Artur Landsberger
Emil
Artur Landsberger

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Siebzehntes Kapitel,
in dem Emils Vergangenheit zum ersten Male wieder lebendig wird

Wir Wilde sind doch bessere Menschen, dachte Emil, als Amalie draußen war. Zu weiterem Nachdenken ließ man ihm keine Zeit, denn er saß noch nicht wieder, da stürzte der Kriminalinspektor ins Zimmer und rief freudig und erregt:

»Herr Geheimrat! Wir haben einen Komplicen von Coeur-As!«

»Wie ist das möglich?« erwiderte Emil. »Ich habe nach der Richtung hin doch noch gar nichts unternommen.«

»Meine Beamten . . .«

». . . hatten zu warten, bis sie Befehle von mir erhielten.«

Der Inspektor war ganz verblüfft.

»Wir wollten Ihren Befehlen gewiß nicht vorgreifen – aber es scheint doch, daß Ihre bloße Anwesenheit genügt . . .«

»Höchst tölpelhaft!« fiel ihm Emil ins Wort.

»Und wir dachten gerade . . .«

»Sie haben nicht zu denken. – Die natürliche Folge dieser übereilten Verhaftung ist, daß Coeur-As, den ich in Sicherheit wiegen wollte, gewarnt ist.«

Der Inspektor entfärbte sich und sagte kleinlaut:

»Daran haben wir allerdings nicht gedacht.«

»Das ist es ja! Sie denken immer das Falsche. Daher haben Sie auch nur Mißerfolge. Um das zu ändern, habe ich mein Geschäft im Stich gelassen und mich hier zur Verfügung gestellt. Wenn Sie mir aber die Arbeit unmöglich machen, dann bitte ich noch heute den Minister um meine Entlassung.«

»Ich sehe ein . . . es war . . . ein Fehler.«

»Versuchen Sie, ihn gutzumachen.«

»Ich werde den Strafgefangenen sofort in Freiheit setzen.«

»Auf Ihre Verantwortung.«

»Selbstverständlich.«

»Und wenn ich Ihnen privatim einen Rat geben darf, so geben Sie ihn nicht frei – lassen Sie ihn entweichen.«

»Ich verstehe.«

»Erstaunlich,« erwiderte Emil ironisch.

Da der Inspektor, statt sich zu entfernen, noch immer am Schreibtisch stand, so sagte Emil:

»Worauf warten Sie noch?«

Und der Inspektor erwiderte zaghaft:

»Herr Regierungsrat werden aus diesem Versehen keine Konsequenzen ziehen?«

»Das wird davon abhängen, wie Sie sich bei der Fortführung der Untersuchung verhalten. Hier gibt es nur einen Willen, das ist meiner. Und zu denken haben Sie überhaupt nicht. Wenn Ihnen ein Befehl, den ich gebe, noch so absurd erscheint, so sagen Sie sich, daß Sie mit Ihrem subalternen Gehirn nicht imstande sind, meinen Gedankengängen zu folgen. Es hat alles einen Sinn, was ich tue. Einen tiefen Sinn! Der Ihnen erst sehr viel später eingehen wird.«

»Herr Regierungsrat haben das so überzeugend bewiesen, daß ich in jedem Falle danach handeln werde.«

»Haben Sie sonst noch etwas in der Sache getan?«

Der Inspektor wagte nicht aufzusehen.

»Heraus mit der Sprache!« befahl Emil.

»Leider ja. Wir haben durch eine Reihe von Zusammenhängen den Einbruch in die Villa des Herrn Redlich ziemlich restlos aufgeklärt.«

»So? – Haben Sie das getan? Sehen Sie mal an! Und nun kommen Sie sich womöglich noch unendlich tüchtig und gescheit vor?«

Der Inspektor sank immer mehr in sich zusammen und sagte leise:

»Nun nicht mehr.«

»Dann haben Sie womöglich auch noch weitere Verhaftungen vorgenommen?«

Der Inspektor wagte kaum, es zu gestehen.

»So reden Sie doch!« trieb ihn Emil an.

