth, wie ein Seneca, ein Pätus Thrasea, den Tyrannen als Opfer fielen.
Ohne Zweifel war auch die epikureische Philosophie in ihrer Reinheit, und namentlich in der Ausbildung, die der charakterstarke Lucrez ihr gegeben hatte, ganz dazu angethan, eine solche Erhabenheit der Gesinnung zu verleihen; allein gerade die Reinheit, Stärke und Kraft der Auffassung, welche Lucrez bewährte, wurde dieser Schule selten und vielleicht seit Lucrez bis auf unsere Tage nie wieder zu Theil. Es verlohnt sich deshalb wohl der Mühe, das Werk dieses merkwürdigen Mannes noch etwas näher zu betrachten.