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Die Fahrt

Es war indes nicht so leicht, die Flüchtlinge einzuholen, wie Baron Adrian geglaubt hatte. Erstens hatten sie einen recht guten Vorsprung, und zweitens zeigte es sich, daß die Schlittenbahn viel schlechter war, als man angenommen hatte. Charlottes ausgezeichnete Pferde mußten sich gewaltig anstrengen; wo der nackte Erdboden heraussah, konnten sie den schweren Schlitten nur im Schritt vorwärts schleppen. Charlotte fühlte sich wie angekettet, und ärgerlich betrachtete sie die Spuren des leichten Zigeunerschlittens, der sich des schmalsten Streifen Schnees bedienen, ja selbst bisweilen einen Richtweg über einige noch schneebedeckte Felder hatte einschlagen können.

Aber als die Schlittenbahn besser wurde, je weiter man sich von der großen Ebene, die die Brobyer Kirche umgibt, entfernte, wurde auch Charlottes Hoffnung, ihr kleines Mädel wiederzuerlangen, lebendiger. Und noch etwas kam dazu, das ihr den Mut stärkte. Baron Adrian und sie waren nämlich ganz plötzlich die besten Freunde von der Welt geworden. Sie wußte nicht, wie es zugegangen war, aber jedes von ihnen mußte von sich aus entdeckt haben, daß sie zuverlässige, aufrichtige Menschen waren, etwas unvernünftig vielleicht, aber jedenfalls Menschen, mit denen der Verkehr eine Freude ist. Der Baron erklärte geradeheraus, er sei froh, daß Charlotte Hedeby nicht verlassen habe, ehe er sich darüber klargeworden sei.

Charlotte gab keine solche offenherzige Versicherung ab, aber da sie daran zweifelte, ihren Mann so weit bringen zu können, daß er Karl Artur eine hilfreiche Hand reiche, kam sie auf den Gedanken, Baron Adrian zu bitten, sich seiner anzunehmen. Er war ja Karl Arturs Vetter, und es konnte doch nicht angenehm für ihn sein, wenn sich ein so naher Verwandter auf den Landstraßen herumtrieb. Sie hatte indes noch nicht viele Worte sagen können, als der Baron sie auch schon unterbrach.

»Nein, Base Charlotte«, sagte er lachend, »nein, das geht nicht. Ich will nichts mit dem Menschen zu tun haben, und es wäre auch gewiß das klügste, du würdest meinem Beispiel folgen.«

Charlotte verwunderte sich etwas über diese kurzangebundene Antwort, glaubte aber, die Veranlassung zu verstehen.

»Du findest es wohl empörend«, entgegnete sie, »daß Karl Artur, der selbst verheiratet ist, mit der Frau eines andern umherzieht?«

»Ha, ha, ha! Ach so, du hältst mich für einen Tugendbold! Nein, an das hatte ich nicht gedacht, aber doch an eine recht bedauerliche Sache. Zum Kuckuck, was war doch Karl Artur angekommen, daß er nicht begriff, wie durch diese Reisegesellschaft all sein Predigen zu einem Greuel wird!«

»Meiner Ansicht nach müßten vor allem diese beiden voneinander getrennt werden.«

»Diese beiden!« Baron Adrian wendete sich Charlotte zu und legte ihr seine Hand, die in dem großen zottigen Wolfspelzhandschuh steckte, auf die Schulter. »Sie kannst du nicht trennen, ehe sie am Schafott oder am Galgen angekommen sind.«

Charlotte, die in ein großes Schlittenfell fest eingehüllt war, machte einen mißglückten Versuch, ihrem Gefährten ins Gesicht zu sehen. »Du scherzest wohl, Vetter?« sagte sie.

Baron Adrian gab keine direkte Antwort. Er zog seine Hand zurück, setzte sich im Schlitten zurecht und äußerte in demselben leichten, halb spöttischen Ton, dessen er sich schon vorher während des Gesprächs bedient hatte:

»Darf ich dich fragen, ob du gehört hast, daß ein Strafgericht über den Löwenskölds waltet?«

»Jawohl, Vetter Adrian, das hab' ich allerdings gehört; aber ich muß gestehen, ich erinnere mich nicht mehr, um was es sich dabei handelt!«

»Und du, Base Charlotte, die du in der großen Welt lebst, hältst natürlich all so etwas für Aberglauben.«

»Nein, es ist noch schlimmer, Vetter Adrian. Es geht mir nämlich jegliches Interesse für das Übersinnliche ab. Das ist ein Sinn, der mir fehlt. Meine Schwester Marie Luise dagegen …«

Doch hier unterbrach sie Baron Adrian lachend und sagte: »Wenn du in dieser Beziehung ungläubig bist, um so besser. Ich wollte dir schon länger über dieses Strafgericht Bescheid geben, fürchtete aber, dich zu erschrecken.«

»Darüber kannst du dich vollständig beruhigen.«

»Nun gut«, begann Baron Adrian; doch sofort brach er wieder ab und deutete auf den Kutscher, der dicht vor ihnen saß und jedes Wort hören mußte. »Vielleicht ist es gut, wir verschieben es bis zu einem andern Mal«, sagte er dann.

