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Erstes Buch.
Geschichte des Materialismus bis auf Kant.

Erster Abschnitt.
Der Materialismus im Alterthum.

I. Die Periode der älteren Atomistik, insbesondere Demokrit.

Der Materialismus ist so alt als die Philosophie, aber nicht älter. Die natürliche Auffassung der Dinge, welche die ältesten Perioden culturhistorischer Entwickelung beherrscht, bleibt stets in den Widersprüchen des Dualismus und in den Phantasiegebilden der Personifikation befangen. Die ersten Versuche sich von diesen Widersprüchen zu befreien, die Welt einheitlich aufzufassen und sich über den gemeinen Sinnenschein zu erheben, führen bereits in das Gebiet der Philosophie, und schon unter den ersten Versuchen hat der Materialismus seine Stelle.

Mit dem Beginn des consequenten Denkens ist aber auch ein Kampf gegeben gegen die traditionellen Annahmen der Religion. Diese wurzelt in den ältesten und rohesten, widerspruchsvollen Grundanschauungen, die in unverwüstlicher Kraft von der ungebildeten Menge immer neu wieder erzeugt werden; eine immanente Offenbarung verleiht ihr mehr auf dem Wege der Ahnung als des klaren Bewusstseins einen tiefen Gehalt, während der reiche Schmuck der Mythologie, das ehrwürdige Alter der Ueberlieferung sie dem Volke theuer machen. Die Kosmogonien des Orients und des griechischen Alterthums geben ebenso wenig spiritualistische als materialistische Anschauungen, es tritt daher jede consequente Philosophie, und besonders der einfache Materialismus, in einen Kampf mit der Theologie seiner Zeit, der je nach den Verhältnissen erbitterter oder versteckter geführt wird, und der nur mit einer völligen Trennung des praktischen und theoretischen Gebietes geschlichtet werden kann.

Es ist ein Irrthum, wenn man das Vorhandensein, ja das tiefe Eingreifen jenes Kampfes im hellenischen Alterthum verkennt; es ist aber leicht zu sehen wie dieser Irrthum entstand.

Wenn Generationen einer fernen Zukunft unsere ganze heutige Cultur nur nach den Trümmern der Werke eines Göthe und Schelling, eines Herder oder Lessing beurtheilen sollten, man würde wohl auch in unserer Zeit die tiefen Klüfte, die scharfen Spannungen entgegengesetzter Tendenzen wenig bemerken.

Es ist den grössten Männern aller Zeiten eigen, dass sie die Gegensätze ihrer Epoche in sich zu einer Versöhnung gebracht haben. So stehen im Alterthum Plato und Sophokles da, und je der Grösste zeigt uns oft in seinen Werken die geringsten Spuren der Kämpfe, welche die Massen zu jener Zeit bewegten, und welche auch er in irgend einer Form durchlebt haben muss. – Die Mythologie, welche uns in dem heiteren und leichten Gewande hellenischer und römischer Dichter erscheint, war weder die Religion des Volkes noch die der wissenschaftlich Gebildeten, sondern ein neutraler Boden, auf dem sich beide Theile begegnen konnten.

Das Volk glaubte weit weniger an den ganzen poetisch-bevölkerten Olymp als vielmehr an die einzelne Stadt- und landesübliche Gottheit, deren Bild im Tempel als vorzüglich heilig verehrt wurde. Nicht die schönen Statuen berühmter Künstler fesselten die betende Menge, sondern die alten ehrwürdigen, unförmlich geschnitzten und durch Tradition geheiligten. Es gab auch bei den Griechen eine starre und fanatische Orthodoxie, die sich ebensowohl auf das Interesse einer stolzen Priesterschaft, als auf den Glauben einer heilsbedürftigen Menge stützte.

Dies würde man vielleicht gänzlich vergessen haben, hätte nicht Sokrates den Giftbecher trinken müssen; aber auch Aristoteles floh von Athen, damit die Stadt sich nicht zum zweiten male an der Philosophie versündige.

