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Großtante Amalie war kaum draußen, da wurde schon wieder der Kriminalinspektor v. Reifenbach gemeldet. Emil empfand auch jetzt noch bei Nennung des Namens Unbehagen. Was konnte der Grund sein, der ihn nach Verlauf von kaum einer Stunde schon wieder zu ihm führte? War das Ganze am Ende nur ein Manöver, um ihn in Sicherheit zu wiegen? – Dann war es herrlich erdacht. Fast zu gerissen für das, was man von dieser Behörde gewöhnt war. Coeur-As, der gefürchtete Einbrecher, bei dem man noch auf dem Transport nach dem Polizeipräsidium mit einem Fluchtversuch rechnen mußte, begab sich freiwillig in die Höhle des Löwen. Scharmant! Er meldete sich bei dem Leiter der Kriminalpolizei, um seinen Posten anzutreten und, statt ihm sein Zimmer anzuweisen, geleiteten ihn ein paar Beamte in das Polizeigefängnis. Herrlich erdacht! – Und am nächsten Morgen las der Bürger in seinem Blatt: »Genialer Trick der Polizei. Die Selbstverhaftung eines Schwerverbrechers« – schmunzelte und ließ sich in dem Gefühl, daß eine kluge Obrigkeit für seine persönliche Sicherheit sorgt, das erste Frühstück nochmal so gut schmecken.
Nein! Herrschaften! Auf meine Kosten nicht! sagte sich Emil. Ich habe genau soviel Anspruch auf eine gesicherte bürgerliche Existenz wie ihr! Stört ihr mich dabei, sie mir zu schaffen, so kehre ich mich wieder gegen euch. Aber als Unterhaltungsgegenstand und Witzblattfigur bin ich mir zu schade. – Er ging zur Tür, öffnete selbst und sagte:
»Also bitte, Herr Kriminaloberinspektor!«
v. Reifenbach trat ein – gefolgt von einem Beamten, der ein großes Paket mit sich schleppte.
»Was verschafft mir erneut das Vergnügen?« fragte Emil.
v. Reifenbach legte ab und sagte:
»Sie gestatten, daß ich mich setze?«
Emil, für den es nicht mehr zweifelhaft war, daß es sich um einen Kriminalistentrick handelte, bot ihm einen Stuhl an und sagte:
»Bitte!«
v. Reifenbach begann:
»Aus dem Tempo, in dem ich Ihren Fall bearbeite, wollen Sie bitte die Wichtigkeit ersehen, die ich ihm beimesse.«
»Ich bewundere Ihren Eifer.«
»Ich erfülle damit nur meine Pflicht und handle im Sinne meiner vorgesetzten Behörde.«
»Die auf einen so gewissenhaften Beamten stolz sein darf.«
»Man tut, was in seinen Kräften steht.«
»Ohne in der Wahl der Mittel besonders wählerisch zu sein.«
»Wie meinen Sie das?«
»Nun, mir sind Fälle bekannt, wo Leute, die man verhaften wollte, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen ins Polizeipräsidium gelockt wurden.«
»Wenn man ihnen den wahren Grund genannt hätte, wären sie wahrscheinlich nicht gekommen.«
»Sie billigen das Verfahren?«
»Unter Umständen – ja.«
Emil faßte den Kommissar fest ins Auge und fragte:
»Würden Sie es bei Coeur-As zum Beispiel billigen?«
»Ohne Bedenken! – bei einem so gerissenen und gefährlichen Verbrecher.«
»Glauben Sie, daß Coeur-As sich so bluffen ließe?«
»Wenn man es geschickt anfängt – und da der Fall von heute ab in Ihren Händen liegt, so habe ich keinen Grund, daran zu zweifeln.«
»Der Präsident hätte demnach eingewilligt?«
v. Reifenbach wies auf das Riesenpaket, unter dem der Polizeibeamte an der Tür fast zusammenbrach, und sagte:
»Da, verehrter Kollege, bringe ich Ihnen die Strafakten von Coeur-As.«
Emil sperrte Mund und Augen auf. So hatte er sich also getäuscht und der Behörde unrecht getan.
»Und unter welchem Namen . . .«, sagte er zögernd, während der Beamte das Paket auspackte – »werden diese Akten geführt?«
»Unter Coeur-As, seinem nom de guerre. Der Kerl trägt ein Dutzend Namen, von denen natürlich keiner der richtige ist.«
»Sehr interessant,« erwiderte Emil, während von Reifenbach einen Berg von Akten vor ihm auftürmte.
