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Das Paradies

1

Karl Artur Ekenstedt, der nun seit anderthalb Jahren ohne feste Anstellung von einer Gemeinde in die andere geschickt worden war, kam an einem naßkalten Herbsttag auf der Landstraße dahergefahren.

Sein Ziel war Korskyrka, wo Propst Forsius vor einigen Wochen gestorben war. Die verwitwete Frau Propst Forsius, von jeher für Karl Artur eingenommen und wohl auch von Charlotte Schagerström beeinflußt, war beim Bischof und beim Domkapitel darum eingekommen, daß Karl Artur das Amt übertragen werde, bis die Stelle des Propstes wieder besetzt sei. Diesem Verlangen war, wenn auch mit einigem Zögern, entsprochen worden, denn der Sohn der Frau Oberst Ekenstedt war höheren Ortes durchaus keine persona grata.

Die Gedanken des Reisenden kehrten natürlich zu der Zeit vor anderthalb Jahren zurück, wo der neuverheiratete Ehemann von Frau und Heimat fortgeschickt worden war. Tatsächlich war er nicht allzu unglücklich über die erzwungene Abreise gewesen. Eine unaussprechliche große Enttäuschung war über ihn hereingebrochen, als er entdecken mußte, daß die Seele seiner Frau mit rohem Aberglauben erfüllt war, und die Verachtung und der Widerwille, die dadurch hervorgerufen wurden, hatten ihm das Zusammenleben mit ihr verbittert. Jetzt war indes diese Verstimmung verschwunden. Nach der langen Trennung hegte er für seine Frau keine anderen Gefühle mehr als Liebe, Dankbarkeit, ja, man könnte fast sagen, Bewunderung.

Endlich, dachte er, endlich ist die Zeit gekommen, da wir das Paradies schaffen werden, von dem ich immer geträumt habe.

Er selbst glaubte während seines Umherziehens von Pfarrei zu Pfarrei eine Menge nützlicher Erfahrungen gesammelt zu haben. Mehr als je vorher war er überzeugt, daß sein ursprünglicher Plan der richtige gewesen sei. Das törichte Festhalten der Menschen an irdischen Dingen, das war's, was die meisten ihrer Leiden und Sorgen herbeiführte. Nein, in größter Einfachheit leben, frei gemacht von allen Bedürfnissen, erhaben über jeden kleinlichen Wunsch, seinesgleichen zu überglänzen, seht, das war die rechte Art, das Glück in dieser Welt und die Seligkeit in der zukünftigen zu gewinnen!

Aber Predigten und Ermahnungen genügten nicht, den Menschen diese einfachen Wahrheiten beizubringen. Hier wurde ein Beispiel verlangt, worauf man hindeuten konnte, ein Beispiel, das besser als die beweglichsten Worte zur Nachfolge lockte.

Als Karl Artur soweit in seinen Gedanken gekommen war, schloß er die Augen. Er sah seine Frau vor sich, Zärtlichkeit und Entzücken durchbebten ihn.

Beim Weggehen von Korskyrka hatte er ihr erklärt, sie müsse wahrscheinlich nach Medstuby zurückkehren. Mit ihm könne sie nicht gehen, da er in der Pfarrei, wohin er nun geschickt werde, wohnen und auch essen müsse. Die kleine Besoldung, die er erhalte und die nicht mehr als hundertfünfzig Reichstaler betrage, werde er ihr schicken, aber er glaube, sie werde daheim bei ihren Angehörigen leichter damit auskommen als hier in Korskyrka. Auch wisse er nicht, ob es angehe, daß sie ganz allein und unbeschützt in dem kleinen Häuschen wohnen bleibe.

Aber Anna Svärd hatte nicht fortgehen wollen, »'s wird woll nit ärger für mich sein, als für andere Weiber, wenn ihr Mann auf Arbeit ist«, sagte sie. »Sollst Herd und Bett parat find'n, wenn du vielleicht mal frei bist und heimkommst.«

Es war ja schon ein schöner Zug von ihr gewesen, daß sie trotz Einsamkeit und Armut dablieb. Immerhin war das nicht mehr gewesen, als vielleicht viele andere Frauen auch getan hätten; aber dabei war es nicht geblieben.

