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Nun haben wir dem grossen Königsberger Immanuel Kant schon durch die Eintheilung unserer Arbeit eine so hervorragende Stelle angewiesen, wir haben so oft auf den mit Kant eintretenden Wendepunkt für die ganze Beurtheilung des Materialismus hingedeutet, dass unsere Leser vielleicht fürchten werden, in diesem Capitel einen neuen Fall des philosophischen Paroxysmus zu erleben, mit dem ein geistreicher und verdienstvoller Naturforscher unlängst seine Collegen gar sehr in Schrecken und Staunen versetzt hat. Allein während Herr Schleiden Kant, Fries und Apelt mit Keppler, Newton und La Place parallel stellt und den Wahn kund giebt, durch die Arbeiten dieser Männer seien die Ideen: »Seele, Freiheit, Gott« so sicher festgestellt, wie die Gesetze des Sternenlaufes, werden wir hier vielmehr sehen, wie es allein Kants Grundgedanke, oder genauer bezeichnet der Ausgangspunkt seines kritischen Denkens ist, dem eine Epoche machende und für alle Zeiten gültige Bedeutung zuzuschreiben ist, während die ganze Ausführung des Systems von der luftigen Begriffs-Architectur der meisten deutschen Philosophen sich nur durch etwas solideres Gefüge unterscheidet. In der That ist Kant für die Fragen des Materialismus namentlich weit wichtiger durch die zeitgemässen Umbildungen, welche sein Grundgedanke zulässt, als durch die starre Form seines Systems. Wir werden uns daher auch um die orthodoxen Kantianer im Verfolg unserer Darstellung um so weniger zu kümmern haben, als keiner von diesen in die Geschichte des Materialismus wesentlich eingegriffen hat.
Kant selbst war weit davon entfernt, sich mit Keppler zu vergleichen; aber er machte einen anderen Vergleich, der bedeutungsvoller und stichhaltiger ist. Er verglich seine That mit der des Kopernikus. Seine That bestand aber darin, dass er den bisherigen Standpunkt der Metaphysik umkehrte. Kopernikus wagte es »auf eine widersinnische aber doch wahre Art«, die beobachteten Bewegungen nicht in den Gegenständen des Himmels, sondern in ihrem Zuschauer zu suchen. Nicht minder »widersinnisch« muss es dem trägen Geiste des Menschen vorkommen, wenn Kant die gesammte Erfahrung sammt allen historischen und exacten Wissenschaften ganz sacht und sicher umkehrt durch die einfache Annahme, dass unsere Begriffe sich nicht nach den Gegenständen richten, sondern die Gegenstände nach unseren Begriffen. Es folgt daraus unmittelbar, dass die Gegenstände der Erfahrung überhaupt nur unsere Gegenstände sind, dass die ganze Objectivität mit einem Wort eben nicht die absolute Objectivität ist, sondern nur eine Objectivität für den Menschen und etwaige ähnlich organisirte Wesen, während hinter der Erscheinungswelt sich das wahre Wesen der Dinge, das » Ding an sich«, in ein undurchdringliches Dunkel verhüllt.
Mit diesem Gedanken wollen wir einen Augenblick frei schalten. Wie Kant ihn ausführte, geht uns dabei vorläufig nichts an; um so mehr beschäftigt uns aber die Frage, wie sich von diesem neuen Gesichtspunkte aus die Stellung des Materialismus gestaltet
Der Schluss des ersten Buches zeigte uns die deutsche Schulphilosophie in einen bedenklichen Streit mit dem Materialismus verwickelt Das beliebte Bild von der Hydra, welcher stets zwei neue Köpfe spriessen, wenn der kämpfende Halbgott einen abgeschlagen, passt durchaus nicht auf das Schauspiel, welches sich dem unbefangenen Zuschauer jener Kämpfe enthüllt. Allerdings erhält der Materialismus jedesmal einen Hieb, den er nicht pariren kann; es ist immer dieselbe Quart, die jedesmal sitzt, so lächerlich ungeschickt sie auch oft geführt wird. Das Bewusstsein lässt sich aus stofflichen Bewegungen nicht erklären. Wie bündig auch dargethan wird, dass es von stofflichen Vorgängen durchaus abhängig ist, das Verhältniss der äusseren Bewegung zur Empfindung bleibt unfassbar und enthüllt einen um so grelleren Widerspruch, je näher man es beleuchtet. Nun zeigt sich aber, dass alle Systeme, welche man gegen den Materialismus in den Kampf führt, mögen sie nun nach Descartes, Spinoza, Leibnitz, Wolff oder nach dem alten Aristoteles heissen, ganz denselben Widerspruch in sich tragen und ausserdem vielleicht noch ein Dutzend schlimmere. Bei der Abrechnung mit dem Materialismus kommt Alles zu Tage. In der That ist es fast nur die ungemeine Fasslichkeit und Anschaulichkeit des Materialismus, welche diesen auf den ersten Blick neben der gepanzerten Schulphilosophie so schwach erscheinen lässt. Wir sehen hier ganz davon ab, welche Vorzüge die übrigen Systeme sonst etwa noch durch ihre Tiefsinnigkeit, durch ihre Verwandtschaft mit Kunst, Religion und Poesie, durch ahnungsvolle Geistesblitze und anregendes Gedankenspiel haben mögen. An solchen Schätzen ist der Materialismus arm; aber er ist in der That ebenso arm an jenen faustdicken Trugschlüssen oder haarfeinen Erschleichungen, welche den übrigen Systemen zu ihren vermeintlichen Wahrheiten verhelfen. Im Kampf mit dem Materialismus, wo es sich nur um Beweisen und Widerlegen handelt, können alle Vorzüge des Tiefsinns nichts helfen und die verborgenen Widersprüche kommen zu Tage.
Nun haben wir aber ein Princip unter mancherlei Formen kennen gelernt, gegen welches der Materialismus ohne Waffen ist, und welches in der That über diese Weltanschauung hinaus zu einer höheren Betrachtung der Dinge führt. Gleich beim Eingang unserer Arbeit trat uns dies Princip entgegen, indem wir Protagoras über Demokrit hinwegschreiten sehen. Und wieder in der letzten Periode, die wir behandelten, finden wir zwei Männer, verschieden an Nation, Denkweise, Beruf, Glauben und Character, die doch beide auf demselben Punkt den Boden des Materialismus verlassen: den Bischof Berkley und den Mathematiker D'Alembert. Jener sah die ganze Erscheinungswelt für eine einzige grosse Sinnestäuschung an, dieser zweifelte, dass es überhaupt etwas ausser uns gebe, was dem, was wir zu sehen glauben, entspricht. Wir haben gesehen, wie Holbach sich über Berkley ärgert, ohne ihn widerlegen zu können.
Es giebt ein Gebiet der exacten Naturforschung, welches unsere heutigen Materialisten verhindert, sich von dem Zweifel an der Wirklichkeit der Erscheinungswelt ärgerlich abzuwenden: dies ist die Physiologie der Sinnesorgane. Die erstaunlichen Fortschritte auf diesem Gebiete, deren wir später noch zu gedenken haben, scheinen ganz dazu angethan, den alten Satz des Protagoras, dass der Mensch das Maass der Dinge ist, zu erhärten. Wenn es erst erwiesen ist, dass die Qualität unserer Sinneswahrnehmungen ganz und gar von der Beschaffenheit unserer Organe bedingt ist, so kann man auch die Annahme nicht mehr mit dem Prädicat »unwiderleglich aber absurd« beseitigen, dass selbst der ganze Zusammenhang, in welchen wir die Sinneswahrnehmungen bringen, mit einem Wort unsere ganze Erfahrung, von einer geistigen Organisation bedingt wird, die uns nöthigt so zu erfahren, wie wir erfahren, so zu denken, wie wir denken, während einer anderen Organisation dieselben Gegenstände ganz anders erscheinen mögen und das Ding an sich keinem endlichen Wesen vorstellbar werden kann.
In der That zieht sich auch der Gedanke, dass die Erscheinungswelt nur das getrübte Abbild einer anderen Welt der wahren Objecte sei, durch die ganze Geschichte menschlichen Denkens hindurch. Bei den Denkern des alten Indiens wie bei den Griechen erscheint schon in mancherlei Form derselbe Grundgedanke, dessen besondere Gestaltung bei Kant nun auf einmal der That des Kopernikus verglichen wird. Plato glaubte an die Welt der Ideen, der ewigen und vollendeten Urbilder irdischen Geschehens. Kant nennt ihn den vornehmsten Philosophen des Intellectuellen und Epikur dagegen den vornehmsten Philosophen der Sinnlichkeit. Wie verschieden aber Kants Stellung zum Materialismus von derjenigen Platos ist, geht schon daraus deutlich hervor, dass Kant Epikur ein ausdrückliches Lob ertheilt, weil er mit seinen Schlüssen niemals über die Grenze der Erfahrung hinaus gegangen sei, während z. B. Locke »nachdem er alle Begriffe und Grundsätze von der Erfahrung abgeleitet hat, so weit im Gebrauche derselben geht, dass er behauptet, man könne das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele (obgleich beide Gegenstände ganz ausser den Grenzen möglicher Erfahrung liegen) ebenso evident beweisen, als irgend einen mathematischen Lehrsatz.«
Andererseits unterschied sich Kant nicht minder bestimmt von denjenigen Philosophen, welche sich damit begnügen, zu beweisen, dass die Erscheinungswelt ein Product unserer Vorstellung sei. Protagoras machte sich in dieser Erscheinungswelt heimisch. Er gab den Gedanken einer absoluten Wahrheit vollständig auf und gründete sein ganzes System auf den Satz, dass für den Menschen das wahr ist, was ihm wahr scheint, und das gut, was ihm gut scheint. Berkley wollte mit seinem Kampfe gegen die Erscheinungswelt dem bedrängten Glauben Luft machen, und seine Philosophie hört auf, wo sein eigentlicher Zweck hervortritt. Die Skeptiker vollends begnügen sich, jede Scheinwahrheit zu zertrümmern, und zweifeln nicht nur an der Welt der Ideen und an der Erscheinungswelt, sondern sogar an der unbedingten Gültigkeit unserer Denkgesetze. Grade ein Skeptiker aber war es, welcher unsern Kant mit gewaltigem Stoss aus den Bahnen der deutschen Schulweisheit hinauswarf und ihn in jene Richtung brachte, in welcher er jahrelang sinnend und arbeitend, das Ziel erreichte, welches er in seiner unsterblichen Kritik der reinen Vernunft verkündete. Wollen wir Kants Grundgedanken scharf erfassen, ohne den ganzen Bau seines Systems zu analysiren, so führt unser Weg durch David Hume.
Hume schliesst sich der durch Baco, Hobbes und Locke bezeichneten Reihe englischer Denker vollkommen ebenbürtig an; ja man muss zweifeln, ob ihm nicht unter allen der erste Rang zuzuweisen ist. Einer schottischen Adelsfamilie entstammt, wurde er 1711 zu Edinburg geboren. Schon 1738 erschien sein Werk über die menschliche Natur, geschrieben während eines Aufenthaltes in Frankreich in vollständiger wissenschaftlicher Musse. Erst vierzehn Jahre später wandte er sich jenen geschichtlichen Studien zu, denen er einen so bedeutenden Theil seines Rufes verdankt. Nach mannigfachen Beschäftigungen wurde er zuletzt Gesandtschaftssecretär in Paris und endlich Unterstaatssecretär. Uns Deutschen, die wir uns unter einem Philosophen durch unwillkürliche Ideenassociation einen Professor denken, der mit erhobenem Zeigefinger auf dem Catheder steht, muss es nothwendig auffallen, dass unter den englischen Philosophen so viele Staatsmänner waren; ja, was fast noch merkwürdiger ist, dass in England die Staatsmänner bisweilen Philosophen sind.
Hume steht in seiner Denkweise dem Materialismus so nahe, als es ein so entschiedener Skeptiker nur immer thun kann. Er steht auf dem von Hobbes und Locke geschaffenen Boden. Gelegentlich erklärt er die Entstehung des Irrthums, ohne übrigens auf diese Hypothese viel Werth zu legen, durch eine fehlerhafte Leitung im Gehirn, in welchem er sich alle Begriffe localisirt denkt. Für jenen schwachen Punkt des Materialismus, den die Materialisten selbst nicht zu schützen wissen, hat Hume eine genügende Deckung gefunden. Indem er einräumt, dass der Uebergang von räumlicher Bewegung zum Vorstellen und Denken unerklärlich sei, macht er darauf aufmerksam, dass diese Unerklärlichkeit keineswegs diesem Problem eigenthümlich sei. Er zeigt, dass genau derselbe Widerspruch jedem Verhältniss von Ursache und Wirkung anhafte. »Hängt einen Körper, der ein Pfund wiegt, an das eine Ende eines Hebels, und einen andern von gleichem Gewicht an das andere, so werdet ihr in diesen Körpern so wenig einen Grund der Bewegung auffinden, die von der Entfernung von ihrem Mittelpunkt abhängt, als von dem Denken und Vorstellen.«
Unsere heutige Mechanik würde vielleicht widersprechen; allein man bedenke wohl, dass alle Fortschritte der Wissenschaft die Schwierigkeit, auf welche Hume sich beruft, nicht gelöst, sondern nur zurückgeschoben haben. Man möge zwei kleinste Molecüle der Materie oder zwei Himmelskörper betrachten, von denen die Bewegung des einen auf die des andern Einfluss übt, so wird man alles Uebrige hübsch in Rechnung bringen können; allein das Verhältniss der Attractionskraft, die die Uebertragung vermittelt, zu den Körpern selbst, birgt noch die volle Unbegreiflichkeit jedes einzelnen Naturvorgangs in sich. Freilich ist damit der Uebergang räumlicher Bewegung in Denken nicht erklärt, aber es ist bewiesen, dass diese Unerklärlichkeit kein Argument gegen die Abhängigkeit des Denkens von der räumlichen Bewegung bilden kann. Der Preis dieses Schutzes für den Materialismus ist freilich kein geringerer, als der, welchen der Teufel in der Sage für seinen Beistand fordert. Der ganze Materialismus ist mit der Annahme des Satzes von der Unerklärlichkeit aller Naturvorgänge ewig verloren. Beruhigt sich der Materialismus bei dieser Unerklärlichkeit, so hört er auf ein philosophisches Princip zu sein; er kann jedoch als Maxime der wissenschaftlichen Detailforschung fortbestehen. Dies ist in der That die Stellung unserer meisten heutigen »Materialisten.« Sie sind wesentlich Skeptiker; sie glauben nicht mehr, dass die Materie, wie sie unseren Sinnen erscheint, die letzte Lösung aller Räthsel der Natur enthalte; allein sie verfahren grundsätzlich als ob es so sei, und warten, bis ihnen aus den positiven Wissenschaften selbst eine Nöthigung zu anderen Annahmen entgegentritt.
Noch auffallender vielleicht ist Humes Verwandtschaft mit dem Materialismus in seiner scharfen Bekämpfung der Lehre von der Identität der Person, der Einheit des Bewusstseins und der Einfachheit und Immaterialität der Seele.
»Es giebt einige Philosophen, die sich einbilden, dass wir uns dessen alle Augenblicke ganz genau bewusst wären, was wir unser Selbst (in deutscher Philosophensprache »das Ich«) nennen; dass wir seine Wirklichkeit und continuirliche Fortdauer empfänden; und dass wir sowohl von ihrer Identität, als Einfachheit, eine über die evidenteste Demonstration erhabene Gewissheit besässen« ...
