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Der Unglücksfall

1

Schagerström war frühzeitig von Hause weggefahren, um der wichtigen Sitzung in dem Gasthaus anzuwohnen. Als er eintraf, hatte es allerdings schon zehn Uhr geschlagen, aber da die Besprechung ungewöhnlich kurze Zeit dauerte, konnte er sich schon um elf Uhr nach der Propstei begeben, um der Frau Propst und Charlotte einen kleinen Besuch abzustatten. Er sehnte sich nach seiner Frau, obgleich er erst einen einzigen Tag von ihr getrennt war, und er überlegte sogar ein wenig, ob er sie nicht überreden könnte, jetzt gleich mit ihm heimzufahren.

Eigentlich müßte ich ja spornstreichs zurück nach meinem Sägewerk, das ins Stocken geraten ist, dachte er. Aber das wäre vielleicht doch zu kurz angebunden. Wie wär's, wenn ich hier in der Propstei bis zum Nachmittag bliebe? Gegen fünf oder sechs Uhr könnte dann Charlotte ohne das geringste Bedenken mit mir aufbrechen.

In der Propstei wurde er von Frau Forsius empfangen, die ihn sofort nach dem Ergebnis der Sitzung ausfragte. Sie erwartete sicherlich gar nichts anderes, als daß alles fehlgeschlagen habe. Karl Artur habe ja die zehn Kinder fortgehen lassen, und das sei eine entsetzliche Dummheit gewesen.

Doch Schagerström erklärte ihr sofort, diese Sache habe gar keine Rolle bei der Verhandlung gespielt. Nein, man sei schon drauf und dran gewesen, sowohl die Volksschule als auch das Pfarrhaus zu bewilligen, als plötzlich der Hüttenmann Aron Mansson aufgestanden sei und gefragt habe, ob es wirklich angebracht wäre, wenn die Versammlung sich so große Ausgaben aufladen würde, um einen Pfarrer anzustellen, durch dessen Lebenswandel seine Frau gezwungen gewesen sei, ihn zu verlassen?

»Was sagst du?« rief die Pröpstin. »Diese Frau! Ist sie auf und davon gegangen? Wer soll denn dann für ihn sorgen?«

Tatsächlich schienen sich alle, die der Sitzung beiwohnten, dieselbe Frage gestellt zu haben. Der Frau hatten alle volles Vertrauen geschenkt. Fast sah es aus, als sei sie es und nicht der Mann, die zum Hilfsgeistlichen und Schullehrer ausersehen gewesen war, denn sobald man erfahren hatte, daß sie außer Spiel war, wurde der ganze Vorschlag auf unbestimmte Zeit verschoben.

Frau Forsius war über diesen Ausgang ärgerlich und betrübt zugleich, und so entschlüpften ihr nun ein paar unvorsichtige Worte. »Ja, hab' ich's nicht immer zu Charlotte gesagt. Es hat gar keinen Wert, wenn man Karl Artur zu helfen versucht.«

Schagerström hörte es nie gern, wenn die Rede auf Charlottes Anteilnahme an dem Geschick ihres früheren Bräutigams kam, und seine Miene verdüsterte sich jetzt sofort; aber Frau Forsius, die sich ihrer Unvorsichtigkeit bewußt wurde, suchte ihn auf andere Gedanken zu bringen, indem sie sagte, Charlotte sei in den Garten gegangen.

Dies ließ sich Schagerström nicht zweimal sagen; er begab sich sofort hinaus in das Labyrinth von Hecken, um Charlotte zu suchen, und als er ihre Stimme aus dem alten Gartenhäuschen zu vernehmen meinte, warf er durch eines der Fenster einen Blick hinein. Er sah auch ganz richtig Charlotte auf der Bank des gegenüberliegenden Fensters im Gespräch mit Karl Artur sitzen, und ohne sich so lange aufzuhalten, um ein einziges Wort auffassen zu können, zog er sich wieder zurück.

Er hielt sich nicht einmal noch länger im Garten auf, sondern stellte sich auf die Veranda der Propstei, um da seine Frau zu erwarten. Was er gesehen, hatte ihn wie ein Schlag getroffen und in eine Betäubung versetzt, in der man nicht mehr selbständig zu denken vermag, sondern in der die Gedanken von außen auf einen einstürmen. Irgend jemand, wer, wußte er nicht, erinnerte ihn an ein Gespräch, das er einmal mit angehört hatte. Es war von Frau Romelius die Rede gewesen, und man hatte sich darüber gewundert, daß sie ihren Mann immer noch liebe, obgleich er ein notorischer Säufer sei. »Ach, darüber braucht man sich nicht zu verwundern«, lautete die Antwort. »Sie ist ja eine Löwensköld, und alle, die Löwensköld heißen, werden ihrer ersten Liebe nie untreu.«

Schagerström wußte nicht, wann oder wo er diesen Ausspruch gehört hatte. Er meinte sogar, er habe damals Charlotte noch gar nicht gekannt; aber jetzt tauchte jene Äußerung so deutlich aus dem Grunde seiner Seele auf, daß sie ihn um den Verstand zu bringen drohte.

Nach einigen Minuten merkte er, daß er seinen Kopf mit beiden Händen umklammert hielt, wie wenn er seinen Verstand festzuhalten versuchte; und sofort ließ er die Hände sinken und richtete sich stramm auf. Ich muß mich ruhig zeigen, dachte er. Charlotte kann ja jeden Augenblick hier sein.