Kurz nach seiner Abreise von Korskyrka hatte die alte Jungfer, die die Kinder des Kätners Matt beaufsichtigte, gekündigt, und die wohltätigen Frauen, die die Aufsicht über die Kinder übernommen hatten, waren vergeblich bemüht gewesen, eine Nachfolgerin zu finden. Sie sahen daher keinen andern Ausweg, als die Kinder einzeln in Familien unterzubringen. Natürlich wurde nun keine Versteigerung gehalten, es wurde nur mit wohlbekannten und guten Leuten ein Übereinkommen getroffen; aber unter den armen Geschwistern entstand trotzdem ein furchtbarer Jammer, als sie erfuhren, daß sie auseinandergerissen werden sollten. Sie wollten sich nicht in das Unumgängliche finden, und als sich die ausersehenen Pflegeeltern einfanden, um ihre Schützlinge zu holen, war das Haus leer und die Kinder verschwunden.

Man wußte nicht, wo man die heimatlose Schar suchen sollte, und ganz selbstverständlich ging man in das Nachbarhäuschen, um Auskunft zu erlangen. Da zeigte es sich, daß alle zehn Kinder dort Zuflucht gesucht hatten. Dicht gedrängt umstanden sie Karl Arturs Frau, das arme Dalmädchen, und sie erklärte nun den Eintretenden, diese Kinder, die ihr Mann auf der Armenauktion ersteigert habe, seien dadurch auch sein Eigentum geworden. Sie seien jetzt in ihrem richtigen Heim, es könne keine Rede davon sein, daß eines von ihnen ohne seine Erlaubnis irgendwoanders hingehe. Karl Artur freute sich in Gedanken noch über diesen Auftritt, der ihm in langen Briefen sowohl von der Pröpstin als auch von Frau Sundler geschildert worden war. Es war zu einem recht lebhaften Wortwechsel gekommen, mehrere von den wohltätigen Frauen wurden herbeigerufen, und diese gaben der jungen Pfarrfrau deutlich zu verstehen, falls sie die Kinder nicht ausliefere, würden die Beträge zu deren Unterhalt aufhören! Aber Anna Svärd von Medstuby lachte nur über diese Drohung. Welche Hilfe sie denn wohl brauche? Die Kinder könnten selbst für ihr Auskommen sorgen. Das habe sie selbst ihr ganzes Leben lang tun müssen. Und ehe diese Kinder, um die sich ihr Mann angenommen, unter Fremde geschickt würden, müsse man sie selbst totschlagen.

Der Ehemann hörte im Geiste die klingende Aussprache aus Dalarne und sah auch alle Bewegungen. Seine Frau stand, die erschrockenen Kinder verteidigend, da wie eine Heldin. Wie hätte er anders als stolz auf sie sein können?

Und sie hatte auch ihre Sache siegreich durchgeführt. Die Kinder waren ihrer Pflege übergeben worden; aber natürlich hatte sie dadurch große Sorgen auf sich geladen. Die Drohung der wohltätigen Frauen war allerdings wohl nicht so ernst gemeint gewesen; doch Anna Svärd hatte den Kindern nicht erlaubt, weitere Gaben entgegenzunehmen. Sie und die Kinder sollten sich durch ihrer Hände Arbeit selbst ernähren, das war ihr Ehrensache.

Ach, Karl Artur sehnte sich wirklich danach, heimzukommen und ihr danken zu können, sie mit zärtlicher Fürsorge zu umgeben, die Erinnerung an die Mißachtung, die er ihr einstmals in seiner Vermessenheit hatte zuteil werden lassen, auszulöschen!

Der Reisende wurde plötzlich aus seinem Sinnen geweckt. Der Fuhrmann war hastig an den Wegrand ausgewichen, um einer großen Equipage Platz zu machen, die, von vier feurigen Rappen gezogen, dahergerollt kam.

Karl Artur erkannte sofort den Wagen und auch die, die darin saßen. Wie merkwürdig, daß er ihnen gleich bei seiner Ankunft in Korskyrka begegnen mußte!

Charlotte saß auf dem Bock und führte stolz und strahlend die Zügel, während der Kutscher mit über der Brust gekreuzten Armen neben ihr saß. Im Wagen selbst befanden sich Schagerström und Frau Forsius.

Charlotte, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Pferde gerichtet hielt, bemerkte Karl Artur nicht; doch die Pröpstin und Schagerström grüßten. Karl Artur aber war auf dem Punkt, sich zu vergessen und den Gruß nicht zu erwidern. Er begriff sich selbst nicht. Der Anblick von Charlotte hatte ihn verwirrt, Glück und Freude durchzuckten und erfüllten ihn; aber er hatte ja schon lange aufgehört, Charlotte zu lieben!

Als er sich indes an sein letztes Zusammentreffen mit ihr erinnerte, begriff er seine Gefühle besser. Seine Frau war die, die er liebte, Charlotte aber war seine Freundin, sein Schutzengel. Und deshalb freute er sich über das Wiedersehen.