»Unglücklicher Weise sind alle diese positiven Behauptungen derjenigen Erfahrung entgegen, welche man zu ihrer Bestätigung anführt, und wir haben gar nicht einen solchen Begriff von dem Ich, wie er hier angegeben worden ist ... Wenn ich für meinen Theil recht tief in dasjenige eindringe, was ich mein Ich nenne, so treffe ich allemal auf gewisse particuläre Vorstellungen, oder auf Empfindungen von Hitze oder Kälte, Licht oder Schatten, Liebe oder Hass, Lust oder Unlust. Ich kann mein Ich nie allein ohne eine Vorstellung ertappen, und Alles, was ich beobachte, ist nie etwas andres, als eine Vorstellung. Wenn meine Vorstellungen eine Zeit lang aufgehoben sind, wie im tiefen Schlafe, so fühle ich während dieser Zeit mein Ich gar nicht, und man könnte mit Wahrheit sagen, dass es gar nicht existire.« – Wer ein andres Ich empfindet, mit dem mag Hume nicht disputiren. »Er kann vielleicht etwas Einfaches und Continuirliches wahrnehmen, welches er sein Ich nennt; ob ich gleich von meiner Seite gewiss bin, dass sich in mir ein solches Ding nicht findet. Allein sobald ich nur einige Metaphysiker ausnehme, so kann ich dreist von dem ganzen übrigen Menschengeschlechte behaupten, dass sie nichts als ein Bündel, oder eine Sammlung von verschiedenen Vorstellungen sind, die mit unbegreiflicher Schnelligkeit auf einander folgen, und in einem beständigen Flusse und einer continuirlichen Bewegung sind.«
Die feine Ironie, welche sich hier gegen die Metaphysiker wendet, trifft anderswo die Theologen. Dass bei Hume's Ansichten von der Unsterblichkeit der Seele im kirchlichen Sinne nicht mehr die Rede sein kann, versteht sich von selbst. Dessenungeachtet gefällt er sich gelegentlich in der boshaften Bemerkung, dass die sämmtlichen Argumente für die Unsterblichkeit der Seele bei seinen Ansichten noch ganz dieselbe Beweiskraft hätten, wie bei der gewöhnlichen Annahme von der Einfachheit und Identität derselben.
Dass dieser Mann es grade war, der auf Kant einen so tiefgreifenden Eindruck hervorbrachte, den Kant nie ohne die grösste Hochachtung nennt, muss uns von vornherein auch Kants Stellung zum Materialismus in ein Licht rücken, in welchem man sie gewöhnlich nicht sehen will. So entschieden Kant auch den Materialismus bekämpft, so kann dieser grosse Geist doch unmöglich zu denjenigen gehören, die ihre Befähigung zur Philosophie nur durch eine grenzenlose Verachtung des Materialismus kund zu geben wissen.
»Naturwissenschaft«, schreibt Kant in den Prolegomenen, »wird uns niemals das Innere der Dinge, d. i. dasjenige, was nicht Erscheinung ist, aber doch zum obersten Erklärungsgrunde der Erscheinungen dienen kann, entdecken; aber sie braucht dieses auch nicht zu ihren physischen Erklärungen; ja, wenn ihr auch dergleichen anderweitig angeboten würde (z. B. Einfluss immaterieller Wesen), so soll sie es doch ausschlagen und gar nicht in den Fortgang ihrer Erklärungen bringen, sondern diese jederzeit nur auf das gründen, was als Gegenstand der Sinne zur Erfahrung gehören, und mit unsern wirklichen Wahrnehmungen nach Erfahrungsgesetzen in Zusammenhang gebracht werden kann.«
Kant erkennt mit einem Worte zwei Weltanschauungen, den Materialismus und den Skepticismus, als berechtigte Vorstufen zu seiner kritischen Philosophie vollkommen an; beide sind ihm Irrthümer, aber solche, welche zur Entwickelung der Wissenschaft nothwendig waren. Er giebt zu, dass der erstere, seiner Fasslichkeit wegen, für das grosse Publicum verderblich werden kann, während der letztere, seiner Schwierigkeit wegen, auf die Schulen beschränkt bleiben wird; was jedoch das rein wissenschaftliche Urtheil betrifft, so stehen ihm beide als gleich beachtenswerth da; doch so, dass dem Skepticismus der Vorrang gebührt Es giebt kein philosophisches System, zu dem sich Kant nicht negativer verhielte, als zu diesen beiden. Was insbesondere den gewöhnlichen Idealismus betrifft, so steht dieser zu Kants »transscendentalem« Idealismus im schärfsten Gegensatz. So weit er nachzuweisen sucht, dass die Erscheinungswelt uns nicht die Dinge zeigt, wie sie an sich sind, ist Kant einverstanden. Sobald der Idealist aber über die Welt der reinen Dinge etwas lehren oder gar diese Erkenntniss an die Stelle der Erfahrungswissenschaften setzen will, kann er keinen unversöhnlicheren Gegner haben, als eben Kant.
Ein voreiliger Recensent hatte in Kants Kritik der reinen Vernunft »höheren Idealismus« gefunden. Dies mochte Kant ungefähr vorkommen, als ob man ihm »höheren Blödsinn« vorgeworfen hätte; so völlig fand er sich missverstanden. Man muss die Mässigung und zugleich die Schärfe des grossen Denkers bewundern, wenn er dagegen zwei Sätze richtet, die auch für den Blindesten noch über das Wesen der Kritischen Philosophie einen Funken schlagen.
»Der Satz aller ächten Idealisten, von der eleatischen Schule an, bis zum Bischof Berkley, ist in dieser Formel enthalten: alle Erkenntniss durch Sinne und Erfahrung ist nichts als lauter Schein, und nur in den Ideen des reinen Verstandes und Vernunft ist Wahrheit.«
»Der Grundsatz, der meinen Idealismus durchgängig regiert und bestimmt, ist dagegen: Alles Erkenntniss von Dingen, aus blossem reinen Verstande oder reiner Vernunft, ist nichts als lauter Schein, und nur in der Erfahrung ist Wahrheit.«
Der Leser muss hier einen Augenblick Athem schöpfen, die letzte Zeile noch einmal lesen und dann dem Verfasser dieser Geschichte des Materialismus eine kleine Ansprache gestatten.
Ich schreibe nicht für die Professoren der Philosophie, am wenigsten für diejenigen, mit denen auch Kant nichts zu schaffen haben wollte, denen die Geschichte der Philosophie selbst ihre Philosophie ist.« Ebenso wenig schreibe ich schlechthin für »alle Gebildeten«, sondern einfach für diejenigen, welche genug wissenschaftliche Bildung haben, um die Fragen, um die es sich hier handelt, bis auf den Grund verstehen zu können, und genug Interesse für den Gegenstand, um einen massig dicken und nicht gar zu einförmig geschriebenen Octavband durchzulesen. Ich will nicht nur theoretische Wahrheiten enthüllen, nicht durch eine historische Monographie meine Befähigung für einen Professorstuhl nachweisen, sondern wirken, direct wirken, und zwar unter einem Leserkreise, von dessen Aufklärung, von dessen gesunder Weltanschauung, von dessen frischer Betheiligung an wissenschaftlichen Zeitfragen nichts geringeres abhängt, als das geistige Fortleben der Nation. Wenn mein Buch nach fünf Jahren vergessen ist, wird mich das nicht schmerzen; wohl aber, wenn ich hören muss, dass meine Leser den jetzt folgenden Abschnitt, welcher etwas tiefer in die Abgründe der Metaphysik hineinfuhrt, überschlagen. Eher wollte ich ihnen noch das Capitel über die aristotelische Philosophie und die Scholastik schenken; obwohl auch das schwer zu missen ist. Um Kant aber ist nicht herumzukommen. Hier liegt der Anfang vom Ende des Materialismus; die Catastrophe der Tragödie. Die Sachen sind einfach, aber doch ist über dieser Einfachheit mancher Professor der Philosophie, mancher Medicinalrath hässlich gestrauchelt, weil man gar zu schnell bei der Hand ist, ererbte Vorurtheile mit der reinen Lehre des grossen Denkers zu verschmelzen. Namentlich bitte ich diejenigen, welche über Kant schon Vieles gelesen, aber nicht die Kritik der reinen Vernunft selbst studirt haben, alle ihre sonstigen Vorstellungen über Kant bei Seite zu lassen. Der kategorische Imperativ geht uns hier gar nichts an; die herkömmliche Vorstellung, Kant habe die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit »als wahr erwiesen«, ist für das Verständniss geradezu gefährlich. Wir fangen deshalb, nachdem nun genug geplänkelt ist, frisch mit den abstractesten Sätzen an.
Alle Urtheile sind entweder analytisch oder synthetisch. Analytische Urtheile sagen im Prädicat nichts, als das, was im Begriff des Subjects schon mitgedacht ist. Wenn ich sage: alle Körper sind ausgedehnt, so habe ich durch diesen Satz meine Kenntniss von den Körpern nicht erweitert; denn ich kann überhaupt den Subjectbegriff Körper gar nicht aufstellen, ohne dabei schon die Ausdehnung mit zu denken. Das Urtheil löst den Subjectsbegriff nur in seine Bestandteile auf, um einen derselben durch das Prädicat hervorzuheben und dadurch besser zum Bewusstsein zu bringen. Synthetische Urtheile dagegen erweitern unsere Kenntniss des Subjects. Wenn ich sage: alle Himmelskörper gravitiren, so setze ich eine Eigenschaft als verbunden mit allen Himmelskörpern, welche nicht in dem blossen Begriff Himmelskörper schon mit gedacht ist.
Man sieht also, dass es die synthetischen Urtheile sind, durch welche allein unser Wissen wirklich erweitert wird, während die analytischen zur Vermittlung, zur Aufklärung und zur Widerlegung von Irrthümern dienen, denn ein Urtheil, welches im Prädicat nichts sagt, was nicht schon im Subject gedacht wird, kann mich auch höchstens an eine Kenntniss erinnern, die ich schon hatte, oder Einzelnheiten, die ich sonst übersehen würde, hervorheben; es kann mich aber nichts wirklich Neues lehren. Dennoch giebt es eine ganze Wissenschaft, vielleicht die wichtigste von allen, in welcher man zweifeln konnte, ob ihre Urtheile synthetisch oder analytisch seien: es ist die Mathematik.
Bevor wir auf diesen wichtigen Fall zurückkommen, müssen wir kurz daran erinnern, was ein Urtheil a priori und ein Urtheil a posteriori ist. Letzteres entlehnt seine Gültigkeit der Erfahrung, ersteres nicht. Ein Urtheil a priori kann zwar auf Erfahrung indirect gestützt sein, aber nicht als Urtheil, sondern nur insofern seine Bestandteile Erfahrungsbegriffe sind. So sind z. B. sämmtliche richtige analytische Urtheile auch a priori gültig; denn um das Prädicat aus dem Subjectbegriff zu entwickeln, bedarf ich nicht erst der Erfahrung. Das Subject selbst kann aber auch in diesem Falle einen Gegenstand bezeichnen, den ich erst durch Erfahrung kennen gelernt habe. So ist z. B. der Begriff des Eises ein Erfahrungsbegriff. Der Satz: Eis ist ein fester Körper, ist aber analytisch, weil das Prädicat schon in der ersten Begriffsbildung im Subject enthalten war.
Die synthetischen Urtheile sind für Kant das Feld der Untersuchung. Sind sie alle a posteriori, d. h. aus der Erfahrung abgeleitet, oder giebt es auch solche, die ihre Gültigkeit nicht erst aus der Erfahrung abzuleiten brauchen? Giebt es synthetische Urtheile a priori? Die Metaphysik behauptet unsere Kenntnisse zu erweitern, ohne Erfahrung dazu zu bedürfen. Ist dies aber möglich? Kann es überhaupt Metaphysik geben? Wie sind, ganz allgemein gefasst, synthetische Sätze a priori möglich?
Hier einen Augenblick Halt! Der Idealist wird nothwendig in synthetischen Sätzen a priori antworten, also in einem Zirkel sich bewegen. Antworten wie: »Durch Offenbarung.« »Durch Eingebung des Genius.« »Durch Erinnerung der Seele an die Ideenwelt, in der sie früher heimisch war.« »Durch Entwicklung angeborener Ideen, die von Geburt auf unbewusst im Menschen schlummern«, solche Antworten bedürfen schon deshalb der Widerlegung gar nicht, weil die Metaphysik thatsächlich bisher in der Irre herumgetappt hat. Könnte man zeigen, dass aus dem Grunde solcher Lehren eine wirkliche Wissenschaft hervorgeht, die sich in sicherm Gange weiter entwickelt, statt immer wieder von vorn anzufangen, so möchte man sich vielleicht bei dem Mangel einer weiteren Begründung beruhigen, wie man sich in der Mathematik bei der Unbeweisbarkeit der Axiome bisher beruhigt hat; so aber ist alles weitere Bauen der Metaphysiker vergeblich, so lange nicht feststeht, ob ihr Bau überhaupt ein Fundament haben kann.
Der Materialist unserer Zeit wird vermuthlich mit dem Skeptiker gemeinsame Sache machen und die gestellte Frage mit einem einfachen: Gar nicht! abfertigen. Gelingt ihnen, dies zu behaupten, so können sie in engem Bündniss das Feld der Philosophie für immer behaupten. Der dogmatische Materialismus ist dann freilich dahin; an dem ist ohnehin Niemanden mehr viel gelegen. Der skeptische Materialismus aber, der Materialismus mit Vorbehalt später zu corrigirenden Irrthums, droht jeder anderen philosophischen Bestrebung den Pass zu verlegen. Hiergegen zieht Kant einen formidablen Bundesgenossen heran – die Mathematik.
Hume, der jedes über die Erfahrung hinausgehende Urtheil bezweifelte, hatte auch Bedenken dabei, ob nicht z. B. zwei grade Linien bei einem ganz ausserordentlich kleinen Winkel ein Segment von einer gewissen Ausdehnung gemeinsam haben könnten, statt sich, wie die Mathematik will, nur in einem einzigen Punkte zu schneiden. Dennoch gab Hume die vorzügliche Beweiskraft der Mathematik zu und glaubte sie daraus ableiten zu können, dass alle mathematischen Sätze bloss auf dem Satze des Widerspruchs beruhten; mit anderen Worten, dass sie durchweg analytisch seien. Kant behauptet dagegen, dass alle mathematischen Sätze synthetisch sind; also auch natürlich synthetische Sätze a priori, da die mathematischen Sätze der Bestätigung durch die Erfahrung nicht bedürfen.
