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England, Frankreich und die Niederlande, die wahren Stammsitze der neueren Philosophie, traten gegen Ende des vorigen Jahrhunderts vom Schauplatz metaphysischer Kämpfe zurück. Seit Hume hat England keinen grossen Philosophen mehr erzeugt, man müsste denn in unseren Tagen dem scharfsinnigen und energischen Mill diesen Rang einräumen wollen. Eine ähnliche Kluft liegt in Frankreich zwischen Diderot und Comte. In beiden Ländern finden wir inzwischen auf andern Gebieten die grossartigsten Fortschritte und Umwälzungen. Hier der beispiellose Aufschwung der Industrie und des Welthandels unter Consolidation aller Verhältnisse; dort die Europa erschütternde Revolution und die Entwickelung einer furchtbaren Militärmacht: das waren zwei sehr verschiedene, ja entgegengesetzte Wendungen nationaler Entwickelung, die doch beide darin übereinkamen, dass sich die »Westmächte« ganz und gar den Aufgaben des realen Lebens zuwandten. Uns Deutschen blieb indess die Metaphysik.
Und doch würde es die höchste Undankbarkeit sein, wenn wir auf jene grosse Epoche rein geistigen Strebens mit Geringschätzung oder auch nur mit Verstimmung zurückblicken wollten. Es ist wahr, dass wir, wie Schillers Dichter, bei der Theilung der Welt leer ausgingen. Es ist wahr, dass der Rausch des Idealismus bei uns – vielleicht dürfen wir sagen, sammt seinen Nachwehen –jetzt vorüber ist, und dass uns der geistige Aufenthalt im Himmel des Zeus nicht mehr genügt. Später als die andern Nationen treten wir ins männliche Alter, aber wir haben auch eine schönere, reichere, wenn auch fast zu schwärmerische Jugend verlebt, und es muss sich zeigen, ob unser Volk durch jene geistigen Genüsse entnervt ist, oder ob es eben in seiner idealen Vergangenheit einen unerschöpflichen Quell von Kraft und Lebensfrische besitzt, der nur in die Bahnen neuen Schaffens gelenkt werden muss, um grossen Aufgaben zu genügen. Die eine practische That, welche mitten in jene Periode des Idealismus fällt, die Volkserhebung in den Befreiungskriegen trägt allerdings den Character einer träumerischen Halbheit, aber sie verräth zugleich eine gewaltige Kraft, die sich ihres Zieles nur noch dunkel bewusst ist.
Merkwürdig ist es, wie unsere nationale Entwicklung regelmässiger als die des alten Hellas, vom Idealsten ausging und sich dem Realen mehr und mehr näherte. Zuerst die Dichtung, deren grosse Glanzperiode in dem gemeinsamen Schaffen eines Göthe und Schiller schon ihren Höhepunkt erreicht hatte, als die Philosophie, durch Kant in Schwung gebracht, ihre stürmische Bahn begann. Nach dem Erlöschen der titanenhaften Bestrebungen Schellings und Hegels trat die ernste Forschung der positiven Wissenschaften in den Vordergrund. Dem alten Ruhm Deutschlands in der philologischen Kritik folgten jetzt glänzende Eroberungen auf allen Gebieten des Wissens. Niebuhr, Ritter und die beiden Humboldt dürfen hier vor Allen als Bahnbrecher genannt werden. Nur in den exacten Wissenschaften, die uns bei der Frage des Materialismus am nächsten berühren, soll Deutschland hinter England und Frankreich zurückgeblieben sein, und unsere Naturforscher schieben die Schuld dafür gern auf die Philosophie, die mit ihren Phantasiegebilden Alles überwuchert und den Geist gesunder Forschung erstickt habe. Wie sich das verhält, werden wir schon noch sehen. Hier mag es genügen, zu bemerken, dass jedenfalls die exacten Wissenschaften den Aufgaben des practischen Lebens, die uns gegenwärtig vorliegen, am nächsten stehen, und dass ihre späte Entfaltung in Deutschland dem Entwicklungsgang, den wir hier andeuteten, vollständig entspricht.
Wir haben im ersten Buche gesehen, wie der Materialismus in Deutschland früh schon Boden gefasst hatte; wie er keineswegs erst aus Frankreich hinübergebracht wurde, sondern, von England her direct angeregt, eigentümliche Wurzeln geschlagen hatte. Wir haben gesehen, wie der materialistische Streit des vorigen Jahrhunderts gerade in Deutschland besonders lebhaft geführt wurde, und wie die herrschende Philosophie, trotz ihrer scheinbar so leichten Triumphe, in diesem Kampf nur ihre eigene Schwäche bewies.
Der Materialismus nahm ohne Zweifel in der allgemeinen Denkungsweise noch zu, während schon längst durch Klopstock auf dem Boden der Poesie der Keim jenes wuchernden Idealismus gelegt war. Dass der Materialismus nicht offen hervortreten konnte, ist bei den damaligen Verhältnissen in Deutschland leicht zu begreifen. Man merkt sein Vorhandensein mehr an den beständigen Bekämpfungen, als an positiven Schöpfungen. Kann man doch Kants ganzes System als einen grossartigen Versuch betrachten, den Materialismus für immer aufzuheben, ohne dafür dem Skepticismus zu verfallen.
Sieht man auf den äusseren Erfolg dieses Versuches, so kann es schon als bedeutend genug erscheinen, dass seit Kants Auftreten bis auf die jüngste Vergangenheit hin in Deutschland der Materialismus fast wie weggeblasen erschien. Die vereinzelten Versuche, die Entstehung des Menschen naturalistisch durch Entwicklung einer Thierform zu erklären, unter denen derjenige Okens (1819) am meisten Aufsehen machte, gehören keineswegs in den Zusammenhang eigentlich materialistischer Ansichten. Vielmehr wurde durch Schelling und Hegel der Pantheismus zur herrschenden Denkweise in der Naturphilosophie, eine Weltanschauung, welche bei einer gewissen mystischen Tiefe zugleich die Gefahr phantastischer Ausschweifungen fast im Princip schon in sich schliesst. Statt die Erfahrung und die Sinnenwelt vom Idealen streng zu scheiden und dann in der Natur des Menschen die Versöhnung dieser Gebiete zu suchen, vollzieht der Pantheist die Versöhnung von Geist und Natur durch einen Machtspruch der dichtenden Vernunft ohne alle kritische Vermittlung. Daher denn der Anspruch auf Erkenntniss des Absoluten, den Kant durch seine Kritik für immer verbannt zu haben glaubte. Freilich wusste Kant recht gut, und er sagte es unzweideutig voraus, dass seine Philosophie unmöglich einen sofortigen Sieg erwarten könne, da doch Jahrhunderte vergangen seien, bevor Kopernikus mit seiner Theorie über das entgegenstehende Vorurtheil gesiegt habe. Würde der ebenso nüchterne als starke Denker sich aber haben träumen lassen, dass kaum fünfundzwanzig Jahre nach der ersten Verbreitung seiner Kritik ein Werk wie Hegels Phänomenologie des Geistes in Deutschland möglich sein würde? Und doch war es sein eigenes Auftreten, welches unsere metaphysische Sturm- und Drangperiode hervorrief. Der Mann, den Schiller einem bauenden Könige verglich, gab nicht nur den »Kärrnern« der Interpretation Nahrung, sondern er zeugte auch eine geistige Dynastie ehrgeiziger Nachahmer, welche, den Pharaonen gleich, eine Pyramide um die andere in die Lüfte thürmten, und nur vergassen, sie auf den festen Erdboden zu begründen.
Es ist hier nicht unsere Sache, zu entwickeln, wie es kam, dass Fichte aus Kants Philosophie grade einen der dunkelsten und zweifelhaftesten Punkte – die Lehre von der ursprünglichen synthetischen Einheit der Apperception, herausgriff, um sein Ich=Ich daraus abzuleiten, wie Schilling aus dem A = A – gleichsam aus einer hohlen Nuss – das Weltall hervorzauberte; wie Hegel Sein und Nichtsein für identisch erklären durfte unter dem jubelnden Zujauchzen der wissbegierigen Jugend unserer Universitäten. Die Zeit, wo man auf allen Strassenecken der Musensitze von Ich und Nichtich, vom Absoluten und vom Begriff reden hörte, ist vorüber, und der Materialismus kann uns nicht veranlassen, sie unsern Lesern vorzuführen. Jenes ganze philosophische Zeitalter hat für die exacte Beurtheilung der materialistischen Frage auch nicht ein einziges Moment von bleibendem Werth zu Tage gefördert. Jede Beurtheilung des Materialismus vom Standpunkte der dichtenden Metaphysik kann nur den Zweck einer Auseinandersetzung zwischen zwei coordinirten Standpunkten haben. Wo wir nicht, wie bei Kant, einen höheren Gesichtspunkt der Betrachtung gewinnen können, müssen wir uns dergleichen Excurse versagen.
Dass wir bei alledem auf die Leistungen eines Schelling und Hegel, besonders aber des letzteren, nicht mit der Geringschätzung herabsehen können, welche jetzt fast Mode ist, liegt auf einem ganz andern Boden. Ein Mann, welcher der schwärmerischen Neigung einiger Decennien einen überwältigenden und Alles fortreissenden Ausdruck giebt, kann niemals schlechthin unbedeutend sein. Wenn man aber allein den Einfluss Hegels auf die Geschichtschreibung, insbesondere auf die Behandlung der Culturgeschichte betrachtet, so muss man gestehen, dass dieser Mann in seiner Weise auch die Wissenschaften gewaltig gefördert hat. Die Poesie der Begriffe hat für die Wissenschaft, wenn sie aus einer reichen und allseitigen wissenschaftlichen Bildung hervorgeht, einen hohen Werth. Die Begriffe, welche der Philosoph dieses Schlages erzeugt, sind mehr als todte Rubriken für die Resultate der Forschung; sie haben eine Fülle von Beziehungen zum Wesen unserer Erkenntniss, und damit zum Wesen derjenigen Erfahrung, die uns allein möglich ist. Wenn die Forschung sie richtig benutzt, so kann sie niemals durch sie gehemmt werden; lässt sie sich aber von einem philosophischen Machtspruch in Fesseln schlagen, so fehlt ihr das eigenthümliche Leben. Unsere Lehre von der Ungültigkeit aller Metaphysik gegenüber der strengen Empirie, wo es sich irgend um eine bestimmte Erkenntniss handelt, liegt unbewusst in der menschlichen Natur. Dem deutlich gesehenen, mehr noch dem selbst gemachten Experiment glaubt jeder. Die Forschung vermochte in ihren ersten, kindlichen Anfängen, die durch Jahrtausende verhärteten Bande der aristotelischen Metaphysik zu sprengen, und ein Hegel sollte sie in ihrem Mannesalter gleichsam durch blosse Geschwindigkeit aus Deutschland hinausgebracht haben? Wir werden im folgenden Capitel schon besser sehen, wie es sich damit verhält!
Hier stehen wir denn nun vor der grossen Frage, wie der Materialismus nach Kant wieder aufkam, und wie sich der Materialismus der Gegenwart zu den Resultaten unserer Geschichte verhält.
Die meisten unserer Materialisten werden a priori und vor jeder Prüfung geneigt sein, den Zusammenhang ihrer Ansichten mit De la Mettrie oder gar mit dem alten Demokrit rundweg abzuleugnen. Die Lieblingsansicht ist die, dass der heutige Materialismus ein einfaches Ergebniss der neueren Naturwissenschaften sei, das eben deshalb schon mit den verwandten Ansichten älterer Zeiten gar nicht in Vergleich zu bringen sei, weil man die gegenwärtigen Naturwissenschaften früher nicht hatte. Wir hätten dann unser Buch gar nicht zu schreiben brauchen. Wollte man uns aber gestatten, die entscheidenden Grundsätze an den einfacheren Anschauungen früherer Zeiten successiv zu entwickeln, so hätten wir mindestens das nächste Capitel vor das gegenwärtige stellen müssen.
Hüten wir uns vor einem naheliegenden Missverständnisse! Wenn wir den geschichtlichen Zusammenhang behaupten, so fällt uns damit natürlich nicht ein, etwa Büchners »Kraft und Stoff« auf eine heimliche Ausnutzung des homme machine zurückzuführen. Nicht einmal eine Anregung durch die Lesung solcher Schriften, ja nicht einmal die leiseste Kenntniss derselben ist nöthig, um einen geschichtlichen Zusammenhang anzunehmen. Wie die Wärmestrahlen der glimmenden Kohle von dem einen Brennpunkte sich nach allen Seiten zerstreuen, um in dem andern, vom elliptischen Spiegel zurückgeworfen, den glimmenden Zunder zu entfachen, so verliert sich die Wirkung eines Schriftstellers – und besonders des Philosophen – in das Bewusstsein der Menge, und aus diesem Bewusstsein heraus wirken die zersplitterten Sätze und Anschauungen auf die später reifenden Individuen, deren Empfänglichkeit und Lebensstellung für die Sammlung solcher Strahlen entscheiden kann. Dass unser Gleichniss hinkt, ist selbstverständlich, aber es erläutert doch die eine Seite der Wahrheit. Nun die andere!
Wenn Moleschott sagen konnte, dass der Mensch die Summe von Aeltern und Amme, von Art und Zeit, von Luft und Wetter, von Schall und Licht, von Kost und Kleidung sei, so wird man für die geistigen Einflüsse einen ähnlichen Satz aufstellen dürfen. »Der Philosoph ist die Summe von Ueberlieferung und Erfahrung, von Gehirnconstruction und Umgebung, von Gelegenheit und Studium, von Gesundheit und Gesellschaft«. So ungefähr könnte ein Satz lauten, der jedenfalls handgreiflich genug darstellte, dass auch der materialistische Philosoph sein System nicht lediglich seinem Studium danken kann. Im geschichtlichen Zusammenhang der Dinge schlägt ein Tritt tausend Fäden, und wir können nur einen gleichzeitig verfolgen. Ja, wir können selbst dies nicht immer, weil der gröbere, sichtbare Faden sich in zahllose Fädchen verzweigt, die sich stellenweise unserm Blick entziehen. Dass der Einfluss der neueren Naturwissenschaften auf die besondere Ausbildung und namentlich auf die Verbreitung des Materialismus in weiteren Kreisen ein sehr grosser ist, versteht sich von selbst. Unsere Darstellung wird aber hinlänglich zeigen, dass die meisten Fragen, um die es sich hier handelt, ganz die alten sind, und dass nur das Material, nicht aber Ziel und Weg der Beweisführung sich geändert hat.
Will man einen bestimmten Zeitpunkt angeben, der sich als das Ende der idealistischen Periode in Deutschland bezeichnen lässt, so bietet sich kein so entscheidendes Ereigniss dar, als die französische Julirevolution des Jahres 1830.