Charlotte machte noch einen Versuch, Baron Adrian ins Gesicht zu sehen. In seinem Tone lag noch immer etwas Spöttisches, wie wenn er sich über eine alte Familiensage lustig machte, aber doch war er jetzt besorgt, daß der Kutscher ihn nicht höre. Doch Charlotte beruhigte ihn rasch, indem sie sagte:

»Du kennst meinen Mann schlecht, wenn du meinst, er nehme jemals einen Kutscher in Dienst, ohne sich vergewissert zu haben, daß er genügend schwerhörig ist, um den Fahrenden zu gestatten, eine uneingeschränkte Unterhaltung zu führen.«

»Ausgezeichnet, Base Charlotte, das will ich ihm wahrhaftig nachmachen. Nun, was ich sagen wollte, ist, daß bei uns Löwenskölds einmal eine gewisse Marit Erikstochter in Dienst war, eine Bäuerin, deren Vater, Oheim und Bräutigam unschuldig verdächtigt worden waren, unseres Stammvaters Ring gestohlen zu haben und deshalb ihr Leben am Galgen lassen mußten. Das arme Weib suchte sich zu rächen, was ja ganz natürlich war, und zwar gerade mit Hilfe dieses Ringes. Mein eigener Vater war auf dem Punkt, das erste Opfer zu werden, wurde aber glücklicherweise durch Malwina Spaak gerettet. Malwina hatte nämlich Marit Erikstochters Zuneigung gewonnen, so daß sie imstande war, durch Marits Hilfe den unglückseligen Ring wieder in das Familiengrab zurückzubefördern.«

Hier unterbrach Charlotte den Baron mit einer lebhaften Bewegung.

»Denk doch ja nicht, Vetter Adrian«, sagte sie, »daß ich eine solche Heidin sei. Die Geschichte von dem Löwensköldschen Ring kenne ich bis aufs Tüpfelchen genau.«

»Aber eins weißt du gewiß nicht. Sobald mein Vater sich von dem schweren Erlebnis erholt hatte, erschien nämlich bei meiner Großmutter, der Baronin Augusta Löwensköld, Marit Erikstochter und verlangte von ihr, ihren Sohn, meinen Vater also, Jungfer Spaak heiraten zu lassen. Sie behauptete, meine Großmutter habe ihr am vorhergehenden Abend diese Verbindung zugesagt, und einzig und allein darum habe sie auf ihre Rache verzichtet. Meine Großmutter erwiderte, sie könne ein solches Versprechen unmöglich gegeben haben, weil sie ja wisse, daß ihr Sohn schon mit einer andern verlobt sei. Sie wolle Malwine Spaak jede Belohnung zukommen lassen, die in ihrer Macht stehe, aber das, was Marit fordere, sei unmöglich.«

»Jetzt, wo du das sagst, Vetter«, fiel Charlotte ihm ins Wort, »meine ich auch, etwas Derartiges gehört zu haben. Es klingt übrigens auch ganz natürlich, daß Marit sich nicht ohne weiteres mit dieser Anordnung zufriedengeben wollte.«

»Das tat sie auch nicht. Als sie weiter auf ihrem Verlangen bestand, ließ meine Großmutter Jungfer Malwina hereinrufen, um sich bekräftigen zu lassen, daß sie betreffs des jungen Herrn Baron kein Eheversprechen erhalten habe. Und Jungfer Spaak erklärte auch alles, was ihre Herrin sagte, für Wahrheit. Aber dadurch geriet Marit Erikstochter, die wohl dachte, nun habe sie ganz unnützerweise auf ihren Plan, das an ihren Verwandten begangene große Unrecht zu rächen, verzichtet, in unerhörten Zorn. Und so erklärte sie meiner Großmutter, das Werk der Rache werde nun wieder aufgenommen. ›Drei von den Meinigen haben einen gewaltsamen Tod erleiden müssen!‹ schrie sie. ›Drei von den Deinen werden auch eines bösen, jähen Todes sterben, weil du nicht hältst, was du versprochen hast!‹«

»Aber Vetter Adrian …«

»Ich weiß, was du sagen willst, Base Charlotte. Meine Großmutter dachte genau ebenso wie du, daß das arme Weib nicht so gefährlich sein könne. Sie erschrak gar nicht und erwiderte ganz ruhig, Marit sei nun schon zu alt, um drei Barone Löwensköld ums Leben zu bringen. ›Ja, ich bin alt, und meine Tage werden gezählt sein‹, scheint Marit erwidert zu haben. ›Aber ob ich über der Erde oder unter der Erde bin, ich werde schon die Macht haben, einen Rächer zu schicken.‹«

Jetzt zog Charlotte mit einem so kräftigen Ruck an der Schlittendecke, daß sie dem Baron gerade ins Gesicht sah.