Soll hier Kant nicht von vornherein missverstanden werden, so ist zwischen Anschauung und Erfahrung streng zu unterscheiden. Eine Anschauung, z. B. die einer Reihe von Dreiecken mit immer stumpferem Winkel an der Spitze und immer grösserer Basis ist allerdings auch eine Erfahrung; aber die Erfahrung ist in diesem Falle eben nur die, dass ich diese bestimmte Reihe von Dreiecken vor mir sehe. Entnehme ich nun aus der Anschauung dieser Dreiecke mit Unterstützung der Phantasie, die sich eine Ausdehnung der Basis ins Unendliche denkt, den Satz, dass die Winkelsumme – deren Beständigkeit mir schon früher bewiesen war – gleich zwei rechten Winkeln ist, so ist dieser Satz keineswegs ein Erfahrungssatz. Meine Erfahrung besteht nur darin, dass ich diese Dreiecke gesehen und an ihnen das gefunden habe, was ich als allgemein wahr erkennen soll. Der Erfahrungssatz als solcher kann jederzeit durch eine neue Erfahrung widerlegt werden. Man hatte die Fixsterne Jahrhunderte hindurch, soviel man wusste, ohne Bewegung gesehen, und entnahm daraus, dass sie unbeweglich seien. Dies war ein Erfahrungssatz; er konnte durch genauere Beobachtungen und Rechnungen verbessert werden und wurde verbessert Aehnliche Beispiele bietet die Geschichte der Wissenschaften auf jeder Seite. Wir verdanken es hauptsächlich dem vorzüglichen logischen Talent der Franzosen, dass heutzutage die exacten Wissenschaften in allen Gegenständen der Erfahrung überhaupt keine absoluten Wahrheiten mehr aufstellen, sondern nur relative; dass stets an die Bedingungen der gewonnenen Erkenntniss erinnert wird und die Genauigkeit aller Lehren grade auf den Vorbehalt fortschreitender Einsicht begründet wird. Dies ist bei den mathematischen Sätzen nicht der Fall; sie sind alle, einerlei, ob sie blosse Folgerungen oder fundamentale Erkenntnisse aussprechen, mit dem Bewusstsein unbedingter Notwendigkeit verbunden. Dieses Bewusstsein ergiebt sich aber nicht von selbst; die mathematischen Sätze, selbst die Axiome, mussten ohne Zweifel ursprünglich entdeckt werden. Sie mussten mit Anstrengung des Nachdenkens und Anschauens oder durch eine schnelle und glückliche Verbindung von beiden gefunden werden. Dies Finden ist aber nichts als eine genaue Richtung des Geistes auf die Frage und schliesst von Anfang an durchaus keinen Zweifel in sich. Daher sind auch die mathematischen Sätze als Lehrsätze eben so leicht auf einen Schüler zu übertragen, als sie schwierig zu finden sind. Wer die Himmelsräume Tag und Nacht durchsucht, bis er einen neuen Kometen gefunden, ist demjenigen zu vergleichen, der der mathematischen Anschauung eine neue Seite abzugewinnen versucht. Wie sich aber das Fernrohr so einstellen lässt, dass jeder den Kometen sehen muss, der gesunde Augen hat, so lässt sich der neue mathematische Satz so zeigen, dass jeder seine Wahrheit erkennen muss, welcher der geordneten Anschauung, sei es mittelst einer gezeichneten Figur, sei es mittelst eines blossen Phantasiebildes, überhaupt fähig ist. Der Umstand, dass die mathematischen Wahrheiten oft mühsam gesucht und gefunden werden, hat sonach mit dem, was Kant ihre Apriorität nennt, nichts zu schaffen. Hierunter ist vielmehr nur zu verstehen, dass die mathematischen Sätze, sobald sie durch Anschauung demonstrirt werden, sofort mit dem Bewusstsein ihrer Allgemeinheit und Nothwendigkeit verbunden sind. So werde ich z. B. auch, um zu zeigen, dass 7 und 5 die Summen von 12 ergeben, mich der Anschauung bedienen, indem ich eine Zusammenzählung von Punkten, Strichen, kleinen Gegenständen etc. vornehme. Die Erfahrung ist in diesem Falle nur die, dass diese bestimmten Punkte, Striche etc. mich für diesmal auf diese bestimmte Summe geführt haben. Soll ich durch Erfahrung lernen, dass es immer so ist, so muss ich diese Erfahrung so oft wiederholen, bis sich durch Ideen-Association und Gewohnheit die Ueberzeugung bei mir feststellt, oder ich muss systematische Experimente darüber anstellen, ob es nicht etwa bei ganz verschiedenartigen Körpern, bei abweichender Zusammenstellung derselben oder unter andern besonderen Umständen sich plötzlich anders herausstellt. Jene rapide, oder vielmehr momentane und unbedingte Generalisation des einmal Gesehenen lässt sich auch nicht einfach durch die offenbare Gleichmässigkeit aller Zahlenverhältnisse erklären. Wären die Sätze der Arithmetik und der Algebra Erfahrungssätze, so würde sich die Ueberzeugung von der Unabhängigkeit aller Zahlenverhältnisse von der Beschaffenheit und Anordnung der gezählten Körper grade erst zu allerletzt ergeben, da jede Induction die allgemeineren Sätze später giebt als die besonderen. Der Satz, dass die Zahlenverhältnisse von der Natur des Gezählten unabhängig sind, ist vielmehr selbst apriorisch. Dass er auch synthetisch ist, lässt sich leicht zeigen. Man könnte ihm die synthetische Natur nehmen, indem man ihn in die Definition dessen, was ich unter Zahlen verstehen will, aufnehme. Dann ergäbe sich sofort eine in sich abgeschlossene Algebra, von der wir jedoch durchaus nicht wüssten, ob sie auf Gegenstände anwendbar ist. Es kann aber jeder wissen, dass unsere Ueberzeugung von der Wahrheit der Algebra und der Arithmetik zugleich die Ueberzeugung von ihrer Anwendbarkeit auf alle Körper, die uns überhaupt vorkommen können, in sich schliesst. Der Umstand, dass die Gegenstände der Natur, wo es sich nicht um das Zählen getrennter Körper oder Theile, sondern um Messen und Wägen handelt, niemals genau bestimmten Zahlen entsprechen können, dass sie allzumal incommensurabel sind, ändert hieran nicht das Geringste. Die Zahlen sind für jeden beliebigen Grad von Genauigkeit auf jeden beliebigen Gegenstand anwendbar. Wenn die Steigerung der Genauigkeit einen Process in infinitum zulässt, so ergeht es uns damit nicht anders, als mit unseren Begriffen vom Unendlichen überhaupt. Wir glauben – und wir glauben vermöge psychologischen Zwangs – an die Bedeutung der Tangente von 90 Grad, obwohl wir sie uns niemals vorstellen können. Wir sind überzeugt, dass ein beständig den Einflüssen wechselnder Temperatur unterliegender Eisenstab in einem unendlich kleinen Zeittheilchen ein unendlich genau bestimmtes Maass hat, obwohl wir die Mittel zur vollständigen Angabe dieses Maasses niemals haben können. Der Umstand, dass wir diese Ueberzeugung erst in Folge mathematisch-physikalischer Bildung gewinnen, thut ihrer Apriorität keinen Eintrag. Es handelt sich bei den Erkenntnissen a priori nach Kants unvergleichlicher Begriffsbestimmung weder um fertig in der Seele liegende angeborene Vorstellungen, noch um unorganische Eingebungen oder unbegreifliche Offenbarungen. Die Erkenntnisse a priori entwickeln sich im Menschen ebenso gesetzmäßig und aus seiner Natur heraus, wie die Erkenntnisse aus Erfahrung. Sie bezeichnen sich einfach dadurch, dass sie mit dem Bewusstsein der Allgemeinheit und Nothwendigkeit verbunden, und von der Erfahrung unabhängig sind.
Wir dürfen hier nicht mit Stillschweigen übergehen, dass die Frage der apriorischen Natur der mathematischen Erkenntnisse neuerdings zwischen zwei der hervorragendsten Philosophen Englands einen ebenso scharfen und hartnäckigen, als feinen und höflich geführten Streit veranlasst hat. Whewell, der Theoretiker und Geschichtschreiber der Induction, ist für die Apriorität; Mill dagegen greift in seiner inductiven Logik, vorzüglich in der Einleitung, diese Lehre mit solcher Consequenz an, dass man nur einen einzigen Satz in seiner Argumentation schmerzlich vermisst. Man vermisst nämlich eine ganz unumwundene Erklärung darüber, ob Mill es für denkbar hält, dass wirklich einmal in der Natur eine Kreislinie vorkommen könnte, deren Verhältniss zum Durchmesser stärker von der Regel der Zahl π abweicht, als es durch die zufälligen Ungenauigkeiten in der Gestalt und Lage des Kreises und des Halbmessers bedingt wird; mit einem Wort, dass die Abweichung von der mathematischen Regel nicht nur in denjenigen Theilen der natürlichen Linie ist, welche der Voraussetzung nicht entsprechen, sondern in denjenigen, welche, so genau wir nur zu messen vermögen, die vorausgesetzte Kreislinie darstellen.
Indem Mill Whewell für den stärksten Gegner hielt, nach dem er sich umzusehen brauche, hat er sich leider der Möglichkeit beraubt, seinen vorzüglichen Scharfsinn gegen die eigentlichen Beweise für die Apriorität der mathematischen Erkenntnisse aufwenden zu können. Er beschränkt seine Betrachtungen auf Definitionen und Axiome und übersah, trotz seines fleissigen Studiums der Geometrie, die grosse Masse der synthetischen Sätze, die sich bis in die höchsten Gebiete verlaufen, und die alle ihre Beweiskraft unmittelbar aus der Anschauung schöpfen. Er verwechselte Anschauung und Erfahrung und übersah, dass die Erfahrung selbst von einem Schluss aus Erfahrung vollständig verschieden ist. Die Thatsache, dass wir überhaupt erfahren, ist doch jedenfalls durch die Organisation unseres Denkvermögens bedingt, und diese Organisation ist vor der Erfahrung vorhanden. Sie führt uns dazu, einzelne Merkmale an den Dingen zu unterscheiden und dasjenige, was in der Natur untrennbar verschmolzen und gleichzeitig ist, successiv aufzufassen und diese Auffassung in Urtheilen mit Subject und Prädicat niederzulegen. Dies Alles ist nicht nur vor der Erfahrung, sondern es ist die Bedingung der Erfahrung. Nichts anderes als diese ersten Bedingungen aller Erfahrung im Denken und in der Sinnlichkeit aufzusuchen, ist der nächste Zweck der Kritik der reinen Vernunft. Kant zeigte zuvörderst an dem Beispiel der Mathematik, dass unser Denken wirklich im Besitz gewisser Erkenntnisse a priori ist, und dass selbst der gemeine Verstand niemals ohne solche ist. In diesen Untersuchungen geht Kant ungleich tiefer als Mill.
Kant hält es aber auch nicht für unmöglich, die Principien, nach denen alle reinen Erkenntnisse a priori können erworben werden, durch reines Denken zu entdecken. Zwar soll die Kritik der reinen Vernunft dies Wagniss noch nicht unternehmen; sie soll jedoch gleichsam den Plan des ganzen Gebäudes architectonisch entwerfen. Sie soll die Schranken feststellen, jenseit deren solche Erkenntnisse nicht mehr zu suchen sind;sie soll dadurch zukünftigen Ausschweifungen der Metaphysik vorbeugen, aber zu dieser Aufgabe gehört, wie Kant glaubte, wenigstens eine vollständige Herzählung aller Stammbegriffe der reinen Vernunft, und diese Vollständigkeit hofft er dadurch mit Sicherheit zu erzielen, dass er sie aus einem wissenschaftlichen Princip ableitete.
Hierin freilich irrte der grosse Mann so vollständig, als je ein Metaphysiker geirrt hat, aber die Beleuchtung seiner Fehler kann nur dazu dienen, den Werth seines Grundgedankens in ein um so helleres Licht zu setzen.
Es kann sehr einleuchtend scheinen, dass die Stammbegriffe unserer Erkenntnisse a priori sich auch a priori, durch reine Deduction aus nothwendigen Begriffen müssen entdecken lassen, und dennoch ist diese Annahme irrig. Es ist wohl zu unterscheiden zwischen einem nothwendigen Satz und zwischen dem Nachweis eines nothwendigen Satzes. Nichts ist leichter denkbar, als dass die a priori gültigen Sätze nur auf dem Wege der Erfahrung aufzufinden sind; ja, dass die Grenze zwischen wirklich nothwendigen Erkenntnissen und zwischen solchen Annahmen, von denen wir uns bei fortgesetzter Erfahrung befreien müssen, eine verschwimmende ist. Wie bei den Nebelflecken des gestirnten Himmels die grösste Wahrscheinlichkeit vorhanden ist, dass einige derselben wirklich aus nebligen Massen bestehen, während das Fernrohr einen nach dem andern in einen Haufen einzelner Sterne auflöst: so ist nichts dagegen zu erinnern, wenn wir bei einer grossen Reihe der Stammbegriffe und obersten Grundsätze Kants den Schein einer Erkenntniss a priori zerstören und dennoch daran festhalten, dass es in Wirklichkeit fundamentale Begriffe und Grundsätze giebt, die vor aller Erfahrung in unserem Geiste vorhanden sind, und nach denen sich die Erfahrung selbst mit psychologischem Zwange richtet. Mill hat jedenfalls das Verdienst, nachgewiesen zu haben, dass man eine grosse Reihe von Sätzen für Erkenntnisse a priori gehalten hat, die sich später geradezu als falsch herausstellten. So fehlerhaft auch sein Versuch ist, die mathematischen Sätze aus der Erfahrung abzuleiten, so bleibt deshalb doch jenes Verdienst ungeschmälert Es steht fest, dass das Bewusstsein von der Allgemeinheit und Notwendigkeit eines Satzes trügen kann; nur ist freilich nicht bewiesen, dass solche Sätze dann jedesmal nur aus der Erfahrung stammen. Mill selbst redet, obwohl nicht in ganz richtigem Sinne von Irrthümern a priori, und es giebt deren in der That sehr viele. Es ist mit der irrigen Erkenntniss a priori nicht anders bewandt, als mit der Erkenntniss a priori überhaupt. Sie ist meist nicht ein unbewusst gewonnener Erfahrungssatz, sondern ein Satz, dessen Notwendigkeit durch die physisch-psychische Organisation des Menschen vor jeder besondern Erfahrung gegeben ist, und der deshalb gleich bei der ersten Erfahrung ohne Vermittlung der Induction hervortritt; der jedoch mit derselben Nothwendigkeit, kraft tieferliegender Begriffe a priori, umgeworfen wird, sobald eine gewisse Reihe von Erfahrungen diesen tieferliegenden Begriffen das Uebergewicht gegeben hat.
Der Metaphysiker müsste nun die bleibenden und der menschlichen Natur wesentlich anhaftenden Begriffe a priori von den vergänglichen, nur einer gewissen Entwicklungsstufe entsprechenden, unterscheiden können, obwohl beide Arten der Erkenntniss a priori in gleicher Weise mit dem Bewusstsein der Nothwendigkeit verbunden sind. Dazu kann er sich aber nicht wieder eines Satzes a priori und sonach auch nicht des sogenannten reinen Denkens bedienen, eben weil es zweifelhaft ist, ob die Grundsätze desselben bleibenden Werth haben oder nicht. Wir sind also in der Aufführung und Prüfung der allgemeinen Sätze, welche nicht aus der Erfahrung stammen, lediglich auf die gewöhnlichen Mittel der Wissenschaft beschränkt; wir können darüber nur wahrscheinliche Sätze aufstellen, ob die Begriffe und Denkformen, welche wir jetzt ohne allen Beweis als wahr annehmen müssen, aus der bleibenden Natur des Menschen stammen oder nicht; ob sie mit anderen Worten die wahren Stammbegriffe aller menschlichen Erkenntniss sind, oder ob sie sich einmal als »Irrthümer« herausstellen werden.
Es kann scheinen, dem System Kants diametral entgegengesetzt zu sein, wenn wir auf diese Weise die Metaphysik selbst zu einer inductiven Wissenschaft machen und die Gültigkeit derjenigen Erkenntnisse, welche mit dem Bewusstsein der Nothwendigkeit verbunden sind, nach Wahrscheinlichkeitsgraden abstufen. Man darf jedoch nie vergessen, dass auch in Kants System die Erkenntnisse a priori keineswegs völlig absolute Wahrheiten sind; dass er sie vielmehr nur für noth wendige Denkformen solcher Geister ansieht, die eine der menschlichen ähnliche Natur haben. Sofern diese Erkenntnisse aller menschlichen Erfahrung bestimmend zu Grunde liegen, sind sie jedenfalls objectiver als irgend welche andere Sätze und Begriffe; sie haben für den Menschen Realität, weil sein ganzer Erkenntnissinhalt auf ihnen ruht; allein, da sie nichts weniger sind, als Dinge an sich oder als absolut gültige Formen der Dinge an sich, so müssen notwendig auch Wesen denkbar sein, für welche eine der menschlichen gleichartige Auffassung den Character eines Irrthums trüge. Anderseits muss man wohl festhalten, dass Kant, trotz seiner eigenthümlichen Freiheitslehre, die Naturnothwendigkeit des menschlichen Denkens mit Recht festhält. Daraus folgt aber, dass auch alle Irrthümer notwendige Ergebnisse des menschlichen Denkens sind: freilich nur nothwendig bis zum Eintreten besserer Erkenntniss. Hieraus lässt sich eine Stufenfolge entnehmen von dem, was für das Kind oder für den Wilden in einem leicht vorübergehenden Zustande denknothwendig ist, durch dasjenige, was ganze Zeitalter und grosse civilisirte Völkerstämme beherrscht, bis zu demjenigen, was für die ganze Menschheit in allen denkbaren Stufen der Vollendung vermöge der bleibenden Grundzüge des Organismus allgemeine und nothwendige Wahrheit und Grundlage alles übrigen Erkennens bleiben wird. Dass dies ein Process in infinitum sein wird, ist unbedenklich anzunehmen. Die Frage ist nur die, ob dieser Process in infinitum sich gewissen Schranken der menschlichen Erkenntniss gleich einer Asymptote fortwährend nähern, oder ob er über die scheinbaren Schranken hinaus der absoluten Erkenntniss der Dinge an sich entgegenstreben wird. Jedenfalls werden auf jeder Stufe stets gewisse Sätze und Begriffe als nothwendig und unentbehrlich gelten, welche alle, eben dieses Bewusstseins der Nothwendigkeit wegen, ein a priori gegebenes Element in sich schliessen, das aber freilich trotz seines Ursprungs aus der Organisation des Denkvermögens selbst wandelbar und also irrthümlich sein kann.