Die idealistische Vaterlandsschwärmerei aus den Zeiten der Befreiungskriege war in der Kerkerluft versauert, im Ausland verschmachtet und unter der Gleichgültigkeit der Massen verflüchtigt. Die Philosophie hatte ihren Zauber verloren, seit sie in den Dienst des Absolutismus getreten war. Die grossartige Abstraction, welche den Ausspruch geschaffen hatte, dass das Wirkliche zugleich das Vernünftige ist, hatte im deutschen Norden lange genug die kleinlichsten Bütteldienste gethan, um mit der Ernüchterung das Misstrauen gegen die Philosophie allgemein zu machen. In der poetischen Literatur wurde man der Romantik überdrüssig und Heines Reisebilder hatten einen Ton der Frivolität angeschlagen, den man in dem Vaterlande Schillers kaum hätte suchen sollen. Der Verfasser dieses charakteristischen Zeitproductes nahm seit 1830 seinen Sitz in Paris und es wurde Mode, an Deutschlands Zukunft zu verzweifeln und das realistischere Frankreich als das Musterland der neuen Zeit zu betrachten. Um dieselbe Zeit begann der Unternehmungsgeist auf dem Gebiete des Handels und der Industrie sich zu regen. Die materiellen Interessen entfalteten sich, und wie in England verbündeten sie sich bald mit den Naturwissenschaften gegen Alles, was den Menschen von seinen nächsten Aufgaben abzulenken schien. Dennoch beherrschte die Literatur noch auf einige Decennien hinaus den Gesichtskreis der Nation; aber an die Stelle des Classischen wie des Romantischen drängte sich das junge Deutschland. Die Strahlen materialistischer Denkweise sammelten sich. Männer wie Gutzkow, Th. Mundt und Laube brachten in ihren Schriften manches Ferment epikureischer Denkweise herbei. Der letztere namentlich zerrte dreist an dem ehrwürdigen Mantel, mit dem unsere Philosophie die Schäden ihrer Logik verhüllt hatte.
Dennoch sind es gerade Epigonen der grossen philosophischen Epoche, auf die man gewöhnlich die Erneuerung des Materialismus zurückführt. Czolbe hält D. F. Strauss für den Vater unseres neueren Materialismus; Andere nennen mit mehr Recht Feuerbach. Gewiss ist bei der Nennung dieser Namen die Rücksicht auf religiöse Streitfragen mehr als billig massgebend gewesen; allein Feuerbach steht allerdings dem Materialismus so nahe, dass er eine besondere Betrachtung fordert.
Ludwig Feuerbach, der Sohn des berühmten Criminalisten, verrieth früh eine ernste, strebsame Natur und mehr Character als Geist und Lebendigkeit. In den Strudel der Begeisterung für Hegel hineingezogen, trat er als zwanzigjähriger Student der Theologie die Wallfahrt nach Berlin an, wo Hegel damals (1824) bereits mit der vollen Würde des Staatsphilosophen ausgestattet war. Philosopheme, in welchen nicht das Sein durch das Nichtsein gesetzt und das Positive aus der Negation der Negation gewonnen wurde, hiessen in offiziellen Erlassen »seicht und oberflächlich«. Feuerbachs gründliche Natur arbeitete sich aus den Hegelschen Abgründen zu einer gewissen »Oberflächlichkeit« empor, ohne jedoch jemals die Spuren des Hegelschen Tiefsinns zu verlieren. Bis zu einer klaren Logik hat Feuerbach es niemals gebracht. Der Nerv seines Philosophirens blieb, wie in der idealistischen Epoche überall, die Divination. Ein »folglich« hat bei Feuerbach nicht, wie bei Kant und Herbart den Sinn eines wirklichen oder doch beabsichtigten Verstandesschlusses, sondern es bedeutet, wie bei Schelling und Hegel, einen in Gedanken vorzunehmenden Sprung. Sein System schwebt daher auch in einem mystischen Dunkel, welches durch die Betonung der Sinnlichkeit und Anschaulichkeit keineswegs hinlänglich erhellt wird.
»Gott, war mein erster Gedanke, die Vernunft, mein zweiter, der Mensch, mein dritter und letzter Gedanke.« Mit diesem Ausspruch bezeichnet Feuerbach nicht sowohl verschiedene Phasen seiner Philosophie, als vielmehr nur die Stadien seiner jugendlichen Entwicklungsgeschichte; denn schon bald nach seiner Habilitation (1828) trat er offen mit den Grundsätzen der Menschheitsphilosophie hervor, an denen er seitdem unerschütterlich festhielt. Die neue Philosophie soll sich zur Hegelschen Vernunft-Philosophie verhalten, wie diese zur Theologie. Es soll also jetzt eine neue Epoche anbrechen, in welcher nicht nur die Theologie, sondern auch die Metaphysik als überwundener Standpunkt erscheint.
Merkwürdig ist hier, wie haarscharf diese Auffassung mit den Lehren zusammentrifft, welche um dieselbe Zeit der edle Comte, ein vereinsamter Denker und Menschenfreund, im Kampf mit Armuth und Trübsinn, in Paris zur Geltung zu bringen suchte. Auch Comte spricht von drei Epochen der Menschheit. Die erste ist die theologische, die zweite die metaphysische. Die dritte und letzte ist nach Comte die positive, d. h. diejenige, in welcher der Mensch sich mit seinem ganzen Sinnen und Streben der Wirklichkeit zuwendet und in der Lösung realer Aufgaben seine Befriedigung findet.
Verwandt mit Hobbes setzt Comte das Ziel aller Wissenschaft in die Erkenntniss der Gesetze, welche die Erscheinungen regeln. »Sehen, um vorauszusehen; forschen, was ist, um zu schliessen, was sein wird«, ist ihm die Aufgabe der Philosophie. Feuerbach dagegen erklärt: »Die neue Philosophie macht den Menschen mit Einschluss der Natur, als der Basis des Menschen, zum alleinigen, universalen und höchsten Gegenstand der Philosophie – die Anthropologie also, mit Einschluss der Physiologie, zur Universalwissenschaft.«
In dieser einseitigen Hervorhebung des Menschen liegt ein Zug, der aus der Hegelschen Philosophie stammt, und der Feuerbach von den eigentlichen Materialisten trennt. Es ist eben doch wieder die Philosophie des Geistes, die uns in der Form einer Philosophie der Sinnlichkeit hier begegnet. Der ächte Materialist wird stets geneigt sein, seinen Blick auf das grosse Ganze der äusseren Natur zu richten und den Menschen als eine Welle im Ocean ewiger Stoffbewegung zu betrachten. Die Natur des Menschen ist für den Materialisten nur ein Specialfall der allgemeinen Physiologie, wie das Denken nur ein Specialfall in der Kette physischer Lebensprocesse. Er reiht die ganze Physiologie am liebsten ein in die allgemeinen Erscheinungen der Physik und Chemie, und gefällt sich eher darin, den Menschen zu viel, als zu wenig in die Reihe der übrigen Wesen zurücktreten zu lassen. Allerdings wird er in der practischen Philosophie ebenfalls lediglich auf die Natur des Menschen zurückgehen, aber er wird auch da wenig Neigung haben, dieser Natur, wie Feuerbach es that, göttliche Attribute beizulegen.
Der grosse Rückschritt Hegels, verglichen mit Kant, besteht darin, dass er den Gedanken einer allgemeineren Erkenntnissweise der Dinge gegenüber der menschlichen gänzlich verlor. Sein ganzes System bewegt sich nur innerhalb unserer Gedanken und Phantasien über die Dinge, denen hochklingende Namen gegeben werden, während der Unterschied zwischen den Dingen selbst und der Art, wie sie uns erscheinen, nicht zur Geltung kommt. Der Gegensatz zwischen »Wesen« und »Schein« ist bei Hegel nichts als ein Gegensatz zweier menschlicher Auffassungsformen, der sich alsbald wieder verwischt. Die Erscheinung wird definirt, als der mit dem Wesen erfüllte Schein und die Wirklichkeit ist da, wo die Erscheinung ganze und adäquate Manifestation des Wesens ist. Der Aberglaube, dass es dergleichen geben könne, wie »ganze und adäquate Manifestation des Wesens« in der Erscheinung ist auch auf Feuerbach übergegangen. Er erklärt jedoch die Wirklichkeit schlechthin durch Sinnlichkeit, und dies ist es, was ihn den Materialisten nähert.
» Wahrheit, Wirklichkeit, Sinnlichkeit sind identisch. Nur ein sinnliches Wesen ist ein wahres, ein wirkliches Wesen, nur die Sinnlichkeit Wahrheit und Wirklichkeit.« »Nur durch die Sinne wird ein Gegenstand im wahren Sinne gegeben – nicht durch das Denken für sich selbst.« »Wo kein Sinn, ist kein Wesen, kein wirklicher Gegenstand.« – Wenn die alte Philosophie zu ihrem Ausgangspunkte den Satz hatte: Ich bin ein abstractes, ein nur denkendes Wesen; so beginnt dagegen die neue Philosophie mit dem Satze; » Ich bin ein wirkliches, ein sinnliches Wesen: der Leib gehört zu meinem Wesen; ja, der Leib in seiner Totalität ist mein Ich, mein Wesen selber.« – »Wahr und göttlich ist nur, was keines Beweises bedarf, was unmittelbar durch sich selbst gewiss ist, unmittelbar für sich spricht und einnimmt, unmittelbar die Affirmation, dass es ist, nach sich zieht – das schlechthin Entschiedene, schlechthin Unzweifelhafte, das Sonnenklare. Aber sonnenklar ist nur das Sinnliche; nur, wo die Sinnlichkeit anfängt, hört aller Zweifel und Streit auf. Das Geheimniss des unmittelbaren Wissens ist die Sinnlichkeit.«
Diese Sätze, die in Feuerbachs Grundsätzen der Philosophie der Zukunft (1849) fast so aphoristisch stehen, wie wir sie hier zusammenstellen, klingen materialistisch genug. Dennoch ist wohl zu beachten, dass Sinnlichkeit und Materialität nicht identische Begriffe sind. Formen sind nicht minder Gegenstand der Sinne, als Stoffe; ja, die wahre Sinnlichkeit giebt uns immer die Einheit von Form und Stoff. Wir gewinnen diese Begriffe erst durch Abstraction, durch das Denken. Durch ferneres Denken gelangen wir dann dazu, ihr Verhältniss in irgend einer bestimmten Weise aufzufassen. Wie Aristoteles allenthalben der Form den Vorrang giebt, so der gesammte Materialismus dem Stoff. Es gehört zu den unbedingt nöthigen Kriterien des Materialismus, dass nicht nur Kraft und Stoff als unzertrennlich gedacht werden, sondern dass die Kraft schlechthin als eine Eigenschaft des Stoffes gefasst wird, und dass weiterhin aus der Wechselwirkung der Stoffe mit ihren Kräften alle Formen der Dinge abgeleitet werden. Man kann die Sinnlichkeit zum Princip machen, und dabei doch in der wesentlichen Grundlage des Systems Aristoteliker, Spinozist und sogar Kantianer sein. Man nehme nur z. B. an, dass dasjenige, was Kant als Vermuthung ausspricht, Thatsache sei, dass nämlich Sinnlichkeit und Verstand in unserem Wesen eine gemeinsame Wurzel haben. Man gehe dann einen Schritt weiter und leite die Categorien des Verstandes aus der Structur unserer Sinnesorgane ab: so kann dabei immer noch der Satz bestehen bleiben, dass die Sinnlichkeit selbst, welche sonach der ganzen Erscheinungswelt zu Grunde liegt, nur die Art ist, in welcher ein Wesen, dessen wahre Eigenschaften wir nicht kennen, von anderen Wesen afficirt wird. Es steht alsdann kein logischer Grund im Wege, die Wirklichkeit so zu definiren, dass sie mit der Sinnlichkeit zusammentrifft, während man freilich festhalten muss, dass hinter demjenigen, was so für den Menschen Wirklichkeit ist, ein allgemeineres Wesen verborgen ist, welches mit verschiedenen Organen aufgefasst, auch verschieden erscheint. Man könnte sogar die Vernunftideen sammt der ganzen Kant eigenthümlichen Begründung der practischen Philosophie auf das Bewusstsein des Handelnden beibehalten; nur müsste freilich die intelligible Welt unter dem Bilde einer sinnlichen Welt gedacht werden. Statt Kants nüchterner Moral käme dann eine farbenvolle und lebenswarme Religion heraus, deren gedachte Sinnlichkeit zwar nicht die Wirklichkeit und Objectivität der unmittelbaren Sinnlichkeit beanspruchen, wohl aber, gleich Kants Ideen, als eine Vertretung der höheren und allgemeineren Wirklichkeit der intelligiblen Welt gelten könnte.
Bei diesem kleinen Spaziergang durch das Gebiet möglicher Systeme haben wir uns allerdings von Feuerbach ziemlich weit entfernt; aber schwerlich viel weiter, als Feuerbach selbst vom strengen Materialismus entfernt ist. Betrachten wir deshalb auch die idealistische Seite dieser Sinnlichkeitsphilosophie!
»Das Sein ist ein Geheimniss der Anschauung, der Empfindung, der Liebe. – Nur in der Empfindung, nur in der Liebe hat › Dieses‹ – diese Person, dieses Ding – d. h. das Einzelne absoluten Werth, ist das Endliche, das Unendliche – darin und nur darin allein besteht die unendliche Tiefe, Göttlichkeit und Wahrheit der Liebe. In der Liebe allein ist der Gott, der die Haare auf dem Haupte zählt, Wahrheit und Realität« »Die menschlichen Empfindungen haben keine empirische [d. h. bloss empirische], anthropologische Bedeutung im Sinne der alten transscendentalen Philosophie; sie haben ontologische, metaphysische Bedeutung: in den Empfindungen, ja in den alltäglichen Empfindungen, sind die tiefsten und höchsten Wahrheiten verborgen. So ist die Liebe der wahre ontologische Beweis vom Dasein eines Gegenstandes ausser unserm Kopfe – und es giebt keinen andern Beweis vom Sein, als die Liebe, die Empfindung überhaupt. Das, dessen Sein dir Freude, dessen Nichtsein dir Schmerz bereitet, das nur ist.«
Feuerbach hat gewiss auch so viel Nachgedanken gehabt, dass er z. B. die Existenz lebender und denkender Wesen auf dem Jupiter oder in einem fernen Fixsternsystem nicht eben für undenkbar hielt. Wenn dennoch die ganze Philosophie so gestellt wird, als sei der Mensch das einzige, ja das einzig denkbare Wesen von gebildeter, geistiger Sinnlichkeit, so ist das natürlich absichtliche Selbstbeschränkung. Feuerbach ist darin Hegelianer und huldigt im Grunde sammt Hegel dem Grundsatze des alten Protagoras, dass der Mensch das Maass der Dinge sei. Wahr ist ihm, was für den Menschen wahr ist; d. h. was mit menschlichen Sinnen erfasst wird. Deshalb erklärt er, dass die Empfindungen nicht nur anthropologische, sondern metaphysische Bedeutung haben, d. h. dass sie nicht nur als Naturvorgänge im Menschen, sondern als Beweise für die Wahrheit und Wirklichkeit der Dinge zu betrachten sind.