»Du willst doch nicht sagen, daß du glaubst, ein solches von einem armen unwissenden Bauernweib ausgesprochenes Wort könne irgendwie von Bedeutung sein?« sagte sie mit der allergrößten Ruhe. »Ich erinnere mich jetzt auch sehr genau an die ganze Geschichte. Die Frau Oberst Ekenstedt, meine geliebte Freundin, pflegte sie gerade als Beispiel anzuführen, wie wenig man sich um solche Aussagen zu kümmern brauche. Sie legt ihr ganz und gar kein Gewicht bei.«

»Es ist nicht so ganz sicher, ob meine Tante in diesem Fall recht hatte«, versetzte Baron Adrian, indem er sich im Schlitten aufrichtete, um einen Blick auf den vor ihm liegenden Weg zu werfen. »Es sieht nicht aus, als ob wir das vertraute Paar bald einholen würden«, fuhr er fort, indem er sich wieder setzte. »Wenn du also erlaubst, Charlotte, will ich dir ein kleines eigentümliches Vorkommnis erzählen, das sich zur Zeit meiner Eltern auf Hedeby zutrug.«

»Ja, erzähl nur, Vetter Adrian, die Zeit vergeht dann um so schneller.«

»Es war wohl im Sommer 1816«, begann Baron Adrian, »und auf Hedeby sollte zu meiner Mutter Geburtstagsfeier große Gesellschaft bei uns sein. Wie gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten hatten meine Eltern einige Tage vor dem Fest zur Hilfe bei den Vorbereitungen Malwina Spaak holen lassen. Sie war damals schon verheiratet und hieß eigentlich Malwina Thorbergsson, aber bei uns auf Hedeby konnte man sich an keinen anderen Namen gewöhnen, als den, den sie während der fünfzehn Jahre als Haushälterin auf Hedeby getragen hatte, und ich glaube, das war ihr selbst auch am liebsten. Und das glaube ich auch, daß es Frau Malwinas größte Freude war, nach Hedeby kommen zu dürfen, um bei einem Festsessen, oder was gerade vorlag, zu helfen. Sie war ja mit einem armen Pächter verheiratet, und in ihrer Häuslichkeit gab es keine Gelegenheit, ihre Fähigkeit in der feineren Kochkunst an den Tag zu legen. Nur bei uns auf Hedeby durfte sie mit ihrem Talent glänzen.«

»War nicht auch noch anderes da, das zog?« fragte Charlotte, die sich an dies und jenes aus der Geschichte des alten Geschlechts erinnerte.

»Ganz richtig, Base Charlotte, ich wollte gerade davon reden. Frau Malwinas alte Herrschaft, Bengt Göran und meine Großmutter, Baronin Augusta, die ich vorhin erwähnte, waren zwar schon beide selig entschlafen, aber mein Vater, dem Hedeby nun gehörte, war, wie wir alle wußten, Frau Malwinas Jugendliebe gewesen, und obgleich die erste heiße Liebesleidenschaft nun abgekühlt war, bewahrte Malwina doch eine kleine Schwäche für ihn. Uns Kindern kam es immer so vor, als ob mein Vater und meine Mutter wirkliche Freundschaft für Malwina Spaak hegten. Sie empfingen sie mit sichtlicher Freude, ließen sie mit am Herrentisch essen und besprachen alle ihre Sorgen und Freuden in vertraulicher Weise mit ihr. Nie stieg in uns der Argwohn auf, der Grund all dieser Freundlichkeit könnten Gewissensqualen sein.«

»Die Frau Oberst Ekenstedt betonte immer Frau Malwinas aufrichtige Freundschaft für die Familie«, warf Charlotte ein.

»Ja, sie war uns auch immer eine vollkommen getreue Freundin, wenigstens liegt keine Veranlassung zu einer anderen Annahme vor. Und die Ergebenheit, die sie für meine Eltern empfand, übertrug sie auch auf uns Jungen, Göran und mich. Sie kochte immer unsere Leibgerichte, steckte uns jederzeit irgend etwas Gutes zu, wenn wir sie in der Küche aufsuchten, und wurde nie müde, uns die haarsträubendsten Gespenstergeschichten zu erzählen. Vielleicht sollte ich aber doch sagen, daß Göran ganz unverkennbar ihr Liebling war, und das kam wohl von seinem Aussehen her. Ich, der rotwangig und hellblond wie der nächste Bauernjunge war, konnte wohl keine zärtlichen Erinnerungen bei ihr erwecken. Anders aber war es bei Göran. Er war schön, mit großen dunklen Augen und wurde ganz allgemein des Vaters Ebenbild genannt. Deshalb ist es sehr glaubhaft, daß sich Frau Malwina, wenn sie von ihrer Teigschüssel oder Bratpfanne aufschaute, sehr oft einbildete, die Zeit sei stillgestanden und der Jugendgeliebte sei zurückgekehrt, um sie über die Kunst auszufragen, wie man einen Toten dazu bringen könne, sich in seinem Grabe ruhig zu verhalten.«

Ein wehmütiger Zug legte sich auf Charlottes Antlitz. »Ja, ich kenne diese Augen«, sagte sie wie zu sich selbst.