Protagoras wurde polizeilich ausgewiesen, seine Werke confiscirt und verbrannt. Anaxagoras wurde gefangen gesetzt und musste fliehen. Theodorus und Diogenes von Appollonia wurden als Gottesleugner verfolgt. Und alles das geschah in majorem dei gloriam in dem humanen Athen. – Vom Standpunkte der Menge aus konnte jeder, auch der idealste Philosoph als Gottesleugner verfolgt werden; denn keiner dachte sich die Götter wie die priesterliche Tradition es vorschrieb sie zu denken.

Werfen wir nun einen Blick auf die Küsten Klein-Asiens in jenen Jahrhunderten, die der Glanzperiode hellenischen Geisteslebens zunächst vorangehen, so zeichnet sich durch Reichthum und materielle Blüthe, durch Kunstsinn und Verfeinerung des Lebens die Colonie der Ionier aus mit ihren zahlreichen und bedeutenden Städten. Handel und politische Verbindungen und der zunehmende Drang nach Wissen führte die Einwohner von Milet und Ephesus zu weiten Reisen, brachte sie in mannichfache Berührung mit fremden Sitten und Meinungen und beförderte die Erhebung einer freigesinnten Aristokratie über den Standpunkt der beschränkteren Massen. Einer ähnlichen frühen Blüthe erfreuten sich die dorischen Kolonien in Sicilien und Unteritalien. Man darf unbedenklich annehmen, dass, längst vor dem Auftreten der Philosophen, unter diesen Verhältnissen eine freiere und aufgeklärte Weltanschauung sich unter den höheren Schichten der Gesellschaft verbreitet hatte.

In diesen Kreisen wohlhabender, angesehener, weltgewandter und vielgereister Männer entstand die Philosophie. Thales, Heraklit und Empedokles nahmen eine hervorragende Stellung unter ihren Mitbürgern ein, und es ist kein Wunder, dass Niemand daran dachte, sie wegen ihrer Ansichten zur Rechenschaft zu ziehen. Dies ist freilich noch nachträglich geschehen; denn im vorigen Jahrhundert wurde die Frage, ob Thales ein Gottesleugner gewesen, in eigenen Monographien eifrig abgehandelt. – Erst als Sokrates die Philosophie unter die Massen zu bringen drohte, als die Sophisten ein Gewerbe aus ihr zu machen begannen, erwachte die Opposition und trat mit der Staatsgewalt für die Interessen des traditionellen Glaubens ein. –

Wenn nun jene aristokratische Lebensbildung reicher und grosser Städte als befreiendes Element vorbereitend wirkte, so gab doch den positiven Anstoss zu der entscheidenden Frage nach dem wahren Wesen der Dinge die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften. Thales und Anaximander waren Astronomen und Mathematiker. In diesen Wissenschaften war damals der Orient Griechenland weit voraus; die bedeutendsten griechischen Forscher besassen nur Bruchstücke von der Weisheit der Chaldäer, der Inder, der Aegypter: eins aber war ihnen gegeben, was der Orient nicht kannte, und in diesem einem concentrirt sich der Ausdruck für die ganze wissenschaftliche Befähigung des Griechenvolkes.

Sie verstanden es Consequenzen zu ziehen und allgemeine Sätze klar und nüchtern zu formuliren. Ist die neuere Zeit gross durch Induction, so war Deduction das Charakteristische der griechischen Forschung in der Naturwissenschaft wie in der Philosophie. – Es ist heutzutage gebräuchlich geworden, namentlich bei den Engländern seit Baco, den Werth der Deduction zu gering anzuschlagen. Whewell in seiner berühmten Geschichte der inductiven Wissenschaften thut den griechischen Philosophen häufig Unrecht; namentlich der aristotelischen Schule. Er bespricht in einem eigenen Capitel die Ursachen ihres Misslingens, indem er beständig den Maassstab unserer Zeit und unseres wissenschaftlichen Standpunktes an sie anlegt. Es ist aber festzuhalten, dass eine grosse Arbeit zu thun war, bevor die leere Beobachtung des alten Orients in unser folgenreiches Experimentiren übergehen konnte: es war eine Schule strengen Denkens zu geben, bei der es zur Erreichung des nächsten Zweckes auf die Prämissen nicht ankam.