Wollte man Feuerbach die Sinnestäuschungen entgegenhalten, so würde er vielleicht, wie es öfter geschieht, die Schuld dieser Täuschungen auf das Denken schieben, welches die an sich wahren Empfindungen nur falsch deute. Wir werden aber später sehen, dass die Sinne an sich, vor jeder Deutung durch den Gedanken, schon täuschen. Ist nun schon in diesem Punkte sein System nicht wohl haltbar, so steht es noch schlimmer mit dem Versuche, das Geistige auf die sinnliche Empfindung zurückzuführen. Und doch ist gerade dieser Versuch sehr bemerkenswerth.
»Die alte absolute Philosophie hat die Sinne nur in das Gebiet der Erscheinung, der Endlichkeit verstossen und doch hat sie im Widerspruch damit das Absolute, das Göttliche als den Gegenstand der Kunst bestimmt. Aber der Gegenstand der Kunst ist Gegenstand des Gesichts, des Gehörs, des Gefühls. Also ist nicht nur das Endliche, das Erscheinende, sondern auch das wahre, göttliche Wesen Gegenstand der Sinne – der Sinn das Organ des Absoluten.«
»Wir fühlen nicht nur Steine und Hölzer, nicht nur Fleisch und Knochen, wir fühlen auch Gefühle, indem wir die Hände oder Lippen eines fühlenden Wesens drücken; wir vernehmen durch die Ohren nicht nur das Rauschen des Wassers und das Säuseln der Blätter, sondern auch die seelenvolle Stimme der Liebe und Weisheit; wir sehen nicht nur Spiegelflächen und Farbengespenster, wir blicken auch in den Blick des Menschen. Nicht nur Aeusserliches also, auch Innerliches, nicht nur Fleisch, auch Geist, nicht nur das Ding, auch das Ich ist Gegenstand der Sinne. – Alles ist darum sinnlich wahrnehmbar, wenn auch nicht unmittelbar, so doch mittelbar, wenn auch nicht mit den pöbelhaften, rohen, doch mit den gebildeten Sinnen, wenn auch nicht mit den Augen des Anatomen oder Chemikers, doch mit den Augen des Philosophen.«
Hegel war es, der in Kunst, Religion und Philosophie das »Absolute« fand. Ohne dieses Begriffs-Monstrum legitimiren zu wollen, dürfen wir doch bemerken, dass der von Feuerbach gerügte Widerspruch nicht besteht. Das Ideale im Kopf der Juno Ludovisi liegt nicht im Marmor, sondern in der Form desselben; anthropologisch betrachtet nicht in den wahrgenommenen Schattirungen und Linien, nicht in den Empfindungen der Sehnerven und der Augenmuskeln, sondern in dem Verhältniss der Empfindungen, welches entsteht, wenn der Blick den Linien des schönen Objectes folgt. Dieses Verhältniss, die Form der Empfindungsfolge ist vom Stoff der Empfindungen gar nicht unbedingt abhängig. Der erblindete Freund der Antike, der den Torso des Herkules betastete, weil die Augen ihm den früheren Genuss verweigerten, erhielt denselben Eindruck des Idealen in einem andern Empfindungsstoff dargestellt, wie man z. B. die Idee des Cölner Doms wenigstens theilweise durch eine Zeichnung wiedergeben kann, die doch dem Stoff nach ganz etwas anderes ist, als die Trachytmassen des Drachenfels. So ist denn auch zum mindesten kein logischer Widerspruch darin, wenn man in unseren Ideen einen Inhalt finden will, der auch ganz unabhängig von menschlicher Sinnlichkeit überhaupt eine Bedeutung hat, und der sich in dieser nur darstellt, als in einem mehr oder weniger gleichgültigen Material. Dass wir uns dies ganz und gar nicht ausmalen oder irgendwie speciell vorstellen können, hat mit der logischen Frage gar nichts zu schaffen.
Ist es nun nicht mit den geistigen Gefühlen, welche wir in den Empfindungen und unzertrennlich von ihnen erhalten, ganz ähnlich? Wir können zwar nicht streng beweisen, dass das geistig Bedeutsame in ihnen auf einem mathematischen Verhältniss beruht, wie die Harmonie in der Musik; wir haben aber doch ein Recht, uns gegen jede andere Annahme aufzulehnen und diese, als die wahrscheinlichste, festzuhalten.
Wenn nun aber das Geistige in der Form des Sinnlichen läge, hätte nicht dann gerade Feuerbach in der Hauptsache recht? Die Form der Empfindung ist vom Stoff (dem physiologischen Process) unzertrennlich. In der Empfindung wird also auch wirklich das Geistige Gegenstand meiner Sinne; aber weshalb?
Was sind gebildete Sinne? Weshalb sieht der Philosoph in demselben Object etwas anderes, als der Anatom und der Chemiker? Oder, um ein einfacheres Beispiel zu wählen, weshalb sieht der Künstler in einer Landschaft etwas Anderes, als der Oeconom? Jedenfalls beschreiben die Augenachsen beider nach der ersten Orientirung ganz verschiedene Linien: aber das erste Bild auf der Netzhaut ist doch für beide annähernd dasselbe. Der Unterschied stammt vermuthlich aus den früheren Empfindungen, d. h. aus den Veränderungen, welche diese in Folge ihrer eigenthümlichen Form in den Organen zurückgelassen haben. Die Formveränderung des Organs entspricht der Form der Empfindungen. Diese Form ist es, die sich allmählich ausbildet; allein dabei ist die bleibende Form der Organisation das Wesentliche, ohne welches die Empfindungen spurlos aufeinander folgten und überhaupt nichts Geistiges zeugen würden. Sonach bleibt es mindestens willkürlich, wenn man das Geistige in den Act des Sehens, Hörens oder Fühlens verlegt, statt in die dauerhaftere Organisation, oder in das mathematische Verhältniss der Organe.
Der schlimmste Punkt ist im Grunde der, dass Feuerbach neben dem Empfinden noch ganz im Hegelschen Geiste ein durchaus empfindungsloses Denken anerkannt und dadurch in das Wesen des Menschen einen unheilbaren Zwiespalt bringt. Das Vorurtheil, dass es ein empfindungsloses, ganz reines, ganz abstractes Denken gebe, theilt Feuerbach mit der grossen Menge; leider auch mit der grossen Menge der Physiologen und Philosophen. Es passt aber zu seinem System schlechter als zu irgend einem andern. Unsere bedeutendsten Gedanken vollziehen sich gerade in dem feinsten – für die nachlässige Selbstbeobachtung verschwindend feinen – Empfindungsmaterial, während die stärksten Empfindungen nur wenig logischen Gehalt haben. Es dürfte aber schwerlich eine Empfindung geben, in welcher nicht schon eine Beziehung auf andere Empfindungen derselben Classe mit empfunden wird. Wenn ich den Ton einer Glocke höre, wird meine Empfindung schon in ihrer ersten Unmittelbarkeit durch meine Kenntniss der Glocke bestimmt. Eben deshalb hat ein ganz fremdartiger Ton oft etwas so ungemein aufregendes. Das Allgemeine ist im Besondern, das Logische im Physiologischen, wie der Stoff in der Form. Was Feuerbach metaphysisch auseinander reisst, ist blos logisch zu trennen. Es giebt kein reines Denken, welches blos das Allgemeine zum Inhalt hat. Es giebt auch keine Empfindung, welche nichts Allgemeines in sich hätte. Das einzelne Sinnliche, wie Feuerbach es fasst, kommt thatsächlich nicht vor und kann deshalb auch nicht wohl das allein Wirkliche sein.
Sonderbar ist uns immer erschienen, dass intelligente Gegner Feuerbach oft zum Vorwurf gemacht haben, sein System müsse in moralischer Hinsicht nothwendig zum reinen Egoismus führen. Es war eher der umgekehrte Vorwurf zu machen, dass nämlich Feuerbach die Moral des theoretischen Egoismus ausdrücklich anerkannte, während die Consequenz seines ganzen Systems durchaus auf das Entgegengesetzte führen musste. Wer den Begriff des Seins sogar aus der Liebe ableitet, kann die Moral des systeme de la nature unmöglich beibehalten. Feuerbachs eigentliches Moralprincip, dem er freilich gelegentlich gröblich widerspricht, müsste man eher nach dem Pronomen der zweiten Person bezeichnen: er hat den Tuismus erfunden! Hören wir die Grundlage!
»Alle unsere Ideen entspringen aus den Sinnen; darin hat der Empirismus vollkommen Recht, nur vergisst er, dass das wichtigste, wesentlichste Sinnenobject des Menschen der Mensch selbst ist, dass nur im Blicke des Menschen in den Menschen das Licht des Bewusstseins und des Verstandes sich entzündet. Der Idealismus hat daher recht, wenn er im Menschen den Ursprung der Ideen sucht, aber unrecht, wenn er sie aus dem isolirten, als für sich seienden Wesen, als Seele fixirten Menschen, mit einem Worte: aus dem Ich ohne ein sinnlich gegebenes Du ableiten will. Nur durch Mittheilung, nur aus der Conversation des Menschen mit dem Menschen entspringen die Ideen. Nicht allein, nur selbander kommt man zu Begriffen, zur Vernunft überhaupt. Zwei Menschen gehören zur Erzeugung des Menschen – des geistigen so gut, wie des physischen: die Gemeinschaft des Menschen mit dem Menschen ist das erste Princip und Kriterium der Wahrheit und Allgemeinheit.«
»Der einzelne Mensch für sich hat das Wesen des Menschen nicht in sich, weder in sich als moralischem, noch in sich als denkendem Wesen. Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten – eine Einheit, die sich aber nur auf die Realität des Unterschiedes von Ich und Du stützt.«
» Einsamkeit ist Endlichkeit und Beschränktheit, Gemeinschaftlichkeit ist Freiheit und Unendlichkeit. Der Mensch für sich ist Mensch (im gewöhnlichen Sinn); der Mensch mit Mensch – die Einheit von Ich und Du ist Gott.«
Aus diesen Sätzen hätte Feuerbach bei einiger Consequenz entwickeln müssen, dass sich die ganze menschliche Sittlichkeit und das höhere Geistesleben auf Anerkennung des Andern gründet. Statt dessen fiel er in den theoretischen Egoismus zurück. Die Schuld davon ist theils in der Zusammenhanglosigkeit seines Denkens zu suchen, theils in seinem Kampf gegen die Religion. Die Opposition gegen die religiöse Lehre riss ihn dazu fort, die Moral Holbachs gelegentlich anzuerkennen, welche seinem System zuwider ist. Der Mann, welcher in der deutschen Literatur am rücksichtslosesten und consequentesten den Egoismus gepredigt hat, Max Stirner, befindet sich gegen Feuerbach in entschiedener Opposition.
Stirner ging in seinem berüchtigten Werke » Der Einzige und sein Eigenthum« (1845) so weit, jede sittliche Idee zu verwerfen. Alles, was irgendwie, sei es als äussere Gewalt, als Glaube, oder als blosser Begriff sich über das Individuum und seine Willkür stellt, verwirft Stirner als hassenswerthe Schranke seiner selbst. Schade, dass nicht zu diesem Buche – dem extremstem, das wir überhaupt kennen – ein zweiter, positiver Theil geschrieben wurde. Es wäre leichter möglich gewesen, als zur Schellingschen Philosophie; denn aus dem schrankenlosen Ich hinaus kann ich als meinen Willen und meine Vorstellung auch jede Art von Idealismus wieder erzeugen. Stirner betont in der That den Willen dermassen, dass er als Grundkraft des menschlichen Wesens erscheint. Er kann an Schopenhauer erinnern. – So hat Alles seine Kehrseite!
Stirner steht weder zum Materialismus in engerer Beziehung, noch hat sein Buch so viel Einfluss erlangt, dass wir länger bei ihm verweilen dürften. Es ist vielmehr an der Zeit, dass wir uns der Gegenwart zuwenden.
Der Bruch des deutschen Idealismus, den wir vom Jahre 1830 her datiren, ging allmählich in einen Kampf gegen die bestehenden Gewalten in Staat und Kirche über, bei dem der ausgebildete philosophische Materialismus nur eine untergeordnete Rolle spielte. So haben z. B. die Kämpfe der Tübinger Schule auf dem Boden der biblischen Kritik mit dieser Richtung direct gar nichts zu schaffen. Rein theoretisch betrachtet ist auch überhaupt kein Zusammenhang nachzuweisen. Wenn man aber nach den Elementen fragt, welche den materialistischen Streit der Gegenwart geschaffen haben, so wird man finden, dass die verschiedenartigsten Strömungen der Zeit dazu geführt haben.
Im Jahre 1835 erschien Strauss' Leben Jesu gleichzeitig mit Baur's Gnosis. In demselben Jahre erschien Th. Mundts Madonna und Gutzkows Wally, ein Buch, welches dem Autor wegen seiner Angriffe auf das Christentum Festungshaft zuzog. Gleichzeitig mit dem Lärm, den diese Schriften auf den verschiedensten Gebieten erregten, rasselte zwischen Nürnberg und Fürth die erste Locomotive durch Deutschland. In demselben Jahre, in welchem diese Eisenbahn vollendet wurde, beschäftigte man sich in Berlin und Cöln, in Elberfeld und Leipzig und etwas später sogar in Wien aufs angelegentlichste mit der grossen Verkehrsfrage. Hier wurde eine Gesellschaft gegründet, dort eine Concession ertheilt; allenthalben interessirte man sich für die Fortschritte des Verkehrs und der Industrie. Man begann, die Grundsätze, die bisher in den Naturwissenschaften und in der Industrie gegolten hatten, auf die Gesellschaft zu übertragen. Quételet gab in seinem Buche über den Menschen, welches ebenfalls 1835 erschien, die Idee einer numerischen Grundlage für die Beurteilung aller psychologischen Facta. Schon zwei Jahre früher war Guerry's Moralstatistik erschienen; doch fand der Belgier in Deutschland mehr Beachtung, als der behutsamer vorgehende Franzose. In der zweiten Hälfte der Dreissiger Jahre beschäftigte sich das industrielle Europa mit der electrischen Telegraphie und mit der Dampfschifffahrt über den Ocean. Auch in den Naturwissenschaften gährte es gewaltig. Lyells geologische Hypothese war seit 1830 gegen die hergebrachten Ansichten in die Schranken getreten. Nur Cuviers Autorität vermochte noch die alte Lehre von den Arten und von dem geringen Alter des Menschengeschlechtes gegen die Combinationen und Entdeckungen kühnerer Zeitgenossen zu behaupten. An all diesen Streitigkeiten nahm Deutschland immer lebhafteren Antheil und die naturphilosophische Selbstgenügsamkeit begann zu schwinden. Aus Liebigs Schule ging ein tüchtiger Chemiker nach dem andern hervor und die organische Chemie begann die Kluft zwischen den Reichen der Natur auszufüllen. J. Müller brach in der Physiologie der chemischen und physikalischen Richtung Bahn, während speciell auf dem Gebiete der Gehirn- und Nervenphysiologie französische Forscher durch die Resultate ihrer Vivisectionen Aufsehen erregten. Flourens, Magendie, Leuret, Longet wetteiferten darin, Thiere des Gehirns zu berauben und dann ihr Benehmen zu beobachten. In Deutschland beeiferte man sich, daraus Schlüsse über die Natur der Seele zu ziehen. Auch für die Reform der Psychiatrik kam der wichtigste Anstoss aus Frankreich; denn nichts war so geeignet, den transscendentalen Träumen des theologisirenden Heinroth und seiner Anhänger für immer ein Ende zu machen, als das Studium der Werke des verdienstvollen Esquirol, die 1838 ins Deutsche übersetzt wurden.