»Das gute Verhältnis zwischen Frau Malwina und uns Jungen hielt auch an bis zum Jahre 1816«, begann der Baron von neuem. »Aber da war Frau Malwina so unvorsichtig, ihre Tochter Thea nach Hedeby mitzunehmen. Das Mädchen zählte damals dreizehn Jahre, ich selbst war achtzehn und Göran sechzehn, und so hielten wir uns für zu erwachsen, um mit ihr zu spielen. Es hätte schon ein sehr großer Grad von Liebenswürdigkeit dazugehört, um uns den Altersunterschied vergessen zu lassen; aber die arme Thea hatte eine kurze vierschrötige Gestalt, hervorstehende Augen, und überdies lispelte sie beim Sprechen. Wir fanden sie abschreckend und gingen ihr aus dem Weg, und Frau Malwina, die ihre kleine Thea für ein ungewöhnlich begabtes Kind hielt, fühlte sich ihretwegen etwas gekränkt.«

»Ach«, lispelte Charlotte, »wenn ich daran denke, daß ich hier neben einem Baron Löwensköld sitze, einem Sohn von Baron Adrian Löwensköld, den meine Mutter geliebt hatte und der meine Erziehung bestritten hat!«

Doch sie brach jäh ab. »Nein, verzeih, Vetter! Ich dachte nicht daran, wie es ihr jetzt geht. Es ist unrecht von mir, mich über eine Unglückliche lustig zu machen.«

Der Baron lachte. »Es ist schade, daß du dir Gewissensbisse machst«, sagte er. »Du mußt ein großes Talent haben. Es war mir, als sitze die kleine Thea hier neben mir im Schlitten. Aber ehe ich weitermache, muß ich doch wohl fragen, ob du nicht über und über genug hast? Ich treffe ja nicht jeden Tag mit jemand aus meiner eigenen Familie zusammen. Es macht mich gewissermaßen wieder jung. Alles Alte ersteht aufs neue.«

Charlotte, die tatsächlich mit dem größten Interesse zugehört hatte, beeilte sich, seine Besorgnis zu zerstreuen, und Baron Adrian erzählte weiter.

»Du hättest mit unserer Unart gegen Thea sicherlich mehr Nachsicht als unsere eigenen Eltern gehabt«, sagte er. »Aber meine Mutter, die merkte, daß sich Frau Malwina nicht in ihrer gewohnten guten Laune befand, erriet die Ursache, und so ermahnte sie uns aufs strengste, doch recht artig gegen die kleine Thea zu sein; und mein Vater fügte auch noch das Seinige hinzu. Wir waren ans Gehorchen gewöhnt, und so nahmen wir nun das Mädchen auf einige Ruderfahrten mit, auch schüttelten wir von den himmelhohen Bäumen Astrachanäpfel für sie herunter. Bei Frau Malwina, der guten Seele, herrschte darauf wieder eitel Sonnenschein, und alles verlief in bester Weise bis zum Festtag selbst.«

»Daß ihr sie nicht ertränkt habt!«

»Ach, Charlotte, ja, du kannst dich in unsere Gefühle hineinversetzen«, sagte der Baron. »Aus dem ganzen Bezirk trafen die Herrschaften ein, darunter alle unsere guten Freunde, die jungen Herren und Fräulein, die wir von jeher kannten, und konnten wir uns nicht denken, daß wir an einem solchen Tage Thea besondere Aufmerksamkeiten schenken sollten. Meine Mutter hatte allerdings ausdrücklich angeordnet, Thea solle am Feste teilnehmen, und meiner Erinnerung nach war sie auch vollständig passend gekleidet; da sie aber niemand kannte und ihr Äußeres höchst abstoßend war, wurde sie sehr vernachlässigt. Wir ließen sie weder am Spiel im Freien teilnehmen, noch wurde sie später im Salon zum Tanz aufgefordert. Unglücklicherweise war meine Mutter von der Unterhaltung mit den geladenen Herren und Damen so in Anspruch genommen, daß sie vergaß, sich um das Behagen der kleinen Thea zu kümmern. Erst beim Abendessen fiel ihr das Kind wieder ein, aber da war das Unglück schon geschehen. Sie fragte das Zimmermädchen, wo Thea sei, und erfuhr, sie sitze draußen in der Küche bei ihrer Mutter und weine jammervoll. Niemand habe mit ihr gesprochen; sie habe weder beim Spiel im Freien noch beim Tanzen mitmachen dürfen. Nun, die liebe Mutter war wohl etwas beunruhigt darüber, aber sie konnte doch ihre Gäste nicht verlassen, um ein verzogenes Kind zu trösten. Im übrigen fand sie gewiß diese Thea ebenso abstoßend, wie wir Jungen es nur je getan hatten, davon bin ich überzeugt.«

»Thea hat immer eine erstaunliche Fähigkeit gehabt, andern Widerwärtigkeiten zu bereiten«, bemerkte Charlotte.

»Ja, nicht wahr, Base Charlotte? Malwina Spaak war natürlich für ihre liebe Tochter gekränkt, und am nächsten Morgen, als sich meine Mutter kaum den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, kam auch schon das Zimmermädchen mit der Meldung herein, Frau Malwina wolle abreisen und lasse fragen, ob sie einen Wagen haben könne. Meine Mutter war höchst erstaunt, denn es war ja ausgemacht, daß Frau Malwina nach dem Umtrieb und der Arbeit für das Fest noch einige Tage auf Hedeby ausruhen solle. Sie eilte sofort zu Frau Malwina, fand sie aber vollständig entschlossen, bis Mutter endlich ihren Gatten herbeirief, der dann mit ein paar Worten sagte, er habe am vorhergehenden Abend die kleine Thea beobachtet und gefunden, daß sie sich sehr nett und passend benommen habe. Und da war Frau Malwina sofort versöhnt. Die Abreise wurde aufgeschoben, ja es wurde ausgemacht, daß Frau Malwina noch eine ganze Woche auf Hedeby bleibe, damit wir Kinder nähere Bekanntschaft miteinander schlossen und gute Freunde würden.«