»Was denn?« fragte Emil entsetzt. »Das kann sich doch unmöglich alles auf ein und denselben beziehen?«
»Das Aktenstück heißt Coeur-As und Genossen und enthält sämtliche Einbrüche dieser gefährlichen Bande.«
»Wie können Sie wissen, wo Sie ihn doch nicht haben, daß die Einbrüche von ihm herrühren?«
»Überall dieselbe Methode, dieselben Spuren – das Ganze liest sich wie ein Kriminalroman.«
»Etwas umfangreich für einen Roman,« meinte Emil, und der Kommissar erwiderte:
»Dessen letztes Kapitel, das von der Ergreifung des Täters handelt, hoffentlich Sie schreiben werden. Damit wir dies Aktenstück, an dem der Schweiß von einem halben Dutzend meiner besten Beamten klebt, endlich ablegen können.«
»Ich werde alles tun, um das zu erwirken.«
»Nach der Polizeiverordnung dürfen die Akten eigentlich nicht aus dem Präsidium entfernt werden. In diesem besonderen Falle glaubte der Chef aber eine Ausnahme machen zu können.«
»Seien Sie versichert, daß sie sich bei mir in den richtigen Händen befinden.«
»Ich bin überzeugt davon.«
Emil hob mit großer Kraftanstrengung den Stoß Akten in die Höhe und sagte:
»Das scheint in der Tat ein schwerer Junge zu sein.«
»Ich wünsche Ihnen nicht, daß Sie ihm nachts begegnen.«
»Gewalttätig ist er auch?«
»Er geht über Leichen.«
»Demnach sind bei den Einbrüchen auch Menschenleben zu beklagen gewesen?«
»Das nicht! Der Kerl arbeitet derart exakt vor und begeht seine Einbrüche mit solchem Raffinement, daß er nie gestört oder auch nur bemerkt wird.«
»Ob er über Leichen geht, wäre demnach noch nicht bewiesen?«
»Ich bitt' Sie, ein Mensch, der so aussieht?«
Emil faßte sich unwillkürlich ins Gesicht.
»Wieso aussieht?« fragte er verdutzt. »Woher wissen Sie, wie er aussieht?«
Der Kommissar blätterte in den Akten, wies auf eine Photographie und sagte:
»Hier ist sein Bild!«
Emil betrachtete die Photographie mit einem Gesicht, das alles andere als klug war und sagte:
»So – also – sieht – er aus.«
»Nicht fürchterlich?«
»Das kann ich nicht einmal finden.«
»Der Verbrecher steht ihm doch im Gesicht geschrieben.«
»Möglich, daß Sie mehr herauslesen. Ich finde, er macht einen ganz vertrauenerweckenden Eindruck. Aber wie kommen Sie zu dem Bild? Der Mann ist doch nie gekappt worden.«
»Ja!« sagte der Kommissar und lächelte überlegen. »Durch gute Beziehungen, die meine Beamten zu den Mädchen jener Kreise unterhalten – natürlich nur dem Scheine nach.«
»Sie täuschen ihnen Liebe vor, um sie dann auszuhorchen – natürlich ohne daß die Mädchen wissen, wer sie sind.«
»Selbstverständlich!«
»Hm! – Feine Mittel sind das nicht.«
»Die dürften da wohl auch nichts ausrichten.«
»Und eins dieser Mädchen hat einem Ihrer Beamten« – er wies auf das Bild – »dieses Photo da geschenkt?«
»Geschenkt? Da kennen Sie die Mädchen schlecht. Die geben so etwas für kein Geld der Welt her.«
»Dann hat er es also gestohlen?«
Der Kommissar machte eine abwehrende Bewegung und verbesserte:
»Dienstlich requiriert hat er es.«
»Ohne dem Mädchen etwas davon zu sagen?«
»Wenn die etwas davon gewußt hätte, ich glaube, der Beamte wäre in etwas derangiertem Zustande zurückgekommen.
»Ja – und – woher weiß man denn, daß dieses gestohlene Bild diesen Coeur-As darstellt? Hat sie das vorher erzählt?«
»Aber nein! Solche Mädchen erzählen nichts. Aus denen ist ja nicht einmal etwas herauszubekommen, wenn wir sie auf dem Präsidium haben.«
»Sie vermuten also nur, daß dies Bild . . .«
»Wir wissen! Denn auf der Rückseite stand: Coeur-As seiner Marie zu Weihnachten.«
»Ein ganz altes Bild natürlich?«
»Woraus schließen Sie das?«
»So einen Bart trägt heute kein Mensch mehr.«
»In den Kreisen schon. Da gilt es für schön. Und so ein Verbrecher läßt ihn sich auch nicht abnehmen. Trotz der Gefahr, daß der Bart ihn verrät. Das duldet sein Mädchen schon gar nicht.«
»Sie sind also überzeugt, daß er den Bart noch trägt?«
»Bestimmt!«
»Das beruhigt mich.«
»Wie – bitte?«
»Ich sagte, das beruhigt mich, denn dann dürfte seine Ergreifung nicht schwerfallen. – Übrigens, das Bild hat eine Ähnlichkeit.«
»Mit wem?«
»Fällt es Ihnen nicht auf?« – Emil stand gerade vor einem Spiegel. Er wies darauf hin und sagte: »Sehen Sie mal da hinein!«
Der Kommissar folgte.