Nach einer Weile sah er sie auch daherkommen, zögernden Schrittes und mit gerunzelten Brauen, wie wenn sie versuchte, etwas sehr Schweres und Verwickeltes zu entwirren. Aber sobald sie ihren Gatten erblickte, klärte sich ihr Gesicht auf, und sie eilte auf ihn zu.

»Ei sieh, bist du schon gekommen?« rief sie mit strahlendem Blick, indem sie die Arme um seinen Hals schlang und ihn küßte. Einen wärmeren Empfang hätte er sich gar nicht wünschen können.

Wie gut sie es macht! dachte er. Es ist durchaus nicht verwunderlich, daß ich mir schließlich einbildete, sie liebe mich wirklich.

Er erwartete, Charlotte werde mit ihrer gewohnten Aufrichtigkeit erzählen, sie habe den jungen Ekenstedt im Garten getroffen; aber das geschah nicht. Und ebensowenig fragte sie ihn nach dem Ergebnis der Sitzung. Man hätte meinen können, sie habe diese Angelegenheit vollständig vergessen.

Aus diesem Schweigen zog Schagerström natürlich seine Schlüsse. Das Gefühl des Verraten- und Betrogenseins wurde immer heftiger.

Er dachte an nichts anderes, als so bald wie nur möglich abzufahren, um in Ruhe die Bedeutung seiner Entdeckung überlegen zu können.

Was ihm half, die Propstei zu verlassen, ohne seine Verstimmung zu verraten, war das alte Sägewerk auf Groß-Sjötorp. Rasch teilte er Charlotte mit, das Sägewerk sei am vorhergehenden Nachmittag, gleich nachdem sie mit der Pröpstin abgereist war, plötzlich stehengeblieben und alle drei, der Werkführer, der Inspektor und der Verwalter, hätten sich vergeblich um die Ursache der Störung den Kopf zerbrochen. Man habe sich dann an ihn, den Herrn selbst, gewendet; aber auch er sei mit seinem Latein zu Ende gewesen.

Charlotte, die wußte, wie gern ihr Mann für einen großen Mechaniker gehalten wurde, sowie daß ihm nichts größere Freude machte, als wenn man seine Tüchtigkeit in dieser Richtung rühmte, nahm die Sache recht gelassen auf.

»Ach, ich kenne diese alten Sägewerke«, sagte sie. »Es ist, als brauchten sie ab und zu ein paar Tage Ruhe, und dann kommen sie ganz von selbst wieder in Gang.«

Während die beiden noch darüber redeten, trat die alte Frau Propstin zu ihnen; sie machte ihre große Reverenz und fragte, ob sie die Ehre haben werde, den Herrn Hüttenbesitzer bei sich zu Tisch zu sehen? Aber Schagerström entschuldigte sich mit dem Sägewerk. Er erklärte der Pröpstin, es sei durchaus kein gewöhnliches Sägewerk, es habe eine ganz besondere und sehr verwickelte Maschinerie. Die alten Arbeiter auf Groß-Sjötorp behaupteten, es sei von dem großen Erfinder Polhem selbst gebaut worden. Und das wolle er, Schagerström, gerne glauben, denn man müßte tatsächlich ein mechanisches Genie sein, um etwas so Verwickeltes zusammenzusetzen. Gestern sei er wirklich daran verzweifelt, daß er die Sache meistern könne, aber jetzt auf dem Herwege sei ihm eine neue Idee gekommen und da müsse er natürlich ohne Aufschub hinfahren.

Tatsächlich schien Schagerström auch nichts anderes im Kopfe zu haben als die geheimnisvolle Maschinerie des alten Sägewerks, und so sahen beide, Charlotte und die Pröpstin, wohl ein, daß es am besten war, ihn seines Weges ziehen zu lassen.

Doch kaum saß er im Wagen, als in seinem Innern eine schwere, aussichtslose Arbeit begann, das, was er durch das Fenster des Gartenhäuschens zu sehen gemeint, zu erklären, oder noch besser, es zu verjagen. Ach, leider haben unsere Augen eine trostlose Fähigkeit, gewisse Dinge, die sie sehen, mit unerbittlicher Schärfe zu erfassen und sie unaufhörlich wieder vor uns erstehen zu lassen!

Schagerström mußte zugeben, daß Charlotte und Karl Artur einander nicht geküßt, ja nicht einmal eine Liebkosung ausgetauscht hatten. Er hätte recht wohl glauben können, es habe nur ein ganz gewöhnliches Gespräch zwischen ihnen stattgefunden, wenn er nicht das verweinte Gesicht des jungen Geistlichen sowie den Blick schwärmerischer Bewunderung, womit er Charlotte betrachtete, gesehen hätte, von dem Ausdruck mitfühlender Zärtlichkeit, mit dem Charlotte selbst auf Karl Artur herabsah, gar nicht zu reden.

Dazu kam noch die Bemerkung der alten Frau Forsius, die ihm gezeigt hatte, daß Charlotte Karl Artur immer noch zu helfen suchte, sowie auch Charlottes eigene Zurückhaltung in dieser Beziehung. Waren das nicht Beweise genug?

Allerdings versuchte er sich zu sagen, er und Charlotte seien außerordentlich glücklich miteinander gewesen, und sie habe niemals auch nur mit einer Miene verraten, daß sie sich nach einem andern sehne; aber all dies mußte zurücktreten, sobald er sich daran erinnerte, auf welche Weise sie und Karl Artur einander an diesem Vormittag angesehen hatten.