»Das war fast zu grausam, Vetter.«

»Als dies geordnet war, ließ mein Vater uns Jungen auf sein Zimmer kommen. Er fragte uns, wie wir uns unterstehen konnten, seinen Befehlen nicht nachzukommen, und versetzte jedem von uns eine Ohrfeige. Mein Vater war sonst ein sehr freundlicher, sanftmütiger Mensch. Er pflegte durchaus keine handgreiflichen Zurechtweisungen auszuteilen, und so kannst du dir wohl unsere Verwunderung denken, Base Charlotte. Wir konnten uns ja unmöglich erklären, warum unser Vater Thea gegenüber so schwach war. Aber jetzt tat er uns zu wissen, daß es auf der weiten Welt niemand gebe, den wir mit solcher Rücksicht behandeln müßten, wie gerade Thea. Und dann teilte er uns mit, sie werde nun wohl acht Tage länger dableiben, damit wir uns mit ihr befreundeten.«

»Und das konntet ihr natürlich nicht ertragen?«

»Mir gelang es, mich still zu verhalten, aber Göran, der von heftigerer Gemütsart und durch Ohrfeigen gereizt war, schrie in voller Wut: ›Weil der Herr Vater in Malwina Spaak verliebt gewesen ist, brauchen wir doch von der kleinen Thea nicht entzückt zu sein!‹ Ich konnte mir nichts anderes denken, als daß er zur Tür hinausgeworfen würde; aber im Gegenteil, unser Vater bezwang seinen Zorn. Er setzte sich in seinen großen Lehnstuhl und gebot uns, näher zu treten. Wir mußten uns links und rechts von ihm aufstellen. Dann reichte er jedem die Hand und sagte, es sei an der Zeit, daß wir erführen, wie sich die Sache verhalte. Er fürchte, Malwina Spaak sei ein großes Unrecht zugefügt worden. Bei einer Gelegenheit – er war überzeugt, daß wir verstanden, worauf er anspielte – sei er in Lebensgefahr gewesen, und er fürchte, seine Mutter, die Baronin Augusta, habe Malwina, wenn auch nicht mit klaren Worten, so doch auf irgendeine Weise glauben lassen, Malwina solle ihre Schwiegertochter werden, wenn es ihr gelinge, den Baron zu retten. Dieses Versprechen habe freilich nicht gehalten werden können, und Jungfer Malwina habe sich auch äußerst taktvoll benommen; aber mein Vater fühle sich ihr gegenüber in einer Schuld, die er niemals abtragen könne, und deshalb wende er sich nun an uns, um uns zu bitten, gegen Frau Malwina und ihre Tochter das rücksichtsvollste Benehmen an den Tag zu legen.«

»Das war ja eine schöne Ermahnung, Vetter.« – »Leider aber fanden wir Jungen alles miteinander eher lächerlich als rührend.« In diesem Augenblick wendete sich der Kutscher Lundman nach den im Schlitten Sitzenden um und sagte, er meine, auf dem Gipfel von einem der nächsten Hügel ein Fuhrwerk wahrnehmen zu können.

Der Baron richtete sich im Schlitten auf. Er entdeckte auch das Fahrzeug, erklärte aber, der Hügel dort sei wenigstens noch eine Viertelstunde entfernt, und er könne unmöglich feststellen, ob es der verfolgte Schlitten sei. Immerhin befahl er Lundman, so rasch wie nur möglich zu fahren, und in aller Eile entwarf er einen Angriffsplan.

»Wenn wir den Schlitten eingeholt haben, dann nimmst du die Zügel, Base Charlotte«, sagte er. »Lundman springt heraus und hält das Zigeunerpferd an, während ich an den Schlitten trete und das Kind zu uns herübernehme.«

»Wir überfallen sie wie richtige Straßenräuber.«

»Na ja, auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil.«

Baron Adrian beugte sich weit über den Schlitten hinaus, um an den Pferden vorbei den Weg übersehen zu können. Er war jetzt in Jagdeifer gekommen und dachte nicht mehr an die alten Geschichten, die er noch eben so eifrig erzählt hatte.

»Vetter Adrian, wir haben gewiß noch eine halbe Stunde Zeit, bis wir sie einholen. Dürfte ich nicht noch das Ende der Geschichte hören?«

»Nur zu gerne, Charlotte. Das Ende vom Liede war, daß Bruder Göran, der es in Gesellschaft von Thea nicht aushalten konnte, darauf verfiel, aus Wachs, Goldpapier und einem bißchen roten Lack einen großen Siegelring herzustellen. Den ließ er Thea sehen, und er machte ihr weis, es sei der wirkliche berüchtigte Löwensköldsche Ring, den er auf dem Kirchhofe gefunden haben wollte. Jetzt könne man also jeden Augenblick erwarten, daß der alte General wieder auf Hedeby zu spuken anfange, um sein Kleinod wiederzuerlangen. Die kleine Thea bekam Angst, Frau Malwina wollte aufs neue abreisen, und die Sache wurde genau untersucht. Bruder Göran mußte mit dem wächsernen Ring und der ganzen Geschichte herausrücken, und darauf erhielt er eine Tracht Prügel von unserem Vater. Aber nach dieser Behandlung lief Göran auf und davon in die Wälder und kehrte nie wieder zurück. Seit sechsundzwanzig Jahren hatte er sich nicht mehr auf Hedeby blicken lassen, sondern ein Zigeunerleben auf der Landstraße geführt zum großen Schmerz meiner Eltern und zur Schmach und Schande unserer ganzen Familie. Der Besuch jetzt im Winter war das einzige Mal, daß man ihn auf Hedeby wiedersah.«