Er dachte, diese Begegnung bekräftige gewissermaßen die frohen Ahnungen, mit denen er der Zukunft entgegensah.

2

Niemand hat je gehört, daß Adam und Eva Kinder gehabt hätten, solange sie noch im Paradiese weilten. Es gibt keine alten Sagen, wie die kleinen Menschensöhne da mit den jungen Löwen lustig umhergesprungen oder auf dem Rücken des Leviathan und Behemoth geritten seien.

Sondern die Kinder müssen erst nach der Vertreibung zu ihnen gekommen sein, wenn nicht am Ende gerade sie es waren, die mehr als die Schlange und die schönen Äpfel auf dem Baum der Erkenntnis die Ursache bildeten, warum die Eltern den Garten Eden verlassen mußten. Von solchen Vorkommnissen kann man wenigstens bis zum heutigen Tage Zeuge sein.

Man braucht nicht weiter als bis zu Karl Artur Ekenstedt zu gehen, zu ihm, der mit so schönen Absichten heimkehrte und bereit war, in der kleinen Hütte am Hügel dort über Dr. Romelius' Obstgarten ein neues Paradies zu schaffen.

So war es ihm zum Beispiel nie eingefallen, die Kinder könnten sich den ganzen Tag hindurch in seinem Hause aufhalten. Er hatte geglaubt, sie würden bei Nacht in ihrem eigenen Häuschen schlafen, das ja ganz in der Nähe lag. Als er aber seine Frau fragte, ob die Kinder nicht daheim bei sich schliefen, lachte sie ihn aus und sagte: »Ei, Mann, glaubst' woll, wir hätten 'ne Goldgrube, aus der wir schöpf'n könnten? Kannst doch nit woll'n, daß die Kinder in 'ner ungeheizten Stub' schlaf'n, und Brennholz kost't Geld.«

Karl Artur mußte sich also darein finden, daß seine einstmals von Frau Sundler so hübsch eingerichtete Küche mit einer großen zusammenlegbaren Bettlade und noch zwei Schlafbänken vollgestellt war. Was sich außerdem noch an freiem Platz darin fand, wurde von einem großen Webstuhl, drei Spinnrädern, zwei Bandwebstühlen, einem Klöppelkissen, einer Garnhaspel, einer Spulmaschine und einem kleinen Tisch, woran Anna Svärd Haararbeiten verfertigte, eingenommen. Es gab da, mit einem Wort gesagt, eine solche Menge Gerätschaften, daß man sich kaum einen Weg durch sie hindurch bahnen konnte. Aber alle waren unentbehrlich, weil Anna Svärd und die Kinder sich ihren Unterhalt selbst verdienten, indem sie von den Landleuten Bestellungen auf Spitzen, Uhrketten, Bandgebinde und gewebte Stoffe erhielten. Und außerdem mußten sie auch ihre eigenen Kleider anfertigen.

Bei jedem Schlag des Webstuhls erzitterte das ganze Häuschen in seinen Grundmauern, und wenn die Spinnrädchen, die Haspel und alles andere im Gang war, dann dröhnte ein surrendes Gebrause bis in Karl Arturs Schreibzimmer hinein; er hätte wirklich meinen können, er sitze in einem Mühlwerk. Wenn er zum Essen in die Küche kam, standen die Gerichte auf einer Tischplatte, die über die große Bettlade gelegt war, worin die Kinder geschlafen hatten; und wenn er andeutete, man müßte die Tür ein wenig aufmachen, um frische Luft hereinzulassen, erklärte die Hausfrau, als sie am Morgen den Boden aufgewaschen habe, sei die Tür eine gute Weile offengestanden, es gehe wirklich nicht an, die Küche mehr als einmal am Tag auszulüften, denn sie hätten ja keine Goldgrube, woraus sie schöpfen könnten.

Da nun alle zehn Kinder bei Karl Artur wohnten, mußte er sich auch darein finden, daß ihre Sonntagskleider, ihre Jacken und Mäntel, ihre Kleider und Hosen im Hausflur hingen, wo alle Leute, die irgend etwas in dem kleinen Hause des Pfarrers zu tun hatten, sie betrachten konnten. Aber so etwas war nicht Sitte in Korskyrka, und Karl Artur sagte zu seiner Frau, die Kleider müßten auf dem Bodenraum aufgehoben werden. Darauf wurde ihm indes mitgeteilt, auf dem Bodenraum gebe es Mäuse und Motten; dort würden die Kleider in ein paar Monaten zugrunde gerichtet sein, und wie sie diesen Verlust ersetzen sollte, sei ihr gänzlich unerfindlich, denn sie habe ja keine Goldgrube, woraus sie schöpfen könnte.