»Ich sehe nur Sie!«
»Sie finden nicht, daß ich . . .?«
»Dem Bilde ähnlich sehen? – Aber keine Spur. Sie haben zwar energische Züge. Aber Sie sehen doch nicht wie ein Verbrecher aus.«
»Und wenn Sie sich den Bart hinzudenken – auch dann nicht?«
»Vielleicht, daß die Stirnpartie eine kleine Ähnlichkeit aufweist – aber sonst nicht die Spur. Im übrigen ist der Mann meiner Ansicht nach ein Schwergewicht mit« – er breitete die Arme aus – »solcher Brust – während Sie doch schlank und schmal sind.«
»Das heißt: Sie stellen ihn sich so vor?«
»Unsereins hat das im Gefühl. Es genügt der Kopf. Kennt man den, so hat man die Vorstellung von dem ganzen Menschen.«
»Das beruhigt mich – das beruhigt mich ganz ungemein.«
»Wir waren ihm übrigens schon mehrmals auf der Spur. Aber im letzten Augenblick entwischte er regelmäßig.«
»Dann wissen also Ihre Beamten, wie er aussieht?«
»Aber ja! – Ich verlasse mich ja nicht auf mein Urteil allein. Ich lasse es nachprüfen. Die Beschreibungen, die eine Anzahl von Mädchen aus diesen Kreisen unseren Beamten von Coeur-As gaben, bestätigen meine Annahme.«
»Und Sie sind überzeugt, daß die Mädchen in diesem Falle die Wahrheit sagen?«
»Sie wissen doch nicht, daß es Beamte sind, die sie ausfragen.«
»Das glauben Sie!«
v. Reifenbach erwiderte unwillig:
»Halten Sie die Leute etwa für schlauer als uns?«
»Ja!« platzte Emil heraus, besann sich aber, verbesserte schnell und sagte: »Nein! Schlauer nicht. Aber vielleicht vorsichtiger.«
»Ihre Erfolge machen es mir schwer, Ihnen zu widersprechen. Denn unverkennbar haben Sie, beziehungsweise Ihre Beamten in letzter Zeit größere Erfolge aufzuweisen als wir. Deshalb liegt uns sehr viel daran, die Ausbildungsmethode Ihrer Leute kennen zu lernen.«
»Mein lieber Herr Kollege,« erwiderte Emil, »wenn ich meine Lehrmethode, die Geschäftsgeheimnis und der Schlüssel meiner Erfolge ist, Ihnen ausliefern soll . . .«
»Wo Sie von nun ab unserem Beamtenkörper angehören, kann doch von einer Auslieferung keine Rede sein. Wir wollen ja gerade Ihre Kunst der Allgemeinheit zugute kommen lassen.«
»Sie verlangen ein großes Opfer von mir.«
»Das wissen wir. Vielleicht aber ließe sich ein Ausgleich schaffen. Wie man ein Patent erwirbt, so könnte das Ministerium des Innern Ihnen die Arbeitsmethode abkaufen.«
Emil überlegte, rief in den Hausapparat:
»Herr Kommissionsrat soll sofort herunterkommen!« – wandte sich dann wieder an Reifenbach und sagte: »Wenn es sich nur um mich handelte! Ich bin kein Geldmensch. Aber ich habe einen Associé – und ich würde durchaus begreifen, wenn Herr Redlich, der doch Familie hat, sich auf den rein praktischen Standpunkt stellen und sagen würde: ›Wie komm' ich dazu? Bin ich der liebe Gott?‹ – Ich habe das wiederholt erlebt, wenn man für wohltätige Zwecke an ihn herantrat.«
In diesem Augenblick ging die Tür und Redlich trat ins Zimmer. Als er den Kommissar sah, sagte er:
»Sie sind noch immer hier?«
»Schon wieder,« berichtigte v. Reifenbach.
»Vorhin handelte es sich nur um meine Person. Jetzt aber steht das Geheimnis unseres geschäftlichen Erfolges zur Debatte.«
Redlich entfärbte sich.
»Sie glauben doch nicht etwa . . .?« fragte er zaghaft. Emil fiel ihm ins Wort.