»Charlotte hatte sich vielleicht eingebildet, die alte Liebe sei tot«, murmelte er; »aber sobald sie ihn wieder getroffen hat, loderte die Glut von neuem auf.« Allmählich gelang es ihm, sich vollkommen davon zu überzeugen, daß Charlottes Herz Karl Artur gehöre, und nun begann er zu überlegen, welche Maßnahmen er ergreifen und welche Schritte er zu unternehmen habe. Soviel war sicher, Charlotte würde niemals zu einer Untreue verleitet werden können. Aber genügte das? Kann sich ein rechter Mann damit zufriedengeben, daß seine Frau auch nur nach einem andern seufzt? Nein, da tausendmal lieber Scheidung!

Aber bei diesem Gedanken verdunkelte sich die ganze Welt um ihn her. Wie? Von Charlotte getrennt leben? Ihr Lachen, ihre Einfälle nicht mehr hören, ihr entzückendes Gesicht nicht mehr sehen? Sein ganzer Körper erbebte unter einem eisigen Schauer. Es war ihm, als wate er durch eiskaltes Wasser.

Als er Groß-Sjötorp erreicht hatte, wollte er nicht zu Mittag essen; dagegen ließ er den Verwalter rufen und begab sich mit ihm sofort hinunter in das Sägewerk. »Sie müssen wissen, es ist mir unterwegs eine Idee gekommen, und ich glaube wirklich, nun hab' ich herausgefunden, woran es fehlt«, sagte Schagerström.

Als sie das Sägewerk erreicht hatten, gingen sie gleich in den weiten Maschinenraum, wo der große Baumeister fast wie aus lauter Bosheit einen unbeschreiblichen Wirrwarr von Rädern, Kurbelstangen und Hebebäumen zusammengesetzt hatte. Mit einem kräftigen Griff packte Schagerström einen Hebel und zog daran. Aber wahrscheinlich hatte er nicht erwartet, daß dieser Griff eine unmittelbare Wirkung haben werde, oder seine Gedanken waren woanders. Als sich die gewaltige Maschinerie plötzlich in Bewegung setzte, konnte er nicht rasch genug zurücktreten, und so wurde er mit in das Sägewerk hineingerissen.

2

Schagerström erwachte daran, daß er auf unerträglich schmerzhafte Weise hin und her gerüttelt wurde; er wurde auf einer Bahre getragen. Die Träger gingen vorsichtig und langsam, aber bei jedem Schritt verursachte ihm das Rütteln Schmerzen, die ihm lautes Stöhnen auspreßten.

Als einer der Träger sah, daß er das Bewußtsein wiedererlangt hatte, machte er den andern ein Zeichen zum Halten.

»Tut es gar zu weh, Herr Hüttenbesitzer?« fragte er, und er sprach wie zu einem kleinen Kinde. »Sollen wir hier eine Weile warten?«

»Wir sind ja bald dort«, versetzte ein anderer überredend. »Es wird gewiß besser, wenn der Herr Hüttenbesitzer in seinem eigenen Bett zur Ruhe kommt.«

Damit setzten sie sich wieder in Gang, und die furchtbaren Schmerzen stellten sich aufs neue ein.

»Es ist übrigens noch merkwürdig gut abgelaufen«, sagte einer der Träger. »Ich glaubte schon, er würde wie ein Balken zerhackt werden.«

»Ja, es war ein gräßlicher Anblick«, warf ein anderer ein. »Aber der Herr Hüttenbesitzer hat wenigstens seine Arme und Beine noch.«

»'s ist wohl möglich, daß er ein paar Rippen gebrochen hat«, äußerte ein dritter; »aber darüber braucht man sich nicht zu verwundern.«

Schagerström verstand wohl, daß diese einfachen Leute ihn trösten wollten, und er war tief gerührt und dankbar für ihre Freundlichkeit. Auch versuchte er, sich tapfer zu zeigen und nicht zu jammern. Zugleich aber war er etwas unzufrieden, weil keiner von ihnen die merkwürdige Tatsache erwähnte, daß es ihm geglückt war, das Sägewerk in Gang zu bringen. Dafür wäre er gerne gelobt worden.

Als die Männer ihn noch ein paar Schritte weiter getragen hatten, überfiel ihn plötzlich äußerste Mattigkeit. Nein, er konnte es nicht mehr aushalten; wenn dieses Schütteln noch länger dauerte, war es sicher sein Tod.

Wenn er die Kraft dazu gehabt hätte, würde er ihnen befohlen haben, stehenzubleiben, aber er war es nicht imstande. Dagegen fühlte er, daß ihm ein Körperteil nach dem andern erstarrte und wie tot wurde. Alles vollzog sich mit unerhörter Schnelligkeit, von den Füßen aufwärts bis zum Kopf …

Als er wieder erwachte, wehte ihm ein schwacher Duft getrockneter Rosenblätter entgegen, und so vermutete er, daß er sich nun im Gastzimmer auf Groß-Sjötorp befand. Man hatte ihn wohl dahin getragen, um nicht die Treppe hinauf zu müssen. Sein eigenes Schlafzimmer lag im oberen Stockwerk.

Jemand versuchte soeben, ihm die Stiefel auszuziehen; aber das konnte er nicht aushalten. Er stöhnte zum Erbarmen, man mußte den Versuch aufgeben.

»Wir müssen es lassen, bis der Doktor kommt«, ertönte des Verwalters Stimme.

»Ja«, sagte eine andere Stimme, die Schagerström als die seines Dieners Johansson zu erkennen vermeinte; aber sie war vom Weinen ganz unklar, und so war er seiner Sache nicht sicher. »Ja, es ist wohl möglich, daß das Fußgelenk gebrochen ist.«

Schagerström schlug die Augen auf, um den Umstehenden zu zeigen, daß er bei Bewußtsein war. Ja, er lag auf dem breiten Sofa des Gastzimmers, und die Haushälterin richtete mit zwei Dienstmädchen eben das Bett her, während der Verwalter und der Diener ihm die Kleider auszuziehen versuchten.