Karl Arturs junge Frau war schöner als je; sie war ihm mit der zärtlichsten Liebe zugetan, stolz und glücklich über seine Rückkehr. Auch er erwiderte ihre Liebe. Darüber kann kein Zweifel herrschen, wenn die Kinder nicht dagewesen wären, würden er und sie glücklich miteinander geworden sein.

Eins mußte Karl Artur zugeben: kein Mensch konnte besser mit Kindern umgehen als seine Frau. Niemals sah er sie zärtlich mit ihnen tun und ebensowenig schlug sie sie; aber schelten, das konnte sie gründlich, und wenn eines irgend etwas angestellt hatte, konnte sie geradezu bärbeißig werden. Aber wie sie sich auch gebärdete, das machte gar nichts, für die Kinder war sie stets gleich anziehend. Und nicht allein die Kinder des Kätners Matt liebten Anna Svärd; wenn in der Küche Platz genug gewesen wäre, hätten sich alle Kinder vom ganzen Kirchspiel stundenlang da eingefunden, um ihre geringste Bewegung mit den Augen zu verfolgen und geduldig auf ein gutes Wort von ihr zu warten.

War es nicht ein Wunder, wie sie die zehn Kinder aus schlimmsten Faulpelzen in die emsigsten Arbeitsbienen verwandelt hatt'? Und obgleich sie vom Morgen bis zum Abend arbeiten mußten, waren sie jetzt doch rund und rotbäckig. Es schien das größte Glück für sie zu sein, in Anna Svärds Nähe, die sie erblühen ließ, leben zu dürfen.

Zuerst, als Karl Artur heimkam, waren alle zehn bereit gewesen, ihm dieselbe Verehrung zuteil werden zu lassen, die sie für seine Frau hegten. Vor allem hatte das jüngste Mädchen eine unbegreifliche Vorliebe für ihn gefaßt. Sie kletterte ihm auf die Knie und streichelte ihm die Wange. Nichts wußte sie davon, daß sie schmutzige Finger und eine ungeputzte Nase hatte; deshalb konnte das Kind auch nicht begreifen, warum es ganz unfreundlich auf den Boden gesetzt wurde, und so brach es in lautes Weinen aus.

Aber da mußte man Anna Svärd gesehen haben! Wie das Wetter kam sie daher, hob das Kind auf und drückte es an sich, wie um es vor einem Feind zu beschützen, und ihrem Mann warf sie einen Blick zu, der ihn ganz bestürzt machte.

Ja, im ganzen genommen, obgleich seine Frau noch ebenso schön war wie bisher, war sie doch etwas verändert. Seit sie über so viele zu befehlen hatte, war sie gebieterisch wie eine Gemeinderätin geworden. Das Demütige und Mädchenhafte und Schelmische war aus ihrem Wesen verschwunden.

3

Niemand hätte behaupten können, Karl Artur sei verwöhnt. Er kümmerte sich nicht darum, was er aß oder trank, er war gewohnt, den ganzen Tag zu arbeiten, und beklagte sich nie, wenn er in wackligen Postkutschen fahren oder in eiskalten Kirchen predigen mußte. Was er dagegen nur schwer vermissen konnte, war eine gewisse Ordnung, eine gewisse Sauberkeit, Behaglichkeit und Arbeitsruhe, und gerade dieses Behagen wurde ihm jetzt in seinem Heim, solange die Kinder da waren, nicht zuteil.

Eines Morgens, als er in seine Küche trat, um zu frühstücken, sah er, daß der Dorfschuster eingetroffen war, der schon seinen Schustertisch vor dem einen Fenster aufgeschlagen hatte, gerade an dem Platz, wo Karl Artur am liebsten saß. Der ganze Raum roch nach Leder und Pech, und die gewöhnliche Unordnung war noch durch Birkenrindenbündel, Leistenhaufen und Schmiernäpfe vermehrt. Auf den Eßtisch, der mitten in die Küche gerückt worden war, hatte Anna Svärd zwei Teller voll Grütze sowie zwei große auch mit Grütze gefüllte Zinnschüsseln gestellt. Die beiden Teller waren natürlich für ihn und den Schuhmachermeister bestimmt. Die Hausfrau und die Kinder würden dagegen wie gewöhnlich den Brei aus den Zinnschüsseln löffeln.