Wie man sieht, kamen die Einflüsse, welche sich damals im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Leben Deutschlands geltend machten, zum grossen Theil von Aussen. Es lag aber in der Gesammtheit unsrer Zustände, dass dasjenige, was anderwärts nur den Eindruck einer wissenschaftlichen Thatsache machte, bei uns sofort zum Ferment einer Gährung der Geister wurde, die beständig zunahm. In den Vierziger Jahren wurde der Drang nach neuen Zuständen aggressiv. Man begnügte sich nicht mehr damit, ein freies Wort zu wagen, eine kühne Idee auszusprechen; sondern man bezeichnete die bestehenden Zustände geradezu als unhaltbar. Seit Ruge mit den Hallischen Jahrbüchern das Signal gegeben, verband sich das Streben nach politischer Freiheit mit wissenschaftlichen und socialen Bestrebungen mancherlei Art zu einem gemeinsamen Sturm der Opposition. Namentlich waren die kirchlichen Zustände Gegenstand des Angriffs und eben deshalb galten materialistische Ideen im Ganzen als willkommne Bundesgenossen, während doch der Hegelianismus und die rationalistische Kritik im Vordergrunde standen. In der Religion war man besonders über die Fesseln entrüstet, welche eine immer allgemeiner werdende Rehabilitationssucht der Wissenschaft anzulegen drohte; in der Politik empörten besonders die Versuche einer unklaren Romantik, die Vorstellungen vergangener Jahrhunderte wieder heraufzubeschwören. Fast konnte es scheinen, als sei ein wissenschaftlicher Drang im Kampf mit den Hemmnissen der Staatsgewalt das Geheimniss der Spannung, die sich bald zu entladen begann. Wie immer wurde die Bewegung in ihrem Fortschreiten idealistischer. Religion und Poesie wurden in den Kampf gerufen. Die politische Dichtung erreichte ihren Höhepunkt. Der Deutsch-Katholicismus machte den ersten Riss; dann zog eine Reihe von Stürmen durch ganz Europa und das Jahr 1848 machte dem längst verhaltenen Groll auf einmal Luft.
Hatte der Materialismus in den Anfängen dieser Bewegung seine Rolle gespielt, so trat er dagegen im Augenblick der entscheidenden Kämpfe völlig hinter idealistischen Bestrebungen zurück. Der Rückschlag der Reaction war es, welcher die Gemüther dazu stimmte, die Frage des Materialismus wieder einmal mit Eifer aufzugreifen und das Für und Wider allseitig, wenn auch nicht eben gründlich, zu erörtern.
Schon öfter konnte man in Deutschland einen eigentümlichen Wechsel in der Richtung des allgemeinen Fortschrittsdranges bemerken. Nach einer Zeit, in welcher gewisse beherrschende Ideen alle Kräfte zu einem gemeinsamen Stosse sammeln, folgt eine andre, in welcher sich jeder Arbeiter in seinen besondern Stoff vertieft. So sah man jetzt die Congresse, die Wandertage, die gemeinsamen deutschen Feste, Centralvereine für alle möglichen Fächer und Bestrebungen in immer grösserer Zahl entstehen, und im Genossenschaftswesen bildete sich still und practisch eine neue sociale Macht. Mit besondrer Energie erhoben sich aber nach der idealpolitischen Sturmfluth des Jahres 1848 mit den ersten Zeichen der eutschiednen Ebbe die materiellen Interessen. Das tief in seinen Grundfesten erschütterte Oestreich suchte eine förmliche Regeneration auf der Basis des industriellen Fortschrittes zu gewinnen. In fieberhafter Hast schuf von Bruck Strassen auf Strassen; Verträge, Speculationen und Finanzmassregeln verdrängten einander. Die Privatthätigkeit folgte. In Böhmen entstanden Kohlenwerke, Hochöfen, Eisenbahnen. In Süddeutschland nahm die Baumwoll-Industrie einen grossartigen Aufschwung. In Sachsen entwickelten sich fast alle Zweige der metallischen und der Textil-Industrie in grösserem Massstabe als bisher. In Preussen warf man sich mit Verzweiflung auf Bergbau und Hüttenbetrieb. Kohle und Eisen wurden zum Losungswort der Zeit. Am Niederrhein und in Westphalen eiferte man England nach. Hier besonders griff der Materialismus des Lebens um sich, in Verbindung mit gewerblichem Fortschritt und Schwindel; ganz wie gegen Ende des 17. Jahrhunderts in England. – In einer Periode von kaum zehn Jahren stieg die Kohlenproduction im Königreich Sachsen auf das Doppelte; am Rhein und in Westphalen auf das Dreifache; Schlesien hielt die Mitte. Der Werth des producirten Roheisens verdoppelte sich in Schlesien; in der westlichen Hälfte der preussischen Monarchie stieg er aufs Fünffache. Der Werth der gesammten Bergwerksproduction stieg auf mehr als das Dreifache; ähnlich die Erzeugnisse der Hütten. Die Eisenbahnen wurden dem massenhaften Gütertransport dienstbar gemacht und gewannen dadurch eine Frequenz, die man nie geahnt hatte. Die Rhederei gedieh und die Exportgeschäfte gewannen zum Theil einen schwindelhaften Umfang. Die deutsche Einheit suchte man nach Verlust des Parlamentes durch Gewicht und Münze zu fördern. Characteristisch genug war eine Wechselordnung so ziemlich das einzige, was aus der grossen idealistischen Bewegung gerettet war.
Mit dem materiellen Fortschritt ging ein erneuter Aufschwung der Naturwissenschaften Hand in Hand, und namentlich trat die Chemie in immer engere Beziehungen zum Leben. Nun hätte man sich mit den positiven Thatsachen, und namentlich mit den nutzbaren Resultaten jener Wissenschaften begnügen, und wie es in England Brauch ist, im Uebrigen einer bequemen und gedankenlosen Orthodoxie huldigen können. Das wäre der practische Materialismus in seiner Vollendung gewesen; denn nichts spart unsre Kräfte sicherer für den Erwerb, nichts sichert so sehr die sorgenlose Genussfähigkeit, nichts stählt das Herz so sehr gegen die verhassten Anfälle des Mitleids und des Zweifels an der eignen Vollkommenheit, als jene völlige geistige Passivität, welche jedes Nachdenken über den Zusammenhang der Erscheinungen und über die Widersprüche in Erfahrung und Ueberlieferung als nutzlos abweist.
Deutschland kann sich – wenn man nicht etwa den niederrheinisch-westphälischen Industriebezirk ausnehmen will – diesem Materialismus niemals völlig hingeben. Der alte schaffende Kunsttrieb ruht und rastet nicht; man kann die Einheitsbestrebungen des Vaterlands vorübergehend vergessen, aber nicht die Einheitsbestrebungen der Vernunft. Diese Architectonik liegt uns mehr am Herzen, als die Architectur unsrer mittelalterlichen Dome. Und wenn die patentirte Baumeisterin schläft, so wird inzwischen munter Gewerbefreiheit geübt, und Chemiker und Physiologen ergreifen die Kelle der Metaphysik. Deutschland ist das einzige Land der Erde, in welchem der Apotheker kein Recept ausfertigen kann, ohne sich des Zusammenhangs seiner Thätigkeit mit dem Bestand des Universums bewusst zu sein. Es ist ein idealer Zug, der uns während der Zeit der tiefsten Versumpfung der Philosophie wenigstens den materialistischen Streit gegeben hat, als eine Erinnerung für die leicht befriedigten Massen der »Gebildeten«, dass jenseit der täglichen Gewohnheit des Arbeitens und Experimentirens noch ein endloses Gebiet liegt, dessen Durchwanderung den Geist erfrischt und das Gemüth veredelt.
Eins verdient der deutschen Naturforschung dieser Tage für immer hoch angerechnet zu werden: dass sie, so gut sie es verstand, den Handschuh aufnahm, der von übermüthigen Frevlern der Wissenschaft hingeworfen wurde. Es giebt kein sichreres Zeichen für die Ohnmacht und Entwürdigung der Philosophie, als dass sie schwieg, während elende Günstlinge elender Fürsten dem Gedanken Umkehr gebieten wollten.
Freilich wurden die Naturforscher auch durch Männer aus ihren eignen Reihen gereizt, welche, ohne die mindeste wissenschaftliche Veranlassung, sich bewogen fanden, dem in der Naturforschung herrschenden Geist entgegenzutreten. Die Allgemeine Zeitung, welche dazu übergegangen war, die Spalten ihrer ehemals höherstehenden Beilagen dem minder wissenschaftlichen Professorenthum zu widmen, darf ihren Antheil an der Anfachung des Streites in Anspruch nehmen. Das Jahr 1852 brachte gleich zu Anfang R. Wagners physiologische Briefe. Im April unterzeichnete Moleschott die Vorrede zum Kreislauf des Lebens und im September verkündete Vogt zu seinen Bildern aus dem Thierleben, dass es Zeit sei, der überhandnehmenden Autoritätssucht die Zähne zu zeigen.
Von den beiden Vorkämpfern der materialistischen Richtung war der eine ein Epigone der Naturphilosophie; der andre gewesener Reichsregent, also ein verzweifelter Idealist. Beide Männer, nicht ohne den Trieb eigner Forschung, glänzen doch vorzüglich durch das Talent der Darstellung. Ist Vogt klarer und schärfer im Einzelnen, so hat dagegen Moleschott das Ganze mehr durchdacht und gerundet. Vogt widerspricht häufiger sich selbst; Moleschott ist reicher an Sätzen, denen überhaupt kein bestimmter Sinn beizumessen ist. – Vogts Hauptwerk in dieser Streitsache (Köhlerglaube und Wissenschaft) erschien übrigens erst nach jener Göttinger Naturforscherversammlung (1854), welche uns beinahe das Schauspiel der grossen Religionsdispute der Reformationszeit wiederholt hätte. In die Zeit des hitzigsten Streites (1855) fällt auch Büchners Kraft und Stoff, ein Werk, das vielleicht mehr Aufsehen gemacht und jedenfalls eine schärfere Beurtheilung gefunden hat, als irgend ein andres dieser Literatur. Wir müssen die sittlichen Vorwürfe, die man Büchner, namentlich wegen der ersten Auflage seines Schriftchens, hat machen wollen, entschieden zurückweisen; dagegen vermögen wir freilich eben so wenig den Anspruch auf eine selbständige philosophische Bedeutung, den Büchner erhebt, anzuerkennen. Prüfen wir deshalb zunächst seine Anforderungen an die Philosophie!
Büchner äussert im Vorwort zu seiner Schrift, nachdem er die Verschmähung einer philosophischen Kunstsprache begründet hat, Folgendes:
»Es liegt in der Natur der Philosophie, dass sie geistiges Gemeingut sei. Philosophische Ausführungen, welche nicht von jedem Gebildeten begriffen werden können, verdienen nach unserer Ansicht nicht die Druckerschwärze, welche man daran gewendet hat. Was klar gedacht ist, kann auch klar und ohne Umschweife gesagt werden.«
Damit stellt nun Büchner einen vollständig neuen Begriff von Philosophie auf, ohne diesen jedoch genau zu bestimmen. Was man bisher Philosophie nannte, war niemals Gemeingut Aller und konnte nicht von »jedem Gebildeten« begriffen werden, wenigstens nicht ohne tiefe und eingehende Vorstudien. Die Systeme eines Heraklit, Aristoteles, Spinoza, Kant, Hegel erfordern die eingehendste Bemühung, und wenn selbst dann nicht Alles in ihnen verständlich wird, so mag dies Schuld jener Philosophen sein. Dass die Werke derselben unsern Vorfahren mehr werth waren, als die Druckerschwärze, ist klar, weil sie sonst nicht wären gedruckt, verkauft, bezahlt, gelobt und sogar oft gelesen worden. Offenbar richtet aber auch Büchner seine Worte nur an die Lebenden, in des Wortes verwegenster Bedeutung. Was jene Systeme etwa für die Vergangenheit werth sein mochten, unterlässt er zu untersuchen. Er hält sich auch nicht mit der Frage auf welchen Einfluss diese Vergangenheit auf die Gegenwart geübt habe, und ob etwa ein nothwendiger Entwicklungsgang unser gegenwärtiges Denken mit den Bemühungen jener Philosophen verbinde. Auch wird man annehmen müssen, dass Büchner der Geschichte der Philosophie ihre Bedeutung lässt, denn wie alle Gegenstände der Natur, so wird doch auch wohl das Denken des Menschen eine Untersuchung verdienen, bei welcher man sich nicht auf die oberflächlichsten Producte der Denkthätigkeit beschränken darf. Büchner hat selbst einen Aufsatz über Schopenhauer geschrieben, in welchem er sich zwar nur bemüht, dem grossen Publicum einige Kenntniss von dem eigenthümlichen Denken dieses Philosophen zu geben, aber doch auch anerkennt, dass Schopenhauer noch jetzt »einen gewichtigen Einfluss auf den Gang unsrer augenblicklichen philosophischen Entwicklung« üben müsse. Und doch vertritt Schopenhauer einen Idealismus, welcher neben Kant als reactionär zu bezeichnen und ausserdem sehr schwer zu verstehen ist.