Er äußerte ein paar Worte und sagte, man solle ihn doch in Ruhe lassen; aber der Ton, der aus seiner Kehle drang, hatte keine Ähnlichkeit mit einer menschlichen Stimme; es war ihm selbst, als sei es das Stöhnen eines tödlich verwundeten Tieres, doch glücklicherweise schien man ihn zu verstehen. Die Haushälterin brachte eine Decke herbei und wollte ihn damit zudecken. Aber er konnte nichts so Schweres über sich ertragen. Er stöhnte etwas zu ihr hin, und da nahm sie die Decke wieder weg. Dann wollte sie ihm ein Kissen unter den Kopf schieben, aber nein, auch das wollte er nicht. Die ganze Zeit über kränkte es ihn indes, daß der Verwalter, der doch wußte, wie verwickelt die alte Polhemsche Maschinerie tatsächlich war, gar kein Wort des Lobes zu ihm sagte. Das Sägewerk wäre ja vielleicht bis in die Ewigkeit stehengeblieben, wenn er nicht seine gute Idee gehabt hätte.

Er zwinkerte dem Verwalter ein paarmal zu, und dieser trat näher, um zu hören, was der Herr Hüttenbesitzer wünschte. Aber nicht einmal da sagte er etwas von dem Sägewerk. Schagerström flüsterte, man solle den freundlichen Männern, die ihn heimgetragen, eine ordentliche Belohnung für ihre Mühe geben, und der Verwalter schien ihn zu verstehen und nickte. Dann fragte er, ob der Herr Hüttenbesitzer weiter keine Befehle habe. Schagerström hätte gewünscht, es nicht selber sagen zu müssen. Er verstand außerdem, daß der andere ihn für recht kindisch halten würde, aber die Worte brannten ihm auf der Zunge und wollten durchaus heraus.

»Das Sägewerk habe ich doch jedenfalls in Gang gebracht.«

»Ach, du lieber Gott, ja«, erwiderte der Diener; »ja, ja, das hat der Herr Hüttenbesitzer jedenfalls getan.« Wie ärgerlich, daß der Kerl gerade da von seiner Rührung übermannt wurde und zu weinen anfing. Schagerström hatte eine wortreichere Anerkennung erwartet. Das Jammern und Schluchzen um ihn her war Schagerström durchaus nicht angenehm, und so stieß er wieder ein paar Worte hervor, daß er allein sein wolle, worauf sowohl die Haushälterin sowie auch der Verwalter mitsamt den Dienstmädchen aus dem Zimmer verschwanden. Nur Johansson blieb als Krankenwärter zurück.

Die nun eingetretene Stille tat Schagerström außerordentlich wohl. Er wurde ruhiger, weniger gereizt und empfindlich. Ich bin also doch kein hilfloses Kind, dachte er, die Leute gehorchen meinen Befehlen. Wenn ich ruhig, ganz ruhig liegen bleiben darf, fühle ich keine Schmerzen. Und so viel Macht habe ich noch, mir vollkommene Stille um mich her zu verschaffen.

Es ging zum Sterben, darüber war er sich ganz klar, und er war nicht betrübt darüber. Nur eins wünschte er sich, daß der Tod ganz unbemerkt dahergeschlichen käme, daß er ihn mit Ruhe empfangen könne und daß man kein großes Wesen aus dessen Ankunft mache.

Wieder blinzelte er Johansson hastig zu. Es war ihm eingefallen, welches Glück für ihn Charlottes Abwesenheit war. Sie würde ihn ganz sicherlich nicht hier, in den Kleidern auf einem Sofa liegend, sterben lassen. Er flüsterte Johansson zu, die gnädige Frau dürfe von dem, was geschehen war, nicht benachrichtigt werden. Sie solle nicht erschreckt werden. Dagegen solle man nach dem Doktor und dem Rechtsrat schicken, aber die gnädige Frau dürfe nichts davon erfahren.

Johansson sah betrübt aus, aber Schagerström war sehr befriedigt. Man sah es zwar seinem Gesicht nicht an, aber er lächelte in seinem Innern. Klang es etwa nicht schön, wenn er befahl, die gnädige Frau dürfe nicht erschreckt werden? Er war stolz darauf. Wie, wenn es ihm nun wirklich gelänge, Charlotte hinters Licht zu führen? Wie, wenn er wirklich stürbe, ehe sie etwas erfuhr?

Er hörte das Rollen der Wagen, die den Doktor und den Gesetzeskundigen holen sollten, und er sah auf die Wanduhr, die ihm gegenüber hing. Es war jetzt halb vier Uhr, und das Kirchspiel war Gott sei Dank ganze zwei Meilen entfernt. Lundman fuhr natürlich wie toll drauflos, aber es dauerte jedenfalls vier Stunden, bis der Doktor dasein konnte.

Schagerström hatte selbst das Gefühl, es sei ihn eine ganz schuljungenhafte Laune überkommen, wie wenn er irgendeinen losen Streich ausführen wollte. Es war ja eigentlich nicht recht von ihm, sich so ohne alle Pflege und Wartung aus dem Leben zu schleichen. Aber darauf pfiff er, jawohl, das tat er! Jetzt war es bald zu Ende mit dem reichen Schagerström! Jetzt mußte er doch selbst über sich bestimmen dürfen.

