Artur Landsberger
Emil
Artur Landsberger

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Sechzehntes Kapitel,
in dem Emil von seiner vornehmen Verwandtschaft wieder abrückt

Amalie Aufrichtig betrat mit Blumen und einem gerahmten Bild im Arm Emils Arbeitszimmer. Im selben Augenblick, in dem die Vernehmung des Pelzdiebs beendet war.

Die Begrüßung war äußerst herzlich. Amalie kam jetzt im Auftrage der ganzen Familie, um ihn zu seiner Ernennung zu begrüßen und überreichte einen Strauß Orchideen.

»Wir alle sind stolz auf dich!« beendete sie ihre pathetische Ansprache.

Emil wies soviel Lob zurück und bedankte sich. Aber Amalie begann von neuem:

»Auf unserem gestrigen Familientage in Frankfurt am Main, der wie immer Anfang April abgehalten wurde . . .«

»Ich erinnere mich aus meiner Kindheit . . .«

»Du warst ein goldiger Junge! – Aber du hast als Mann gehalten, was du als Kind versprachst.«

»Du übertreibst schon wieder, Amalie!«

»Leider kann man das nicht von allen Aufrichtigs behaupten.«

»Ich will nicht hoffen, daß ein Aufrichtig unserem Namen Unehre macht,« erwiderte Emil und tat entrüstet.

»Bedauerlicherweise ist dies doch der Fall. Aber davon später! Ich sprach . . .«

»Du sprachst von unserem Familientage, dem ich infolge geschäftlicher Inanspruchnahme leider nicht beiwohnen konnte.«

»Man hat es sehr bedauert.«

»So setz' dich doch erst einmal und leg' das Paket aus der Hand.«

Amalie erwiderte:

»Noch nicht!« wickelte das Bild, ein Männerporträt aus dem achtzehnten Jahrhundert, aus, stellte es auf den Tisch und fragte mit großer Geste:

»Kennst du das?«

Emil fühlte sich unsicher und erwiderte vorsichtig:

»Ich erinnere mich.«

»Ich habe mich also nicht getäuscht!« rief Amalie glücklich. »Ich wußte, du würdest dich erinnern. Es ist unser Urgroßvater . . .«

»Ich weiß! Ich weiß! Ich kenne mich doch in meiner Familie aus. Es hing . . .«

»Du weißt auch das noch?«

»Ganz genau. Ich sehe die Wand noch vor mir.«

»Du siehst die Wand noch in Großvaters Zimmer?« rief Amalie begeistert.

»Als ob es gestern wäre!«

»Es existiert nur dies eine. Es ist der Stolz der Familie.«

»Und was soll mit dem Bild geschehen?«

»Nach Großvaters letztem Willen soll es immer der Würdigste aus der Familie haben.«

»Und der Familienrat hat . . .«

»Dich bestimmt.«

»Mich bestimmt,« bestätigte Emil und fügte hinzu: »Nach allem, was ich in den letzten Monaten erlebt habe, glaube ich beinahe selbst, daß ich es verdient habe.«

»Ich bin beauftragt, dir das Bild zu überreichen.«

»Trotzdem bedrückt es mich. – Es sind doch Ältere in der Familie, die sich zurückgesetzt fühlen.«

»Ich bewundere immer von neuem deinen Takt und deine Bescheidenheit,« erwiderte Amalie und hing das Bild an die Wand. »Es kann keinen würdigeren Platz finden,« sagte sie, »als in diesem Raum, in dem du, Emil, im Geiste unserer Urahnen fortwirkst.«

»Ich weiß, Amalie, was ich meinen Ahnen schuldig bin.«

»Wüßten das nur alle Aufrichtigs.«

»Das sagtest du schon einmal.«

»Denke dir, mein Bruder Friedrich – du wirst dich kaum noch seiner erinnern?«

»Doch, doch, so dunkel!«

»Aber nein! Er war, als ihr damals aus Europa fortgingt, ja noch gar nicht geboren.«

»Möglich! Dann war wohl nur die Rede von ihm.«

»Das glaube ich gern! Meine Mama hat ja jedem erzählt, wie sehr sie sich einen Jungen wünscht.«

»Siehst du! – Vom vielen Reden kommt auch was heraus.«

»Wieso?«

»Na, der Junge ist doch da!«

»Wäre er lieber nicht gekommen,« sagte sie resigniert.

»Also, was hat der Junge ausgefressen?«

»Ich wage es gar nicht, dir zu erzählen.«

»Dann reden wir von was anderem.«

»Aber nein! Dazu bin ich ja hier.«

»Wie? Ich denke, du kommst im Namen der Familie, um mir . . .« Er wies auf das Bild.

»Natürlich, dazu kam ich – wenigstens in erster Linie.«

»Und in zweiter . . .?« fragte Emil und wurde mißtrauisch.