»Ach, Vetter Adrian, ich wußte nicht, daß sein Unglück auf diese Weise begann!«

»Doch, Charlotte, so verhält es sich, und wenn man es genau nimmt, kann man wohl sagen, daß es die kleine Thea war, die ihm seinen Tod im Straßengraben verschafft hat. Damit ist sie also mit einem von uns fertig geworden. Aber sieh, da haben wir das Fuhrwerk wieder!«

Abermals beugte sich der Baron über den Schlittenrand hinaus: aber der erspähte Schlitten verschwand bald wieder aus seinem Gesichtsfeld, und so wendete er sich aufs neue Charlotte zu.

»Was meinst du, Base? Ich vergesse beinahe, warum ich dich all dies anzuhören gezwungen habe. Ich wollte dich ja davor warnen, Thea und Karl Artur zu trennen. Siehst du, ich glaube, ja ich glaube, daß Frau Malwinas Tochter einen Auftrag zu erfüllen hat, von dem sie selbst nichts weiß. Erinnerst du dich, Marit Erikstochter sprach doch davon, daß sie einen Rächer senden werde?«

In demselben Augenblick wendete sich Baron Adrian Charlotte ganz zu und schaute sie mit dem Ausdruck schreckensvoller Erwartung starr an.

Und da verstand Charlotte durch eine innere Eingebung, daß dieser schwermütige Träumer, er, der in seiner Umgebung niemand hatte, dem er sich anvertrauen konnte, sich in der Düsterheit einsamer Stunden das alte Strafgericht immer wieder vorhielt und daß er sich allmählich einbildete, Thea Sundler sei dazu berufen, es zur Verwirklichung zu bringen.

Doch obgleich sich Charlotte unwillkürlich daran erinnerte, wie sie selbst während der unglückseligen Zeit, als ihre Verlobung mit Karl Artur in die Brüche ging, das Gefühl gehabt hatte, es stehe an Theas Seite etwas Drohendes und Unabwendbares, das alle ihre eigenen Bemühungen, den Geliebten zu retten, verhinderte, so wollte sie jetzt doch Baron Adrians Vermutung in keiner Weise zustimmen. Und so erwiderte sie dessen fragenden Blick mit gutgespielter Verwunderung.

»Ich verstehe nicht, warum du in diesem Zusammenhang von Karl Artur sprichst«, sagte sie. »Er ist ja kein Löwensköld.«

»Es ist in der Prophezeiung nicht genau ausgesprochen, ob alle drei Opfer die Namen Löwensköld tragen müssen, sondern nur, daß sie zu den Nachkommen meiner Großmutter gehören sollen.«

»Und nun meinst du, ich solle dieser elenden, erbärmlichen Sage wegen es nicht versuchen, mit Karl Artur ein Wort zu sprechen, falls ich heut abend mit ihm zusammentreffe? Ich soll ihn nicht von Thea losmachen, soll gar nichts tun dürfen, um ihn zu einer würdigeren Lebensweise zurückzuführen?«

Baron Adrians Blick ruhte noch immer mit derselben ängstlichen Frage auf Charlotte, und auch seine Stimme verriet noch dieselbe grenzenlose Verzweiflung.

»Nein, ich will dir nicht verbieten, es zu versuchen«, entgegnete er, »sondern sage nur, es wird nichts nützen. Ich habe Karl Artur vor ein paar Stunden gesehen und kann dir versichern, daß er, gerade wie mein Bruder es war, für den Tod im Straßengraben bald reif ist. Ein böser, jäher Tod mitten in seinen besten Jahren.«

»Ich begreife nur nicht, wie du dir etwas so Absonderliches einbilden kannst.«

Baron Adrian ließ seinen düstern Blick über die Landschaft hinschweifen.

»Ach, Base Charlotte, was verstehen wir von dem, was um uns her geschieht? Warum geht es dem einen schlecht und dem andern gut? Wieviel ungesühnte Schuld gibt es nicht, die eingelöst werden muß?«

Trotz ihrem Mitleid war Charlotte nahe daran, die Geduld zu verlieren.

»Und nachdem Thea mit Karl Artur fertig geworden ist, kommt wohl die Reihe an dich selbst, Vetter?«

»Ja, dann kommt die Reihe an mich, doch das ist von keiner Bedeutung. Ich versichere dir, wenn ich einen Sohn bekommen hätte, würde ich mir gerne selbst das Leben genommen haben, damit die Schuld, die auf den Löwenskölds liegt, gesühnt wäre. Siehst du, mein Sohn hätte dann ein glückliches Leben führen können, und er hätte unser Geschlecht zu Ehren gebracht. Nichts hätte ihn gehindert, ein wohltätiger, angesehener Mann zu werden. Wir drei, mein Bruder, Karl Artur und ich selbst, wir haben nichts erreicht, weil die Strafe auf uns lag, er aber, Base Charlotte, er, mein Sohn, wäre nicht von ihr bedrückt gewesen.«

Jetzt drehte sich Lundman wieder um, er hob die Peitsche und deutete auf den Weg hinaus.