Charlotte würde natürlich böse und ungehalten werden; aber auch darauf pfiff er jetzt. Außerdem kam ihm ein guter Gedanke. Er wollte ihr seinen ganzen Besitz vermachen. Das sollte sie als Ersatz erhalten, weil sie jetzt, wo er am Sterben war, nicht mit ihm schalten und walten durfte, wie sie es für gut fand. Eins fand er selbst sehr merkwürdig; er dachte nämlich gar nicht an große, feierliche Dinge, jetzt, wo er in ein paar Stunden tot sein würde. Aber er tat es eben nicht. Er wollte nur alle Schmerzen und alles Fragen, alles Bedauern und alle sonstigen Widerwärtigkeiten los sein. Nichts als Ruhe wollte er haben. Er war wie ein Junge, den in der Schule Schläge erwarten und der nur wünscht, sich heimlich fortzuschleichen und in einem großen schwarzen Walde verstecken zu können.

Dann fiel ihm das ein, was am Vormittag geschehen war; aber es beunruhigte ihn nicht mehr. Solche seelische Qualen kamen ihm jetzt lächerlich unwichtig vor. Ach nein, ganz gewiß nicht, weil Charlotte Karl Artur zärtlich angesehen hatte, wollte er sie jetzt nicht sehen! O nein, sondern weil sie die einzige war, die sich nicht nach seinen Befehlen richten würde. Mit dem Verwalter, der Haushälterin und Johansson konnte er schon fertig werden, aber nicht mit Charlotte. Ja, selbst den Doktor würde er gewiß mit verständlichen Worten überreden können. Aber Charlotte – niemals! Sie würde kein Erbarmen und keinen Respekt haben.

Es war gewiß feig, sich vor Schmerzen zu fürchten; da er aber jetzt jedenfalls sterben mußte, wozu sollte es da dienen, wenn man noch viele Umstände mit ihm machte?

Kurz vor halb acht Uhr hörte er Wagengerassel. Er meinte zwar nicht, die Zeit sei langsam vergangen, sondern seufzte nur darüber, daß der Doktor schon da war, denn er hatte gehofft, der Doktor werde anderweitig in Anspruch genommen sein und erst gegen neun Uhr eintreffen können. Aber Lundman war natürlich unbarmherzig schnell gefahren, um Hilfe herbeizuschaffen. Ach, er, Schagerström, konnte ja nicht einem einzigen Menschen begreiflich machen, daß er am liebsten gar keine Hilfe wollte!

Johansson schlich hinaus, um den Doktor in Empfang zu nehmen. So, jetzt würde es losgehen! Der Doktor würde befühlen und drücken und die Gelenke einrenken. Schagerström konnte, so wie er dalag, sehen, daß sein einer Fuß ganz verdreht war: die Zehen zeigten auf das Sofa und die Ferse nach oben. Aber das bedeutete ja für den, der sterben mußte, gar nichts. Wenn sich jetzt nur der Doktor nicht verpflichtet fühlte, den Fuß einzurenken, solange der, dem er gehörte, noch lebte!

Romelius trat mit sicherer und guter Haltung herein, und Schagerström, der erwartet hatte, er sei wie gewöhnlich betrunken, fühlte sich etwas enttäuscht.

O weh! Wenn er nüchtern ist, meint er vielleicht, es sei seine Pflicht, etwas zu tun, dachte Schagerström. Jedenfalls aber machte er einen Versuch, den Arzt zu überreden, ihn ganz in Ruhe zu lassen. »Du siehst doch wohl, daß hier nichts getan werden kann. In ein paar Stunden ist jedenfalls alles zu Ende.« Der Doktor beugte sich über ihn. Schagerström sah die blutunterlaufenen Augen mit dem vollkommen ausdruckslosen Blick, und ein starker Branntweingeruch schlug ihm entgegen.

Er ist gewiß ebenso betrunken wie immer, dachte er, obgleich er denkt, die Feierlichkeit dieses Falles fordere, daß er sich aufrechthält. Er wird mir nicht gefährlich werden.

»Ja, mein lieber Schagerström«, ertönte es nun aus des Doktors Munde. »Es sieht wahrhaftig aus, als ob du recht hättest. Hier gibt's für mich nicht viel zu tun.«

Romelius, der doch nicht ganz verblödet war, suchte seine Würde immer noch aufrechtzuerhalten und sich den Anschein zu geben, daß er etwas leiste. Er fühlte den Puls, schickte den Diener nach eiskaltem Wasser und Binden, um Schagerström einen nassen Umschlag auf die Stirn zu legen, strich mit der Hand sehr vorsichtig über den verdrehten Fuß und zuckte mit den Schultern.

»Ja, ja, du willst Ruhe haben, mein Lieber«, sagte er. »Ja, das ist gewiß das Beste für dich. Aber sollen wir nicht versuchen, dich zu Bett zu bringen? Also auch das nicht? Nein, dies hier dich ja ebensogut.«

Er sank auf einen Sessel und blieb da eine Weile in tiefe Gedanken versunken sitzen. Aber gleich darauf trat er wieder zu Schagerström und machte ihm eine feierliche Mitteilung.

»Ich bleibe die Nacht über hier, damit ich zur Hand bin, falls du auf andere Gedanken kommen solltest«, sagte er.

Darauf setzte er sich wieder und suchte sich offenbar klarzumachen, ob noch etwas Weiteres von ihm verlangt würde.

Es dauerte auch nicht lange, bis er wieder vor dem Kranken stand.

»Ich habe mir immer zur Regel gemacht und bin stets gut dabei gefahren, lieber Schagerström; wenn es sich um Amputationen handeln kann, dann nehme ich sie nicht ohne Einwilligung des Patienten vor. Bist du ganz sicher, daß du nicht ärztlich behandelt werden willst?«

»Ja, ja, ja, du kannst ganz beruhigt sein, Romelius«, antwortete Schagerström.