Büchner verlangt auch keineswegs blos eine bessere und verständlichere Darstellungsweise der Philosophie; denn in Demjenigen, was man bisher mit diesem Ausdruck bezeichnete, kamen Fragen vor, welche auch durch den populärsten Ausdruck nicht viel verständlicher werden können, eben weil die Schwierigkeit nur in der Sache liegt. So weit nämlich würden wir Büchner vollständig beipflichten, als es entschieden an der Zeit ist, die sogenannte esoterische Lehrform endlich bis auf den letzten Rest zu vertilgen. Freilich würden die meisten Philosophen gelegentlich abgesetzt worden sein, wenn der Radicalismus ihrer eigentlichen Grundsätze ebenso verständlich wäre, als die Verträglichkeit der durch viele Windungen und Vermittlungen erhaltenen practischen Anwendungen; aber das wäre eben auch für den Fortschritt der Menschheit kein Unglück gewesen. Kant, der übrigens ein ganz edeldenkender Mensch war und sich ausserdem auf den grossen König und den aufgeklärten Minister von Zedlitz wohl verlassen konnte, hatte doch noch so viel von den alten esoterischen Grundsätzen beibehalten, dass er z. B. den Materialismus seiner Verständlichkeit wegen für gefährlicher hielt, als den Skepticismus, welcher mehr voraussetzt. Kants eigner tiefer Radicalismus ist theils durch die Schwierigkeit des Standpunktes, theils aber auch durch die Sprache so verborgen, dass er sich nur dem eindringendsten und vorurtheilfreisten Studium vollständig enthüllt, und dass Büchner hier vielleicht noch mehr Brauchbares für das heutige Denken finden würde, als bei Schopenhauer, wenn er sich hineinarbeiten wollte. Wenn wir nun mit Büchner darin übereinstimmen müssen, dass der absichtlichen Erschwerung des Verständnisses für Uneingeweihte für immer ein Ende gemacht werden muss, so können wir doch keineswegs hoffen oder wünschen, dass jemals auch die in der Sache selbst liegenden Schwierigkeiten aus dem Bereich der Philosophie verbannt würden. Auf der einen Seite steht die unabweisbare Consequenz der grossen democratischen Weltwende, welche keine Geheimnisse der Aufklärung und Denkfreiheit mehr zugiebt, und den Massen auch die Früchte von dem will zukommen lassen, was durch gemeinsame Arbeit der Menschheit gewonnen wurde. Auf der andern Seite steht aber der Wunsch, trotz dieser Rücksicht auf das Bedürfniss der Massen, die Wissenschaft nicht verarmen zu lassen, und dem Zusammenbruch der modernen Cultur durch Behauptung unsres vollen Schatzes philosophischer Einsicht wo möglich vorzubeugen. Jene Offenheit in Beziehung auf die Consequenzen der philosophischen Lehre ist auch nicht sowohl erforderlich als Concession an das grosse Publicum der »Gebildeten«, sondern als ein Beitrag zur Emancipation des grössten Publicums, der zum Bewusstsein ihrer höheren Bestimmung gelangenden unteren Volksclassen. Unsre »Gebildeten« sind dagegen in ihrer glatten Oberflächlichkeit ohnehin schon so blasirt, dass es gewiss keinen Zweck hat, ihnen auch noch vorzuspiegeln, es gebe in der Philosophie nichts mehr, wonach sie nicht blos die Hand auszustrecken brauchten, um es eben so gut zu haben, als die berühmtesten Philosophen. Will man der populären Aufklärung, welche gerade genug aus den Resultaten der Wissenschaft heranzieht, um den crassesten Aberglauben zu beseitigen, den Namen der Philosophie geben, so muss man für diejenige Philosophie, welche die gemeinsame Theorie aller Wissenschaften enthält, einen neuen Namen erfinden. Oder will man leugnen, dass in diesem Sinne auch auf dem gegenwärtigen Standpunkt der Wissenschaft noch Philosophie möglich ist?
Ueberhaupt ist der Satz, dass Alles, was klar gedacht sei, auch klar müsse gesagt werden können, so wahr er an sich ist, einem schlimmen Missbrauch unterworfen. Gewiss hat der grosse Laplace in seiner analytischen Theorie der Wahrscheinlichkeitsrechnung ein vollendetes Muster klarer Entwicklung gegeben, und doch wird es unter denen, welche nur zum Zweck der allgemeinen Bildung ein wenig Mathematik getrieben haben, nicht Viele geben, welche diese Arbeit, selbst bei einiger Bemühung, zu verstehen vermöchten. In der Mathematik wird überhaupt auch die klarste Entwicklung Jedem unverständlich sein, gleich einer fremden Sprache, welchem die Begriffe, mit denen operirt wird, nicht geläufig sind. Ganz dasselbe kann aber in der Philosophie vorkommen. Um andre Beweise wegzulassen, können wir hier nur darauf aufmerksam machen, dass es ja auch keinen einzigen Zweig der Mathematik giebt, welcher nicht einer philosophischen Behandlung fähig wäre. Laplace hat selbst die ersten Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung einer philosophischen Behandlung unterworfen, und dies Werk ist nicht etwa deshalb so viel leichter zu verstehen, als die analytische Theorie, weil es philosophisch ist, sondern weil es die Grundbegriffe behandelt. Trotz alledem dürfte auch der »philosophische Versuch über die Wahrscheinlichkeiten« noch Vielen unserer Gebildeten ernsthafte Schwierigkeiten darbieten.
Hier ist freilich zu Büchners Gunsten anzuführen, dass die Philosophie auch nicht nur als Quintessenz der Wissenschaften, als letztes Ergebniss aus der Vergleichung ihrer Resultate, aufgetreten ist, sondern nicht minder als Einleitung und Vorbereitung. In diesem letzteren Sinne fasste schon die Scholastik die Philosophie auf, und bis auf die neueste Zeit hin blieb es an unseren Universitäten üblich, philosophische Vorlesungen den Fachstudien voranzustellen. In England und Frankreich aber hat man oft geradezu die philosophische Behandlung der Dinge mit der populär fasslichen verwechselt. Daher kommt es auch, dass Büchner in Deutschland mehr als populärer polemischer Schriftsteller geschätzt wird, während seine zahlreichen Anhänger in England und Frankreich weit eher bereit sind, ihm den Anspruch an philosophische Bedeutung einzuräumen.
Eins der merkwürdigsten Beispiele von der Relativität unserer Begriffe kann man ferner gerade darin finden, dass diejenigen Eigenschaften, durch welche Büchner dem grossen Publicum klarer scheint, genau das Gegentheil von dem sind, was die strengere Wissenschaft klar nennt. Hätte Büchner z. B. den Begriff der Hypothese in wissenschaftlichem Sinne genommen, so wäre er vermuthlich vielen seiner Leser unverständlich geblieben, da schon nicht unbeträchtliche logische Bildung nebst einiger Orientirung in der Geschichte der Wissenschaften dazu gehört, um diesen Begriff so zu fassen, dass er einem scharf denkenden Menschen klar ist. Bei Büchner aber bedeutet »Hypothese« jede Art von ungerechtfertigten Annahmen, wie z. B. die deducirten Sätze der philosophischen Speculation. Der Ausdruck » Materialismus« steht bald in seinem geschichtlich richtigen Sinn, bald ist er mit »Realismus«, bald mit »Empirismus« gleichbedeutend; es kommen sogar Stellen vor, wo dieser positivste aller philosophischen Begriffe rein negativ gebraucht wird und mit Skepticismus nahezu zusammenfällt. Noch stärker variirt die Bedeutung von » Idealismus«, was oft fast synonym mit »Orthodoxie« zu sein scheint. Gerade durch diese vage Fassung erscheinen nun aber solche Begriffe denjenigen klar, welche die genaue Bedeutung solcher Ausdrücke nicht kennen, und doch das Bedürfniss empfinden, darüber mitzureden. Es ist fast wie mit der Wirkung einer Brille für verschiedene Entfernungen und verschiedene Augen. Wer in diesen Dingen mit blossem Auge weiter sieht, findet durch Büchners Brille Alles unklar; wer dagegen äusserst kurzsichtig ist, glaubt durch dieses Medium sehr klar zu sehen und sieht auch wirklich klarer als ohne solche Beihülfe. Nur schade, dass die Brille zugleich stark gefärbt ist! Namentlich begegnet es Büchner immer wieder, dass er die eigentlichen Lehren der Philosophen für gar zu einfältig ansieht, weil er bemerkt, dass sie im Leben oft in conservativer Tendenz sich mit groben Vorstellungen des täglichen Lebens verbünden. So kann uns namentlich das Capitel über angeborne Ideen nur dunkle Erinnerungen an die Redefloskeln eines unwissenden Predigers oder an verdächtige Wendungen eines Lesebuches für fleissige Knaben wach rufen, während wir in der neueren Philosophie vergeblich nach einem Satze suchen würden, welcher die von Büchner bekämpften Lehren wirklich vorträgt. Hier sieht man denn freilich auch, dass es eine gerechte Strafe für die Unredlichkeit unserer zahmen Philosophen ist, wenn sie sich gleichsam auf offener Strasse müssen ohrfeigen lassen, ohne dass das Publicum, welches hierin seinem Gefühle folgt, auch nur die mindeste Sympathie mit ihnen empfindet.
Wie Büchner im Gebrauch der einzelnen Begriffe schwankend und willkürlich ist, so kann er natürlich auch nicht als Vertreter eines scharf ausgesprochenen, bestimmten positiven Princips betrachtet werden. Scharf, unerbittlich und consequent ist er nur in der Negation; aber diese scharfe Negation ist durchaus nicht die Folge eines trocknen, rein kritischen Verstandes; sie stammt vielmehr aus einer schwärmerischen Begeisterung für den Fortschritt der Humanität, für den Sieg des Wahren und Schönen. Was diesem im Wege steht, hat er hinlänglich erkannt, um es unerbittlich zu verfolgen. Manches Harmlose mag ihm auch verdächtig scheinen. Was aber unverdächtig ist, wobei er keine Schurkerei, kein böswilliges Hintertreiben des wissenschaftlichen und moralischen Fortschritts vermuthet, das kann er Alles brauchen. Büchner ist von Haus aus eine idealistische Natur. Er stammt aus einer Familie voll reicher poetischer Begabung. Einer seiner Brüder starb früh als hoffnungsvoller Dichter; ein anderer hat sich ebenfalls als Dichter und Geschichtschreiber der Dichtkunst bekannt gemacht; seine Schwester, Luise Büchner, ist als reich begabte Schriftstellerin und Sammlerin von Dichterstimmen der deutschen Frauenwelt weit und breit bekannt. Er selbst zeichnete sich – hierin De la Mettrie vergleichbar – als Schüler vorzüglich aus durch literarische, philosophische und poetische Studien und durch seine stilistischen Leistungen. Auch bei ihm war es der Wunsch, des Vaters, welcher für das Studium der Medicin entschied, und auch darin kann er seinem französischen Vorgänger verglichen werden, dass er sofort in dem neuen Studium Partei ergriff, und zwar für die rationelle Schule. Ernster und gediegener als jener Franzose wandte er seitdem sein reiches und vielseitiges Talent theils zu wissenschaftlichen Forschungen an, theils aber zur populären Darstellung und publicistischen Verwerthung der Resultate neuerer naturwissenschaftlicher Forschungen. Bei dieser Thätigkeit verlor er niemals die Beziehungen auf die grossen Aufgaben der fortschreitenden Humanität aus dem Auge.
Obwohl Büchner, angeregt durch Moleschott und in ähnlicher, rhetorisch-emphatischer Weise, sich in manchen seiner Aeusserungen zu dem entschiedensten Materialismus bekannte, so ist doch seine eigentliche Richtung – die freilich aus widersprechenden Stellen nur schwer mit Sicherheit festzustellen ist – mehr eine relativistische. Die letzten Räthsel des Lebens und des Daseins sind, wie er mehrfach ausspricht, nicht zu lösen. Die empirische Forschung aber, die uns allein zur Wahrheit leiten kann, lässt uns nichts Uebersinnliches annehmen. Ueberschreiten wir in unserem Denken die Schranken der Erfahrung, so gerathen wir rettungslos in Irrthümer. Der Glaube, der dann aber mit dem Thatsächlichen nichts mehr zu thun hat, mag in jene Gebiete hinüberschweifen, die Vernunft aber kann und darf ihm nicht folgen. Die Philosophie muss aus den Naturwissenschaften hervorgehen; was diese uns lehren, daran haben wir uns so lange zu halten, bis wir auf demselben Wege eine tiefere Einsicht bekommen.– Merkwürdig ist, dass Büchner eine poetisch-symbolische Geltung philosophischer oder religiöser Sätze gar nicht gelten lässt. Er hat einmal mit seiner eigenen poetischen Natur in Beziehung auf diese Fragen gebrochen, und nun ist ihm Alles wahr oder falsch. Damit ist aber im Grunde nicht nur die Speculation und der religiöse Glaube verneint, sondern auch jede Poesie, welche eine Idee bildlich ausdrückt.
Merkwürdig ist, dass sowohl Moleschott als auch Büchner in der Behandlung einzelner Fragen oft einen grossen, acht philosophischen Scharfsinn verrathen, der dann wieder mit schwer begreiflichen Trivialitäten wechselt. So ist z. B. in Büchners Kraft und Stoff der grösste Theil des Capitels »der Gedanke« ein Muster umsichtiger Dialectik; freilich nur ein Bruchstück, denn die treffliche Kritik der berüchtigten Aeusserung Vogts über das Verhältniss der Gedanken zum Gehirn schliesst mit einem vollständigen Dualismus von Kraft und Stoff, der nachher nicht mehr ausgeglichen, sondern nur durch den schnell dahineilenden Redefluss verwischt wird.
Der Grund, weshalb so begabte und redlich strebende Männer, wie Moleschott und Büchner ihren Stoff nicht gründlicher erfassten, dürfte daher wohl nicht allein darin zu suchen sein, dass sie von vornherein die populäre Darstellung und Erörterung an die Stelle der Philosophie setzen; denn auch innerhalb dieser Schranken liessen sich bedeutend höhere Forderungen stellen, und die populäre Darstellung kann wirklich philosophischen Gehalt haben, ohne eben die Aufgabe der Philosophie zu erschöpfen. Dann aber muss der Darstellung wenigstens eine bestimmte Anschauung mit Consequenz und Klarheit zu Grunde gelegt werden, was bei der Mehrzahl unserer Materialisten nicht der Fall ist. Der Grund davon dürfte in der Nachwirkung der Schelling-Hegelschen Philosophie zu suchen sein.
Wir nannten schon oben Moleschott einen Epigonen der Naturphilosophie, und zwar mit gutem Bedacht. Er ist es nicht etwa deshalb, weil er in jungen Jahren fleissig Hegel studirt und später Feuerbach gehuldigt hat, sondern deshalb, weil diese Geistesrichtung noch überall in seinem angeblich so consequenten Materialismus bemerkbar ist; und zwar gerade in den im metaphysischen Sinn entscheidenden Punkten. Ein gleiches ist bei Büchner der Fall, der nicht nur Feuerbach, einen mächtig gährenden, aber durchaus unklaren Denker häufig als Autorität hinstellt, sondern auch mit seinen eigenen Aeusserungen sich oft genug in einen vagen Pantheismus verirrt.
Der Punkt, um den es sich namentlich handelt, lässt sich ganz bestimmt angeben. Es ist gleichsam der Apfel in dem logischen Sündenfall der deutschen Philosophie nach Kant: das Verhältniss zwischen Subject und Object in der Erkenntniss.
Nach Kant stammt unsere Erkenntniss aus der Wechselwirkung von beiden – ein unendlich einfacher und doch immer wieder verkannter Satz. Es folgt aus dieser Anschauung, dass unsere Erscheinungswelt nicht blos ein Product unserer Vorstellung ist (Leibnitz, Berkley); dass sie auch nicht ein adäquates Bild der wirklichen Dinge ist, sondern ein Erzeugniss objectiver Einwirkungen und subjectiver Gestaltung derselben. Dasjenige nun, was nicht etwa ein einzelner Mensch, vermöge zufälliger Stimmung oder fehlerhafter Organisation so oder so erkennt, sondern was die Menschheit im Ganzen, vermöge ihrer Sinnlichkeit und ihres Verstandes erkennen muss, nannte Kant in gewissem Sinne objectiv. Er nannte es objectiv, sofern wir nur von unserer Erfahrung reden; dagegen transscendent, oder mit anderer Bezeichnung falsch, wenn wir solche Erkenntnisse auf die wirklichen Dinge anwenden, die er für unerkennbar hielt.
Seine Nachfolger dürsteten nun aber wieder nach absoluter Erkenntniss, und indem sie den Pfad besonnener Erörterung ganz und gar verliessen, schufen sie sich eine solche durch die Dogmatik ihrer Philosopheme. Es entstand das grosse Axiom von der Einheit des Subjectiven und des Objectiven; die fabelhafte petitio principii von der Einheit des Denkens und Seins, in welcher sich auch Büchner noch befangen zeigt.