Aber Baron Adrian rührte sich nicht. Er hatte sich in seine Ecke zurückgelehnt und saß ganz still da, ohne die geringste Anteilnahme an der Verfolgung zu zeigen. Charlotte konnte nur sein Profil sehen; und es kam ihr vor, als sei sein Ausdruck wieder so, wie er in der vergangenen Woche gewesen war, düster, streng und hart.

Was soll ich tun? dachte sie. Seine Schwermut ist wieder über ihn gekommen.

Eine gute Weile fuhren sie so weiter. Der Weg war jetzt ungewöhnlich hügelig und gewunden. Bald lief er den Strand des Löwensees entlang, bald verlor er sich im Walde, bald drängte er sich zwischen den dicht zusammengebauten Häusern eines Bauernhofs hindurch. Von keinem Punkt aus hatte man eine Fernsicht. Der verfolgte Schlitten tauchte ab und zu einen Augenblick auf, verschwand aber schon im nächsten wieder.

Sowenig Glauben auch Charlotte Baron Adrians Hirngespinst zu schenken vermochte, so wurde sie doch von immer größerem Mitleiden mit ihm ergriffen, und so beschloß sie in aller Eile, nach dem einzigen zu greifen, das ihm möglicherweise zum Trost gereichen konnte. Sie tat es zwar sicher nicht in der Hoffnung auf Erfolg, sondern nur in dem unwiderstehlichen Drang, etwas zu tun.

»Vetter Adrian!«

»Was möchtest du, Base Charlotte?«

»Ich möchte dir etwas sagen.«

»Ich stehe dir ganz zur Verfügung, meine Base, du hast mir eine so unbegreifliche Geduld bewiesen, indem du meine dumme Geschichte angehört hast.«

Der Ton war unfreundlich und sarkastisch, aber Charlotte war dankbar, daß Baron Adrian überhaupt redete.

»Gott verzeih mir's, wenn ich etwas Unrechtes tue, aber ich muß es dir jetzt sagen. Als der Mann, den du, Adrian, in die Zigeunerdörfer im Norden geschickt hattest, nach Hedeby zurückkam, bat er um eine Unterredung unter vier Augen mit deiner Frau. Er wollte ihr mitteilen, daß Göran Löwensköld einen Sohn hinterlassen habe.«

Baron Adrians Hand in dem großen Fäustling aus Wolfspelz legte sich noch einmal schwer auf Charlottes Schulter.

»Ist das etwas, das du dir ausgedacht hast?« stieß er hervor.

»Welch ein Ungeheuer müßte ich sein, wenn ich in diesem Falle lügen wollte? Nein, Vetter Adrian, es gibt wirklich einen Jungen dort droben. Er sei sechs Jahr alt, groß und wohlgestaltet. Nicht so schön wie die Schwester, er habe eher Ähnlichkeit mit dem Porträt des alten Bengt. Aber der Pächter wollte die Frau Baronin erst fragen, ob er von dem Dasein des Jungen überhaupt etwas zu dir sagen solle. Er hat nämlich ein Gebrechen.«

»Ist er blödsinnig?«

»Nein, er hat seinen gesunden Verstand, ist fröhlich und liebenswürdig, aber er …«

Charlotte versagte die Stimme, so erregt war sie. Sie konnte das Wort nicht herausbringen.

»Er ist blind, Vetter«, flüsterte sie.

»Was sagst du?«

»Er ist blind«, wiederholte Charlotte nun fast schreiend. »Deshalb hat der Pächter sich nicht getraut, dir etwas davon zu sagen, und Amelie bat ihn, vorerst davon zu schweigen. Sie meinte, die rechte Zeit für eine solche Mitteilung sei noch nicht gekommen. Sie wollte es dir später sagen, wenn deine Gemütsstimmung weniger reizbar wäre.«

»Amelie ist eine vorsichtige Gans und wird nie etwas anderes.«

»Er ist blind geboren, und es kann nichts zu seiner Heilung getan werden.«

Baron Adrian schüttelte Charlotte mit einem harten Griff geradezu, wie wenn er die Wahrheit aus ihr herausschütteln wollte.

»Und das ist wahr? Du kannst darauf schwören, daß sich dort oben wirklich ein Junge befindet?« rief er.

»Gewiß, gewiß. Er heißt Bengt Adrian. Das kleine Mädchen hat oft von einem Bruder gesprochen. Der ist es selbstverständlich. Aber was hast du denn, Vetter?«

Baron Adrian hatte in überwältigendem Entzücken die Arme um sie geschlungen und sie auf Mund und Wange geküßt. Jetzt ließ er sie laut lachend los.