Der arme Doktor schritt mit derselben steifen Würde abermals nach dem Lehnstuhl zurück und sank wieder darauf nieder.

Schagerström zwinkerte Johansson zu, und dieser verstand seinen Herrn wie gewöhnlich. Im nächsten Augenblick wurde der Doktor mit sanfter Gewalt zum Zimmer hinausgeführt, und als der Diener zurückkehrte, teilte er Schagerström mit, er habe den Herrn Doktor in das Geschäftszimmer geführt und dort schlafe er nun in einer Sofaecke.

Johansson sah indes jetzt bedrückter aus als vorher. Er hatte sicher erwartet gehabt, Romelius werde Wunder tun. Schagerström, der die Ruhe und Stille, die wieder eingetreten war, äußerst wohltuend empfand, fühlte fast Mitleid mit Johanssons Enttäuschung.

Wie glücklich würde der gute Mensch sein, wenn ich mich von diesem Trunkenbold operieren ließe! dachte er.

Ein paar Minuten nachher kam Frau Sällberg, die Haushälterin, auf den Zehenspitzen herein. Sie flüsterte Johansson etwas zu, worauf dieser an das Lager seines Herrn trat.

»Frau Sällberg fragt, was man den Leuten sagen soll. Sie stehen schon den ganzen Nachmittag draußen und wollen nicht fortgehen, bis sie wissen, was der Doktor meint.«

Ja, Schagerström verstand! Alle diese Menschen, die für ihr Auskommen von ihm abhängig waren, hatten große Angst, er werde sterben. Ach, auch diese begehrten nichts Besseres, als daß er sich auf die Folterbank lege!

»Sag Frau Sällberg, sie soll den Doktor selbst fragen«, flüsterte Schagerström.

Doch alle diese Störungen schienen einen unheilvollen Einfluß auf Schagerströms geschundenen Körper zu haben. Das Blut wallte ihm heiß durch die Adern und pochte unbarmherzig bald da, bald dort. Das Atemholen wurde qualvoller, und sein Kopf ward glühend heiß.

»Es ist das Ende«, dachte er.

Wieder ertönte Wagenrollen, und Schagerström wußte, nun kam der Landrichter mit seinem Gerichtsschreiber. Kurz nachher führte Johansson die beiden Herren herein. Papier und Federn wurden auf einen Tisch gelegt, und Schagerström fing an, sein Testament zu diktieren.

Der Landrichter stand über Schagerström gebeugt vor dem Krankenlager, um die langsam geflüsterten Worte aufzufangen und sie seinem Sekretär zu wiederholen. Die Gattin sollte Haupterbin sein, das stand außer Frage. Aber auf den vielen Gütern gab es eine Menge Angestellte, unzählige Arme, Witwen und Waisen, die bedacht werden mußten.

Das war eine furchtbare Anstrengung. Schagerström fühlte, wie ihm der Schweiß von der Stirne rann. Er biß die Zähne zusammen, um der Qual und der Ermattung nicht nachzugeben.

»Können wir es nicht Frau Schagerström überlassen, entsprechende Gratiale festzusetzen?« fragte der Landrichter, der begriff, wie qualvoll dies alles für Schagerström war.

Doch, das könnte man natürlich, aber es sei noch mehr da. Seine Eltern und Geschwister. Sie müßten doch auch einen Beweis bekommen, daß er ihrer in seiner letzten Stunde gedacht habe.

Doch Schagerström strengte sich vergeblich an, sich verständlich zu machen; er mußte aufhören, um nicht aufs neue das Bewußtsein zu verlieren.

Nun gingen der Landrichter und der Gerichtsschreiber den Text miteinander durch. Dann sollte das Testament vor herbeigerufenen Zeugen vorgelesen werden, und Schagerström sollte erklären, daß das sein letzter Wille sei. Ach, wie sollte er das alles aushalten.

Es war spät geworden, die Nacht brach herein, und man hatte Licht angezündet. Aber für Schagerström war das Zimmer noch ebenso dunkel, die Lichter schienen keine Kraft zu haben. Er lag im Schatten des Todes.

Nun, jedenfalls bedurfte es jetzt nur noch einer letzten Anstrengung, dann waren alle Pflichten erfüllt, und er konnte in Ruhe sterben. Das Schlimmste war ja nicht eingetroffen; Charlotte war nicht gekommen.

Aber ertönte nicht eben jetzt noch einmal Wagengerassel? Fuhr man nicht an der Freitreppe vor? Wurde nicht die Haustür mit einer Eile aufgerissen, wie sich's nur ein einziger Mensch erlaubte? Zog es nicht wie ein Strom des Lebens, ein Strom der Hoffnung durchs ganze Haus? Hörte man nicht die klare, befehlende Stimme draußen in der Halle das Gesinde fragen, wie es hier stehe?

Der Diener Johansson hob den Kopf, seine Augen leuchteten auf, er eilte an die Tür. Die Haushälterin aber hatte diese schon einen Spalt aufgemacht, um zu verkündigen, was schon das ganze Haus wußte. »Frau Schagerström!« flüsterte sie. »Die gnädige Frau!«

Er selbst, ja, nun durfte er nicht nachgeben. Jetzt mußte der härteste Kampf ausgefochten werden.

Als Charlotte ins Zimmer trat, hätte es doch ihr erster Gedanke sein sollen, zu ihrem Gatten hinzueilen und nach seinem Befinden zu fragen. Aber nein, nichts dergleichen geschah. Dagegen wendete sie sich an den Landrichter und bat ihn in bestimmtem, ja, sogar ziemlich herrischem Ton, mitsamt seinem Schreiber das Zimmer zu verlassen.