Um nun aber Verwirrung zu vermeiden, wollen wir in Zukunft die metaphysischen Untersuchungen, welche mit den gewöhnlichen Mitteln der Empirie und des Verstandes die allgemeinen Begriffe bearbeiten, lediglich als philosophische Kritik bezeichnen und den Namen der Metaphysik jener wichtigen Scheinwissenschaft vorbehalten, welche entsteht, wenn ein positives philosophisches System aus Erkenntnissen a priori abgeleitet wird, deren Werth wir nicht kennen.
Es ist ein bemerkenswerthes Verhängniss, dass Kant, der den Ausschweifungen der Metaphysik für immer Thür und Thor verschliessen wollte, nicht nur selbst in ein Gewebe metaphysischer Irrthümer verfiel, sondern dass er auch durch eine Reihe von Fehlern dazu gebracht wurde, die eines so grossen Geistes gar nicht würdig sind, und die zu der Genialität seines Grundgedankens in einem höchst auffallenden Contrast stehen. Zunächst legte er dem ganzen Plan seiner Vernunftkritik, wie überhaupt seiner ganzen Philosophie eine Eintheilung zu Grunde, die recht eigentlich der landläufigen, von streng wissenschaftlicher Qualität weit entfernten Psychologie entnommen war; sodann entnahm er die Grundlage für die Ableitung seiner wichtigsten Stammbegriffe, der Categorien, auf deren systematische Auffindung er sich etwas zu gute that, einer nicht viel weiter geförderten Wissenschaft, der Logik.
Kant nimmt zwei Stämme der menschlichen Erkenntniss an, die Sinnlichkeit und den Verstand. Mit tiefem Blick bemerkt er, dass beide vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, uns unbekannten Wurzel entspringen. Heutzutage kann diese Vermuthung bereits als bestätigt angesehen werden; freilich nicht durch die Herbartsche Psychologie oder die Hegelsche Phänomenologie des Geistes, sondern durch gewisse Experimente der Physiologie der Sinnesorgane, welche unwidersprechlich beweisen, dass schon in den anscheinend ganz unmittelbaren Sinneseindrücken Vorgänge mitwirken, welche durch Elimination oder Ergänzung gewisser logischer Mittelglieder den Schlüssen und Trugschlüssen des bewussten Denkens auffallend entsprechen.
Der Abweg, auf welchen Kant durch die doctrinäre Trennung von Sinnlichkeit und Verstand gerathen war, wurde bald noch schlimmer, indem er den Satz aufstellte, dasjenige, woran sich unsere Empfindung ordne, könne nicht wieder Empfindung sein, und es müsse also die Form aller Anschauungen im Gemüthe a priori bereit liegen, während der Stoff der Erscheinungen in der Erfahrung a posteriori gegeben würde. Kant durfte sich dieser Eintheilungen gar nicht bedienen, ohne zuvor zu untersuchen, welchen Werth man überhaupt der von Aristoteles überkommenen Trennung von Stoff und Form beilegen dürfe. Was aber den verführerischen Satz betrifft, dass die Empfindung sich nicht wieder an Empfindung ordnen könne, so ist wahrscheinlich genau das Gegentheil der Fall. Unter den dürftigen Anfängen einer zukünftigen wissenschaftlichen Psychologie befindet sich ein Satz, welcher uns lehrt, dass – innerhalb gewöhnlicher Grenzen – die Empfindung mit dem Logarithmus des entsprechenden Reizes zunimmt: die Formel x = log y, welche Fechner als das »Webersche Gesetz« seiner Psychophysik zu Grunde gelegt hat. Alle Umstände führen auf die Annahme, dass dies Gesetz seinen Grund im Bewusstsein selbst hat und nicht in denjenigen psychophysischen Vorgängen, welche zwischen dem äusseren (physikalischen) Reiz und dem Act des Bewusstwerdens liegen. Man kann daher ohne der Sache Gewalt anzuthun (Namen müssen sich fügen!) unterscheiden zwischen dem auf das Bewusstsein eindringenden Empfindungsquantum (y) und dem vom Bewusstsein aufgenommenen (x). Unter dieser Voraussetzung sagen die mathematischen Formeln, auf welche wir durch exacte Forschung geführt werden, im Grunde nichts anderes aus, als dass das in jedem Augenblicke andringende Empfindungsquantum die Einheit ist, nach welcher das Bewusstsein jedesmal den Grad des aufzunehmenden Zuwachses bemisst. Doch wir beabsichtigen hier nicht eigne Hypothesen aufzustellen, sondern gleichsam nur zu den Irrthümern unseres grössten Philosophen den Hintergrund zu beleuchten.
Wie sich Empfindung an Empfindung wohl der Intensität nach messen kann, so kann sie sich auch in der Vorstellung eines Nebeneinanderseins nach den bereits vorhandenen Empfindungen ordnen. Zahlreiche Thatsachen beweisen, dass sich die Empfindungen nicht nach einer fertigen Form, der Raumvorstellung, gruppiren, sondern, dass umgekehrt die Raumvorstellung selbst durch unsere Empfindungen bedingt wird. Eine aus zahlreichen Empfindung erregenden Theilchen zusammengesetzte Linie ist für das unmittelbare Bewusstsein stets länger, als eine mathematisch gleich lange Linie, welche keine besondere Anhaltspunkte für die Erregung der Empfindungen darbietet. Eben deshalb sind ja unsere gewöhnlichen Raumvorstellungen durch und durch unmathematisch und eine unerschöpfliche Quelle feiner Täuschungen, weil unsere Empfindungen eben kein fertiges Coordinatensystem im Geiste vorfinden, an dem sie sich sicher ordnen könnten, sondern weil sich ein solches System in grosser Unvollkommenheit erst aus der natürlichen Concurrenz der Empfindungen auf unbekannte Weise entwickelt.
Bei alledem ist der Gedanke, Raum und Zeit seien Formen, welche das menschliche Gemüth den Dingen giebt, die auf dasselbe einwirken, keineswegs dazu angethan, ohne Weiteres verworfen zu werden. Er ist ebenso kühn und grossartig, als die Annahme, dass Raum und Zeit, sammt allem in ihnen sich ordnenden Inhalte des Bewusstseins, nur Vorstellungen eines rein geistigen Wesens seien. Allein während dieser materiale Idealismus stets in bodenlose Speculationen führt, eröffnet Kant mit seinem formalen Idealismus nur einen Blick in die Abgründe der Metaphysik, ohne den Zusammenhang mit den Erfahrungswissenschaften zu verlieren. So vollständig anders und thatsächlich undenkbar auch die Dinge an sich sein müssten, wenn sie mit Raum und Zeit nichts zu schaffen hätten, so bleiben sie doch mit uns in einer Wechselwirkung, von welcher unsere Naturgesetze ein so treues Abbild geben, wie es bei der aus unsrer Sinnlichkeit und unsrem Verstande stammenden Umformung des Wesens der Dinge nur immer sein kann. Ferner ist zu beachten, dass die Erfahrungswissenschaften selbst uns schon darauf hinführen, dass die Welt unserer Sinne allerdings von der Welt der wirklichen Dinge sehr verschieden ist, ohne dass dies dem Werth unserer Naturgesetze den mindesten Eintrag thut. Haften doch z. B. Farben als solche an keinem äusseren Körper, es sind Empfindungen, welche durch Strahlen, die von dem Körper ausgehen, veranlasst werden. Sollte nicht nach demselben Princip auch im Innersten unseres Bewusstseins eine Einrichtung liegen, welche die qualitative Natur der Einwirkungen der Aussenwelt völlig umgestaltet und ihnen dennoch in geregelter Weise entspricht?
Was unsere Annahme der Entstehung der Raumvorstellungen aus der Empfindung betrifft, so ist dadurch die Sache nicht abgethan. Es ist ganz etwas Anderes, ob die Raumvorstellungen in ihrer besonderen Entwickelung betrachtet werden, oder ob man die Frage stellt, wie es kommt, dass wir überhaupt räumlich auffassen, d. h. dass unsere Empfindungen in ihrem Zusammenwirken die Vorstellung eines nach drei Dimensionen messbaren Nebeneinanderseins erzeugen, zu welchem dann gleichsam als vierte Dimension alles Seienden die Vorstellung der Zeitfolge sich gesellt. Wenn Raum und Zeit auch keine fertige Formen sind, die nur durch unseren Verkehr mit den Dingen sich mit Stoff zu füllen haben, so können sie doch Formen sein, welche vermöge organischer Bedingungen, die in anderen Wesen fehlen möchten, sich aus unserem Empfindungsmechanismus nothwendig ergeben. Ja, es dürfte sogar in diesem enger begrenzten Sinne kaum möglich sein, an der Apriorität von Raum und Zeit zu zweifeln, und die Frage wird sich vielmehr um das drehen, was Kant die » transscendentale Idealität« des Raumes und der Zeit nennt, d. h. um die Frage, ob Raum und Zeit jenseit unserer Erfahrung nichts mehr zu bedeuten haben. Dies nimmt nämlich Kant unzweifelhaft an. Raum und Zeit haben nach ihm für den Kreis menschlicher Erfahrung Wirklichkeit, insofern sie nothwendige Formen unsrer sinnlichen Anschauung sind; jenseit derselben sind sie, gleich allen Ideen, welche über den Kreis der Erfahrung hinausschweifen, blosse Trugbilder.
Hier liegt nun die Sache offenbar so, dass die psychophysische Einrichtung, vermöge welcher wir genöthigt sind, die Dinge nach Raum und Zeit anzuschauen, jedenfalls vor aller Erfahrung gegeben ist, und insofern schon die erste Empfindung eines Aussendinges mit einer, wenn auch noch so undeutlichen Raumvorstellung verbunden sein muss, ist also der Raum eine a priori gegebene Weise der sinnlichen Anschauung. Dass dagegen diese Anschauungsweise den Dingen an sich nicht entspreche, wird Kant uns niemals beweisen können. Vielmehr ist daran festzuhalten, dass wir von Allem, was vor jeder Erfahrung in unserem Bewusstsein oder in unserer Organisation gegründet ist, die Bedeutung jenseit unserer Erfahrung nicht wissen können. Die Erkenntnisse a priori, weit entfernt absolut objective Offenbarungen aus der Welt der wahren Dinge zu sein, sind geradezu Trugbilder, insofern man ihnen jenseit der Erfahrung dieselbe unbedingte Gültigkeit beilegt, die sie innerhalb der Erfahrung haben; es hindert uns aber nichts zu vermuthen, dass ihr Gebiet sich weiter erstreckt, als der Kreis unserer Vorstellungen. Die transscendente Wirklichkeit von Raum und Zeit kann also vielleicht zu einer hohen Stufe von Wahrscheinlichkeit erhoben werden. Andererseits wird aber soviel leicht eingeräumt werden, dass uns z. B. Wesen denkbar sind, welche vermöge ihrer Organisation gar nicht im Stande sind, den Raum nach drei Dimensionen zu messen, die ihn vielleicht nur nach zweien, vielleicht gar nicht nach deutlichen Dimensionen auffassen. Dem entsprechend wird man auch die Möglichkeit einer Auffassung nicht ableugnen können, welche sich auf vollkommnere Raumbegriffe stützt, als die unsrigen.
Wenn es ferner wahr sein sollte, dass alle Dinge im Universum in Wechselwirkung stehn und Alles nach Gesetzen umwandelbar zusammen hängt, so wäre auch Schillers Dichterwort »Und in dem Heute wandelt schon das Morgen« im strengsten Sinne des Wortes eine metaphysische Wahrheit, und es müssten auch Intelligenzen denkbar sein, welche dasjenige simultan auffassen, was uns in Zeitfolge steht. Es ist freilich gewiss, dass wir von diesem Allen nichts wissen können und dass sich die gesunde Philosophie mit solchen Fragen nur da befassen wird, wo es gilt, die Behauptung der unbedingten Objectivität unserer Raumvorstellungen durch Aufweisung entgegengesetzter Möglichkeiten zu widerlegen. Kant ist jedenfalls so weit gerechtfertigt, als das Princip räumlicher und zeitlicher Anschauung a priori in uns ist, und es war ein für alle Zeiten bleibendes Verdienst, dass er an diesem ersten, grossen Beispiele nachwies, wie gerade das, was wir a priori besitzen, eben weil es aus der Anlage unseres Geistes stammt, jenseit unserer Erfahrung keinen Anspruch mehr auf Gültigkeit hat.
Was das Verhältniss zum Materialismus betrifft, so nimmt dieser Raum und Zeit, wie im Grunde die ganze Sinnenwelt, einfach als objectiv. Die Abweichungen von diesem Standpunkte, wie sie z. B. bei Moleschott vorkommen, sind Abweichungen vom Systeme des Materialismus. Gerade bei Raum und Zeit fühlt sich der Materialismus Kants Kritik gegenüber gewiss am sichersten; denn hier haben wir nicht nur das Bewusstsein, dass wir uns ein Ende von Raum und Zeit oder eine an Raum und Zeit gar nicht gebundene Anschauung nicht vorstellen können, sondern selbst bei der höchsten Abstraction des Gedankens, der auf eine unmögliche Anschaulichkeit gänzlich verzichtet, will es uns immer noch wahrscheinlich bleiben, dass es höchstens unter verschiedenen animalisch organisirten Wesen verschiedene Grade der Auffassung von Raum und Zeit geben könne, dass diese Formen selbst aber ihrem innersten Wesen nach jeder möglichen Auffassung zukommen, eben weil sie im Wesen der Dinge begründet sind. Indem Kant mehr leisten wollte, hat er wenigstens das Mindere wirklich geleistet. Er hat den Zweifel daran, ob Raum und Zeit ausser der Erfahrung denkender endlicher Wesen überhaupt etwas bedeuten, festgestellt, und indem er dabei weit entfernt war, diese Schranken zu verlassen und mit metaphysischen Speculationen in das pfadlose Jenseits des »absoluten Seins« hinüberzuschweifen, hat er die uralte Naivetät des Sinnenglaubens, die dem Materialismus zu Grunde liegt, stärker erschüttert, als es je ein System des materialen Idealismus vermochte. Denn sowie uns dieser seine Ideen als die wahre Wirklichkeit auftischt, erwacht das logische Gewissen des nüchternen Denkers und wir sind dann nur zu geneigt, mit den dichterischen Gebilden solcher Speculation auch die Gründe zu verwerfen, welche mit Recht gegen die Wirklichkeit der Sinneswelt, wie wir sie uns vorstellen, vorgebracht werden.