Dies ist die Errungenschaft der Hellenen und sie gaben uns denn auch zuletzt das wesentlichste Fundament deductiver Natur, die Elemente der Mathematik, in denen im Grunde das reine Princip aller ableitenden Beweise enthalten war. Die scheinbare Umkehrung des natürlichen Ganges, welche darin liegt, dass die Menschheit früher lernte, in richtiger Weise abzuleiten, als richtige Anfänge des Schliessens zu finden, kann erst vom psychologischen und culturgeschichtlichen Standpunkte aus als natürlich erkannt werden. Wir neigen in allen Dingen dazu, vor dem Uebergang zu tüchtigen Schöpfungen erst die Form an ungenügenden Stoffen darzustellen. Das methodische Grundprincip der Griechen war ein formalistisches, was sich am reinsten an Aristoteles darstellt.

Es ist daher nicht zu verwundern, dass Baco fast das gesammte philosophische Alterthum, zu dem er in so schroffem Gegensatze stand, rücksichtslos herabsetzte: vor Allem den Aristoteles.

Ein Mann nur war es, den Baco ausnahm: Demokrit. Zu diesem allein aus dem gesammten Alterthum fühlte sich Baco durch einen verwandten Geist der Forschung hingezogen.

Als der Perserkönig Xerxes den Hellespont überschritten hatte und mit seinem zahllosen Angriffsheer Thraciens Küsten entlang zog, kam er auch in die jonische Pflanzstadt Abdera.

Hier soll er bei dem reichen Vater Demokrits im Quartier gelegen und diesem zum Lohn einige Mager und Chaldäer zurückgelassen haben, die den jungen Demokrit in den Wissenschaften des Morgenlandes unterwiesen.

Später soll Demokrit seinen Landsmann Leukippus gehört haben, von dem er die Principien der Atomistik erlernte. Wir wissen nichts weiter von diesem Philosophen als eben dies, dass er die Lehre vom leeren Raum und den Atomen schon vor Demokrit gehabt habe. Diogenes von Laerte erzählt, zum Theil nach Demokrits eigenen Werken, dass dieser nach dem Tode des Vaters ein ungeheures Vermögen mit seinen zwei Brüdern getheilt habe. Sein Antheil habe über hundert Talente betragen, ein Kapital, das bei der Höhe des damaligen Zinsfusses und bei der Wohlfeilheit der nothwendigsten Lebensbedürfnisse schon einen entschieden reichen Mann machte.

Charakteristisch ist es nun, dass Demokrit dieses Vermögen nach seinen eigenen Angaben bis auf den letzten Heller aufgezehrt hat: nicht in Ueppigkeit und Schwelgerei, sondern auf seinen weiten Reisen, die dem Drang nach Wissenschaft gewidmet waren. Arm zurückgekehrt wurde er von seinem Bruder unterstützt, aber bald kam er in den Ruf eines weisen, von den Göttern begeisterten Mannes durch eingetroffene Vorhersagungen (vermuthlich naturhistorischer Art). Endlich schrieb er sein grosses Werk Diakosmos, dessen öffentliche Vorlesung seine Vaterstadt mit hundert, nach andern mit fünfhundert Talenten und mit der Errichtung von Ehrensäulen belohnt haben soll. Das Todesjahr des Demokrit ist ungewiss, aber allgemein die Annahme, dass er über hundert Jahre alt geworden und heiter und schmerzlos vom Leben geschieden sei.

Demokrits Lehre trägt einen entschieden materialistischen Charakter, die Atomistik ist zwar gar nicht seine Erfindung, aber sie ist von ihm am consequentesten und kräftigsten ausgebildet worden. Als die wichtigsten seiner Lehrsätze kann man die folgenden betrachten:

  1. »Die Prinzipien aller Dinge sind die Atome und der leere Raum; alles Andere ist Meinung.«

  2. »Es giebt unendliche Welten an Zahl und Ausdehnung, die beständig entstehen und vergehen.«

  3. » Aus Nichts wird Nichts und Etwas kann nie vernichtet werden.«

(Dieser Satz enthält schon einen allgemeinen Ausdruck für die beiden grossen Lehrsätze der Neuzeit, den Satz von der Unzerstörbarkeit des Stoffes und den von der Erhaltung der Kraft, die ja auch in der That metaphysisch betrachtet, nur verschiedene Ausdrücke ein und derselben Sache sind.)