»Ja, verzeih, Base Charlotte, aber du bist eine Perle. Du bist keine Zimperliese, bist mutig wie ein Mann. Du bist von meinem Geschlecht. Wart nur! Wenn du das nächste Mal nach Hedeby kommst, soll es anders dort aussehen!«

»Ach, ich bin so froh, so unaussprechlich froh, Vetter! Aber vergiß nicht, daß er blind ist!«

»Blind! Ich habe fünf Töchter, die nichts weiter zu tun haben, als ihn, falls es nötig ist, zu führen und ihm zu essen zu geben. Gleich heut abend fahr' ich nordwärts. Jetzt müssen wir nur zuerst das Mädel haben. Hallo, Lundman, sieht Er etwas?«

»Sie sind nicht mehr weit weg, Herr Baron.«

»Dann knall Er tüchtig, Lundman! Jetzt wollen wir sie fassen! Ach, Herr Gott im Himmel! Wie sagtest du, daß er heiße?«

»Bengt Adrian.«

»Göran hatte also doch noch etwas für das Alte übrig. Was meintest du, das ich für Karl Artur tun solle?«

»Aber er ist ja dazu verdammt, unterzugehen.«

»Ach, zum Kuckuck, du wirst doch nicht mehr an das dumme Geschwätz denken, das dir ein hypochondrischer Baron weismachen wollte! Wir pfeifen auf dieses Strafgericht, mit Verlaub zu sagen. Ich werde mich also um Karl Artur annehmen. Aber was wollen wir mit Thea anfangen?«

»Sie hat einen Gatten, der sich nach ihr sehnt.«

»Er soll sie wiederhaben, Charlotte! Und Karl Artur soll vorerst nach Hedeby kommen. Amelie soll für ihn sorgen, so etwas tut sie gern. Aber schau, da haben wir sie! Auf dem nächsten Hügel sind wir bei ihnen!«

Beide beugten sich weit über den Schlittenrand hinaus, um besser sehen zu können. Die Verfolgten befanden sich jetzt auf einem steilen Hügelabhang, der zum Seeufer hinunterführte. Dann kam eine kleine Strecke ebener Weg, und dann ging's wieder hügelaufwärts. Auf diesem Hügel meinte der Baron die Fliehenden einholen zu können.

Karl Artur hatte noch einen kleinen Vorsprung. Er befand sich jetzt auf dem ebenen, den See entlangführenden Weg, während Charlottes Pferde noch den Hügel hinabjagten.

Indessen schienen die Fliehenden erkannt zu haben, daß sie auf dem nächsten Hügel, der wieder steil aufstieg, eingeholt würden. Da wendete Karl Artur sein Pferd, bog vom Wege ab und steuerte auf den See zu.

»Na«, sagte Baron Adrian ganz vergnügt, »da können wir sie um so leichter fassen.«

Lundman, der schon den Hügel hinter sich hatte, fuhr nun auch ohne Bedenken auf das Eis hinaus, das zwar mit einer Mischung von Wasser und Schnee bedeckt, aber vollkommen tragfähig war.

Sie waren indes nicht viele Meter weit auf dem Eise draußen, als der Baron einen lauten Ruf ausstieß. »Halt, Lundman! Halt Er das Pferd an! Was denken denn nur die Leute da draußen, daß sie gerade dort aufs Eis hinausfahren? Dort drüben ist ja der Fluß!«

Von Charlottes Schlitten aus, der recht hoch war, konnte man deutlich sehen, wie das Eis dort eine dunklere Färbung annahm, was anzudeuten schien, daß es durch einen reißenden kleinen Fluß, der aus dem Waldesdunkel in den See strömte, dünner geworden war.

Der Schlitten hielt. Baron Adrian stieg aus, legte die Hände an den Mund wie ein Rufer und stieß einen lauten Warnungsruf aus. Charlotte zerrte und riß an den Riemen der Schlittendecke und war schließlich so weit, daß sie sich rühren konnte.

In nur ein paar Sekunden war es geschehen. Man hörte das Bersten und Brechen des Eises. Karl Arturs Pferd verschwand in der Tiefe und der Schlitten hinterdrein.

Aber im selben Augenblick, wo das Eis brach, war Karl Artur aus dem leichten Schlitten gesprungen und desgleichen auch die Frau, die neben ihm saß. Von Charlottes Schlitten aus konnte man sie gerettet am Rande des Eises stehen sehen.

Doch nun stürzte Baron Adrian, groß und schwer in seinem weiten Pelzmantel und in seinen gewaltigen Riesenstiefeln, sofort auf die offene Wake zu. »Das Kind!« schrie er. »Das Kind, das Kind!«

Charlotte lief ihm nach, und auch Kutscher Lundman warf die Zügel weg und eilte hinterdrein. Der Baron hatte einen kleinen Vorsprung. Er war schon fast an der Wake angelangt, als Charlotte zu hören meinte, er rufe, er sehe das Kind. Doch in derselben Sekunde brach das Eis unter ihm.

Charlotte war schon so nahe, daß die Risse der berstenden Eisdecke bis zu ihren Füßen reichten. Sie aber dachte an nichts anderes, als weiterzulaufen und Hilfe zu bringen. Doch plötzlich hielt Lundman sie von hinten fest.

»Laufen Sie nicht weiter, gnädige Frau! Um Gottes willen, kriechen Sie, kriechen Sie!«

Beide ließen sich aufs Eis nieder und krochen bis zu der Wake hin. Aber sie sahen nichts mehr.

»Es ist eine sehr starke Strömung hier«, sagte Lundman. »Sie sind schon unter das Eis hinuntergetrieben worden.«


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