Hätte Kant sich nicht durch seinen psychologischen Schematismus und durch die starre Trennung von Stoff und Form den richtigen Weg verbarrikadirt, hätte er nicht jenen deductiven Weg eingeschlagen, der die zu entdeckende Erkenntniss a priori im Grunde schon voraussetzt: so hätte es seinem umfassenden Geiste unmöglich verborgen bleiben können, dass es noch ganz andere Elemente unserer Anschauung giebt, die vor jeder Erfahrung gegeben sind, als Raum und Zeit. Es handelt sich einfach um die Sinnesempfindungen. So sicher es ist, dass ich keine Empfindung haben kann, ohne zugleich damit im philosophischen Sinne des Wortes eine Erfahrung zu machen, so kann man doch die einfache Qualität der Empfindung nicht aus der Erfahrung ableiten, sondern nur umgekehrt, die Erfahrung aus den Empfindungen. Der Umstand, dass gewisse Vibrationen der Luft oder des Aethers mich ganz unberührt lassen, dass dagegen andere in mir die Sensationen des Lichtes, des Schalles u. s. w. hervorbringen, liegt in einer Organisation, welche der Erfahrung vorhergeht, und es würde schwer sein, irgend einen stichhaltigen Unterschied zwischen dieser Apriorität und derjenigen von Raum und Zeit nachzuweisen. Auch meine einzelnen Raumvorstellungen bilden sich erst mit der Erfahrung, und allein die Anlage zum räumlichen Vorstellen überhaupt ist a priori gegeben. Der Grund, welcher Kant veranlasste, Raum und Zeit als die einzigen Principien der Sinnlichkeit a priori anzusehen, ist die axiomatische, aber irrige Annahme, dass unser Geist zu den Eindrücken der Aussenwelt eine fertige Form hergebe, die mit Empfindung, als dem Stoff der Erfahrung, gar nichts zu thun haben könne. Hier steckt eben in der rein stofflichen Betrachtung der Empfindung eine vollständige petitio principii.
Die Empfindung kann in dem einen Sinne als Stoff und im anderen als Form betrachtet werden. Ihre eigenthümliche Qualität kommt aber auf keinen Fall von aussen, sondern sie ist durch unseren Organismus bedingt. Es ist uns zwar vollkommen möglich, uns den Vorgang in einer Stimmgabel, welche den Ton a angiebt, zugleich als eine Vibration von 440 Schwingungen in der Sekunde zu denken, welche an sich mit Klängen nichts zu schaffen hat, und welche erst mit den Gehörnerven eines Menschen oder eines ähnlichen Wesens in Berührung kommen muss, um im Bewusstsein den Ton a zu erzeugen. Hieraus folgt jedoch nicht das Mindeste gegen die Apriorität und Notwendigkeit der Tonempfindung; im Gegentheil, es wird durch diese Betrachtung nur um so schlagender bewiesen, dass der Ton als solcher eine Form unserer Sinnlichkeit ist, während der wahre Stoff, d. h. die vom Ding an sich herrührende Einwirkung auf unser Bewusstsein, gänzlich unbekannt bleibt.
Hier würde man schmählich von der Höhe der Betrachtung hinabsinken, wenn man die sichtbare oder durch Vergleich mit der Sirene messbare Vibration für das Ding an sich halten wollte; denn diese ganze Vorstellung von Wellen und schwingenden Lufttheilchen ist ebenso sehr durch und durch von den Bedingungen unseres Gesichtssinnes und Tastsinnes abhängig, wie die Schallempfindung vom Sinn des Gehörs. Freilich liegt eben darin, dass die verschiedenen Sinne uns über ein Object, welches wir für dasselbe halten müssen, so verschiedene Vorstellungen zuführen, ein Mittel für uns, wenigstens über die engsten Schranken der Sinnlichkeit uns zu erheben.
Kaum werden wir den Einwand zu beseitigen brauchen, dass die Bedingungen der Empfindungen physisch seien und daher hier ausser Betracht bleiben müssten. Wir bemerken nur beiläufig, dass da, wo es sich um die ersten Grundlagen aller Erkenntniss handelt, von einem Unterschied des physischen und psychischen noch gar nicht die Rede sein kann. Es ist von Thatsachen des Bewusstseins die Rede, und es bleibt dabei völlig gleichgültig, ob man sich dies mit den Vorgängen in den äusseren Sinnesorganen, oder im Gehirn, oder gleichsam noch hinter dem Gehirn irgendwo verbunden denkt. Die Empfindung der blauen Farbe ist als Thatsache des Bewusstseins ebenso geistig, als die Vorstellung des unendlichen Raumes oder einer ewigen Zeitdauer. Wenn wir aber durch Analyse der Sinnesorgane je dahin kommen sollten, einen Grund dafür zu entdecken, warum z. B. für das Ohr 16 Schwingungen in der Sekunde nicht mehr discret empfunden werden, sondern in eine einheitliche Empfindung zusammen fliessen müssen, so würden wir damit nur einen Schimmer von Licht über den Grund der Apriorität der Schallempfindung erhalten, welcher dieser Apriorität selbst nicht im mindesten widerspricht.
Wie Kant für die Sinnlichkeit Raum und Zeit als Formen der Anschauung a priori hinstellte, so glaubte er für das Gebiet des Verstandes die Categorien als die a priori gegebenen Stammbegriffe nachgewiesen zu haben. Dieser Nachweis, so ungenügend er ist, hat ihn viel Kopfzerbrechen gekostet. Durch einen einzigen dieser Begriffe, den Causalitätsbegriff, gegen welchen Hume seine zersetzende Skepsis gerichtet hatte, gelangte Kant gewissermaassen an seine ganze Philosophie, und die vermeintliche Entdeckung der vollständigen Categorientafel war es vermuthlich, was Kant dafür entschied, als Reformator der Philosophie aufzutreten, nachdem er bereits als Philosoph der Wolffschen Schule und vorzüglich auch als gründlicher Kenner der Mathematik und Naturwissenschaften einen nicht unbedeutenden Ruf erlangt hatte. Doch hören wir über die innere Geschichte dieser folgenreichen Wandlung Kants eigene Worte! Hat doch der Causalitätsbegriff gerade für die Beurtheilung des Materialismus so hervorragende Bedeutung, dass der wichtigste Abschnitt aus der Geschichte dieses Begriffes auch wohl in der Geschichte des Materialismus einen Platz verdient. In der Einleitung zu seinen Prolegomenen behauptet Kant, dass seit dem Entstehen der Metaphysik keine Begebenheit sich zugetragen habe, die für das Schicksal derselben hätte entscheidender werden können, als der Angriff Hume's, wenn dieser nur ein empfänglicheres Publikum gefunden hätte. Dann folgt eine längere, höchst denkwürdige Stelle, die wir hier unverkürzt wiedergeben:
»Hume ging hauptsächlich von einem einzigen, aber wichtigen Begriffe der Metaphysik, nämlich dem der Verknüpfung der Ursache und Wirkung (mithin auch dessen Folgebegriffen der Kraft und Handlung u. s. w.) aus, und forderte die Vernunft, die da vorgiebt, ihn in ihrem Schoosse erzeugt zu haben, auf, ihm Rede und Antwort zu geben, mit welchem Rechte sie sich denkt: dass etwas so beschaffen sein könne, dass, wenn es gesetzt ist, dadurch auch etwas anderes nothwendig gesetzt werden müsse, denn das sagt der Begriff der Ursache. Er bewies unwidersprechlich, dass es der Vernunft gänzlich unmöglich sei, a priori und aus Begriffen eine solche Verbindung zu denken, denn diese enthält Nothwendigkeit; es ist aber gar nicht abzusehen, wie darum, weil Etwas ist, etwas anderes notwendiger Weise auch sein müsse, und wie sich also der Begriff von einer solchen Verknüpfung a priori einführen lasse. Hieraus schloss er, dass die Vernunft sich mit diesem Begriffe ganz und gar betrüge, dass sie ihn fälschlich vor ihr eigen Kind halte, da er doch nichts anderes als ein Bastard der Einbildungskraft sei, die, durch Erfahrung beschwängert, gewisse Vorstellungen unter das Gesetz der Association gebracht hat, und eine daraus entspringende subjective Notwendigkeit, d. i. Gewohnheit, vor eine objective aus Einsicht, unterschiebt. Hieraus schloss er: die Vernunft habe gar kein Vermögen, solche Verknüpfungen, auch selbst nur im Allgemeinen, zu denken, weil ihre Begriffe alsdann blosse Erdichtungen sein würden, und alle ihre vorgeblich a priori bestehende Erkenntnisse wären nichts als falsch gestempelte, gemeine Erfahrungen, welches eben soviel sagt, als es gäbe überall keine Metaphysik und könne auch keine geben.«
»So übereilt und unrichtig auch seine Folgerung war, so war sie doch wenigstens auf Untersuchung gegründet, und diese Untersuchung war es wohl wert, dass sich die guten Köpfe seiner Zeit vereinigt hätten, die Aufgabe in dem Sinne, wie er sie vortrug, womöglich glücklicher aufzulösen, woraus denn bald eine gänzliche Reform der Wissenschaft hätte entspringen müssen.
Allein das der Metaphysik von jeher ungünstige Schicksal wollte, dass er von keinem verstanden wurde. Man kann es, ohne eine gewisse Pein zu empfinden, nicht ansehen, wie so ganz und gar seine Gegner Reid, Oswald, Beattie und zuletzt noch Priestley den Punkt seiner Aufgabe verfehlten, und indem sie immer das als zugestanden annahmen, was er eben bezweifelte, dagegen aber mit Heftigkeit und mehrentheils mit grosser Unbescheidenheit dasjenige bewiesen, was ihm niemals zu bezweifeln in den Sinn gekommen war, seinen Wink zur Verbesserung so verkannten, dass alles in dem alten Zustande blieb, als ob nichts geschehen wäre. Es war nicht die Frage, ob der Begriff der Ursache richtig, brauchbar und in Ansehen der ganzen Naturerkenntniss unentbehrlich sei, denn dieses hatte Hume niemals in Zweifel gezogen, sondern ob er durch die Vernunft a priori gedacht werde, und, auf solche Weise, eine von aller Erfahrung unabhängige innere Wahrheit, und daher auch wohl weiter ausgedehnte Brauchbarkeit habe, die nicht blos auf Gegenstände der Erfahrung eingeschränkt sei: hierüber erwartete Hume Eröffnung. Es war ja nur die Rede von dem Ursprunge dieses Begriffs, nicht von der Unentbehrlichkeit desselben im Gebrauche: wäre jenes nur ausgemittelt, so würde es sich wegen der Bedingungen seines Gebrauchs und des Umfangs, in welchem er gültig sein kann, schon von selbst gegeben haben.«
»Die Gegner des berühmten Mannes hätten aber, um der Aufgabe ein Genüge zu thun, sehr tief in die Natur der Vernunft, sofern sie blos mit reinem Denken beschäftigt ist, hineindringen müssen, welches ihnen ungelegen war. Sie fanden daher ein bequemeres Mittel, ohne alle Einsicht trotzig zu thun, nämlich die Berufung auf den gemeinen Menschenverstand. In der That ists eine grosse Gabe des Himmels, einen geraden (oder, wie man es neuerlich benannt hat, schlichten) Menschenverstand zu besitzen. Aber man muss ihn durch Thaten beweisen, durch das Ueberlegte und Vernünftige was man denkt und sagt, nicht aber dadurch, dass, wenn man nichts Kluges zu seiner Rechtfertigung vorzubringen weiss, man sich auf ihn, als ein Orakel, beruft. Wenn Einsicht und Wissenschaft auf die Neige gehen, alsdann und nicht eher, sich auf den gemeinen Menschenverstand zu berufen, das ist eine von den subtilen Erfindungen neuerer Zeiten, dabei es der schalste Schwätzer mit dem gründlichsten Kopfe getrost aufnehmen und es mit ihm aushalten kann. Solange aber noch ein kleiner Rest von Einsicht da ist, wird man sich wohl hüten, diese Nothhilfe zu ergreifen. Und, beim Lichte besehen, ist diese Appellation nichts anderes, als eine Berufung auf das Urtheil der Menge, ein Zuklatschen, über das der Philosoph erröthet, der populäre Witzling aber triumphirt und trotzig thut. Ich sollte aber doch denken, Hume habe auf einen gesunden Verstand ebensowohl Anspruch machen können als Beattie, und noch überdem auf das, was dieser gewiss nicht besass, nämlich eine kritische Vernunft, die den gemeinen Verstand in Schranken hält, damit er sich nicht in Speculationen versteige, oder, wenn blos von diesen die Rede ist, nichts zu entscheiden begehre, weil er sich über seine Grundsätze nicht zu rechtfertigen versteht; denn nur so allein wird er ein gesunder Verstand bleiben. Meissel und Schlägel können ganz wohl dazu dienen, ein Stück Zimmerholz zu bearbeiten, aber zum Kupferstechen muss man die Radirnadel brauchen. So sind gesunder Verstand sowohl als speculativer, beide, aber jeder in seiner Art brauchbar: jener, wenn es auf Urtheile ankommt, die in der Erfahrung ihre unmittelbare Anwendung finden, dieser aber, wo im Allgemeinen, aus blossen Begriffen geurtheilt werden soll, z. B. in der Metaphysik, wo der sich selbst, aber oft per antiphrasin, so nennende gesunde Verstand ganz und gar kein Urtheil hat.«
» Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Felde der speculativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab. Ich war weit entfernt, ihm in Ansehung seiner Folgerungen Gehör zu geben, die blos daher rührten, weil er sich seine Aufgabe nicht im Ganzen vorstellte, sondern nur auf einen Theil derselben fiel, der, ohne das Ganze in Betracht zu ziehen, keine Auskunft geben kann. Wenn man von einem gegründeten, obzwar nicht ausgeführten Gedanken anfängt, den uns ein Anderer hinterlassen, so kann man wohl hoffen, es bei fortgesetztem Nachdenken weiter zu bringen, als der scharfsinnige Mann kann, dem man den ersten Funken dieses Lichts zu verdanken hatte.«
»Ich versuchte also zuerst, ob sich nicht Hume's Einwurf allgemein vorstellen liesse, und fand bald: dass der Begriff der Verknüpfung von Ursache und Wirkung bei weitem nicht der einzige sei, durch den der Verstand a priori sich Verknüpfungen der Dinge denkt, vielmehr, dass Metaphysik ganz und gar daraus bestehe. Ich suchte mich ihrer Zahl zu versichern, und, da dieses mir nach Wunsch, nämlich aus einem einzigen Princip, gelungen war, so ging ich an die Deduction dieser Begriffe, von denen ich nunmehr versichert war, dass sie nicht, wie Hume besorgt hatte, von der Erfahrung abgeleitet, sondern aus dem reinen Verstande entsprungen seien. Diese Deduction, die meinem scharfsinnigen Vorgänger unmöglich schien, die niemand ausser ihm sich auch nur hatte einfallen lassen, obgleich jedermann sich der Begriffe getrost bediente, ohne zu fragen, worauf sich denn ihre objective Gültigkeit gründe, diese, sage ich, war das Schwerste, das jemals zum Behufe der Metaphysik unternommen werden konnte, und was noch das Schlimmste dabei ist, so konnte mir Metaphysik, soviel davon nur irgendwo vorhanden ist, hierbei auch nicht die mindeste Hilfe leisten, weil jene Deduction zuerst die Möglichkeit einer Metaphysik ausmachen soll. Da es mir nun mit der Auflösung des Hume'schen Problems nicht blos in einem besonderen Falle, sondern in Absicht auf das ganze Vermögen der reinen Vernunft gelungen war: so konnte ich sichere, obgleich immer nur langsame Schritte thun, um endlich den ganzen Umfang der reinen Vernunft, in seinen Grenzen sowohl, als seinem Inhalt, vollständig und nach allgemeinen Principien zu bestimmen, welches dann dasjenige war, was Metaphysik bedarf, um ihr System nach einem sicheren Plane aufzuführen.«
In diesen Worten Kants haben wir zugleich mit einem einzigen Blick vor uns den Einfluss Hume's auf die deutsche Philosophie, die Entstehungsgeschichte der Categorientafel und damit der ganzen Vernunftkritik, den richtigen Grundgedanken und den Grund aller Irrthümer unseres Reformators der Philosophie. Der letztere liegt offen vor uns in der Verwechselung der methodischen und kunstgerechten Handhabung der Denkgesetze mit der sogenannten Speculation, welche aus allgemeinen Begriffen deducirt.