  1. »Die Atome sind in beständiger Wirbelbewegung, aus der alles Entstehen und Vergehen als äusserliche Verbindung und Trennung zu erklären ist.«

  2. »Die Verschiedenheit der Dinge rührt her von Verschiedenheit der Atome an Zahl und Gestalt; ursprünglich qualitative Verschiedenheit der Atome findet nicht statt.«

  3. »Alles geschieht durch Nothwendigkeit; Zweckursachen sind zu verwerfen.« –

Letzterer Satz gefiel vermuthlich dem Baco um so besser, da Aristoteles sich an verschiedenen Stellen bitter darüber beklagt, dass Demokrit Nichts aus seinem Zweck erkläre. – Diese ächt materialistische Leugnung der Zweckursachen hat denn auch schon bei Demokrit zu denselben Missverständnissen geführt, die noch heute den Materialisten gegenüber fast allgemein herrschen: zu dem Vorwurf, als herrsche bei ihm ein blinder Zufall. Nichts widerspricht sich vollständiger als Zufall und Notwendigkeit, und dennoch wird nichts häufiger verwechselt. Der Grund hierfür liegt darin, dass der Begriff der Nothwendigkeit ein vollkommen klarer und fester, der des Zufalls ein sehr schwankender und relativer ist. –

Wenn einem Menschen ein Ziegel auf den Kopf fällt, während er gerade über die Strasse geht, so sieht man das als Zufall an, und doch zweifelt Niemand, dass der Luftdruck des Windes, das Gesetz der Schwere und andere natürliche Umstände den Vorgang vollständig bestimmten, so dass er mit Naturnothwendigkeit erfolgte und auch mit Naturnothwendigkeit gerade den in diesem Zeitmoment auf dieser bestimmten Stelle befindlichen Kopf treffen musste.

Man sieht an diesem Beispiele leicht, dass die Annahme des Zufalls lediglich eine partielle Negation des Zweckes ist. Das Fallen des Steines konnte nach unserer Ansicht keinen vernünftigen Zweck haben, wenn wir es zufällig nennen.

Nimmt man nun aber mit der christlichen Religionsphilosophie absolute Zweckbestimmung an, so hat man den Zufall ebenso vollständig ausgeschlossen, als bei Annahme absoluter Causalität. In diesem Punkte decken sich die beiden consequentesten Weltanschauungen vollständig, und beide lassen dem Begriff des Zufalls nur noch einen willkührlichen und uneigentlichen praktischen Gebrauch zu. Wir nennen zufällig entweder das, dessen Zweck oder Grund wir nicht durchschauen, lediglich der Kürze wegen, also ganz unphilosophisch, oder wir gehen von einem einseitigen Standpunkt aus, wir behaupten dem Teleologen gegenüber die Zufälligkeit des Geschehens, um nur die Zwecke los zu werden, während wir dieselbe Zufälligkeit wieder aufgeben, sobald vom Satze des zureichenden Grundes die Rede ist. –

Blicken wir nun auf das System Demokrits zurück, so finden wir bei ihm diejenige naturwissenschaftliche Hypothese, welche noch biß auf den heutigen Tag von der empirischen Wissenschaft als die mindestens bequemste betrachtet wird, deren Kritik wir daher bis in die Besprechung anderer Theorien versparen. Wir finden bei ihm den Satz der Aequivalenz alles Seienden, den unsere Zeit noch zu beweisen beschäftigt ist, axiomatisch vorausgesetzt; wir finden endlich in der entschiedenen Parteinahme für die Causalität wider die Teleologie die erste Grundbedingung alles erfolgreichen Naturstudiums.