»Allerdings – aber ich werde – auch die anderen – entweichen lassen.«

»Das werden Sie nicht tun!« fuhr er ihn an.

»Es ist doch aber das einzig Richtige.«

»Das ist es. Wenn man Ihnen aber hernach einen Strick daraus dreht, dann werden Sie sich auf mich berufen, nicht wahr?«

»Ich schwöre, daß ich das nicht tun werde. Schon weil ich einsehe, daß es falsch war.«

»Ich liebe keine Geheimabmachungen mit Untergebenen. Das schafft schiefe Situationen. Der Fehler ist einmal gemacht. Soll die Sache also in Gottes Namen laufen. Einmal muß es ja doch kommen. – Also, was haben Sie vorbereitet?«

»Ich habe – aber das alles läßt sich ja noch rückgängig machen . . .«

»Was haben Sie?«

»Ich habe Herrn Redlich und seine Tochter telephonisch hierher beordert.«

»Sehr gescheit.«

»Man kann ihnen ja abtelephonieren.«

»Man wird es nicht tun. Haben Sie sonst noch jemanden herbestellt?«

»Eine Diva, bei der heute nacht eingebrochen worden ist.«

»Doch nicht etwa . . .?«

»Herr Regierungsrat meinen?«

»Nein, nein! Ich war mit meinen Gedanken eben wo anders. – Also was für eine Diva?«

»Signorina Assunta Lu.«

»Ja, was hat denn die mit dem Einbruch in Redlichs Villa zu tun?«

»Es bestehen da ganz zweifellos Zusammenhänge.«

»Das sagen Sie! – Ich wüßte wirklich nicht, wie das zusammenhängen soll.«

»Ich habe den Verhandlungssaal herrichten lassen und wollte Herrn Regierungsrat bitten, die Vernehmungen zu leiten.«

»Ich soll . . .? – Nein, mein Lieber, was Sie sich da eingebrockt haben, das baden Sie man selbst aus.« – Ihm kam ein Gedanke. Er nahm den Hörer vom Telephon und nannte eine Nummer. Dann rief er in den Apparat:

»Herr Oberstaatsanwalt selbst? – Denken Sie, wir haben die Komplicen von Coeur-As! Wie das möglich ist? Das frage ich mich auch. – Aber mein Inspektor ist sich seiner Sache ganz sicher. – – Bei einem Einbruch. – – Bitte, kommen Sie sofort! Aber bringen Sie die Akten mit. – Nein, gewonnen hat keiner von uns. Der Haupttäter ist noch nicht ermittelt. Aber ich zweifle nicht, daß es gelingen wird, wo wir die Komplicen haben. – – Also ich erwarte Sie – mit den Akten.«

Als Emil den Hörer wieder angehängt hatte, sagte der Inspektor, der ganz nahe an ihn herangetreten war, mit bittender Stimme:

»Wollen wir sie denn nicht lieber laufen lassen?«

»Nein! Aber Sie sprachen da von einem Komplicen – wie heißt er?«

»Anton.«

»Lassen Sie mir den zunächst einmal vorführen.«

»Im Beratungszimmer ist alles für die Verhandlung vorbereitet.«

»Ich möchte ihn aber erst mal hier unter vier Augen haben. Vielleicht, daß sich Ihr Fehler doch noch einigermaßen gutmachen läßt.«

»Ich schicke ihn sofort, Herr Regierungsrat.«

Als der Inspektor draußen war, stellte Emil fest, daß er bei keiner seiner früheren »Unternehmungen«, bei denen er doch auch Kopf und Kragen riskierte, sich so unbehaglich gefühlt hatte. Normalerweise war die Situation unhaltbar. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß ein Fall wie dieser normal verlief, war nicht groß. Darin allein lag seine Chance. Er mußte die Figuren in diesem Spiel so durcheinander schieben, daß sie erkannten: auf geraden Wegen kamen sie nicht ins Freie. Die Umwege aber, die sie machen mußten, wollte er weisen.