Nach Kant giebt es eine solche Einheit nur in der Erfahrung; diese Einheit aber ist eine Verschmelzung; sie ist weder reines Denken, noch giebt sie das reine Sein. Nun aber sollte es nach Hegel umgekehrt sein: grade das absolute Denken sollte mit dem absoluten Sein zusammenfallen. Dieser Gedanke gewann wegen seiner grossartigen, dem Bedürfniss der Zeit entsprechenden Unsinnigkeit Boden. Er ist die Grundlage der berüchtigten Naturphilosophie. In der trüben Gährung der Hegelschen Schule konnte man oft nicht entscheiden, wie es mit diesem Gedanken eigentlich gemeint sei. Er konnte von vornherein als wirkliches metaphysisches Princip oder als ein colossaler categorischer Imperativ zur Beschränkung der Metaphysik aufgefasst werden. Im letzteren Falle nähert man sich Protagoras. Sollen wir den Begriff des Wahren, Guten, Wirklichen u. s. w. so definiren, dass wir nur das wahr, gut, wirklich u. s. w. nennen, was für den Menschen so ist; oder sollen wir uns einbilden, dass das, was der Mensch als solches erkennt, auch für alle denkenden Wesen, die es giebt und geben kann, in gleicher Weise gelte?
Die letztere Auffassung, welche allein dem wahren, ursprünglichen Hegelianismus eigenthümlich ist, führt mit Nothwendigkeit zum Pantheismus; denn es ist darin die Einheit des Menschengeistes mit dem Geiste des Alls und mit allen Geistern schon als Axiom vorausgesetzt. Ein Theil der Epigonen hielt sich jedoch mit Feuerbach an den categorischen Imperativ: wirklich ist, was wirklich für den Menschen ist; d. h. weil wir von den Dingen an sich nichts wissen können, so wollen wir auch von ihnen nichts wissen, und damit Punktum!
Die alte Metaphysik wollte von den Dingen an sich Erkenntniss haben; die Naturphilosophie fiel in diesen Fehler zurück. Kant steht allein auf dem schroffen und vollkommen klaren Standpunkt, dass wir von den Dingen an sich nur eins wissen, eben das eine, was Feuerbach vernachlässigt hat, dass sie nämlich sind; d. h. dass die menschliche Erkenntniss nur eine kleine Insel bildet in dem ungeheuren Ocean überhaupt möglicher Erkenntniss.
Feuerbach und seine Anhänger schwanken, eben weil sie diesen Punkt nicht beachten, beständig wieder in den transscendentalen Hegelianismus zurück. Bei Feuerbachs »Sinnlichkeit« wird es einem oft schwer, an Auge und Ohr zu denken, geschweige denn an den Gebrauch dieser Organe in den exacten Wissenschaften. Seine Sinnlichkeit ist eine neue Form des absoluten Denkens, welche von der thatsächlichen Erfahrung gänzlich absieht. Dass er dessenungeachtet gerade auf einige Naturforscher einen so grossen Einfluss gewann, erklärt sich nicht aus der Natur der empirischen Wissenschaften, sondern aus der Wirkung der Naturphilosophie auf das junge Deutschland.
Betrachten wir einen Augenblick diese Nachwehen der Geburt des absoluten Geistes bei Moleschott!
Im Kreislauf des Lebens verbreitet sich dieser gewandte Schriftsteller auch über die Erkenntnissquellen des Menschen. Nach einem höchst auffallenden Lobe des Aristoteles und einer Stelle über » Kant«, an welcher Moleschott ein Phantom dieses Namens mit Sätzen bekämpft, die der wirkliche Kant unbeschadet seines Systems zugeben könnte, folgt die Stelle, welche wir im Auge haben. Sie beginnt mit musterhafter Klarheit, um allmählig in einen metaphysischen Nebel überzugehen, der selbst in unserm nebelreichen Vaterlande seines Gleichen sucht. Unserm Zweck entsprechend, wollen wir die finstersten Nebelmassen durch gesperrte Schrift kenntlich machen und einige Bemerkungen in Klammern beifügen.
»Alle Thatsachen, jede Beobachtung einer Blume, eines Käfers, die Entdeckung einer Welt und das Belauschen der Eigenheiten des Menschen, was sind sie denn anderes, als Verhältnisse der Gegenstände zu unseren Sinnen? Wenn ein Räderthier ein Auge besitzt, das nur aus einer Hornhaut besteht, wird es nicht andere Bilder von den Gegenständen aufnehmen als die Spinne, die auch Linse und Glaskörper aufzuweisen hat? Darum ist das Wissen des Insects, die Kenntniss der Wirkungen der Aussenwelt für das Insect auch eine andere, als für den Menschen. Ueber die Kenntniss jener Beziehungen zu den Werkzeugen seiner Auffassung erhebt sich kein Mensch und kein Gott.« (So weit Alles trefflich, nur die drei letzten Worte sind Phrase).
»Also wissen wir freilich Alles für uns, wir wissen, wie die Sonne scheint für uns, wie die Blume duftet für die Menschen, wie die Schwingungen der Luft ein Menschenohr berühren. Man hat dies ein beschränktes Wissen genannt, ein menschliches Wissen, bedingt durch die Sinne, ein Wissen, das den Baum nur beobachtet, wie er für uns ist. Das ist wenig, hiess es, man muss wissen, wie der Baum an sich ist, um nicht länger zu wähnen, er sei so, wie er uns scheint.« (Der letzte Satz spielt auf die Naturphilosophie an, welche Moleschott geläufig ist. In der gesunderen Philosophie war seit Kant von einer solchen Forderung nicht mehr die Rede).
»Wo ist denn aber der Baum an sich, den man suchte? Setzt nicht jedes Wissen einen Wissenden voraus, also ein Verhältniss von dem Gegenstande zum Beobachter?« (Der Zusammenhang beider Sätze zeigt den Naturphilosophen. Nach Kant bezieht sich unser Wissen eben nicht auf den Baum an sich, sondern auf den Baum, wie er in der Naturwissenschaft erscheint). »Der Beobachter sei Wurm, Käfer, Mensch, wenn es Engel giebt, er sei ein Engel. Wenn Beide sind, der Baum und der Mensch, so ist es für den Baum so nothwendig, wie für den Menschen, dass er zu diesem in einer Beziehung steht, die sich eben kund giebt durch den Eindruck auf das Auge. Ohne ein Verhältniss zu dem Auge in das er seine Strahlen sendet, ist der Baum nicht da. Gerade durch dieses Verhältniss ist der Baum für sich.«
»Alles Sein ist ein Sein durch Eigenschaften. Aber es giebt keine Eigenschaft, die nicht bloss durch ein Verhältniss besteht.«
»Der Stahl ist hart im Gegensatz zur weichen Butter. Kaltes Eis kennt nur die warme Hand, grüne Bäume, ein gesundes Auge.«
»Oder ist grün etwas Anderes als ein Verhältniss des Lichts zu unserem Auge. Und wenn es nichts Anderes ist, ist dann das grüne Blatt nicht für sich, eben deshalb, weil es für unser Auge grün ist?«
» Dann aber ist die Scheidewand durchbrochen zwischen dem Ding für uns und dem Ding an sich. Weil ein Gegenstand nur ist durch seine Beziehung zu anderen Gegenständen, zum Beispiel durch sein Verhältniss zum Beobachter, weil das Wissen vom Gegenstand aufgeht in der Kenntniss jener Beziehungen, so ist all unser Wissen ein gegenständliches Wissen.«
Hier giebt nur der letzte Theil des Schlusssatzes wieder einen gesunden Sinn. Allerdings ist all unser Wissen ein gegenständliches Wissen, denn es bezieht sich auf Gegenstände. Ja, noch mehr: wir müssen annehmen, dass die Beziehungen des Gegenstandes zu unseren Sinnen durch strenge Gesetze geregelt sind. Wir stehen durch die sinnliche empirische Erkenntniss zu den Gegenständen in einer so vollkommenen Beziehung, als sie unsere Natur erlaubt. Was brauchen wir weiter, um diese Erkenntniss gegenständlich zu nennen? Allein, ob wir die Gegenstände so wahrnehmen, wie sie an sich sind, ist eine ganz andere Frage.
Nun sehe man sich die gesperrt gedruckten Stellen an und frage sich, an welcher Stelle des philosophischen Urwaldes befinden wir uns? Sind wir bei den extremsten Idealisten, welche überhaupt nicht annehmen, dass unseren Vorstellungen von den Dingen irgend etwas ausser uns entspricht? Ist der Baum wirklich aus der Welt, wenn ich das Auge zudrücke? Giebt es gar keine Welt ausser mir? – Oder sind wir bei den pantheistischen Schwärmern, welche sich einbildeten, dass der menschliche Geist das Absolute fassen kann? Ist das grüne Blatt eben deshalb an und für sich grün, weil es auf das menschliche Auge diesen Eindruck macht; während Spinnen-, Käfer- oder Engel-Augen minder maassgebend sind? – In der That wird es wenig philosophische Systeme geben, weiche nicht in jenen Sätzen eher gefunden werden können, als der Materialismus. Und wie steht es denn um die Begründung jener Orakel?
Weil nur der Gegensatz zu unserer Blutwärme uns das Eis kalt nennen lässt, besteht deshalb keine bestimmte, von jedem Gefühl unabhängige Beschaffenheit jenes Körpers, nach welcher er mit seiner Umgebung – einerlei, ob diese empfindet oder nicht – in einen bestimmten Austausch von Wärmestrahlen tritt? Und wenn dieser Austausch wesentlich von der Temperatur und andern Eigenschaften der umgebenden Körper abhängt, hängt er dann nicht auch gleichzeitig von dem Eise ab? Ist diejenige Beschaffenheit, wodurch das Eis mit dieser Umgebung diesen, mit jener einen andern Austausch von Wärmestrahlen eingeht, nicht eben eine Eigenschaft, welche dem Eis an sich zukommt? Unserm Gefühl bringt diese Eigenschaft regelmässig den Eindruck des Kalten hervor. Wir bezeichnen sie nach dem Eindruck den sie auf uns macht; wir nennen sie Kälte; aber wir wissen zwischen dem physiologischen Vorgang in unseren Nerven und den physikalischen in dem Körper selbst wohl zu unterscheiden. Dieser letztere ist im Verhältniss zum ersteren das Ding an sich. Ob man fernerhin nicht nur von unseren Gefühlsnerven, sondern auch von unserer Verstandes-Auffassung abstrahiren und hinter dem Eis ein Ding an sich suchen soll, welches weder räumlich noch zeitlich ist, lassen wir hier ganz und gar dahingestellt. Wir bedürfen nur einen einzigen Schritt, um zu zeigen, dass die Eigenschaften der Dinge von unsern Vorstellungen zu unterscheiden sind, und dass ein Ding Eigenschaften haben, dass es sein kann, ohne dass wir es wahrnehmen.
Wenn Wurm, Käfer, Mensch und Engel einen Baum betrachten, sind das dann fünf Bäume? Es sind vier Vorstellungen eines Baumes, vermuthlich höchst verschieden von einander; aber sie beziehen sich auf ein und denselben Gegenstand, von dem jedes einzelne Wesen nicht wissen kann, wie er an sich beschaffen ist, weil es nur seine Vorstellung von demselben kennt. Der Mensch hat nur den einen Vorzug, dass er durch Vergleichung seiner Organe mit denen der Thierwelt und durch physiologische Untersuchungen dahin gelangt, seine eigene Vorstellung für eben so unvollständig und einseitig zu halten, wie diejenigen verschiedener Thierclassen.
Wie ist denn nun die Scheidewand zwischen dem Ding für uns und dem Ding an sich durchbrochen? Wenn das Ding nur ist durch seine Beziehung zu anderen Gegenständen, so kann man doch diesen metaphysischen Satz Moleschotts vernünftiger Weise nur so fassen, dass das Ding an sich durch die Summe aller seiner Beziehungen zu anderen Gegenständen besteht, nicht aber durch einen beschränkten Theil derselben. Wenn ich die Augen schliesse, so fallen die Lichtstrahlen, welche von den verschiedenen Theilen des Baums zur Netzhaut gingen, nunmehr auf die Aussenfläche der Augenlider. Das ist Alles, was sich geändert hat. Ob aber ein Object noch bestehen kann, das überhaupt mit keinem anderen Gegenstand mehr Licht-, Wärme-, Schallstrahlen, electrische Strömungen, chemischen Stofftausch und mechanische Berührungen auswechseln kann, das ist freilich die Frage. Es wäre ein recht hübsches Thema naturphilosophischer Spitzfindigkeiten. Wenn man es aber auch so löst, dass man Moleschott beistimmt, so bleibt noch immer zwischen dem Ding an sich und dem Ding für mich ein Unterschied, der ungefähr so gross ist, wie der Unterschied zwischen einem Product aus unendlich vielen Factoren und einem einzigen bestimmten Factor dieses Productes.
Nein! Das Ding an sich ist nicht das Ding für mich; aber ich kann dieses vielleicht mit gutem Bedacht an seine Stelle setzen, wie ich z. B. meinen Begriff der Kälte und Wärme an die Stelle der Temperaturzustände der Körper setze. Der alte Materialismus sah beides ganz naiv für identisch an. Zwei Dinge haben dies für immer unmöglich gemacht: der Sieg der Undulationstheorie und die Kantsche Philosophie. Man kann sich an dem Einfluss derselben vorbei drücken; aber damit macht man keine Epoche. Man müsste sich mit Kant abfinden. Dies that die Naturphilosophie in der Form eines Offenbarungsrausches, der das absolute Denken zur Gottheit erhob. Eine nüchterne Abfindung muss anders angestellt werden. Man muss entweder den Unterschied zwischen dem Ding an sich und der Erscheinungswelt zugeben und sich damit begnügen, die specielle Ausführung Kants zu verbessern; oder man muss sich dem categorischen Imperativ in die Arme stürzen und also gewissermaassen Kant mit seinen eignen Waffen zu schlagen versuchen.
Hier ist allerdings noch ein Pförtchen offen. Kant benutzte den unendlichen leeren Raum jenseit der menschlichen Erfahrung, um seine intelligible Welt hinein zu bauen. Er that dies kraft des categorischen Imperativs. »Du kannst, denn du sollst.« Also muss es Freiheit geben. In der wirklichen Welt unsres Verstandes giebt es keine. Also mag sie in der intelligiblen Welt wohnen. Wir können uns zwar die Willensfreiheit nicht einmal als möglich denken; wohl aber können wir uns als möglich denken, dass es in dem Ding an sich Ursachen giebt, welche sich in dem Organ unsres vernünftigen Bewusstseins als Freiheit darstellen, während sie mit dem Organ des analysirenden Verstandes betrachtet nur das Bild einer Kette von Ursache und Wirkung geben.
Wie nun, wenn man mit einem andern categorischen Imperativ beginnt? Wie, wenn man den Satz an die Spitze der ganzen positiven Philosophie stellt: » Begnüge dich mit der gegebnen Welt!« Ist dann nicht die Fata Morgana der intelligiblen Welt mit einem Zauberschlage vernichtet?