»Er mußte lärmender Liebschaften und Spielschulden wegen vor Jahren als Offizier den Dienst quittieren.«

»So etwas gehört doch bei euch zum guten Ton.«

»Bei euch? Gehörst du vielleicht nicht zu uns?«

»Gewiß! – Ich wollte damit nur sagen, daß sich in unseren Kreisen niemand daran stößt.«

»Glücklicherweise nicht. Und er hatte auch die Chance, eine reiche Partie zu machen. Wir waren froh, ihn, wenn vielleicht auch nicht ganz standesgemäß, so doch gut untergebracht zu wissen.«

Und da Amalie noch immer zögerte, so sagte Emil:

»Also was ist? Hat er das Mädchen verführt?«

»Aber nein! Man verführt doch das Mädchen nicht, das man heiratet.«

»Also ein anderes?«

Amalie lächelte und sagte:

»Du bist doch wie ein Kind.«

»Wieso bin ich wie ein Kind?«

»Was wäre denn dabei, wenn er ein Mädchen verführte?«

»Vielleicht gegen ihren Willen – mit Hilfe von Alkohol oder gar mit Gewalt?«

»Wenn es das nur wäre! Das ließe sich doch mit Geld gutmachen.

»So sag's schon!« drängte Emil.

»Es fällt mir so schwer.«

»Hat er ein Auto gestohlen?«

»Bist du bei Sinnen?« rief Amalie empört.

»Ist er eingebrochen?«

Amalie bekam einen roten Kopf und rief entrüstet:

»Ich verbiete dir, meinen Bruder und meine Familie derart zu beleidigen.«

»Ich weiß wirklich nicht, was ich daraus machen soll.«

»Ein paar Wechsel hat er gefälscht. – Das ist alles.«

Emil lächelte verächtlich.

»Um Sekt und Spielschulden zu bezahlen? Stimmt's?«

»Vermutlich.«

»Darauf steht Gefängnis. – Ist er vorbestraft?«

»Ja, du weißt wohl nicht, was du sprichst?«

»Er hat es demnach zum erstenmal getan?«

»Nein! Es ist das vierte oder fünfte Mal. Aber bisher hat Papa immer die Wechsel bezahlt und es war erledigt.«

»Ah so! – Und diesmal?«

»Papa bezahlt nicht mehr. Er will sich nicht ruinieren.«

»Das hätte er von Anfang an tun sollen.«

»Was – hätte – er tun – sollen?«

»Nicht bezahlen.«

»Ja – und dann?«

»Dann wäre dein Bruder bereits beim ersten Mal auf ein paar Monate ins Kittchen gegangen – und damit als der verwöhnte Herr wahrscheinlich auch zur Besinnung gekommen.«

»Ein Aufrichtig ins Gefängnis? – Nimm es mir nicht übel, Emil, aber bei dir scheinen sich die Begriffe zu verwirren.«

»Wenn er jetzt ins Gefängnis kommt, wird es vermutlich zu spät für ihn sein.«

»Ja, du glaubst doch nicht im Ernst, daß ein Aufrichtig ins Gefängnis geht?«

»Sich eine Kugel in die Schläfe zu jagen, ist allerdings bequemer.«

»Dazu fehlt ihm der Mut.«

»Ein Drittes gibt es doch nicht.«

»Das muß es geben.«

»Und wie sollte das aussehen?«

»Emil! Du mußt uns helfen!«

»Ich?«

»Bei deiner Stellung und deinen Verbindungen.«

Emil stand auf und sagte abweisend:

»Wie denkst du dir das?«

»Papa meint, er könnte – wenn er einen Paß hätte – ins Ausland flüchten.«

»Wie?« rief Emil empört. »Ich soll diesem fünfmal nicht vorbestraften Menschen . . .«

»Eben, weil er doch nicht vorbestraft ist.«

»Es aber verdient hätte! – Ich soll ihm falsche Papiere verschaffen?«

»Sie brauchten ja nur auf einen anderen Namen zu lauten.«

»Weißt du, daß darauf Zuchthaus steht?«

»Doch nur, wenn es herauskommt.«

»Nimm an, es käme heraus.«

»So wird man es bei deiner Stellung zu keinem Skandal kommen lassen.«

Emil sprang auf und sagte wütend:

»Weißt du, was jetzt meine Pflicht wäre?«

»Als Aufrichtig – oder als Beamter?«

»Als Mensch! – Ich müßte hier auf den Knopf drücken und dich verhaften lassen.«

»Du bist kein echter Aufrichtig,« erwiderte Amalie. »Sonst stände dir die Ehre deiner Familie höher als die Gesetze.«

Emil wies auf das Bild an der Wand und fragte:

»Was, glaubst du, hätte der an Stelle deines Vaters getan?«

»Wie kann ich das wissen. Jedenfalls ist jetzt nicht die Zeit, Familiengeschichte zu treiben, da er jeden Augenblick verhaftet werden kann.«

»Ich kann ihm nicht helfen.«

»Wenn du es nicht tust, um die Ehre unserer Familie zu retten, – so tu's für dich.«

»Für mich?«

»Ja, glaubst du, es wird deine Stellung nicht erschüttern, wenn ein Vetter von dir wegen Wechselfälschung verhaftet und verurteilt wird?«

»Ich wiederhole dir: ich rühre keinen Finger.«

Jetzt wies Amalie auf das Bild an der Wand und sagte:

»Mir scheint doch, der Familienrat hat einen falschen Beschluß gefaßt.«

»Das scheint mir auch,« erwiderte Emil, nahm das Bild von der Wand, wickelte es in dasselbe Papier, in dem es gewesen war, legte es Amalie in den Arm, verbeugte sich und sagte:

»Ich jedenfalls lege keinen Wert mehr auf die verwandtschaftlichen Beziehungen.

Amalie warf ihm einen verächtlichen Blick zu und ging.


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