Das Bild von der Radirnadel ist besser als seine Anwendung. Nicht ein völlig verschiedener Ausgangspunkt des Denkens und eine entgegengesetzte Methode verbürgen der philosophischen Kritik ihre Erfolge, sondern einzig und allein grössere Genauigkeit und Schärfe in der Handhabung der allgemeinen Denkgesetze. Die Metaphysik als Kritik der Begriffe – eine Bedeutung übrigens, in der wir das Wort gar nicht mehr anwenden möchten – muss höchstens noch schärfer und behutsamer zu Werke gehen, als die philologische Kritik eines überlieferten Textes, als die historische Kritik der Quellen einer Erzählung, als die mathematisch-physikalische Kritik einer naturwissenschaftlichen Hypothese; im Wesentlichen aber hat sie, wie alle Kritik, mit den Werkzeugen der gesammten Logik, bald der inductiven, bald der deductiven, zu arbeiten, und der Erfahrung zu geben, was der Erfahrung gebührt, den Begriffen, was den Begriffen gebührt.
Auch liegt der Fehler der Anhänger des common sense keineswegs im einseitigen Ausgehen von der Erfahrung. Man käme der Sache näher, wenn man den deutschen Ausdruck »gesunder Menschenverstand« etwa nach Analogie von »baumwollener Strumpffabrikant« und ähnlichen schönen Wortbildungen auffassen könnte. Es ist nämlich in der That, wenn auch nicht etymologisch, der mittelmässige Verstand eines gesunden Menschen, d. h. eines Menschen, der ausser seiner rohen Logik auch noch gesunde Sinne anwendet, welcher bei seinen Urtheilen ausser dem Verstand auch das Gefühl, die Anschauung, Erfahrung, Kenntniss der Verhältnisse in ungeregelter Weise mitsprechen lässt, wo dann in Fragen des täglichen Lebens innerhalb der Schranken der landesüblichen Vorurtheile ein gutes und in keinem Falle excentrisches Durchschnittsurtheil herauskommt. Die Logik des täglichen Lebens ist deshalb erfolgreich, obwohl sie Kameele verschluckt und durchaus keine Mücken seigt. Den Einfluss des allgemeinen Vorurtheils auf ihre Errungenschaften merkt das grosse Publikum deshalb nicht, weil es eben in denselben Irrthümern befangen ist. Deshalb feiert auch der gesunde Menschenverstand seine meisten Triumphe in solchen Aufgaben, wie Vertheidigung des Schutzzolls, der polizeilichen Bevormundung, der bestehenden Criminalstrafen, der Niederhaltung des »gemeinen Volkes«, der Nothwendigkeit monarchischer Einrichtungen und der Vorzüge Krähwinkels vor allen anderen Städten von Europa. Von einer besseren Seite lernt man ihn jedoch da kennen, wo das Vorurtheil keinen Einfluss mehr hat, wo aber das Urtheil der Natur des Stoffes nach mit Anschauung und Erfahrung zusammenwirken muss. Beruhen doch selbst die Erfolge eines Bentley in der Kritik des Horaz, eines Niebuhr in der Reform der römischen Geschichte, eines Winkelmann in der Verbreitung einer tieferen Erfassung der Antike, eines Humboldt in der sicheren Entwertung weitumspannender Netze gemeinsamer Forschung zum grossen Theile auf einer Verbindung des radicalen wissenschaftlichen Verstandes mit einer grösseren Welt- und Menschenkenntniss oder mit einer kräftigeren Sinnlichkeit, als sie den Stubengelehrten eigen zu sein pflegt; und selbst in der philosophischen Kritik tritt dies Element nur relativ zurück, ohne jemals seine Bedeutung völlig zu verlieren. Es trägt zur Leistung des Höchsten bei, wo es sich der gewissenhaften Kunstübung dienend und ergänzend anschliesst, während es in der Opposition gegen das wissenschaftliche Denken jede Art von Eitelkeit hegt und hervorbringt. Kant empfand dies lebhaft in der Vergleichung eines so überlegenen Geistes wie Hume mit den Vertretern des common sense; allein er verwechselte die grössere Kraft und Schärfe des Denkens mit der speculativen Methode. Es war nichts als die Gewalt der Logik, wodurch Hume ihn aus dem dogmatischen Schlummer geweckt hatte; hätte Kant blos durch die Erfindung der Categorientafel gegen den Angriff Hume's reagirt, so wäre seine Reaction keine berechtigte; allein hinter diesen wuchernden Ranken der Speculation birgt sich der tiefere Gedanke, welcher ihn zum Reformator der Philosophie machen konnte. Es ist die Einsicht, dass die Erfahrung des Menschen ein Product gewisser Stammbegriffe ist, welche eben darin, dass sie die Erfahrung bestimmen, ihre ganze Bedeutung haben. Der Streit um den Causalitätsbegriff wird allgemein gefasst. Hume behält Recht in der Vernichtung des übernatürlichen, offenbarungsmässigen Ursprunges dieser Begriffe; er erhält Unrecht, indem er sie aus der Erfahrung ableitet, da man vielmehr gar nicht »erfahren« kann, ohne von Haus aus zur Verbindung von Subject und Prädicat, von Ursache und Wirkung organisirt zu sein.
Genau genommen sind es freilich nicht die Begriffe selbst, welche vor der Erfahrung vorhanden sind, sondern nur solche Einrichtungen, durch welche die Einwirkungen der Aussenwelt sofort nach der Regel jener Begriffe verbunden und geordnet werden. Man könnte sagen, a priori ist der Körper, wenn nur der Körper selbst nicht wieder bloss eine a priori gegebene Auffassungsweise rein geistiger Verhältnisse wäre. Vielleicht lässt sich der Grund des Causalitätsbegriffes einst in dem Mechanismus der Reflexbewegung und der sympathischen Erregung finden, dann hätten wir Kants reine Vernunft in Physiologie übersetzt und dadurch anschaulicher gemacht. Im Wesen aber bliebe die Sache die alte; denn wenn erst der naive Glaube an die Wirklichkeit der Erscheinungswelt verdrängt ist, so ist der Schritt vom Physischen zum Geistigen nicht mehr gross, nur dass freilich das rein Geistige immer das Unbekannte bleiben wird, eben weil wir es nur unter sinnlichem Bilde erfassen können.
Da nun das Urtheil über den Causalitätsbegriff eine so tiefgreifende Bedeutung gewonnen hat, so wollen wir nicht versäumen, hier die verschiedenen Ansichten über diesen Begriff, zuletzt unsere eigene, in vier kurzen Sätzen übersichtlich darzustellen.
Die alte Metaphysik: Der Causalitätsbegriff stammt nicht aus der Erfahrung, sondern aus der reinen Vernunft und ist dieses seines höheren Ursprungs wegen auch jenseit der Grenzen menschlicher Erfahrung gültig und anwendbar.
Hume: Der Causalitätsbegriff lässt sich aus der reinen Vernunft nicht ableiten, er stammt vielmehr aus der Erfahrung. Die Grenzen seiner Anwendbarkeit sind zweifelhaft, jedenfalls aber lässt er sich auf nichts anwenden, was über die Erfahrung hinausgeht.
Kant: Der Causalitätsbegriff ist ein Stammbegriff der reinen Vernunft und liegt als solcher unserer ganzen Erfahrung zu Grunde. Er hat eben deshalb im Gebiete der Erfahrung unbeschränkte Gültigkeit, aber jenseit desselben keine Bedeutung.
Der Autor: Der Causalitätsbegriff wurzelt in unserer Organisation und ist der Anlage nach vor jeder Erfahrung. Er hat eben deshalb im Gebiete der Erfahrung unbeschränkte Gültigkeit, aber jenseit desselben gar keine Bedeutung.
Zum Gebiete der Erfahrung gehört auch Alles, was aus der unmittelbaren Erfahrung gefolgert, und überhaupt, was nach Analogie der Erfahrung gedacht wird; so z. B. die Lehre von den Atomen. Epikur nahm nun aber für seine Atome eine Abweichung von der geraden Linie ohne alle Ursache an, eine Ansicht, die der sonst so gemessene Kant einmal als »unverschämt« abfertigt. Er hätte sich gewiss nicht träumen lassen, dass nach mehr als einem halben Jahrhunderte ein Landsmann und Geistesverwandter des grossen Hume folgenden Satz niederschreiben würde:
»Ich habe die Ueberzeugung, dass ein Jeder, der an Abstraction und Analyse gewöhnt ist und der seine Fähigkeiten aufrichtig dazu gebraucht, wenn seine Einbildungskraft einmal gelernt hat, die Vorstellung aufzunehmen und zu hegen, keine Schwierigkeit finden wird, sich vorzustellen, dass z. B. in einem der Firmamente, in welche die Astronomie jetzt das Universum eintheilt, Ereignisse aufs Gerathewohl und ohne ein bestimmtes Gesetz aufeinander folgen können; auch liegt in unserer Erfahrung oder in unserem Geiste nichts, was einen hinreichenden oder in der That auch nur irgend einen Grund ausmachen könnte, zu glauben, dass dies nirgends der Fall wäre.«
Mill hält den Glauben an das Causalgesetz für eine blosse Folge der unwillkürlichen Induction. Es folgt daraus nothwendig, dass auf unserer Erde ebensowohl wie in den fernsten Firmamenten etwas ohne alle Ursache sich ereignen könnte, und Epikur, der nur in jenem einzigen Falle dem Causalgesetze untreu würde, könnte Mill mit vollem Rechte seine Lieblingsformel entgegen halten: »Dann könnte ja aus Allem Alles werden!« »Allerdings, Herr Epikur,« wird Mill lächelnd antworten, »nur ist es eben keineswegs wahrscheinlich; wir wollen uns wieder sprechen, sobald ein dahin gehörender Fall vorliegt.« Und wenn dann ein Fall vorkommt, der allen bisherigen Begriffen der Wissenschaft zu widerstreiten scheint, so wird Mill so gut wie wir, die wir den Causalbegriff für a priori gegeben halten, den Entscheid über diesen Fall suspendiren, bis die Wissenschaft ihn noch genauer betrachtet hat. Er wird immer behaupten können, die Induction gelte bei ihm so viel, dass er die Hoffnung auf eine Einreihung dieses Falls unter das allgemeine Causalgesetz noch nicht aufgeben könne. Der Beweis des Gegentheils wird ein Process in infinitum sein; die Sache droht auf einen leeren Wortstreit hinauszulaufen, wenn man nicht zugeben will, dass die Anhänger der Apriorität des Causalgesetzes a priori und vor jeder Erfahrung recht haben. Mill würde vielleicht nicht so weit abgeirrt sein, wenn er zwischen dem Causalgesetz im Allgemeinen und seiner heutigen naturwissenschaftlichen Auffassung unterschieden hätte. Die letztere, nach welcher alle Ursachen und Wirkungen im strengsten Zusammenhange der Naturgesetze stehen und ausserhalb dieser keinem Ding oder Begriff ursächliche Bedeutung zugestanden wird – diese bestimmte wissenschaftliche Auffassung des Causalgesetzes ist allerdings neu und in historisch übersehbarer Zeit durch Induction gewonnen worden. Die unmittelbar aus der Natur des Menschengeistes hervorgehende Nöthigung zu jedem Ding eine Ursache anzunehmen, ist in der That oft sehr unwissenschaftlich. Es geschieht durch den Causalbegriff, dass der Affe – hierin, wie es scheint, menschlich organisirt – mit der Pfote hinter den Spiegel greift oder das neckische Geräth umdreht, um die Ursache der Erscheinung seines Doppelgängers zu suchen. Es geschieht durch den Causalbegriff, dass der Wilde den Donner dem Wagen eines Gottes zuschreibt oder bei der Sonnenfinsterniss sich einen Drachen einbildet, der den Spender des Lichtes verschlingen will. Das Causalgesetz lässt den Säugling das hilfreiche Erscheinen der Mutter mit seinem eigenen Geschrei verbinden und erzeugt dadurch die Erfahrung. Der privilegirte Dummkopf aber, der Alles dem Zufall zuschreibt, denkt sich, wenn er überhaupt denkt, den Zufall als ein dämonisches Wesen, dessen Tücke für all seine Missgeschicke den genügenden Grund enthält.
Die Nothwendigkeit des Causalbegriffes liegt nicht darin, dass immer bestimmte Arten von Ursachen den Erscheinungen untergelegt werden, sondern darin, dass überhaupt jede Erscheinung in irgend einem Zusammenhange von Ursachen und Wirkungen gedacht wird, die nähere Bestimmung derselben möge sein, welche sie wolle. Nun fragt sich aber, ob nicht dennoch auch der unbedingten Geltung der Naturgesetze für den ganzen Bereich unserer Erfahrung der Character der Allgemeinheit und Nothwendigkeit zuzuschreiben sei. Nach dem oben von uns entwickelten Grundsatz, den wir durch das Bild des auf einen Kometen eingestellten Fernrohres unterstützten, kann auch eine mühsam und spät entdeckte Wahrheit den Character eines Erkenntnisses a priori haben, sobald sie von Jedem, der sie nur recht verstanden hat, beim ersten Versuch und ohne inductiven Process oder Beweis als nothwendig und allgemein gültig anerkannt werden muss. Es ist in diesem speciellen Falle auch möglich, dass der ursprünglich schon dem Causalgesetz in seiner rohesten Form eigenthümliche Zwang sich auf die vollkommenere und bestimmtere Ausbildung überträgt. Kant hat sich über dies Verhältniss nicht eingehend ausgesprochen. Es ist aber keinem Zweifel unterworfen, dass er nicht nur dem allgemeinen Causalbegriff, sondern auch seiner naturwissenschaftlichen Form unbedingte Gültigkeit einräumte, und zwar in einer über den damaligen Stand unserer empirischen Kenntnisse weit hinaus gehenden und seitdem glänzend bestätigten Ausdehnung.
Unsere heutigen Materialisten werden sich dieser Frage gegenüber vielleicht in einem kleinen Zwiespalt mit sich selbst befinden. Einerseits geneigt, Alles aus der Erfahrung abzuleiten, werden sie nicht gerne mit dem Causalgesetz eine Ausnahme machen; anderseits ist die unbedingte und unbeschränkte Gültigkeit der Naturgesetze ihnen mit Recht ein Lieblingssatz. Zwar scheint sich Czolbe ganz entschieden (Sensualismus S. 64) auf die Seite Mills zu schlagen; allein er versteht unter angebornen Denkgesetzen solche, die von Geburt auf als logische Sätze im Bewusstsein liegen. Wofür er sich nach Beseitigung dieses Missverständnisses entscheiden würde, ist aus seiner Darstellung nicht mit völliger Sicherheit zu sehen. Jedenfalls hat Czolbe in dem Postulat der Anschaulichkeit unserer Begriffe ein metaphysisches Princip aufgestellt, welches mit Mills System in keiner Weise in Einklang zu bringen ist, und welches nach der entgegengesetzten Seite noch über Kant hinausführt. Bei Büchner finden wir die Nothwendigkeit und Unabänderlichkeit der Naturgesetze aufs stärkste betont und dennoch den Glauben an diese Gesetze aus der Erfahrung abgeleitet. Daneben wird sogar gelegentlich Oersteds metaphysischer Satz von der Einheit der Denkgesetze und der Naturgesetze als richtig anerkannt.
