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Man soll es nicht für möglich halten, was ein Mensch an einem einzigen Tage alles erleben kann. Es ist zwar mittlerweile neun Uhr abends geworden. Wenn man aber an den Beginn dieses Tages zurückdenkt und sich erinnert, wie Emil, eben dem Bade entstiegen, seinen Sozius beim Morgenfrühstück begrüßte und ihm dann bis an die Schwelle des Ministeriums gefolgt ist, so muß man schon sagen: fiele es einem Schriftsteller ein, in einem Theaterstück oder Roman alle diese Ereignisse an einen Tag zusammenzudrängen, so würde man ihn belächeln. Wem das Tempo also unglaubwürdig erscheint, dem sei anheimgestellt, die vorgeschilderten Ereignisse auf eine Woche oder – falls er auch das noch für »übertrieben« hält – auf einen Monat zu verteilen. Auch die Reihenfolge bleibe ihm überlassen.
Mit dieser zarten Rücksichtnahme auf das Mißtrauen, das der Durchschnittsleser aus Furcht, für dumm oder leichtgläubig zu gelten, allem, was in einem Roman geschieht, entgegenbringt, glaube ich, mir sein Vertrauen so weit erworben zu haben, um ihm nun auch noch glaubhaft zu machen, daß außer dem bereits Geschilderten noch ein weiteres Ereignis auf diesen Tag fällt, das Emil zwar nicht persönlich miterlebte, das sich aber als entscheidender für seine Zukunft erweisen sollte als die Besuche der Tante Amalie, der Filmdiva Assunta Lu, des Polizeiinspektors, ja bedeutungsvoller selbst als seine Anwesenheit bei dem diplomatischen Tee und die im mittelbaren Anschluß daran gegen Abend erfolgte Aussprache im Ministerium.
Was war geschehen? So um sieben Uhr herum hatte es Paula, die alle Möglichkeiten, Emil zu finden, längst erschöpft hatte, plötzlich in die Gegend gezogen, in der sie das letzte Mal mit ihm zusammen gewesen war. Hoffnung hatte sie kaum mehr. Die Zeitungsberichte hatten ja übereinstimmend dahin gelautet, daß es Emil gelungen war, unmittelbar vor Eintreffen der Polizei zu entweichen. Es war also ein von vornherein aussichtsloses Unternehmen, wenn sie sich jetzt mit letzter Kraft durch tote Straßen dicht an den Häusern entlang zum Grunewald schleppte. Sie dachte sich nicht viel dabei. Sie ließ sich treiben. Aber irgendein Entschluß war wohl im Werden. Es ging nicht weiter. Das stand fest. Und so wollte sie Abschied nehmen. Alles, was zwischen jener Nacht des Einbruchs und heute lag, sollte ausgelöscht sein. Das war gestern gewesen – nun war heute – und morgen sollte alles zu Ende sein. Alles Trübe, Schwere, Widerwärtige der Zwischenzeit war ausgelöscht. Einmal noch in diesen Raum zurück, die Augen schließen, mit der Hand über den Schreibtisch fahren – und dann ein Ende machen.
Da war nicht viel zu wagen und zu verlieren. Wer wie sie fertig war, kannte keine Furcht mehr.
Sie schlich sich in den Garten. An dem Pförtner vorbei. Es war wie ein Schatten, der vorüberhuschte. – Wo ist der Mensch dazu? dachte der Pförtner und wandte sich um. Und da er nichts sah und nichts hörte, so fiel er in sein Dösen zurück.
Paula schwebte über den Kies. Ihr Herz schlug laut. In Erinnerung, nicht aus Furcht. Sie sah das Fenster, das angelehnt wie damals stand. Was ist die Liebe? Tausendmal und tausendfach hat man sie zu erklären versucht, keinem gelang es. Paula, die sich Gott so fern dünkte und die doch, ohne daß sie sich dessen je bewußt wurde, ein gläubiger Mensch war, hatte das Gefühl, als wäre der Boden, den sie betrat, heiliger Boden, als wäre das Haus, auf das sie zuschritt, ein geweihtes Haus. So ganz hatte die Liebe von ihr Besitz ergriffen, so ganz noch erfüllt war ihr Herz von diesem einen, daß sie jedes Gefühl für die Wirklichkeit verlor, und, ohne auch nur einen Blick durch das Fenster zu werfen, in das Zimmer stieg. Hätte sich jetzt eine verständnisvolle führende Hand nach ihr ausgestreckt – der Weg zu Gott in ihr wäre nur ein Schritt gewesen. So aber . . .