Nun war dies aber etwas, das Karl Artur früher schon getadelt hatte. Ja, natürlich nicht das Essen selbst, das war immer einfach und gewöhnlich, und das mußte ja auch so sein. Dagegen hatte er seine Frau gebeten, jedes von den Kindern aus einem eigenen Teller essen zu lassen. Er hatte ihr vorgestellt, wie nützlich es für diese Kinder wäre, wenn sie von Anfang an ein wenig gute Manieren bei Tische lernten.

Sie aber fragte ihn nur, ob er verrückt sei, wenn er glaube, sie habe Zeit, jeden Tag dreimal zehn Teller zu waschen; er dagegen, der Herr des Hauses, werde stets seinen Teller für sich bekommen, wie er es gewöhnt sei.

Im übrigen mußte er zugeben, daß sich die Kinder nicht unpassend aufführten, während sie bei Tisch saßen. Sie sprachen ihr Tischgebet, ohne daran gemahnt zu werden, sie aßen, was ihnen vorgesetzt wurde, und sie stritten sich nicht mit den anderen über die Grützeschüssel, deshalb fiel es Karl Artur auch nicht besonders schwer, mit ihnen zusammen zu essen; dagegen war es ihm äußerst zuwider, sich jetzt mit dem Schuhmacher an den kleinen Tisch zu setzen. Als er einen Blick auf die schwarzen, pechbeschmierten Finger warf, verging ihm der Appetit.

Ehe er recht wußte, was er tat, nahm er seinen Teller und Löffel nebst einem Stück Brot und trug alles hinüber in sein Arbeitszimmer. Da hatte er immer eine umhegte Freistatt, da war die Luft rein und der Staub abgewischt. Etwas beschämt über seine Flucht fühlte er sich freilich, aber gleichzeitig mußte er zugeben, daß ihm das Essen seit langem nicht mehr so gut geschmeckt hatte.

Als er nach einer Weile mit seinem Teller in die Küche zurückkehrte, war es da mäuschenstill. Der Meister saß mit tiefen Falten auf der Stirn. Anna Svärd und die Kinder saßen mit niedergeschlagenen Augen am Tisch, als schämten sie sich seinetwegen.

An diesem Tage fühlte er sich indes nicht so recht behaglich daheim, deshalb setzte er nach einer Weile den Hut auf und ging aus. Er streifte auf der Landstraße umher und wußte nicht recht, wohin er sonst seine Zuflucht nehmen sollte. Zu Frau Sundler konnte er nicht gehen, weil der Organist an Rheumatismus zu Bett lag und seine Frau ihn unbeschreiblich liebevoll pflegte, ja, Tag und Nacht das Krankenzimmer nicht verließ. In die Propstei konnte er auch nicht gehen, um sich mit der Pröpstin auszusprechen. Charlotte hatte nicht gewollt, daß die gute alte Freundin in ihrem Witwenschmerz allein bleibe und hatte sie deshalb für den ganzen Winter nach Groß-Sjötorp eingeladen.

Als indes Karl Artur an der Propstei vorbeiging, überkam ihn eine seltsame Sehnsucht nach der alten vornehmen Wohnstätte; er öffnete das Hoftor und wanderte über den Hofplatz nach dem Garten.

Und man wird verstehen, daß die Erinnerung an das letztemal, wo er hier drinnen zwischen den hohen beschnittenen Hecken mit Charlotte gegangen war, lebhaft vor ihm auftauchte. Er dachte daran, wie sie in Streit geraten waren und wie er ihr erklärt hatte, er werde keine andere heiraten als die, die Gott selbst als Gattin für ihn ausersehen würde.

Und nun war er mit der Frau verheiratet, die die Vorsehung ihm auf der Landstraße zugeschickt hatte, von der er gewiß gewesen war, daß sie die Rechte für ihn sei, sowie daß er und sie ein neues Paradies auf Erden schaffen würden. Sollte nun das alles miteinander fehlschlagen, nur weil sie diese Kinderschar auf den Hals bekommen hatten? Ach, er konnte es nicht leugnen, Charlotte hatte ein Recht, ihn auszulachen, wenn er alle die großen Pläne in die Brüche gehen ließ, nur weil er sich mit einer Schar Kinder nicht zurechtfinden konnte!

Es war Mittagszeit, als er heimkam; aber ehe er sich in der Küche zeigen konnte, trat seine Frau schon mit dem Essen, hübsch auf einem Tablett angerichtet, zu ihm in sein Zimmer. Sie war vergnügt und freundlich wie sonst auch.