Vielleicht dürften Viele unserer heutigen Materialisten geneigt sein, die Ungenauigkeit, welche wir erwähnen, zum Princip zu erheben und den ganzen Unterschied zwischen der empirischen und der rationellen Auffassung des Causalitätsbegriffes für unnütze Spitzfindigkeit zu erklären. Das heisst denn freilich das Feld räumen, denn dass es für den practischen Gebrauch des Causalbegriffs genügt, ihn aus der Erfahrung zu entnehmen, ist selbstverständlich. Die genauere Untersuchung kann ihren Zweck nur in dem rein theoretischen Interesse haben, und wo es sich einmal um Begriffe handelt, ist eine scharfe Logik ebenso unerlässlich, als eine genaue Analyse in der Chemie.
Die günstigste Wendung für unsere heutigen Materialisten dürfte die sein, dass sie im Wesentlichen mit Hume und Mill gehen, und der fatalen Consequenz einer möglichen Ausnahme von der Regel des Causalitätsgesetzes dadurch zu entgehen suchen, dass sie auf die unendlich geringe Wahrscheinlichkeit einer solchen Ausnahme hinweisen. Dies genügt nun allenfalls, um die Liebhaber von Wundergeschichten zurückzuweisen, da man immer verlangen kann, gleichsam als eine Forderung der Sittlichkeit des Denkens, dass nicht die vage Möglichkeit, sondern die Wahrscheinlichkeit unseren Annahmen zu Grunde gelegt werde. Damit ist aber die eigentliche Frage nicht erledigt, denn die wahre Schwierigkeit steckt darin, dass von Anbeginn niemals zwei Empfindungen zu einer Erfahrung über ihren Zusammenhang könnten verbunden werden, wenn nicht eben der Grund ihrer Verknüpfung als Ursache und Wirkung durch die Einrichtung unsers Geistes bedingt wäre.
Einer unserer scharfsinnigsten Logiker, Professor Ueberweg, hat aus Anlass des Causalitätsbegriffes Kant den Vorwurf eines Widerspruchs gemacht, der stark genug sei, um das ganze System zu stürzen. Kant bediene sich des Causalitätsgesetzes, um zu beweisen, dass es Dinge an sich gebe; während jenes Gesetz doch nur für die Erscheinungswelt gelten soll. Gegen diesen Vorwurf ist keine directe Abwehr möglich. Er zerschmettert in der That den Panzer des Systems vollständig; an dem ist nichts mehr zu halten.
So viel ist freilich noch zu behaupten, dass das Causalitätsgesetz, wenn es für die ganze Erscheinungswelt gilt, auch für ihre Grenzen noch gelten muss, mindestens bis zur Feststellung des Umstandes, dass Grenzen da sind, und dass jenseits etwas Andres ist. Der Fisch im Teiche kann nur im Wasser schwimmen, nicht in der Erde; oder er kann doch mit dem Kopf gegen Boden und Wände stossen. So könnten wir mit dem Causalitätsbegriff wohl das ganze Reich der Erfahrung durchmessen und finden, dass jenseit desselben etwas Anderes ist, ein unsern Organen unzugängliches Gebiet.
Nun aber kehrt Ueberwegs Einwand in einer neuen und schrecklichen Form wieder: Wenn die ganze Erscheinungswelt nur eine Folge unserer Begriffe ist, und wenn unsere Verstandesbegriffe sich nur auf die Erscheinungswelt beziehen, so gehört auch mit unabänderlicher Nothwendigkeit das Ding an sich zur Erscheinungswelt; es ist mit einem Worte, nur eine versteckte Categorie. Damit schliesst sich der Kreis vollständig; wir aber unserseits wollen uns bei der Anschauung, die sich daraus ergiebt, beruhigen. Die Forschung an der Hand des Causalitätsbegriffes zeigte uns, dass die Welt für das Ohr, nicht der Welt für das Auge entspricht, dass die Welt der logischen Folgerungen anders ist, als die der unmittelbaren Anschauung. Sie zeigt uns, dass das Ganze unserer Erscheinungswelt von unseren Organen abhängt, und Kant hat das bleibende Verdienst, gezeigt zu haben, dass unsere Categorien hierin dieselbe Rolle spielen, wie unsere Sinne. Führt uns nun die umfassende Betrachtung der Erscheinungswelt darauf, dass auch diese in ihrem gesammten Zusammenhang von unserer Organisation bedingt ist, müssen wir selbst annehmen, dass da, wo wir kein neues Organ mehr gewinnen können, um die andern zu ergänzen und zu verbessern, noch eine ganze Unendlichkeit verschiedener Auffassungen möglich ist; ja dass endlich all diesen Auffassungsweisen verschieden organisirter Wesen eine gemeinsame unbekannte Quelle zu Grunde liegt, das Ding an sich, im Gegensatz zu den Dingen der Erscheinung: dann mögen wir uns dieser Anschauung, sofern sie eine nothwendige Folge unseres Verstandesgebrauches ist, nur ruhig hingeben, obgleich derselbe Verstand uns bei einer weiteren Untersuchung bekennen muss, dass er diesen Gegensatz selbst geschaffen. Wir finden überall nichts, als den gewöhnlichen empirischen Gegensatz zwischen Erscheinung und Wesen, der ja bekanntlich dem Verstande unendliche Grade zeigt. Was auf dieser Stufe der Betrachtung Wesen ist, zeigt sich auf einer andern, im Verhältniss zu einem tiefer verborgenen Wesen, wieder als Erscheinung. Das wahre Wesen der Dinge, der letzte Grund aller Erscheinungen, ist uns aber nicht nur unbekannt, sondern es ist auch der Begriff desselben nicht mehr und nicht weniger als die letzte Ausgeburt eines von unserer Organisation bedingten Gegensatzes, von dem wir nicht wissen, ob er ausserhalb unserer Erfahrung irgend eine Bedeutung hat.
Hier ist die Metaphysik als demonstrirte Wissenschaft ungleich schärfer gerichtet, als Kant es beabsichtigt hatte; es ist aber auch der Metaphysik, als einer erbaulichen Kunst der Begriffsfügung, das volle weite Feld ihres welthistorischen Tummelplatzes wieder freigegeben. Es ist denkbar, dass das Ding an sich unser Ich ist; es ist denkbar, dass es ein absolutes Wesen giebt, in welchem der Gegensatz zwischen Ding an sich und Erscheinung ganz und gar versöhnt und aufgehoben ist; es ist denkbar, dass der Erscheinungswelt eine unendlich reiche Republik rein geistiger Wesen zu Grunde liegt, welche durch ihre Wechselbeziehungen einander den Schein einer Körperwelt erwecken. So lasse man denn auch die Philosophen gewähren, vorausgesetzt, dass sie uns hinfüro erbauen, statt uns mit dogmatischem Gezänk zu belästigen. Die Kunst ist frei, auch auf dem Gebiet der Begriffe. Wer will einen Satz von Beethoven widerlegen, und wer will Raphaels Madonna des Irrthums zeihen?
So ist dem »Umhertappen« in der Metaphysik ein Ende gemacht, wenn auch anders, als Kant es wollte. Eine strengere Kritik macht auch grössere Freiheit möglich und der eherne Arm der Skepsis bedroht nicht die edle Form einer geistigen Schöpfung, sondern nur die Bande, mit welchen der ewig schaffende Geist an ein vergängliches Symbol gekettet wird. Noch mag die Zeit nicht ganz vorüber sein, wo die Statue nicht geschont werden kann, weil das Idol zertrümmert werden muss; aber diese Zeit wird kommen, und dann dient die besonnene Skepsis den Offenbarungen des Schönen und Guten, indem sie diese Gebiete von dem der empirischen Wahrheit trennt und das Unkraut der Dogmen ausrodet, damit Erkennen und Schaffen gleich ungehindert ihre Früchte zeitigen.
Hoffentlich bietet diese eingehende Besprechung des Causalitätsbegriffes sammt der kleinen Abschweifung auf das Gebiet des Dinges an sich unsern Lesern mehr, als wenn wir die ganze Categorientafel kurz und scharf kritisiren wollten. Für die Frage des Materialismus ist es ziemlich gleichgültig, ob eine Categorie mehr oder weniger als wirklicher Fundamentalbegriff unserer ganzen Erfahrung anerkannt wird. Dass Kant ein ungenügendes Verfahren einschlug, um diese Begriffe gleichsam in einem einzigen Netz sammt und sonders zu fangen, indem er von den Formen des Urtheils ausging, ist in der Geschichte der Philosophie längst anerkannt. Wenn es dessenungeachtet grade dieser vermeintliche Fund war, der ihn veranlasste, als Reformator der Philosophie aufzutreten, so dürfen wir nicht vergessen, dass dem Zauber solcher Gedankenblitze fast Niemand widersteht, und, was wichtiger ist, dass auch hier ein Kern von Wahrheit zu Grunde liegt.
Wir deuteten oben an, dass der Causalitätsbegriff vielleicht seine Wurzel in der Reflexbewegung habe. Aus derselben Wurzel könnte vielleicht auch die Bildung hypothetischer Sätze hervorgehen. Wären wir sicher, dass wir die wirklichen und bleibenden Grundformen des Urtheilens wüssten, so wäre es gar nicht unmethodisch, von diesen auf die eigentlichen Fundamentalbegriffe zu schliessen, da doch vermuthet werden muss, dass dieselben Eigenschaften unseres Organismus, welche unsere ganze Erfahrung bestimmen, auch den verschiedenen Richtungen unserer Verstandesthätigkeit ihr Gepräge geben. Hier aber machte Kant den ungeheuren Fehler, die ursprünglichen Formen des Urtheils als bekannt oder bewiesen anzunehmen, während wir doch gerade hier vor einem der schwierigsten Probleme der Zukunft stehen.
Die »Ableitung aus einem Princip«, überhaupt ein höchst verführerisches Verfahren, Bestand doch im Grunde nur darin, dass fünf senkrechte Striche und vier Querstriche gemacht und die dadurch gebildeten 12 Felder ausgefüllt wurden, während es doch z. B. auf der Hand liegt, dass von den Urtheilen der Möglichkeit und Notwendigkeit höchstens eins eine ursprüngliche Form sein kann, aus der sich das andere durch Anwendung der Negation ergiebt. Da war das rein empirische Verfahren des Aristoteles im Grunde doch besser. Darin aber hatte Kant wieder Recht, dass er behauptete, dasselbe Problem, welches uns der Causalitätsbegriff darbietet, mit derselben Lösung, müsse sich auch bei allen andern wahren Categorien finden.
Wichtiger ist es für die Frage des Materialismus, dass wir uns, statt nach den übrigen Categorien, noch nach dem Ursprung jener Ideen umsehen, welche gerade den Kernpunkt des ganzen Streites ausmachen. Wenn wir Schleiden glauben wollen, hat Kant die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit für immer unantastbar festgestellt. Statt dessen finden wir auf dem Boden der theoretischen Philosophie zunächst nur eine Ableitung, welche womöglich noch bedenklicher ist, als die der Categorien. Während nämlich Kant diese aus den Urtheilsformen der gewöhnlichen Logik ableitete, so fand er sich – es ist schwer zu sagen wodurch – veranlasst, die Ideen als reine Vernunftbegriffe aus den Schlussformen abzuleiten. Er glaubte darin wieder eine Bürgschaft für die vollständige Ermittelung der reinen Vernunftbegriffe zu haben, und entwickelte in sehr künstlicher Weise aus dem categorischen Schlusse die Idee der Seele, aus dem hypothetischen die Idee der Welt und aus dem disjunctiven die Idee Gottes.
Die Categorien dienen nach Kant nur zum Verstandesgebrauch in der Erfahrung. Wozu dienen nun die Ideen? Bei der wichtigen Rolle, welche diese Ideen in dem materialistischen Streit der Gegenwart spielen, wird es nicht uninteressant sein, gerade hierüber noch einige Worte Kants zu vernehmen. So wenig Werth wir auf die Ableitung dieser Vernunftideen legen, so sehr müssen wir in der Beurtheilung der Rolle, welche sie in unserer Erkenntniss spielen, die musterhafte Klarheit eines bahnbrechenden Kopfes bewundern.
Kant bemerkt in den Prolegomenen (§. 44) »dass die Vernunftideen nicht etwa sowie die Categorien uns zum Gebrauch des Verstandes in Ansehung der Erfahrung irgend etwas nutzen, sondern in Ansehung desselben völlig entbehrlich, ja wohl gar den Maximen des Vernunfterkenntnisses der Natur entgegen und hinderlich, gleichwohl aber doch in anderer noch zu bestimmender Absicht nothwendig sind.«
» Ob die Seele eine einfache Substanz sei oder nicht, das kann uns zur Erklärung der Erscheinungen derselben ganz gleichgültig sein, denn wir können den Begriff eines einfachen Wesens durch keine mögliche Erfahrung sinnlich, mithin in concreto verständlich machen, und so ist er, in Ansehung aller verhofften Einsicht in die Natur der Erscheinungen, ganz leer und kann zu keinem Princip der Erklärung dessen, was innere oder äussere Erfahrung an die Hand giebt, dienen. Ebenso wenig können uns die cosmologischen Ideen vom Weltanfange, oder der Weltewigkeit dazu nutzen, um irgend eine Begebenheit in der Welt selbst daraus zu erklären. Endlich müssen wir, nach einer richtigen Maxime der Naturphilosophie, uns aller Erklärungen der Natureinrichtung, die aus dem Willen eines höchsten Wesens gezogen worden, enthalten, weil dieses nicht mehr Naturphilosophie ist, sondern ein Geständniss, dass es damit bei uns zu Ende gehe.«
Mehr können diejenigen unserer »Materialisten« nicht verlangen, welche gar keine Metaphysiker sein wollen und überhaupt nur dahin streben, der exacten Forschung auf allen Gebieten die Bahn frei zu machen, während ihnen dasjenige, was man jenseit derselben etwa noch aus irgend welchen Gründen annehmen mag, gleichgültig bleibt. Der dogmatische Materialist aber wird fragen, was denn nun eigentlich die Ideen noch sollen, wenn sie auf den Gang der positiven Wissenschaften durchaus keinen Einfluss haben dürfen. Er wird nicht nur den Verdacht hegen, dass sie durch irgend eine Hinterthür doch wieder in das Gebiet der Forschung hineinschlüpfen und sich dem Fortschritt der Wissenschaften entgegenstemmen werden, sondern er will auch überhaupt jenseit der sinnlichen Erfahrung nichts mehr anerkennen, da er als metaphysisches Dogma festhält, dass die Welt so ist, wie sie uns kraft unserer Sinne erscheint Jener Verdacht ist, beiläufig bemerkt, nur zu begründet; wo es sich nämlich um gewisse Kantianer und nicht um Kant selbst handelt. Hat es doch die Vereinigung von bureaukratischem Fanatismus mit philosophischer Impotenz zu Wege gebracht, dass Kants Freiheitslehre sogar in der gerichtlichen Psychologie missbraucht wurde; einer Wissenschaft, die zum Mordinstrument des juristischen Pfaffenthums wird, sobald sie den Boden der strengsten Empirie verlässt! Was dagegen das metaphysische Dogma von der absoluten Objectivität der Sinnenwelt anbelangt, so werden sich die Ideen diesem gegenüber wohl leicht in ihrer eigenthümlichen Stellung behaupten können.
Vernunft, die Mutter der Ideen, ist nach Kants Auffassung auf das Ganze aller möglichen Erfahrung gerichtet, während der Verstand sich mit dem Einzelnen beschäftigt. Die Vernunft findet in keiner Reihe von Erkenntnissen Befriedigung, so lange sie nicht die Totalität erfasst hat. Vernunft ist also systematisch, wie der Verstand empirisch ist. Die Ideen der Seele, der Welt und Gottes sind nur der Ausdruck dieser in unserer vernünftigen Organisation liegenden Einheitsbestrebungen. Schreiben wir ihnen eine objective Existenz ausser uns zu, so stürzen wir uns in das uferlose Meer der metaphysischen Irrthümer. Halten wir sie aber als unsere Ideen in Ehren, so erfüllen wir nur eine unabweisbare Forderung unserer Vernunft. Die Ideen dienen nicht, unsere Erkenntniss zu erweitern, wohl aber die Behauptungen des Materialismus aufzuheben und dadurch der Moralphilosophie, die Kant für den wichtigsten Theil der Philosophie hält, Raum zu schaffen.