Zeit, hierüber nachzudenken, blieb ihm auch diesmal nicht. Denn schon ließ ein Wärter des Polizeigefängnisses Anton eintreten, der an beiden Händen gefesselt war. Er machte einen völlig gleichgültigen Eindruck und sah nicht einmal auf. – Emil stellte sich so, daß er ihm den Rücken kehrte, und befahl dem Wärter:

»Machen Sie ihn frei und warten Sie draußen.«

Der Wärter öffnete die Handfesseln und ging hinaus.

Emil wandte sich um und sagte:

»Anton!«

Der Verbrecher riß den Kopf hoch, starrte ihn an, machte den Mund auf und sagte, als Emil an ihn herantrat und ihm die Hand reichte:

» Du?«

»Ja!«

Der Koloß Anton geriet ins Wanken. Er stand vor Emil wie vor einem Wunder – nein, das war es nicht! – viel eher war es ein Bild des Grauens, das ihm ein Fieber vortäuschte, ein Spuk der Hölle, vor dem er sich entsetzte.

»Willst du mir nicht die Hand geben?« fragte Emil.

Anton rührte sich nicht.

»Du wunderst dich?«

»Wie kommst du hierher?« fragte Anton.

»Ich hatte die Wahl – und da habe ich das hier dem Gefängnis vorgezogen.«

Anton sah ihn verständnislos an.

»Hättest du es nicht getan?« fragte Emil.

»Ich? – Wieso ich?«

»Wenn du in meiner Lage gewesen wärst?«

»Als was bist du denn hier?«

»Das siehst du doch.«

»Ich seh' nur dich.«

»Vielleicht kann ich dir helfen, Anton.«

»Du – mir?«

»Du sitzt doch hier fest.«

»Und du?«

»Ich sozusagen auch – nur in anderer Form.«

»Bist du hier wer?«

»Jawohl! – Ein großer Mann! – Von mir hängt viel ab – auch für dich.«

»Du gehörst . . .« und plötzlich wurde er laut – »Emil, das is nich wahr, daß du . . . ne doch, wie soll'n das auch sein? – Du und wir, das is doch dasselbe. Aber die hier, nee, Emil, so jemein bist de nich, daß de dich verkaufst – als Spitzel – und uns ans Messer lieferst.«

»Aber nein. Ich bin hier hineingeraten. Ich weiß selbst nicht, wie. – In der Nacht damals – du weißt . . .«

»Mein Lebtag werd' ich daran denken.«

»Na ja, also der Mann, dem die Villa gehörte, hatte die Polizei alarmiert. Ich saß fest. Er schlug mir ein Geschäft vor. Ich hatte die Wahl zwischen dem Geschäft und dem Zuchthaus.«

»Das is doch kein Laden hier.«

»Das hier kam später.«

»Ach so – Karriere also.«

»Wie man's nennen will. Warum soll unsereins sich nicht auch mal aufm grünen Zweig schaukeln.«

»Dann halt dir man feste, Emil, daß de nich runtersaust!« erwiderte Anton verächtlich, ging mit geballter Faust auf ihn zu und rief: »Du Hund, du!«

Emil schloß unwillkürlich die Augen und sagte:

»Es ist ja nicht aus Ueberzeugung, daß ich das tue.«

»Noch gemeiner,« erwiderte Anton.

»Ich habe nicht viel dazu getan – ich habe mich treiben lassen – das meiste haben die anderen gemacht.«

»Und nu bist de so einer von denen, die uns das Jenicke brechen. Proste Mahlzeit, Emil! De hast dir ja rausjemacht.«

»Ich bin darum nicht zufriedener als ihr.«

»Meinst de! Na, denn seh dir mal Paulan an.«

»Denkt die noch an mich?«

»Bex!« sagte Anton verächtlich, schüttelte den Kopf und wandte sich ab.