»Du begreifst, Mann, ich hab' g'meint, du wollt'st mit uns andern ess'n. Wenn du's nur g'sagt hättst, hätt' ich dir 's Essen von der ersten Stund' an hierher g'stellt.«

Er beeilte sich, zu antworten, er habe gar nichts dagegen, mit ihr und den Kindern zusammen zu essen, nur die pechbeschmutzten Fäuste des Meisters hätten ihn verjagt. Dann schlug er vor, sie solle auch hier bei ihm essen. Ob es denn nicht ganz behaglich sein könnte, wenn sie beide einmal nur zu zweit miteinander äßen?

Nein, darauf könne sie nicht eingehen. Sie müsse mit den Kleinen am Tisch sitzen, um sie in Ordnung zu halten. Aber sie wolle gerne dableiben, solange er esse.

Sie setzte sich auf seinen Schreibstuhl und plauderte, und recht bald erfuhr er, daß der Meister nicht länger als bis zum Abend dableiben wolle. Und später sei er bis nach Neujahr anderwärts bestellt.

Leider würden nun die Kinder nicht, wie sie ihnen versprochen habe, mit neuen Schuhen zur Weihnachtsmesse gehen können.

Karl Artur begriff: der Meister war gekränkt, und er war schuld daran, weil er sich zurückgezogen hatte. Aber was konnte er jetzt noch in dieser Sache tun?

In diesem Augenblick tauchte Charlottes Antlitz vor ihm auf, und er sah, wie sie sich über ihn lustig machte, weil er nicht imstande war, bei einer solchen Kleinigkeit einen Ausweg zu finden.

Als seine Frau mit dem Geschirr wieder gegangen war, blieb er nachdenklich auf demselben Platz sitzen. Aber bald wurde ihm klar, was er zu tun hatte. Er ging mit einem Paar Schuhe, die besohlt werden mußten, in die Küche, ließ sich mit ihnen an dem Schustertisch nieder und bat den Meister, ihm zu zeigen, wie er diese Schuhe selbst instand setzen könnte. Und da der Meister sich dazu willig zeigte, ließ sich Karl Artur von seiner Frau eine große Schürze geben und nahm dann bis zum Feierabend Unterricht im Schustern.

An einem einzigen Nachmittag konnte er indes nicht ausgelernt haben, deshalb bat er den Meister, den Unterricht am nächsten Tag fortzusetzen. Und der Alte, der ein freundlicher, hilfsbereiter Mann war und einen angenehmen Nachmittag verbracht hatte, dachte nicht einen Augenblick daran, nein zu sagen.

4

Nicht genug damit, daß Karl Artur wegen dieser Kinder gezwungen sein sollte, auf der Schusterbank zu sitzen, sie waren auch schuld daran, daß er in einem gewöhnlichen grauen Friesanzug umhergehen und wie ein Müller aussehen mußte.

Alle miteinander hatten einen recht schönen Weihnachtsabend verlebt, das konnte er nicht leugnen. Die Küche war gescheuert, das Arbeitsgerät hinausgeschafft, der Fußboden mit gelbem, duftendem Stroh bestreut, und ein großer Tisch mit einer Decke darauf stand mitten in dem Raum. Die Kinder waren sauber gebadet, in neuen Schuhen und neuen Kleidern, ausgelassen und glückselig, weil es nun endlich Weihnachten war. In dem kleinen Heim waren fast von jedem Haus im Kirchspiel Weihnachtsgaben eingetroffen: Wurst, Butter, Weißbrot, Käse und Weihnachtskerzen. Und da man an Weihnachten solche Geschenke nicht abweisen konnte, war die Speisekammer übervoll, abgesehen von den zwölf mit Krapfen, Kringeln und Äpfeln hochaufgehäuften Tellern auf dem Tisch.

Karl Artur hatte eine kleine Andacht gehalten und mit seiner Frau und den Kindern Weihnachtslieder gesungen. Nachher, während Anna Svärd am Herd stand und die Grütze umrührte, hatte er mit den Kindern gespielt und sich im Weihnachtsstroh getummelt.

Gegen Schluß des Abends hatte er kleine Weihnachtsgeschenke ausgeteilt. Die Kinder erhielten Schlittschuhe und einen Schlitten, den er für sie hatte kommen lassen, und seiner Frau überreichte er eine Busennadel, die er einstmals von seiner Mutter bekommen hatte. Alles war höchst freudig in Empfang genommen worden, und damit hatte die Freude ihren Höhepunkt erreicht.