Was die Ideen dem Materialismus gegenüber berechtigt, ist also nicht sowohl ihr Anspruch auf eine höhere, sei es bewiesene, sei es offenbarte und unbeweisbare Wahrheit, sondern eben das Gegentheil davon: der volle, rückhaltlose Verzicht auf jede theoretische Geltung im Gebiete des auf die Aussenwelt gerichteten Erkennens. Von Hirngespinnsten unterscheiden sich die Ideen zunächst dadurch, dass sie nicht etwa vorübergehend in einem einzelnen Menschen auftauchen, sondern dass sie in der Naturanlage des menschlichen Geistes begründet sind, und dass sie einen Nutzen haben, welcher gewöhnlichen Hirngespinnsten nicht zuzuschreiben ist. So kann die Kritik den Ideen nichts anhaben, während sie jede dogmatische Metaphysik, und also auch den dogmatischen Materialismus, beseitigt. Wäre der Beweis zwingend, dass die Ideen in der Zahl und Form, wie Kant sie deducirt, in einer ganz nothwendigen Weise aus unserer Naturanlage hervorgingen, so würde ihnen allerdings ein unerschütterliches Recht zur Seite stehen. Könnte diese unsere Naturanlage durch reine Vernunft, ohne alle Erfahrung gefunden werden, so läge sogar in der Entwickelung derselben gewiss ein wesentlicher Zweig der Wissenschaft. Denken wir uns, um dies klar zu machen, einen Menschen, der ein Kaleidoskop für ein Fernrohr hält. Er glaubt höchst merkwürdige Gegenstände ausserhalb wahrzunehmen und widmet ihrer Betrachtung allen Fleiss. Er soll nun in einen engen Raum eingeschlossen sein. Nach der einen Seite hat er ein Fensterchen, welches ihm einen beschränkten und getrübten Blick nach Aussen eröffnet; nach einer andern Seite ist das Rohr, mit weichem er in die Ferne zu sehen glaubt, fest in die Wand eingeschlossen. Diesen Ausblick liebt er ganz besonders. Er reizt ihn mehr als das Fensterchen; unablässig sucht er auf diesem Wege seine Erkenntniss von einer wunderbaren Ferne zu vervollkommnen. Das ist der Metaphysiker, der das enge Fenster der Erfahrung verschmäht und sich von dem Kaleidoskop seiner Ideenwelt täuschen lässt. Wenn er nun aber diese Täuschung bemerkt; wenn er das Wesen des Kaleidoskops erräth, so würde es für ihn, trotz der argen Enttäuschung, immer noch ein Gegenstand der Wissbegierde sein können. Er fragt jetzt nicht mehr: was sind, was bedeuten die wunderbaren Bilder, die ich dort in der Ferne sehe, sondern: welche Einrichtung des Rohres mag sie hervorrufen? So könnte darin eine Quelle der Erkenntniss liegen, welche vielleicht eben so wichtig wäre, als der Ausblick durch das Fensterchen.
Unsere Leser werden schon bemerken, dass hier dasselbe grosse Bedenken bleibt, welches wir auch gegen die Categorien geltend machten. Es ist zuzugeben, dass in unserer Vernunft solche Naturanlagen liegen können, welche uns mit Notwendigkeit Ideen vorspiegeln, die mit der Erfahrung nichts zu thun haben. Es ist zuzugeben, dass solche Ideen, wenn wir uns von dem täuschenden Schein einer äusseren Erkenntniss befreit haben, immer noch, selbst in theoretischer Hinsicht, ein höchst werthvolles Besitzthum unseres Geistes sein können; allein wir haben kein Mittel, sie aus einem Princip mit Sicherheit herzuleiten. Wir befinden uns hier ganz einfach auf dem Boden der Psychologie – sofern nämlich eine solche Wissenschaft als schon bestehend bezeichnet werden darf – und nur die allgemeine Methode wissenschaftlicher Specialforschung kann uns zu einer Erkenntniss solcher Naturanlagen führen, wenn diese überhaupt möglich ist.
Sollen wir auch hier, gleichsam zur Illustration unserer Kritik, Vermuthungen aussprechen, so dürfte es sich so verhalten, dass dieselben Anlagen, welche den Categorien des Verstandes und der Sinne zu Grunde liegen, auch auf dem Gebiet jener Ideen ihre Rolle spielen. Namentlich werden die Categorien der Einheit, der Vielheit und der Substanz an der Erzeugung der Ideen Antheil haben; denn davon kann für eine aufgeklärte Psychologie gar keine Rede mehr sein, dass der Mensch ein besonderes Vermögen für Erkenntniss des Einzelnen habe, den Verstand; und ein besonderes für die einheitliche Auffassung der Erkenntnisse, die Vernunft. Was aber die Nothwendigkeit der Ideen betrifft, so ist sie in dem Umfange, in welchem Kant sie behauptet, entschieden zu bestreiten. Nur für die Idee der Seele, als eines einheitlichen Subjectes für die Vielheit der Empfindungen, dürfte sie wahrscheinlich gemacht werden können. Für die Idee Gottes, sofern der Welt ein vernünftiger Urheber entgegengesetzt wird, besteht diese Naturanlage keineswegs. Das beweisen nicht nur die Materialisten durch ihr blosses Vorhandensein; es beweisen es auch viele der grössten Denker des Alterthums und der Neuzeit: ein Demokrit, Heraklit, Empedokles, Spinoza, Fichte, Hegel. So weit die letzteren beiden auch in der Hauptfrage – dem Astronomen Tycho vergleichbar – hinter Kant zurückgeschritten sind, so dienen sie uns hier doch als Beispiele tüchtiger, dem Abstracten zugewandter Denker, welche das Ideal der reinen Vernunft von einem vernünftigen Urheber des Weltganzen in Kants Sinne keineswegs bestätigen.
Bei der Besprechung der Idee der Welt als einer Totalität aller Erscheinungen in ihrem Zusammenhange nach Ursache und Wirkung sucht Kant nun auch das Problem der Willensfreiheit zu lösen. Gerade dies Problem spielt aber in dem materialistischen Streit der Gegenwart eine grosse Rolle, und während die Materialisten sich an die einfache Verneinung des freien Willens zu halten pflegen, berufen sich ungeschickte Gegner oft genug auf Kant, als ob dieser das Vorhandensein eines freien Willens in unwiderleglicher Weise bewiesen hätte. Nothwendig muss es nach beiden Seiten hin aufklärend wirken, wenn es uns gelingt, Kants wahre Ansicht mit einigen festen und übersichtlichen Zügen zu zeichnen.
In der Erscheinungswelt hängt Alles nach Ursache und Wirkung zusammen. Hiervon macht der Wille des Menschen keine Ausnahme. Er ist dem Naturgesetz ganz und gar unterworfen. Aber dies Naturgesetz selbst mit der ganzen Zeitfolge der Ereignisse ist nur ein Product der Wechselwirkung zwischen unserer Organisation und den wirklichen Dingen, deren wahres Wesen uns verborgen bleibt. Die Naturanlage unserer Vernunft führt dazu, neben der Welt, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, noch eine eingebildete Welt anzunehmen. Diese eingebildete Welt ist, sofern wir uns von ihr irgend welche bestimmte Vorstellungen machen, eine Welt des Scheines, ein Hirngespinnst. Sofern wir sie aber nur als den Begriff der jenseit unserer Erfahrung liegenden Natur der Dinge ansehen, ist sie mehr als Hirngespinnst; denn eben weil die Erscheinungswelt ein Product unserer Organisation ist, eben weil wir dies entdecken können, müssen wir auch eine von den Zuthaten unserer Anschauungen und Categorien unabhängige Welt, die »intelligible« Welt annehmen können.
In diese intelligible Welt versetzt Kant die Willensfreiheit, d. h. er setzt sie aus der Welt, die wir im gewöhnlichen Sinne die wirkliche nennen, aus unserer Erscheinungswelt ganz und gar heraus. In der letzteren hängt Alles nach Ursache und Wirkung zusammen. Diese allein kann, von der Vernunftkritik und Metaphysik abgesehen, Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung sein; sie allein kann einem Urtheil über menschliche Handlungen im täglichen Leben, bei ärztlichen, gerichtlichen Untersuchungen u. dgl. zu Grunde gelegt werden.
Ganz anders ist es auf dem practischen Gebiete, im Kampf mit den eigenen Leidenschaften, in der Erziehung, oder wo immer es darauf ankommt, nicht über den Willen zu urtheilen, sondern eine sittliche Wirkung auszuüben. Da müssen wir von der Thatsache ausgehen, dass wir ein Gesetz in uns vorfinden, welches uns bedingungslos gebietet, wie wir handeln sollen. Dies Gesetz muss aber mit der Vorstellung verbunden sein, dass es auch erfüllt werden kann. » Du kannst, denn du sollst«, spricht die innere Stimme; nicht »du sollst, denn du kannst«; weil das Pflichtgefühl von unserer Kraft ganz unabhängig vorhanden ist. Ob Kant Recht daran hatte, den Gedanken der Pflicht seiner ganzen practischen Philosophie zu Grunde zu legen, lassen wir einstweilen dahingestellt. Wir betonen nur die Thatsache. Bei dem ungeheuren Einfluss, den der verstandene wie der missverstandene Kant auf die Behandlung dieser Fragen geübt hat, ersparen wir uns und unsern Lesern endlose Erörterungen über neuere Streitigkeiten, wenn es uns gelingt, den wesentlichen Gedankengang Kants scharf und vollständig hinzustellen, ohne uns in das Labyrinth seiner endlosen, an die Schnörkel der Gothik erinnernden Begriffsbestimmungen zu verlieren.
Ganz unabhängig von aller Erfahrung glaubt Kant im Bewusstsein des Menschen das Sittengesetz zu finden, welches als eine innere Stimme schlechterdings gebietet, aber freilich nicht schlechterdings erfüllt wird. Gerade dadurch aber, dass der Mensch sich die unbedingte Erfüllung des Sittengesetzes als möglich denkt, wird allerdings auch ein bedingter Einfluss auf seine wirkliche, nicht bloss eingebildete, Vervollkommnung ausgeübt. Die Vorstellung des Sittengesetzes können wir nur als ein Element des erfahrungsmässigen Denkprocesses betrachten, welches mit allen andern Elementen, mit Trieben, Neigungen, Gewohnheiten, Einflüssen des Augenblicks u. s. w. zu kämpfen hat. Und dieser Kampf mit sammt seinem Resultat – der sittlichen oder unsittlichen Handlung – folgt in seinem ganzen Verlauf den allgemeinen Naturgesetzen, von denen der Mensch in dieser Beziehung gar keine Ausnahme macht. Die Vorstellung des Unbedingten hat also erfahrungsmässig nur eine bedingte Kraft; aber diese bedingte Kraft ist eben doch um so stärker, je reiner, klarer und stärker der Mensch jene unbedingt befehlende Stimme in sich vernehmen kann. Die Vorstellung der Pflicht, welche uns zuruft: Du sollst, kann aber unmöglich klar und stark bleiben, wenn sie nicht mit der Vorstellung der Ausführbarkeit dieses Verbotes verbunden ist. Eben deshalb müssen wir uns hinsichtlich der Sittlichkeit unseres Handelns ganz und gar in die intelligible Welt versetzen, in welcher allein Freiheit denkbar ist.
Die Grossartigkeit dieser Anschauung verdient auch dann Bewunderung, wenn wir ihr nicht völlig beipflichten. Wir begreifen die Gewalt, welche eine solche Energie des sittlichen Bewusstseins über Männer wie Schiller und Körner ausüben konnte. Wir sehen die Möglichkeit einer völligen Beseitigung des Materialismus in demselben Augenblicke, in welchem ihm das ganze Terrain, auf dem er unüberwindlich ist, rückhaltlos und vollständig eingeräumt wird. Aber diese Möglichkeit ist doch immer nur eine unter vielen. Das scharfe Ende der Sichel, welche den Materialismus zugleich mit dem Idealismus an der Wurzel abschneidet, liegt doch immer in der Kritik, d. h. in der gebändigten und methodisch gewordenen Skepsis. Diese lehrt uns, dass unser ganzes auf Sinne und Verstand gegründetes Erkennen uns nur eine Seite der Wahrheit zeigt. Die andern können wir weder durch Wissenschaft, noch durch Glauben, noch durch Metaphysik, noch durch irgend ein anderes Mittel erkennen. Wenn aber unser Dichten und Handeln Ideen erzeugt und fordert, die jenseit aller Erfahrung liegen, so darf wenigstens keine materialistische Metaphysik darüber zu Gericht sitzen. Es giebt keine Wahrheit, welche im Reich des Schönen und Guten eine absolute Herrschaft üben dürfte. Selbst wenn man jemals dahin käme, das Entstehen einer Idee aus psychologischen und physiologischen Bedingungen vollständig zu erklären, so wäre damit die Idee selbst weder erklärt, noch beurtheilt. Der Bildhauer vermag aus der Anatomie und Physiologie Nutzen zu ziehen; aber sein Urtheil über die Schönheit des Menschenleibes wird er niemals von der Einsicht in ihre physikalischen Bedingungen abhängig machen. Mit dem metaphysischen Satz von der Einheit des Schönen, Guten und Wahren ist hier vollends ganz und gar nichts auszurichten; denn dieser Satz selbst ist nichts als eine transscendentale Idee, ein Glaubensartikel, dessen Heimath in die intelligible Welt gehört, dessen Annahme unser Gemüth befriedigen kann, der aber in der Erfahrung ebenso oft widerlegt, als bestätigt wird. Das Recht aber, welches Kant seiner Moralphilosophie zusprach, kommt jeder andern Moralphilosophie ebenfalls zu, und wenn Kant glaubte, die seinige absolut bewiesen zu haben, so begeht er darin nur den gewöhnlichen Irrthum aller Metaphysiker.
Kants eigentliche That haben wir wiederholt nach seiner eigenen Anleitung mit der des Kopernikus verglichen. Materialist und Idealist konnten früher darüber streiten, ob die Seele unsterblich sei, allein sie waren darin einig, dass der Glaube an die Unsterblichkeit mit den Resultaten des Erkennens steht und fällt; sie konnten darüber streiten, ob die Welt äussere Wirklichkeit habe, allein sie waren darin einig, dass es sich nicht verlohnen würde, seinen Sinn der Natur zuzuwenden, wenn ihr die äussere Wirklichkeit fehle.
Kant wandte nicht nur das Verhältniss zwischen der Erfahrung und unsern Begriffen um, sondern im tiefsten Zusammenhange damit auch das Verhältniss von Erkennen und Handeln.
Die Erscheinungswelt folgt aus unsern Begriffen: eben deshalb ist sie der wichtigste und lohnendste Gegenstand unserer Erkenntniss. Nur eine relative Wahrheit ist uns zugänglich und diese liegt nur in der Erfahrung.
Die Ideen geben uns keine Erkenntniss, sondern führen uns in eine eingebildete Welt; grade darin liegt ihr Nutzen. Wir betrügen uns, wenn wir durch sie unser Wissen erweitern wollen; wir bereichern uns, wenn wir sie zur Basis unseres Handelns machen.
Das einzige Absolute, was der Mensch hat, ist das Sittengesetz, und von diesem festen Punkte aus ist in die schwankende Welt der Ideen eine eben so sichere Ordnung zu bringen, wie sie für die Verstandeswelt durch die Einrichtung unseres Geistes schon gegeben ist.
In diesen drei Sätzen dürfte der Kern dieser Philosophie liegen. Die beiden ersten enthalten das Bleibende; der dritte das Subjective und Zeitgemässe. Bleibend ist aber auch hier die Errungenschaft, dass das Ideale nicht mehr nach vermeintlichen Beweisen, sondern nach seinen Beziehungen zu den sittlichen Zwecken der Menschheit beurtheilt wird.