»Herr v. Reifenbach möchte, daß ich bei meinem Übergang zur Kriminalpolizei das Geheimnis sozusagen als Mitgift mitbrächte.«
»Wie? – Was? – Du willst?«
»Ohne deine Einwilligung . . .«
»Ich soll . . .? – Ja, wie komm' ich dazu? Bin ich der liebe Gott?«
Emil wandte sich an den Kommissar und wies auf Redlich:
»Da hören Sie's! Was habe ich Ihnen gesagt?«
»Ich soll mein Geschäftsgeheimnis aus der Hand geben?«
»War es nicht meine Idee?«
»Meine war es. Du hast mich darauf gebracht durch deinen Ein . . .«
»Gut!« fiel ihm Emil ins Wort. »Sie gehört uns beiden.«
Redlich, der mit einem puterroten Kopf im Zimmer umherlief, erkannte jetzt erst die Unmöglichkeit der Situation. Er blieb vor Emil stehen, sah ihn groß an und sagte:
»Ja, bist du denn toll? Du willst dein – mein Geheimnis . . . der Polizei . . .? – Du, du weißt ja nicht, was du . . .«
»Ich weiß es genau. Und ich bin fest entschlossen, es zu tun.«
»Du bist verrückt.«
»Wir sind nicht unter uns.«
»Deshalb eben!« – Er zupfte Emil unauffällig am Rock und wandte sich an den Kommissar: »Sie erlauben doch . . . daß ich mich auf einen Augenblick mit meinem Associé berede?«
»Nicht nötig!« erklärte Emil.
»Du hast doch nicht etwa im Ernst die Absicht . . .?«
»Allerdings!«
Redlich war völlig verzweifelt.
»Ja, du lieferst dich ja . . .«
». . . der Polizei aus,« ergänzte Emil. »Dich und mich! Aber das Wohl der Allgemeinheit geht unserem persönlichen Interesse vor.«
»Der hat den Verstand verloren, Herr Kommissar! Hören Sie ihn nicht an! Er lügt!«
»Ich begreife, daß Sie Ihre Interessen so leidenschaftlich vertreten, Herr Kommissionsrat,« erwiderte v. Reifenbach und wurde förmlich. »Aber mir scheint, Sie schießen da über das Ziel hinaus. Herr Aufrichtig ist seit heute Kriminalkommissar, damit Beamter, damit mein Kollege. Ich habe also die Pflicht, ihn gegen Beleidigungen zu schützen.«
»Was?« sagte Redlich und riß den Mund weit auf. »Sie schützen . . .«
»Jawohl! ich in meiner Eigenschaft als Vorgesetzter. Herr Aufrichtig hat sich, wie ich es von ihm nicht anders erwartet habe, als uneigennützig und als vollendeter Gentleman benommen – während Sie . . .«
»Ich verliere den Verstand.«
»Herr Kollege,« rief jetzt Emil, »ich will nicht schuld an seinem Nervenzusammenbruch sein. Wenn Sie wünschen, daß ich Ihre Beamten in unsere Geschäftsmethoden einweihe, so muß Herr Redlich finanziell entschädigt werden.«
»Was nützt mir das?« erwiderte Redlich.
»Es käme doch wohl auf die Summe an,« meinte Emil.
»Und wenn es eine Million ist! Mein Name! Mein Kind!«
»Sie werden nicht verhungern, Herr Kommissionsrat!« sagte v. Reifenbach verächtlich.
»Da es sich um eine Lehrmethode handelt,« fuhr Emil fort, »so müßte ich als Lehrer Autorität haben.«
»Ganz gewiß!«
»Ich müßte also, falls man Bedenken hat, mich zum Polizeidirektor zu ernennen, zum mindesten Regierungsrat sein.«
»Es ist ihm zu Kopf gestiegen,« jammerte Redlich.
»Ich will veranlassen, daß man dem Ministerium entsprechende Vorschläge unterbreitet,« erwiderte Reifenbach. »Dazu wäre es aber nötig, Ihre Methoden zum mindesten in großen Zügen anzugeben.«
Emil dachte einen Augenblick nach und sagte dann:
»Dann bitte ich die Ihnen unterstellten dienstlich entbehrlichen Kriminalbeamten für morgen abend um acht Uhr hierher zu beordern. Ich werde einen Vortrag halten – vielleicht, daß Sie auch die Teilnahme von höheren Beamten erwirken können.«
»Das, glaube ich, kann ich zusagen.«
v. Reifenbach erhob sich, verbeugte sich, nicht eben tief, zu Redlich und gab Emil die Hand:
»Und nicht wahr, Herr Kollege, Sie vergessen über den Polizeidirektor nicht Coeur-As?«
»Ich habe den Fall längst zu meinem eigenen gemacht,« erwiderte Emil und begleitete den Kommissar hinaus.
Redlich sank auf einen Stuhl und sagte:
»Er hat den Verstand verloren. – Ich lasse ihn einsperren.«