Merkwürdig ist, dass Demokrit, der Materialist, vor dem reinsten Formalisten des Alterthums, Pythagoras, der das Wesen der Dinge einzig in der Zahl fand, eine grosse Hochachtung gehabt haben soll. Die Pythagoräer haben bekanntlich auf dem Felde der Akustik und Musik, wo es sich um Zahlenverhältnisse handelte, die frühesten und wichtigsten Entdeckungen gemacht.

Die Ethik Demokrits war höchst einfach, er setzte den Zweck des Handelns in die εὐεστώ oder die gute Beschaffenheit des Gemüthes; eine etwas mannhaftere Form der späteren Hedonik. Uebrigens fiel das Hauptgewicht seines Wirkens und seiner literarischen Thätigkeit, von der leider nichts erhalten ist, auf das Gebiet der Naturwissenschaften, Mathematik und Musik, Ethnographie und verschiedene praktische Zweige. Seine ausgedehnte und in ihrer Art einzige Gelehrsamkeit wird im Alterthum einmüthig gerühmt.

Namentlich soll er auch bedeutende medicinische Kenntnisse besessen haben, aber Alles was uns darüber mitgetheilt wird ist unsicher und mythisch. So ist es denn auch nicht mehr als eine Fabel, die vielleicht auf einigem Grunde beruht, vielleicht auch gar nicht, was man erzählt von seinem Zusammentreffen mit Hippokrates. Dennoch ist diese Erfindung, wenn es eine ist, keine der müssigen: sie drückt wie so manche Fabel des Alterthums das Bewusstsein eines inneren Verhältnisses aus, der Zusammengehörigkeit beider Männer nach Ziel und Bedeutung ihres Strebens.

Hippokrates aus der Insel Kos entstammte einer Familie von Priestern des Aeskulap, in der medicinische Künste seit geraumer Zeit mit theologischen Traditionen verbunden waren. Gab es auch zu seiner Zeit bereits weltliche Aerzte, so ist doch im wesentlichen die Lostrennung der Medicin von der Theologie und damit die Begründung ihrer Wissenschaftlichkeit als seine That zu betrachten.

Der alte Ruhm jener Priesterschaften des Aeskulap, die er selbst verliess, um zu freiem, nüchternem Forschen überzugehen, und die eigene Genialität des Hippokrates geben seinem Schritt diese hohe Bedeutung. Sein Streben ist durchaus auf die Gewinnung natürlicher und einfacher Gesichtspunkte und Principien gerichtet. Daher adoptirt er die Empedokleische, dem Atomismus nahe verwandte Theorie von den vier Elementen, die seiner Lehre von der Mischung der Säfte zu Grunde liegt.

Sind auch jene Principien falsch, so hatten sie doch etwas dem damaligen Zustande der empirischen Kenntnisse, da man von den Nerven und ihrer Bedeutung noch nichts wusste, durchaus entsprechendes; sie waren gesund und es ist nicht die Schuld des Hippokrates, wenn sie von seinen Nachfolgern in einen Dogmatismus verwandelt wurden, der ein weiteres Fortschreiten hemmte und der noch heute in der Lehre von den Temperamenten sogar in der Psychologie sein Wesen treibt. Die hohe Achtung vor der Natur und das empirische Princip der Beobachtung sind Züge, die Hippokrates unverkennbar an die Seite Demokrits stellen.

Von Kräften neben oder über den Stoffen war bei beiden Männern keine Rede. Quantitative Mischung der Säfte bei Hippokrates wie quantitative Mischung der Atome bei Demokrit bildet die Ursache jeder Veränderung. Demokrit geht nur auf die letzten Bestandteile aller Säfte wie aller Elemente zurück, was der Arzt für seinen Zweck nicht nöthig findet. So ist diejenige Wissenschaft, welche dem Materialismus die meiste und die ergiebigste Nahrung gegeben hat, die Medicin, in ihrem Ausgangspunkt schon materialistisch. –

Besondere Berücksichtigung verdient hier noch die Lehre von der Lebenskraft. Heutzutage betrachtet man diese als das Grundprincip nicht materialistischer Anschauungen; sie ist es aber nur, wenn man den Begriff der Kraft dabei urgirt. Nimmt man statt dessen einen eigenen Lebensstoff, so hat man eine Ansicht, die der alten Ansicht von einer Stofflichkeit der Seele vollkommen parallel läuft und die man wohl fassen muss, um den Grundunterschied des alten Materialismus von dem neueren zu verstehen. –