Kant würde zunächst entgegenhalten, dass sein categorischer Imperativ, welcher in unsrer Brust das Gute zu thun befiehlt, eine Thatsache des innern Bewusstseins sei, von derselben Nothwendigkeit und Allgemeinheit, wie das Naturgesetz in der äusseren Natur; dass jener andre Imperativ aber, den wir den Feuerbachschen nennen wollen, dem Menschen keineswegs nothwendig einwohne; vielmehr auf subjectiver Willkür beruhe. Hier hat nun die Gegenpartei ein nicht ungünstiges Spiel. Es ist leicht zu zeigen, dass das Sittengesetz sich culturgeschichtlich langsam herausbildet, und dass es seinen Character der Nothwendigkeit und unbedingten Gültigkeit erst dann haben kann, wenn es überhaupt im Bewusstsein vorhanden ist. Wenn nun eine fernere culturhistorische Entwicklung jetzt den Satz der Befriedigung mit dieser Welt als Grundlage des moralischen Bewusstseins hervortreten lässt, so wird Niemand etwas dagegen haben können. Es muss sich zeigen!
Aber freilich muss es sich zeigen, und hier kommt die grössere Schwierigkeit. Kant hat dies für sich, dass in jedem geistig entwickelten Individuum das Sittengesetz zum Bewusstsein kommt. Der Inhalt desselben kann in manchen Stücken höchst verschieden sein; aber die Form ist da. Die Thatsächlichkeit der inneren Stimme steht fest. Man kann an ihrer Allgemeinheit mäkeln; man kann sie umgekehrt auf die höheren Thiere ausdehnen: das ändert an der Hauptsache durchaus nichts. Für den Feuerbachschen Imperativ aber ist noch der Beweis beizubringen, dass man sich wirklich mit der Erscheinungswelt und mit ihrer sinnlichen Auffassung begnügen kann. Ist dieser Beweis erbracht, so wollen wir einstweilen gern glauben, dass sich darauf auch ein ethisches System bauen lässt; denn was lässt sich nicht alles bauen?
Wie Kants System in Widerspruch mit der verstandesmässigen Erkenntniss gestanden hätte, wenn dieser Widerspruch nicht von Haus aus wäre berücksichtigt worden; so steht das System des Begnügens anscheinend im Widerspruch mit den Einheitsbestrebungen der Vernunft; mit Kunst, Poesie und Religion, in welchen allen der Trieb liegt, sich über die Grenzen der Erfahrung hinauszuschwingen. Es bleibt der Versuch, diese Widersprüche zu beseitigen.
Sonach wäre der naive Materialismus in der Gegenwart überhaupt nicht wieder in systematischer Form aufgetaucht; wie er denn überhaupt nach Kant nicht wohl wieder auftauchen kann. Der unbedingte Glaube an die Atome ist so gut geschwunden, wie andre Dogmen. Man nimmt nicht mehr an, dass die Welt absolut so beschaffen ist, wie wir sie mit Ohr und Auge wahrnehmen; aber man hält sich daran, dass wir mit der Welt an sich nichts zu schaffen haben.
Ein einziger unter den neueren Materialisten hat versucht, die Schwierigkeiten, welche sich diesem Standpunkt entgegenstellen, wirklich systematisch zu lösen. Derselbe Denker ist aber noch weiter gegangen. Er hat sogar den Versuch gemacht, die Uebereinstimmung der wirklichen Welt mit der Welt unsrer Sinne nachzuweisen oder wenigstens wahrscheinlich zu machen. Dies unternahm Czolbe in seiner neuen Darstellung des Sensualismus.
Heinrich Czolbe, der Sohn eines Gutsbesitzers in der Nähe von Danzig, wandte sich schon in früher Jugend philosophischen und theologischen Fragen zu, obwohl er die Medicin als Fachstudium wählte. Auch hier finden wir den Ausgangspunkt für die spätere Richtung in derselben Naturphilosophie, welche unsre heutigen Materialisten so gern als das entgegengesetzte Extrem ihrer Bestrebungen darstellen, und von welcher doch unter den Stimmführern nur Carl Vogt ganz unberührt geblieben ist. Für Czolbe war namentlich Hölderlins Hyperion von entscheidender Bedeutung, ein Werk, welches den durch Schelling und Hegel angeregten Pantheismus in grossartig wilder Poesie verkörperte und die hellenische Einheit von Geist und Natur den deutschen Culturzuständen gegenüber verherrlichte. Strauss, Bruno Bauer und Feuerbach waren fernerhin für die Richtung des jungen Mediciners bestimmend. Merkwürdig ist aber, dass es auch ein Philosoph war – sogar ein Professor der Philosophie, wenn das nicht nach Feuerbach ein Widerspruch ist – der ihm schliesslich für die Ausbildung seines besondern materialistischen Systems den letzten Anstoss gab.
Es ist Lotze – derselbe, den Carl Vogt gelegentlich als Mitfabrikanten der ächten Göttinger Seelensubstanz mit dem Titel eines speculirenden Struwwelpeters belegt – Lotze, einer der scharfsinnigsten und in wissenschaftlicher Kritik sattelfestesten Philosophen unsrer Zeit, welcher dem Materialismus so unfreiwillig Vorschub leistete. Der Artikel »Lebenskraft« in Wagners Handwörterbuch und seine »allgemeine Pathologie und Therapie, als mechanische Naturwissenschaften« vernichteten das Gespenst der Lebenskraft und schafften in der Rumpelkammer des Aberglaubens und der Begriffsverwirrung, welche die Mediciner Pathologie nannten, einige Ordnung. Lotze hatte einen ganz richtigen Weg betreten; denn in der That gehört es zu den Aufgaben der Philosophie, unter kritischer Benutzung der von den positiven Wissenschaften gelieferten Thatsachen, auf diese zurückzuwirken und die Resultate eines weiteren Ueberblicks und einer strengeren Logik gegen das Gold ächter Specialforschung auszutauschen. Er würde ohne Zweifel auf diesem Wege noch mehr Anerkennung gefunden haben, wenn nicht gleichzeitig Virchow als practischer Reformator der Pathologie aufgetreten wäre, und wenn Lotze selbst nicht zugleich einer eigensinnigen Metaphysik gehuldigt hätte, von der man schwer begreift, wie sie sich neben seiner eignen kritischen Schärfe behaupten konnte.
Czolbe fand sich durch die Beseitigung des »übersinnlichen Begriffes« der Lebenskraft zu dem Versuch angeregt, die Beseitigung des Uebersinnlichen zum Princip der ganzen Weltauffassung zu machen. Schon seine Inaugural-Dissertation über die Principien der Physiologie (Berlin 1844) verräth diese Bestrebungen; allein erst elf Jahre später, da der materialistische Streit schon in vollem Zuge war, trat Czolbe mit seiner »neuen Darstellung des Sensualismus« hervor.
Da wir im Ganzen den Begriff des philosophischen Materialismus ziemlich eng genommen haben, müssen wir wohl vorab darlegen, warum wir gerade einem System hier besondre Beachtung schenken, welches sich als »Sensualismus« giebt. Czolbe selbst wählte diese Bezeichnung wohl deshalb, weil der Begriff sinnlicher Anschaulichkeit seinen Gedankengang durchgehends bestimmt. Diese sinnliche Anschaulichkeit steckt aber gerade darin, dass Alles auf die Materie und ihre Bewegung zurückgeführt wird. Sonach ist die sinnliche Anschaulichkeit nur ein regulatives Princip, und das metaphysische ist die Materie.
Will man den Sensualismus vom Materialismus streng unterscheiden, so darf man nur diejenigen Systeme mit dem ersteren Namen bezeichnen, welche sich an den Ursprung unsrer Erkenntniss aus den Sinnen halten und keinen Werth darauf legen, das Weltall aus Atomen, Molecülen oder andern Gestaltungen des Stoffes construiren zu können. Der Sensualist kann annehmen, dass die Materie blosse Vorstellung sei – weil das, was wir in der Wahrnehmung unmittelbar haben, eben nur Empfindung ist, und nicht »Stoff«. Er kann aber auch, wie Locke, geneigt sein, den Geist auf die Materie zurückzuführen. Sobald dies aber zur nothwendigen Grundlage des ganzen Systems wird, haben wir ächten Materialismus vor uns.
Und doch ist auch bei Czolbe der alte, naive Materialismus der früheren Perioden nicht wiederzufinden. Es ist nicht nur die allenthalben hervortretende persönliche Bescheidenheit des Verfassers, wenn er seine Anschauungen fast durchgehends in hypothetische Form bringt. Er hat genug von Kant mit bekommen, um das Missliche metaphysischer Dogmen zu kennen. Ueberhaupt steht sein System zu Kant, den er vorzüglich bekämpft, in einem Wechselverhältniss, welches eben so viel Analogieen als Gegensätze darbietet. Gerade eine Betrachtung Czolbes muss uns daher die im vorigen Capitel gewonnenen Resultate um Vieles klarer machen.
Czolbe ist der Ansicht, dass trotz des leidenschaftlichen Streites für und wider den Materialismus noch nichts geschehen sei, um diese Auffassungsweise der Dinge in ein genügendes System zu bringen. »Was in neuester Zeit Feuerbach, Vogt, Moleschott u. a. dafür gethan haben, sind nur anregende fragmentarische Behauptungen, die bei tieferem Eingehen in die Sache unbefriedigt lassen. Da sie die Erklärbarkeit aller Dinge auf rein natürliche Weise nur allgemein behaupten, aber nicht einmal versucht haben, sie specieller nachzuweisen, befinden sie sich im Grunde noch gänzlich auf dem Boden der von ihnen angefeindeten Religion und speculativen Philosophie.« Wir werden hinlänglich sehen, dass auch Czolbe diesen Boden nicht verlässt.
Czolbe giebt zu, dass das Princip seines Sensualismus, die Ausschliessung des Uebersinnlichen, ein Vorurtheil, oder eine vorgefasste Meinung genannt werden könne. »Allein ohne solch ein Vorurtheil ist die Bildung einer Ansicht über den Zusammenhang der Erscheinungen überhaupt unmöglich.« Neben der inneren und äusseren Erfahrung hält er die Hypothesen für ein notwendiges Element zur Bildung einer Weltauffassung.
Nun, Vorurtheil oder Orakelspruch, Hypothese oder Dichtung wird wohl noch zu entscheiden sein. Wenn aber die Hypothese nicht nur im Verlauf der Philosophie sich finden muss, sondern in dem schlichten Gewande eines »Vorurteils« uns bereits auf der Schwelle empfängt, so werden wir wohl fragen müssen, was denn die Wahl dieser oder jener ursprünglichen Hypothese bestimmt. Czolbe hat auf diese Frage zwei sehr verschiedne Antworten; nach der einen ist er durch Inductionen dazu gekommen; nach der andern bildet die Moral, wie bei Kant, die Grundlage der ganzen positiven Philosophie, da auf dem Wege des exacten Verstandesgebrauches nichts dergleichen, wie ein metaphysisches Princip, zu gewinnen ist. Beide Antworten dürften in ihrer Weise richtig sein. Czolbe sieht, wie Baco einen Fortschritt in der Philosophie durch Ausschliessung des Uebersinnlichen zu Wege bringt, warum sollte sich nicht durch Fortsetzung dieses Verfahrens ein neuer Fortschritt erzielen lassen? Lotze hat die Lebenskraft beseitigt; warum sollte man nicht alle transscendenten Kräfte und Wesen beseitigen können?
Da aber die Darstellung des Sensualismus durchaus nicht inductiv, sondern deductiv verfährt, so kann jene Induction auch nicht wohl die eigentliche Grundlage des Systems bilden; sie war nur die Veranlassung. Die Grundlage liegt in der Ethik, oder vielmehr in dem mehrfach erwähnten categorischen Imperativ: Begnüge dich mit der gegebnen Welt.
Es ist dem Materialismus eigen, dass er seine Sittenlehre ganz ohne solchen Imperativ zu Stande zu bringen weiss, während die Naturphilosophie einen practischen Satz zur Stütze hat. So hatte schon Epikur eine Sittenlehre, welche sich auf den Zug der Natur selbst stützte, während er die Reinigung der Seele vom Aberglauben durch die Naturerkenntniss in die Form eines sittlichen Gebotes brachte.
Czolbe leitet die Sittlichkeit aus dem Wohlwollen ab, welches sich im Verkehr des Menschen mit dem Menschen mit Naturnothwendigkeit entwickelt. Das Princip der Ausschliessung des Uebersinnlichen aber hat einen bestimmten sittlichen Zweck.
Hier wurzelt die Anschauung unseres Philosophen sehr tief, obwohl er sie meist nur mit schlichten, sogar unzulänglichen Ausdrücken vorträgt, oder sich auf irgend einen Gewährsmann beruft. Durch unsere ganze Zeit geht der Grundzug der Erwartung einer grossartigen und fundamentalen, wenn auch vielleicht still und friedlich sich vollziehenden Reform aller Anschauungen und Verhältnisse. Man fühlt, dass die Weltperiode des Mittelalters erst jetzt sich dem Ende zuneigt, und dass die Reformation, und selbst die französische Revolution, vielleicht nur Dämmerungsstrahlen eines neuen Lichtes sind. In Deutschland vereinigte sich die Wirkung unserer grossen Dichter mit den politischen, kirchlichen und socialen Bestrebungen der Zeit, um solchen Stimmungen und Ansichten Vorschub zu leisten. Das Stichwort aber gab, wie in so mancher Beziehung, die Hegelsche Philosophie durch die Forderung der Einheit von Natur und Geist, welche in der langen Periode des Materialismus im schroffen Gegensatze erschienen waren. Schon Fichte hatte es gewagt, die im neuen Testament verhiessene Ausgiessung des heiligen Geistes mit derselben Kühnheit nach dem Licht seiner Zeit umzudeuten, mit welcher Christus und die Apostel die Propheten des alten Bundes gedeutet hatten. Die natürliche Einsicht kommt erst in unserer Epoche zur vollen Entfaltung und offenbart sich damit als der wahre heilige Geist, der uns in alle Wahrheit leiten soll. Hegel gab diesen Gedanken eine bestimmtere Richtung. Seine Auffassung der Weltgeschichte lässt den Dualismus von Geist und Natur als eine grossartige Durchgangsstufe zwischen einer niederen und einer höheren, geläuterten Periode der Einheit erscheinen; ein Gedanke, der einerseits Anknüpfungspunkte an die innersten Motive der kirchlichen Lehre gewährt und anderseits zu jenen Bestrebungen veranlasst hat, welche in der völligen Beseitigung aller Religion ihre Aufgabe finden. Es konnte bei der Verbreitung dieser Ansichten nicht fehlen, dass Deutschland nun seinen Blick auf das classische Alterthum zurückwandte, und namentlich auf das geistesverwandte Griechenland, in welchem jene Einheit von Geist und Natur, der wir wieder entgegengehen sollen, bisher am vollendetsten in die Erscheinung getreten ist. Es ist namentlich eine Stelle von Strauss, in welcher Czolbe das Resultat dieser Betrachtungen glücklich zusammengefasst findet.«
»Materiell,« sagt Strauss in seiner Betrachtung über Julian, »ist dasjenige, was Julian aus der Vergangenheit festzuhalten versuchte, mit demjenigen verwandt, was uns die Zukunft bringen soll: die freie, harmonische Menschlichkeit des Griechenthums, die auf sich selbst ruhende Mannhaftigkeit des Römerthums ist es, zu welcher wir aus der langen, christlichen Mittelzeit und mit der geistigen und sittlichen Errungenschaft von dieser bereichert, uns wieder herauszuarbeiten im Begriffe sind.« Wenn man nach der Weltauffassung der Zukunft fragt, so dürfte der Sensualismus insofern jener Ansicht von Strauss entsprechen, als Anschaulichkeit des Denkens eine Einheit oder Harmonie unseres ganzen bewussten Lebens; Resignation auf das, was die Erkenntniss als unmöglich oder nicht existirend erweist, eine gewisse Mannhaftigkeit des Gefühls oder Gemüthes zu bedingen scheinen.«
So Czolbe, und der Umstand, dass er in der späteren Schrift über die Entstehung des Selbstbewusstseins auf jene Stelle zurückkommt, zeigt uns ihre fundamentale Bedeutung für seinen Sensualismus in noch hellerem Lichte.