»Mein Mann hat jetzt viele Stunden lang ohne irgendwelche Pflege hier gelegen«, sagte sie. »Er muß so bald als möglich aus den Kleidern. Sie werden einsehen, Herr Landrichter, daß dies im Augenblick das Wichtigste ist?«

Der Landrichter erwiderte etwas mit ganz leiser Stimme. Er teilte Charlotte mit, daß nach Doktor Romelius' Ansicht nichts zu machen sei. Charlotte beherrschte sich noch immer. Aber Schagerström begriff, wie rasend zornig sie war, und er hoffte, der Landrichter werde sich in acht nehmen.

»Bin ich genötigt, Ihnen meine Bitte, das Zimmer zu verlassen, damit ich mich um meinen Mann annehmen kann, zu wiederholen?«

»Aber Frau Schagerström, der Herr Hüttenbesitzer selbst hat mir diesen Auftrag gegeben.« Und dann fügte er fast flüsternd hinzu: »Frau Schagerström, Sie haben nicht darunter zu leiden, wenn dieses Testament fertiggemacht wird.«

Gleich darauf hörte man das Zerreißen von Papier. Ritsch, ratsch! Ach so, Charlotte hatte das Testament zerrissen! Ja, jetzt war sie in der richtigen Laune!

»Aber Frau Schagerström, dies ist zum wenigsten …«

»Wenn das Testament zu meinem Vorteil lautete, dann hätte man es nicht zu schreiben brauchen. Ich hätte nicht einen roten Heller angenommen.«

»Ja, wenn es sich so verhält …«

Oh, Schagerström verstand den gesetzeskundigen Herrn sehr wohl; der fühlte sich aufs tiefste gekränkt und gönnte es Charlotte, daß sie des Reichtums verlustig ging. Er überließ sie ihrem Schicksal und verließ das Zimmer.

Aber auch jetzt trat Charlotte nicht an Schagerströms Lager. Statt dessen gab sie noch einen barschen Befehl.

»Johansson, holen Sie sofort den Doktor!«

Der Diener ging, und während er fort war, unterhielt sich Charlotte flüsternd mit Frau Sällberg, die berichtete, wie verzweifelt sie alle miteinander gewesen seien, weil man die gnädige Frau nicht habe benachrichtigen dürfen.

»Ja, meine Schwester Marie Luise kam in die Propstei gestürzt«, sagte Charlotte. »Ich bin in des Propsts altem Karriol mit einem seiner Nordlandpferdchen hergefahren.«

Schagerström lag still und unbeweglich da. Er wollte sich zwar selbst nicht zugestehen, daß seine Schmerzen etwas nachgelassen hatten, seit Charlotte gekommen war; o nein, sie jagten ihm noch ebenso heftig durch den Körper wie vorher, aber er schenkte ihnen jetzt nicht mehr soviel Aufmerksamkeit. Es war ja immer so bei Charlotte; sobald sie sich in einem Zimmer befand, konnte man an nichts anderes mehr denken als an das, was sie tat.

Der Doktor trat ein, und sobald er sich auf der Schwelle zeigte, rief ihm Charlotte entgegen: »Aber, Schwager, wie kannst du dich unterstehen zu schlafen, wenn mein Mann am Sterben ist?«

»Unterstehen!« Schagerström hätte lachen können.

Dieses Wort hatte sie ihm selbst gegenüber gebraucht, als er zum erstenmal um sie geworben hatte. Es war ihm nicht möglich, Charlotte von seinem Lager aus zu sehen, aber er konnte sich ihr Aussehen wohl vorstellen.

Der Doktor antwortete ihr mit derselben Würde, die er die ganze Zeit über an den Tag gelegt hatte: »Meine gnädigste Schwägerin, ich versichere dir, es ist gegen mein Prinzip, entgegen dem Willen meiner Patienten operative Eingriffe, ja vielleicht Amputationen vorzunehmen.«

»Willst du uns nun in allererster Linie helfen, meinen Mann von seinen Kleidern zu befreien?«

Aber Romelius hatte offenbar keine Lust dazu.

»Schagerström und ich haben schon darüber gesprochen. Er will nicht bewegt werden. Und ich muß ihm recht geben. Meinen Prinzipien gemäß, meine gnädigste Schwägerin …«

Schagerström wartete in höchster Spannung. Worauf würde Charlotte jetzt verfallen? Würde sie dem Schwager jetzt eine Ohrfeige versetzen oder ihn in eine Bütte voll kaltem Wasser werfen?

»Johansson!« befahl Charlotte. »Bringen Sie eine Flasche Champagner und zwei Gläser!«

Während der Diener diesen Auftrag ausführte, sprach Charlotte nicht weiter mit ihrem Schwager, aber Schagerström hörte sie mit Frau Sällberg flüstern.

Jetzt kehrte Johansson zurück. Ein Champagnerpfropfen knallte, und der Trank wurde brausend in die Gläser gegossen.

»Frau Sällberg, Sie nehmen jetzt Johansson mit sich und richten alles so her, wie wir es ausgemacht haben!« sagte Charlotte.