* * *
So aber saß im Zimmer nur Fräulein Konstanze Redlich, jenes nicht unsympathische junge Mädchen mit dem noch nicht ausgeglichenen Charakter. Jedoch hatten die guten Eigenschaften bei ihr so stark das Übergewicht, daß auch sie nur einer leitenden Hand bedurft hätte, um ein vollkommener Mensch zu werden. Bei ihr war der Verstand das Primäre, bei Paula war es das Gefühl. Konstanze hatte Sinn für die Wirklichkeit, während Paula jedes praktische Denken fehlte. Konstanze war ein bewußt anständiger Mensch. Paula hingegen hatte niemals darüber nachgedacht, was erlaubt sei, sondern war in allem immer nur ihrem Instinkt gefolgt. Dies wie jenes war weniger eine Eigenschaft des Charakters als eine Folge des Milieus, in dem sie aufgewachsen waren und nun lebten.
Paula sah beim ersten Schritt, den sie ins Zimmer trat, Konstanze sitzen, kehrte aber nicht um, sondern blieb stehen und sagte leise:
»Bitte verzeihen Sie!«
Konstanze wandte sich um, rief:
»Großer Gott! – Wer sind Sie? – Wie kommen Sie hier herein?«
»Ich bitte Sie, hören Sie mich an.«
»Sind Sie allein – oder –« Sie machte eine Bewegung zum Fenster hin – »kommt da noch wer?«
»Niemand kommt. Und wenn Sie mich jetzt festnehmen lassen, so wird man mich einsperren, obgleich ich nicht die Absicht hatte, auch nur einen Fingerhut hier zu entwenden.«
»Ich lasse Sie nicht festnehmen – kommen Sie ruhig näher. – Sie sehen ja furchtbar aus. – Setzen Sie sich.«
»Danke. Ich habe nicht viel Zeit«
»Aber das Fenster werde ich doch lieber schließen.«
Paula wandte langsam den Kopf nach allen Seiten und sagte:
»Ja . . . das ist es.«
»Suchen Sie jemand?« fragte Konstanze. Im selben Augenblick schoß ihr ein Gedanke durch den Kopf. »Etwa . . .« platzte sie heraus, besann, beherrschte sich und schwieg.
»Nicht mehr. – Ich habe gesucht. Monatelang habe ich nichts anderes getan. – Es ist aus. Ich kann nicht mehr.«
»Darf ich Ihnen etwas zu essen geben? Vielleicht einen Schluck Wein?«
»Danke!« sagte Paula und schüttelte den Kopf. »Es ist nun nicht mehr nötig.« – Sie ging auf den Schreibtisch zu. »Aber Sie gestatten, daß ich einmal . . .« – Sie stand jetzt davor und sagte vor sich hin – aber doch so laut, daß Konstanze es hörte: »Ja – da war es.« – Sie schloß die Augen und fuhr mit der Hand über den Schreibtisch. Ganz so, wie sie es sich gedacht hatte. Und Konstanze sah, wie sie, ohne den Mund zu öffnen, zärtlich
»Emil!«
sagte.
»Großer Gott!« rief Konstanze laut. »Sie sind . . .?«
»Seine Braut,« erwiderte Paula, ohne die Augen zu öffnen.
»Ja . . . dann . . .«
»Wissen Sie vielleicht etwas – von – ihm?«
Konstanze war hilflos und erregt.
»Ich – . . . e . . . nein! – wie sollte ich denn . . .?«
»Er war doch aber hier – damals – das letztemal . . .«
»Sie meinen . . . vermutlich . . . den Einbruch?«
»Ja! den meine ich.«
»Es ist solange her.«
»Mir kommt es vor, als wenn es gestern war.«
»Aber – seitdem ist ja – ein halbes Jahr vergangen.«
»Möglich – für mich nicht . . . und Sie wissen nicht? – Hier stand er das letztemal.«
»Waren Sie denn . . .?«
»Ja! Ich war auch dabei. – Er saß fest – Sie hatten eine Falle, wie man sie für Tiere legt . . .«
»Schändlich war das von mir!«
Paula sah auf:
»Sie waren das?«
Konstanze senkte den Kopf.