»Ich hab' oft an sie gedacht.«

»Hast de! Na, davon wird se denn ja woll satt jeworden sind.«

»Was heißt denn das? Paula hat doch zu leben.«

»Wenn se wollte, hätt' se mehr als jenug. Dazu braucht se sich nich mal jemein zu machen. Ich hab's ihr ja angeboten. So man nur von de Entfernung. Und Maxe auch, und der lange Franz – wenn's nach uns jegangen wäre, da hätt' se jeden Tag 'n Huhn oder 'n Filet jehabt – ohne, daß se auch nur danke zu sagen brauchte.«

»Und sie hat es nicht genommen?«

»Nee! Dein'twegen!«

»Meinetwegen?«

»Weil de nachher vielleicht hätt's denken können, daß se einer von uns – na, de weeßt schon.«

»Ja, aber sie hat doch Geld in Fülle. Ich habe ihr damals, kurz vor der letzten Nacht dreitausend Mark zur Aufbewahrung gegeben.«

»Stimmt. – Na – und?«

»Damit kann sie doch kaum zu Ende sein.«

»Zu Ende? – Wieso?«

»Mehr als hundertfünfzig Mark im Monat hat sie nie gebraucht.«

»Und du meinst, daß se von dem, was se von dir zur Aufbewahrung . . .«

»Selbstverständlich!«

»Denn kennst de Paulan schlecht. Wenn de nach Jahren das Geld zurückverlangst – da kannst de Jift drauf nehmen – da fehlt nich 'n Sechser.«

»Sag' ihr, ich schenk' ihr das Geld. Es gehört ihr. Sie kann mehr bekommen, wenn es alle ist.«

»Und was soll ich sagen, wer ihr das Geld schenkt?«

»Ich natürlich.«

»Und wer bist de und was bist de? – Oder meinst de, se nimmt von so einem wie du auch nur 'n Stück trocken Brot?«

Emil senkte den Kopf. Nach einer Weile sagte Anton:

»Wenn de dir man schämst.«

»Ja, Anton, daß ich euch so habe sitzen lassen.«

»Wenn's das wäre! Das tut manch einer, daß er 'n Mädchen sitzen läßt und sich was pfeift. Das hätt' se vielleicht ertragen – vielleicht auch nich. – Aber das hier – siehst de, Emil, das is jemein – wenn se das hört . . .«

»Ist sie denn krank?«

»Se pfeift aus 's letzte Loch. Sieht aus wie 'n Schatten, daß man sich nich traut, tief zu atmen – aus Angst, se fällt um.«

»Schrecklich ist das,« sagte Emil und wandte sich ab. »War sie nicht beim Arzt?«

»Was soll se'n da? Die braucht dir! Aber nu is es aus.«

»Man muß sie retten.«

»Das hätt'st de dir früher überlegen sollen. Nu is es zu spät.«

»Um Gutes zu tun, ist es nie zu spät.«

»Wie soll'n das aussehen?«

»Ich werde ihr helfen – und dir auch.«

»Für meine Person verzicht' ich. Von so was wie du nehm' ich keine Hilfe nich an. Mir lass' ruhig hochjehn. Vielleicht bringt dich das noch mehr vorwärts. Und Paula, wenn die das sieht, daß du hier . . .« – Er trat dicht an ihn heran, richtete sich auf, hob den Arm und sagte mit verhaltener Wut: »Ich sag' dir, Emil, wenn die zusammenbricht, ich schlag' dir tot!«

»Entlarv' mich! Zeig' mich an! Ich verdien's!«

»Danke für die Ehre. Ich beschmutz' mir nich. Ich bin kein Spitzel.«

Die Tür ging auf. Der Inspektor trat ins Zimmer.

»Ich wollte nur melden, Herr Regierungsrat, daß im Verhandlungszimmer alles bereit ist.«

»Ja!« erwiderte Emil. »Aber ich habe hier noch zu tun.«

»Ich bitte, mir abzuführen,« sagte Anton, woraufhin der Wärter des Polizeigefängnisses, der in der Tür stand, Emil ansah und, da er nichts erwiderte und auch keine Miene verzog, auf Anton zutrat, ihm die Fesseln wieder anlegte und ihn abführte.

Der Inspektor wies zur Tür und sagte:

»So was nennt sich nun Mensch,« worauf Emil ihm erwiderte:

»Mit mehr Recht als mancher von uns, Herr Inspektor!«


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