Daß er selbst ein Geschenk erhalten sollte, hatte Karl Artur weder erwartet noch darauf gehofft; aber gerade, als man vom Tische aufstand, schleppten die beiden ältesten Kinder einen großen Ballen Stoff daher. Seine Frau und die andern folgten im Zuge nach, und nun begriff er, daß jetzt die Reihe an ihn gekommen war.

»Sie hab'n sich alle furchtbar g'freut, dir selber was zum Christtag zu schenk'n«, sagte Anna Svärd. »An dem hab'n sie den ganzen Herbst g'schafft.«

Aber das, was sie daherschleppten, war nichts anderes als ein Ballen graues Friestuch. Karl Artur bückte sich rasch vor und befühlte es. Und das weiß ja jedermann, solch ein selbstgesponnener Fries ist der beste, wärmste Stoff, den es überhaupt gibt; aber er ist grob und dick und grau. In seinem ganzen Leben hatte Karl Artur nur Anzüge aus feinem, glatten Tuch getragen, die zu seiner Erscheinung paßten. Es wäre ihm nicht im Schlaf eingefallen, daß er jemals eine Friesjacke anziehen könnte.

Das Geschenk hier machte ihn geradezu unglücklich, und er überlegte nur immerfort, wie er davon befreit werden könnte, diesen Stoff hier verarbeiten zu lassen und sich wie ein Bauer kleiden zu müssen.

Seine Frau und die Kinder blieben vor ihm stehen und warteten auf Dank und Lob. Als nichts davon verlautete, wurden sie bestürzt und ängstlich.

Karl Artur konnte ja verstehen, wie fleißig sie hatten arbeiten müssen, um sich die Wolle zu verschaffen und dann zu kardätschen, zu spinnen und zu weben. Den ganzen Herbst hatten sie sich damit abgeplagt, das war sicher. Und während sie kardätschten, spulten und woben, hatten sie sich damit aufgemuntert, wie beglückt er, der Hausherr, sein werde und wie er den Friesstoff nicht genug loben könne. Er würde sich verwundern, daß sie etwas so Kostbares hatten herstellen können, und sagen, wenn er jetzt einen Friesanzug habe, brauche er niemals mehr zu frieren, weder außen noch innen. Ja, das war's was von ihm erwartet wurde.

Doch Karl Artur hatte etwas von der Gabe seiner Mutter, sich in schwierigen Lagen zu helfen, geerbt, und so fiel ihm schnell ein, was er sagen mußte; aber es kostete ihn doch viel, damit herauszurücken.

»Ich möchte wissen«, begann er, »ob der Schneider Anders jetzt in der Weihnachtswoche Zeit hat, ja, ich hätte gute Lust, gleich zu ihm zu gehen, um ihn zu fragen. Vielleicht könnte er mir da den Anzug fertigmachen, und ich hätte dann, wenn die schlimmste Kälte einsetzt, etwas Warmes zum Anziehen.«

Alle elf Gesichter leuchteten auf. Jetzt verstanden sie: vor lauter Überraschung und Verblüffung über ihre Tüchtigkeit hatte er zuerst so bestürzt ausgesehen.

 

Seit jenem Fastensonntag, wo Karl Artur der Faden in seiner Predigt über die Liebe verlorengegangen war, hatte er keinen Versuch mehr gemacht, frei zu sprechen. Er verfaßte alle seine Predigten am Schreibtisch, und während er daran arbeitete, mußte es ganz still um ihn her sein, darauf hielt er mit größter Strenge.

An einem Vormittag schärfte er also seiner Frau und den Kindern besonders ein, nicht wie sonst zu plaudern oder zu singen, weil er seine Predigt schreiben müsse.

Eine halbe Stunde lang hielten sie auch Wort, doch dann brachen sie in nicht enden wollende Lachsalven aus.

Er wartete ein oder zwei Minuten, ehe er die Küchentür aufmachte, um zu sehen, was denn los sei.

»Ja, sei nit bös, Mann«, sagte seine Frau, und auch sie lachte, daß ihr die Augen übergingen. »D' Katz' war's, die so verrückt g'wesen ist, wir hab'n uns alle Müh' geben, nit zu lachen, aber grad deshalb ist's immer ärger worden.«

Aber alles Lachen verstummte, als ihnen Karl Artur mit strenger Miene erklärte, sie da draußen in der Küche verdürben ihm alles, und er würde am liebsten auf und davon gehen, um ihr ewiges Lachen und Schreien nicht hören zu müssen.

»Also nun muß hier Ruhe gehalten werden! Niemand darf mich vor Mittag stören«, sagte er zum Schluß, und dann machte er die Tür hart hinter sich zu.