»Ja . . . aber denken Sie nicht schlecht von mir.«
»Sie waren im Recht – wir kamen ja, um Sie auszuplündern.«
»Und dieser Mann – der sich in dem Eisen fing –«
»War Emil.«
»Ihr Bräutigam?«
»Sie haben ihn gesehen? Nach mir haben Sie ihn gesehen und haben die Polizei auf ihn gehetzt?«
»Das ist nicht wahr. – Ich habe im Gegenteil – die Polizei auf eine falsche Spur gehetzt.
»Das haben Sie getan?« fragte Paula.
»Um ihn zu retten.«
»Und er ist gerettet?«
»Ja!«
»Sie wissen es bestimmt?«
»Mein Wort darauf.«
Paula konnte ihre innere Bewegung nicht mehr beherrschen. Sie ergriff Konstanzes Hand und küßte sie.
Nach einer ganzen Weile fragte Paula – noch immer unter Tränen:
»Und Sie wissen . . . auch . . . wo er ist?«
»Er ist in Sicherheit – und gut aufgehoben.«
»Weit weg gewiß.«
»Nicht einmal.«
»Warum . . . schreibt . . . er nicht?«
»Er würde sich verraten.«
»Und . . . Sie . . . haben . . . ihm zur Flucht verholfen?«
Konstanze nickte.
»Und das . . . obschon . . . er hier . . . bei Ihnen . . . eingebrochen?«
»Er tat mir leid.«
Eine Pause entstand. Paula ließ Konstanzes Hand los und stand auf.
»Sie . . . also . . . wissen . . . wo . . . er . . . ist . . .?«
Konstanze brachte es nicht übers Herz. Sie log und sagte:
»Nein!«
»Aber . . . wenn . . . Sie . . . doch . . . wissen, daß er nicht weit ist?«
»Die Art, auf die er fortgekommen ist, läßt es vermuten.«
»Sie sagen nicht alles – Sie wissen mehr.«
Konstanze quälte sich.
»Großer Gott! Sie tun mir ja so leid!« rief sie ganz unvermittelt.
Da sank Paula in sich zusammen.
»Eine andere also?« hauchte sie.
»Bei Gott nein! Es ist nicht wahr!« beteuerte Konstanze.
Aber Paula sah sie nur an und sagte:
»Wie gut Sie sind.«
»Ich . . . ich . . .«
»Was ist mit Ihnen?«
»Ich . . . liebe . . . ihn ja auch.«
»Sie! – Ihn?«
»Er ist für uns beide unerreichbar. Und wenn es Sie tröstet, es steht auch keine andere Frau dazwischen.«
Konstanze schluchzte laut und legte ihren Arm um Paula.
»Denken Sie nicht mehr an ihn,« sagte sie. »Ich muß ihn auch vergessen.«
»Ich verstehe nichts,« erwiderte Paula.
»Seiner Sicherheit wegen dürfen Sie es nicht erfahren.«
Paula sah sie verständnislos an.
»Er fürchtet – ich könnte ihn verraten?«
»Er nicht – er weiß es gar nicht . . .«
»Wer denn? – Und was weiß er nicht?«
»Ich meine, er weiß ja gar nicht, daß Sie ihn suchen.«
»Das weiß er doch! Das muß er wissen. Genau wie ein Kind weiß, die Mutter sucht es, wenn es sich verlaufen hat.«
»Die Menschen sind nicht alle so. Es wäre vielleicht auch nicht gut, wenn sie alle so wären.«
»Man sucht ja sogar einen Hund, den man verloren hat – und da sollte ich ihn nicht suchen? – Nein, das glaubt er nicht.«
Da Konstanze schwieg und zur Erde sah, so fragte Paula:
»Oder – wissen Sie, daß er das glaubt?«
Konstanze hob den Kopf und sah Paulas verzweifeltes Gesicht. Um sie zu schonen, sagte sie:
»Ich denke es mir – weil er doch . . .« und da sie zögerte und nicht zu Ende sprach, so stürzte Paula auf sie zu, ergriff sie beim Arm und rief:
». . . tot ist?«
Konstanze erwiderte nichts und Paula sagte:
»Ja, . . . dann . . . freilich . . .«
Dann ging sie zur Tür, wandte sich noch einmal zu Konstanze um und sagte:
»Ich danke Ihnen.«
Konstanze lief auf sie zu und schloß sie in die Arme.
»Ich – danke – Ihnen!« sagte Paula noch einmal und lief hinaus.
Konstanze sah ihr nach und dachte:
Ich konnte es ihr nicht sagen. So wird sie es noch am leichtesten tragen.