»Zu dem früher über die ästhetische Bedeutung des Materialismus Gesagten ist hier noch hinzuzufügen, dass, wie die richtige Mitte, das Maasshalten ein wesentliches Merkmal der griechischen Kunstwerke war, unser Streben auch in dieser Beziehung der Aesthetik entspricht. Das welthistorische Ideal jedes derartigen Suchens aber hat der erste Anreger des heutigen Materialismus, David Strauss, ... mit freudiger Zuversicht bezeichnet.«
Hier sehen wir auch, wie Strauss zu der Ehre kommt, als Vater des heutigen Materialismus genannt zu werden; denn für Czolbe ist in der That der ganze Materialismus aus jenem sittlich-ästhetischen Keime entsprossen. Czolbe's ganze Natur ist im Grunde dem Idealen zugewandt und seine ganze geistige Entwicklung führt ihn immer entschiedener dieser Richtung zu. Dieser raubt aber seiner Darstellung des Sensualismus keineswegs das Interesse, welches sie uns ihrer eigenthümlichen Ausbildung wegen gewährt. Hören wir deshalb noch eine andere Stelle!
»Die aus der Unzufriedenheit mit dem irdischen Leben entspringenden sogenannten moralischen Bedürfnisse dürfte man ebenso richtig unmoralische nennen. Es ist eben kein Beweis von Demuth, sondern von Anmassung und Eitelkeit, die erkennbare Welt durch Erfindung einer übersinnlichen verbessern und den Menschen durch Beilegung eines übersinnlichen Theiles zu einem über die Natur erhabenen Wesen machen zu wollen. Ja gewiss – die Unzufriedenheit mit der Welt der Erscheinungen, der tiefste Grund der übersinnlichen Auffassungen ist kein moralischer, sondern eine moralische Schwäche! Da, wie die Bewegung einer Maschine den geringsten Kraftaufwand verlangt, wenn man genau den richtigen Angriffspunkt trifft, auch die systematische Entwickelung richtiger Grundgedanken oft viel weniger Scharfsinn fordert, als diejenige falscher – so macht der Sensualismus nicht Anspruch auf grössere Scharfsinnigkeit, wohl aber auf tiefere, ächtere Sittlichkeit.«
Czolbe harmonirt aber nicht nur darin mit Kant, dass er seine positiven Lehren auf ein sittliches Princip basirt, sondern er theilt auch die negative Seite des Kriticismus, indem er einen strengen Verstandesbeweis für irgend ein metaphysisches System für unmöglich hält. Seine Vernunftkritik ist ausserordentlich einfach; man würde sie ohne den eigenthümlichen Zusammenhang mit dem dargelegten sittlichen Grundprincip für einen blossen Anflug von Skepticismus ansehen; allein eben in dem eigenthümlichen Zusammenhang von Skepsis, Moral und philosophischer Dogmatik ist die Analogie mit Kant unverkennbar.
Wie Kant darauf hinweist, dass die Metaphysik bisher zu keinem bestimmten Gang habe kommen können, so hebt auch Czolbe hervor, dass mit der Annahme der übersinnlichen Existenzen seit Jahrtausenden kein Fortschritt der Erkenntniss errungen sei. Dann bekämpft er den Begriff der »Möglichkeit«, der in der Wissenschaft eine Rolle spiele, die ihm gar nicht zukomme, »indem auch in den sinnlosesten Ansichten ein logischer Widerspruch selten stattfindet.« Wir sehen davon ab, dass dieser Satz wohl eher umzukehren wäre, da nach unserer Ansicht auch in den sinnreichsten metaphysischen Systemen logische Elementarschnitzer nicht zu fehlen pflegen. Zur Begründung des Zweifels an der Zulänglichkeit der blossen Logik in Sachen der Metaphysik kommt beides auf dasselbe hinaus. So wollen wir auch mit Czolbe darüber hier nicht lange rechten, dass er die Uebersinnliches annehmenden Systeme der Religion und speculativen Philosophie eben jener Hinterthür der Möglichkeit wegen für unwiderlegbar hält. Unserer Ansicht nach sind sie deshalb unwiderleglich, weil der Mensch seiner Natur nach Unsinn schluckt wie Wasser; ganz abgesehen davon, dass jene Systeme oft vielmehr dem edelsten Wein vergleichbar sind, der Herz und Gemüth erfreut und zu hohen Dingen begeistert. Dies beiläufig; nun noch eine Aeusserung Czolbe's!
»Dass eine solche Widerlegung nicht ausführbar ist, hat auch die wesentliche Erfolglosigkeit der bekannten Bestrebungen von Strauss, Bruno Bauer, Feuerbach, Vogt, Moleschott u. a. bewiesen. Indem sich diese Schriftsteller aber das gewiss nicht gering anzuschlagende Verdienst erwarben, Unbefriedigtheit, Zweifel und Widerwillen in Bezug auf das Uebersinnliche allgemein zu verbreiten, entstand unter den Gebildeten nothwendig das Bedürfniss nach etwas Neuem. Es liegt auf der Hand, dass die heute so ungemein umfangreiche naturwissenschaftliche Literatur in mehr oder weniger populärer Form die nothwendige Consequenz sein musste. Da es aber ein unabweisliches Bedürfniss des Menschen ist, sein fragmentarisches Wissen durch eine allgemeine Weltauffassung in einen inneren Zusammenhang zu bringen, so dürfte die letzte nothwendige Folge ein System des Naturalismus sein.«
Hier hätten wir also auch die Einheitsbestrebungen der Vernunft gebührend berücksichtigt! Es wird sich nur fragen, was der Materialismus in dieser Beziehung leisten kann, und ob er überhaupt, selbst auf der Basis des sittlichen Bedürfnisses, fernerhin möglich ist. Hier hat Czolbe eine ungleich schwierigere Aufgabe als Kant. Denn dieser bedurfte zur Begründung seines transscendentalen Idealismus durchaus nicht mehr, als die blosse Denkbarkeit; da er sich überhaupt in der intelligiblen Welt hielt und von der Erfahrungswelt gar nichts behauptete oder auch nur für wahrscheinlich ausgab, als was die exacten Wissenschaften lehren. Da Czolbe aber den Spiess umkehrt und die Befriedigung des Gemüthes gerade in der Verbannung alles bloss Intelligiblen sucht, so bleibt ihm zur Erreichung seines Zieles nur Naturwissenschaft, und seine Metaphysik selbst muss die Form einer naturwissenschaftlichen Hypothese annehmen. Da ist aber ohne die Erreichung der höchsten Wahrscheinlichkeit nicht einmal an Befriedigung des Verstandes zu denken, geschweige denn an die Erfüllung weiter gehender Ansprüche des Gemüthes.
Hier liegt nun auch der Punkt, in welchem Czolbe der schroffste Antipode von Kant ist. Er muss, um uns wirklich zu befriedigen, nicht nur die sittliche Forderung aufstellen, vom Uebersinnlichen abzusehen, sondern er muss uns auch wahrscheinlich machen, dass es dergleichen ausser unseren Hirngespinsten gar nicht giebt. Die hohle Möglichkeit braucht nicht beseitigt zu werden; denn auf diese giebt der Mensch doch nur dann etwas, wenn er es aus anderen Gründen mit Gewalt will. Es handelt sich um weit mehr; denn Kant glaubte bewiesen zu haben, dass es eine von unserer Erscheinungswelt verschiedene Welt der Dinge an sich geben muss. Der categorische Imperativ würde vielleicht ausreichen, diese zu verbannen, wenn es sich nicht eben um ein System handelte, welches allseitige Befriedigung gewähren soll. Der sporadische Materialismus kann gelegentlich zugeben, dass wir die Welt nur menschlich auffassen; er kann fordern, dass man sich dabei genügen lasse, indem er im Grunde die Philosophie selbst verwirft und die stückweise Erkenntniss des Einzelnen an die Stelle der Einheitsbestrebungen setzt. Der systematische Philosoph muss sich beim Wort nehmen lassen. Räumt er das Dasein des Dings an sich ein, so muss er auch Kant weiterhin zugeben, dass wenigstens die Kenntniss der Grenzen unseres Erkenntnissvermögens von Interesse ist. Damit aber ist schon die völlige Ausschliessung des Uebersinnlichen unmöglich; denn die Grenze kann ohne ein Diesseitiges und Jenseitiges nicht gedacht werden. Ja, genau genommen ist schon in der blossen Annahme der Möglichkeit des Dings an sich etwas Uebersinnliches enthalten; freilich zu wenig, um den Gelegenheits-Materialisten zu kümmern.
Diese ganze Aufgabe hat Czolbe in ihrer vollen Schwere empfunden und er hat mit ihr in einer Weise gerungen, welche uns zuweilen schier verzweifelt bedünken will. Er sah sich dabei nicht nur mit den Philosophen, sondern namentlich auch mit den Naturforschern selbst in vielfachen Widerspruch versetzt; denn namentlich unsere Physiologen sind fast sammt und sonders Kantianer wider Willen. Um das Princip der Anschaulichkeit völlig durchzuführen, bedurfte Czolbe nicht nur einer neuen Theorie des Selbstbewusstseins, welche harte Beurtheilungen erfahren hat, sondern auch einer neuen Theorie der Sinneswahrnehmungen, deren Durchführung wieder zahlreiche Hülfs-Hypothesen aus der Physik und der Kosmologie nothwendig machte. Das Bedenkliche eines solchen Verfahrens ist leicht einzusehen. Die guten und grossen Hypothesen enthalten meist eine einzige Annahme, welche sich an sehr vielen Fällen bewahrheiten lässt; hier dagegen haben wir eine grosse Reihe von Hypothesen, welche sich kaum überhaupt durch die Erfahrung prüfen lassen. Wenn nur eine einzige falsch ist, so ist das ganze System falsch. Setzt man die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit für jede einzelne Hypothese gleich gross mit der Wahrscheinlichkeit des Gegentheils, also = ½, so ergiebt sich für die Richtigkeit des ganzen Systems schon ½ n als Ausdruck der Wahrscheinlichkeit, wo n die Zahl der Hypothesen bedeutet. Auf diesem einfachen mathematischen Gesetz beruht das Missliche aller Constructionen mit Hülfs-Hypothesen, welches wir übrigens auch ohne mathematischen Nachweis empfinden.
So ist es denn nicht zu verwundern, wenn Czolbe selbst (Entsteh. des Selbstbew. S. 53) über seinen idealen Materialismus die Aeusserung thut: »Ich kann mir wohl denken, wie man darüber urtheilen wird: scheint es mir doch selbst, dass ich durch die Consequenzen, zu denen das Princip mich zwang, in eine mährchenhafte Gedankenwelt gerathen bin.« In der That will uns bedünken, dass Czolbe in solchen vermeintlichen Consequenzen weit mehr gethan hat, als durch die Natur der Sache geboten war. Die Bestreiter des Materialismus lieben es meist, Czolbe's Ansicht als die wirkliche und wahre Consequenz des Materialismus darzustellen, weil sie dadurch auf wohlfeile Weise die gewöhnlichen Ansichten der Naturforscher auf ihre Seite ziehen können. Czolbe macht dagegen mit Vorliebe den Theologen das entsprechende Geständniss, dass sie von ihren Grundsätzen aus durchaus consequent zu Werke gingen. Die eigenthümliche Neigung der Extreme, sich gegenseitig anzuerkennen und gegen die mittleren Richtungen zu verbünden, scheint hier hervorzutreten. In der That aber ist die berühmte Consequenz der Theologie eben so bedeutungslos als die Behauptung, dass Czolbe die nothwendige Consequenz des Materialismus vertrete. In der Dogmatik der katholischen Kirche, die so oft als besonders consequent gerühmt wird, läuft die ganze Consequenz darauf hinaus, dass die nämliche petitio principii, dass die Kirche im Besitz der Wahrheit ist, immer und immer wiederkehrt, bald versteckt, bald unverhüllt. Aehnlich steht es mit andern dogmatischen Systemen. Der Werth der kirchlichen Lehren gegenüber einem mittelmässigen Philosophem besteht vielmehr nur in ihrer tieferen sittlichen Wirkung, und hier, nicht in der Consequenz der Extreme, liegt auch der Punkt, welcher Czolbe mit der Kirchenlehre, trotz des tiefen materiellen Gegensatzes versöhnt. Im Wesentlichen müssen wir aber auch diesen merkwürdigen Versuch, den Materialismus durch die Begründung auf ein sittliches Princip – das der Zufriedenheit mit der bestehenden Welt – begründen zu wollen, als gescheitert betrachten. Die wirkliche Welt ist eben nicht so geduldig, wie die intelligible. Wo schon der erste Grundsatz des Systems eine genügende Welterklärung fordert, da müsste auch eben eine allen Anforderungen des Denkers genügende Erklärung geboten werden. Dies konnte Demokrit für den Standpunkt des Alterthums durch die Atomistik leisten. Heutzutage wird es kein System mehr leisten, welches nicht durch eine gemilderte Skepsis sich selbst wieder Schranken setzt. Dies ist denn auch im Ganzen der Weg, welchen der heutige Materialismus geht. Man könnte vielleicht bei einzelnen Persönlichkeiten, wie z. B. bei Büchner, nachweisen, wie sie allmählig aufhören, Materialisten zu sein, indem sie mit immer grösserer Sicherheit den Relativismus handhaben. Eins der bedeutendsten Erzeugnisse dieser Richtung ist jedenfalls das Werk, welches in den letzten Jahren unter dem Titel: » Isis. Der Mensch und die Welt« in vier inhaltreichen Bänden erschienen ist. Es gehört jedoch schon zu sehr der Gegenwart an, und hat dabei trotz seines reichen Inhaltes noch zu wenig auf die Zeitgenossen eingewirkt, um uns zu einer Besprechung zu veranlassen; zumal, da unser Plan es mit sich bringt, die wichtigsten Fragen nunmehr auf die besondern Gebiete der positiven Wissenschaften zu verfolgen.