Hippokrates nennt die inwohnende Wärme (τὸ ἔμφυτυν ϑερμόν) als Lebensprinzip und schliesst sich damit im Grunde der allgemeinen Ansicht aller Denker des Alterthums an. Die Bedeutung der »Wärme« hat Häser in seiner Geschichte der Medicin vollkommen missverstanden und modernisirt, wenn er sagt, Hippokrates habe also das Leben als einen fortgesetzten Verbrennungsprocess betrachtet. Wärme war den Alten ein mit dem Feuer verwandter feiner Stoff, nach der Lehre von der Mischung der Elemente eine Verdünnung des Feuers durch Luft, oder unter Anwendung der Atomistik eine bewegte Masse höchst feiner und runder Atome, die alles durchdringen und in Folge ihrer eigenen rapiden Bewegung auch sehr geeignet sind, andere Dinge in Bewegung zu setzen. Aus diesem Stoff war das belebende Princip des Hippokrates und es liegt in dieser Anschauung allerdings ein dualistischer Zug. Der Materialismus steckt jedoch darin, dass nicht nur die Lebens kraft als Lebens stoff gefasst wird, sondern dass auch dieser Stoff keineswegs als an sich belebend, lebendig oder denkend gefasst wird. Ganz dieselben Atome sind heute im Menschen Lebenshauch, Seele, Gedankentheil, morgen, wenn sie wieder ausgehaucht sind, gewöhnliche Flamme.

Ganz so wie es sich bei Hippokrates mit dem Lebensprincip verhält, steht es nun bei Demokrit mit der Seele. Aristoteles theilt uns ziemlich ausführlich Demokrits Theorie des Athmens mit. Sie beruht auf folgenden Annahmen.

Die feinen und runden beweglichen Atome, welche dem Menschen das Leben erhalten, werden beständig durch den Druck der umgebenden Theile aus ihm herausgepresst. Bliebe es dabei, so müsste das Wesen sterben; allein es erfolgt von aussen eine Gegenströmung solcher Atome, welche nun den zurückgebliebenen Rest wieder comprimiren und dadurch das Leben erhalten. Das Denken, Erkennen, Empfinden, Begehren, führte Demokrit auf Berührung der Objecte unter Vermittelung der circulirenden Atome zurück. Deutlicher erhalten sind uns diese Anschauungen bei Epikur.

Was wir Seele nennen ist also bei Demokrit ein Stoff, und dennoch giebt es keine Seelen-Substanz, sondern es ist derselbe Stoff der Feuer- und Luftatome, der sich, beständig wechselnd, in Feuer und Luft auch wieder zerstreut. Man sieht daher, dass trotz der stofflichen Seele der Gegensatz Demokrits zu unseren heutigen Materialisten nicht ausnehmend gross ist; denn die Seelenatome vertreten im Grunde nur die Stelle der Nerven und des Gehirnes, deren Wirkung man damals noch nicht kannte.

Der Materialismus Demokrits wurde schon im Alterthum wohl verstanden. Aristoteles, der grosse Formalist, bekämpfte ihn häufig und hat uns daher wohl leider hauptsächlich Schattenseiten des atomistischen Systems erhalten. Plato, der grosse Idealist, erwähnt ihn nirgends; man streitet sich, ob an einigen Stellen ohne Nennung des Namens gegen ihn polemisirt werde. Daher entstand denn wohl die Sage, dass Plato in fanatischem Eifer alle Werke des Demokrit habe aufkaufen und verbrennen wollen.

In neuerer Zeit hat Ritter in seiner Geschichte der Philosophie ein volles Gewicht antimaterialistischen Grolles auf Demokrits Andenken gehäuft, um so mehr können wir uns an der ruhigen Anerkennung eines Brandis und der glänzenden und überzeugenden Verteidigung Zellers erfreuen; denn Demokrit darf in der That unter den grossen Denkern des Alterthums zu den grössten gezählt werden.


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