Sein Wunsch wurde ihm auch erfüllt. Den ganzen Vormittag konnte er in Ruhe und Frieden arbeiten. Aber beim Mittagessen erzählte ihm seine Frau, vor einer Weile seien Frau Doktor Romelius und Frau Schagerström in der Küche gewesen, um Uhrketten und Armbänder zu bestellen. Sie war höchst erfreut über den Besuch, denn sie habe eine große Bestellung erhalten, und die beiden Schwestern seien munter und freundlich gewesen.

Frau Doktor Romelius war erst kürzlich vollkommen hergestellt aus dem Süden zurückgekehrt, das wußte Karl Artur, und es war ja nichts Merkwürdiges dabei, daß Charlotte, wenn sie bei ihrer Schwester gewesen war, die Gelegenheit wahrgenommen hatte, in sein Haus zu kommen, um zu sehen, wie es ihm ging. Und doch kam ihm diese Nachricht ganz überwältigend; er blieb jäh stehen, atmete schwer und konnte kein Wort herausbringen.

Charlotte war hier gewesen! Sie hatte unter seinem Dache gestanden, und er hatte es nicht erfahren!

Mit absichtlicher Gleichgültigkeit fragte er, ob die Gäste ihn gar nicht hätten sehen wollen.

Doch, sie hätten mehrere Male nach ihm gefragt, aber er habe ja strengen Befehl gegeben, daß er nicht gestört werden dürfe.

Dagegen war nichts einzuwenden, er hatte keinen Grund zu tadeln. Es war ihm nur unbegreiflich, daß er die Besucher nicht gehört – ihre Stimmen nicht erkannt hatte. Er kniff die Lippen zusammen und sagte kein Wort.

Seine Frau sah ihn wiederholt mit prüfendem Blick an.

»Du wirst begreif'n, daß ich so vornehme Leut' am liebsten zu dir 'neing'führt hätt'«, sagte sie. »'s war mir ganz genierlich, daß sie hier in der Küch' mitten in all dem Grus steh'n mußten, aber ich hab' mir nit zu dir 'neintraut!«

Wie gesagt, Karl Artur blieb nichts anderes übrig, als zu schweigen; aber die Enttäuschung legte sich auf ihn wie ein Bleigewicht. Wenn er nur wenigstens jemand die Schuld für das Mißgeschick hätte aufladen können! Das Essen schmeckte ihm nicht, er konnte kaum ein paar Bissen hinunterbringen.

Nach dem Essen warf er sich in seinem Zimmer aufs Sofa, aber er konnte nicht liegenbleiben. Es kochte und gärte in ihm. Sehnsucht und Vermissen jagten ihm durch den ganzen Körper.

Er zog sich an, um auszugehen, fühlte aber, es sei ihm unmöglich, friedlich und ruhig seines Weges zu wandern. Am liebsten hätte er geschrien, gerauft, gekämpft. Er ging in den Holzschuppen, ergriff die Axt und wog sie überlegend in der Hand. Ganz hastig fing er an, auf das vor ihm liegende Brennholz loszuhauen, ganz gewiß nicht in der Absicht, sich nützlich zu machen, nur um eine Entladung für das zu finden, was in ihm raste und zischte und dröhnte.

Und das tat ihm gut. Schon nach den ersten Axtschlägen fühlte er, wie sie erleichterten. Ein paar Stunden lang blieb er so beim Holzspalten; aber dann hatte er auch seine Ruhe wiedererlangt; der Schmerz war überwunden.

Ernst und schweigend, sich auf die Axt lehnend, stand er im Schuppen, als eines der Kinder in der Türfüllung erschien und sagte, die Mutter lasse fragen, ob sie jetzt am Nachmittag nicht zum Kaffee einladen dürfe?

Er ging mit ins Haus. Seine Frau wartete also zur Feier des Holzspaltens mit Kaffee auf!

Eine andere Atmosphäre als die gewöhnliche schlug ihm in der Küche entgegen. Nicht nur hatte man ausgelüftet, in der Mitte etwas Platz geschafft und auf einem richtigen Tisch die Kaffeetassen aufgestellt, nein, dazu kam, daß seine Frau und die Kinder ihn auf ganz andere Art als vorher betrachteten. Er war imstande, Holz zu spalten, er konnte zum Haushalt beitragen, er so gut wie die anderen, er war ein rechter Mann!

Mit einemmal war er der Hausvater geworden, der Mittelpunkt in der Heimat, zu dem sie alle aufschauten!


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