»Jetzt, Schwager Doktor«, fuhr Charlotte fort, als die beiden das Zimmer verlassen hatten, »jetzt schlage ich vor, daß wir auf das Wohl des Hüttenbesitzers Gustaf Henrik Schagerström anstoßen. Ich versichere dir, Schwager, er ist ein richtiger Polhem. Er hat nicht allein das alte Sägewerk hier auf Groß-Sjötorp wieder in Gang gesetzt, sondern hat es sogar fertiggebracht, selbst in die Maschine hineinzugeraten; aber niemand hält es für etwas anderes als einen Unglücksfall. Prosit, Schwager, aufs Wohl von Gustaf Henrik!«

Schagerström ließ die Worte an sich vorübergehen, ohne das geringste Lebenszeichen von sich zu geben. Das glaubt sie selbst nicht, sie will nur den Esel von einem Doktor einschüchtern, dachte er.

Er hörte den Doktor glucksend trinken und dann das Glas niedersetzen. Darauf räusperte er sich und sagte mit einer Stimme, die weder lallend noch ausdruckslos war:

»Aber was sagst du denn da, verehrte Schwägerin? Warum denn um's Himmels willen?«

Wieder hörte Schagerström das leichte Champagnergebrause; Charlotte füllte ihrem Gast aufs neue das Glas.

»Wenn du erlaubst, Schwager«, sagte sie, »dann trinke ich jetzt ein Glas auf mein Wohl! Heute morgen traf ich im Propsteigarten mit meinem früheren Bräutigam zusammen, und von ihm erfuhr ich, daß er mich noch ebenso liebt, wie ich ihn einst geliebt habe. Und ich habe das gern gehört. Das war vielleicht nicht richtig von mir, da ich ja mit einem andern Mann in glücklicher Ehe lebe. Aber was sagst du dazu, Schwager? War es nicht ganz menschlich und natürlich von jemand, der verschmäht und verstoßen worden war? Und wenn wir dann annehmen, Henrik sei durch den Garten gegangen und habe mich und Karl Artur beisammen gesehen, meinst du nicht, er hätte sich eigentlich erst erkundigen müssen, was ich dem Geliebten meiner Jugend geantwortet habe, ehe er nach Hause jagte, um sich in das Sägewerk zu stürzen?«

»Doch, wahrhaftig meine ich das«, erwiderte der Doktor. »Oh, er soll es mit mir zu tun bekommen, der Dummkopf! Und er hat geglaubt, er könne meinem Messer entgehen! Auf dein Wohl, Charlotte!«

Der Doktor hatte eine andere Stimme, einen ganz anderen Tonfall bekommen.

Schagerström schnaufte vor Spannung. Würde Charlotte den Sieg erringen?

Des Doktors Glas wurde abermals gefüllt, und Charlotte begann wieder eine kleine Rede zu halten.

»Jetzt trinken wir auf den Doktor Richard Romelius! Seine Frau war vor zweieinhalb Jahren dem Tode nahe, in seinem Hause fehlte es am Nötigsten, und seine Kinder liefen wie wilde Füllen umher. Jetzt ist das alles anders geworden, aber heute weigert er sich …«

Schagerström hörte, wie ein Glas auf den Tisch aufgestoßen wurde. »Und heute«, hörte er des Doktors Stimme sagen, »heute wird Richard Romelius das Leben des Mannes retten, der ihm seine Frau und sein Heim wiederhergestellt hat und der seinen Kindern weiterhilft. Noch mehr Champagner ist nicht nötig, Schwägerin. Beim Satan, ich werde den Mann mit oder gegen seinen Willen retten!«

Er stand auf und verließ sofort das Zimmer, wohl, um seine Instrumententasche zu holen. Und Schagerström begriff: Charlotte und der Champagner hatten gesiegt. Er würde operiert werden, ob er sich auch noch so sehr dagegen sträubte.

In diesem Augenblick trat Charlotte an das Sofa, auf dem er lag. Sie blieb hinter der Seitenlehne stehen und neigte sich über ihn vor. Schagerström schloß die Augen.

»Henrik«, sagte wie, »du verstehst doch, was ich sage, nicht wahr?«

Ein kaum bemerkbares Zucken des Augenlids war die einzige Antwort, die sie erhielt.

»Aber du mußt wissen, daß heute nachmittag der Organist Sundler in die Propstei kam, um sich zu beklagen. Seine Frau will ihn verlassen. Siehst du, Karl Artur ist auf eine neue Idee gekommen. Er will kein gewöhnlicher Pfarrer der Staatskirche mehr sein, will in keiner Kirche mehr predigen. Er will Jesu Gebot folgen und als einer seiner Apostel ohne Tasche und Stecken hinausziehen. Auf den Landstraßen und Jahrmärkten, in Wirtshäusern und an Halteplätzen will er predigen. Und Thea will ihren Mann verlassen und mit ihm gehen. Mein armer Freund, verstehst du nun, daß Karl Artur an diesem Morgen von jemand, den er liebt, eine Antwort bekam, die ihn zur Verzweiflung gebracht hat?«

Schagerström rührte sich nicht. Es waren immer noch nicht die rechten Worte.

Charlotte seufzte ein wenig ungeduldig.

»Daß du doch immer noch der dümmste Kerl auf Gottes Erdboden bist!« sagte sie. »Soll ich wirklich gezwungen sein, dir zu sagen, daß du der bist, den ich liebe, du, du und kein anderer?«

Schagerström schlug die Augen auf. Charlottes Augen ruhten auf ihm, eifrig, zärtlich, von Tränen verschleiert. Da vollzog sich etwas Wunderbares in seinem Innern. Das Gereizte, das Feige, das Kindische, alles das, was ihn seit dem Unglücksfall beherrscht hatte, verschwand. Der Wille zum Leben kehrte zurück. Er hatte keine Angst mehr vor Schmerzen, er wollte nicht sterben. Er verlangte nichts Besseres, als ärztlich behandelt, als gerettet zu werden.


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