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Wer war sie, daß sie sich für klüger halten dürfte als ein so hochgelehrter Mann wie Karl Artur, sie, die es nicht einmal so weit gebracht, in einem Buch lesen zu können, sie, die einen ganzen Herbst hindurch beim Kantor Medberg in die Schule gegangen war, ohne auch nur so viel schreiben zu lernen wie: Morgenstund' hat Gold im Mund?
Ja, wer war sie, daß sie zu behaupten wagte, dieses ganze Getue mit Karl Artur sei gar nichts? Es sei keine Gewissensqual, kein Strafgericht, sondern nichts, einfach nichts.
Während sie Frau Sundler zugehört hatte, war sie ganz verzweifelt und verwirrt gewesen; aber kaum war der Gast zur Tür hinausgegangen, da begriff Anna Svärd auch schon, wie alles zusammenhing.
Aber trotzdem, trotzdem! Sie wußte doch, was für ein unwissendes armes Ding sie war, und deshalb sagte sie zu ihrem Manne nicht ein Wort davon, was sie herausgeklügelt hatte. Kann man das billigen? Sie war doch wohl nicht so vermessen, sie, eine einfache arme Hausiererin.
Am Nachmittag zog sich Karl Artur in seine Stube zurück, um über seine Predigt nachzudenken, die er am nächsten Tage in der Kirche halten sollte, und so blieb Anna allein in der Küche. Da nahm sie aus ihrer Speisekammer, die dank Frau Sundlers Fürsorge gut versehen war, einen Strickkorb mit einem Deckel, legte einige von ihres Mannes schon benützten Beffchen hinein und begab sich damit auf den Weg nach der Wohnung des Organisten.
Auch zu Frau Sundler sagte sie nichts von dem, was sie ausgeklügelt zu haben meinte. Frau Sundler wäre wohl die letzte gewesen, der sie ihre Überlegungen mitgeteilt hätte; denn Anna Svärd hatte mindestens so viel Respekt vor Frau Sundlers Gelehrsamkeit wie vor der ihres Mannes.
Sie fragte also Frau Sundler nur, ob sie ihr beim Instandsetzen der Beffchen ein wenig helfen wolle; ihr Mann habe sie gebeten, ihm einige zu waschen und zu plätten, sie sei jedoch nicht damit zurechtgekommen. Nun habe sie sich schon ein paar Stunden damit abgequält, aber das eine sei schräg und das andere runzlig geworden. Sie möchte nun um ein wenig Anleitung bitten.
Frau Sundler sagte, sie freue sich sehr, daß Frau Ekenstedt sich in dieser Verlegenheit an sie gewendet habe. Beffchen zu plätten sei eine große Kunst, sie sei gar nicht sicher, ob sie selbst diese Kunst richtig verstehe, sie werde jedoch ihr Bestes tun. Darauf waren die beiden miteinander in Frau Sundlers hübsche Küche gegangen, hatten die Beffchen gewaschen und geplättet, bis Anna Svärd die richtige Fertigkeit erlangt hatte. Als sie fertig waren, sagte Frau Sundler, sie möchte Frau Ekenstedt nun gerne zum Kaffee einladen; aber Anna Svärd dankte dafür, weil sie jetzt eiligst nach Hause müsse. Doch Frau Sundler wollte wenigstens mit einem Glas Saft aufwarten. Sie sagte, sie habe sehr guten Saft, sogar die reiche Frau Schagerström habe ihn gelobt, und er werde nach der eiligen Arbeit eine Erfrischung sein. Anna Svärd lehnte dieses Anerbieten nicht ab, und so ging Frau Sundler in den Keller, um den Saft zu holen. Aber während die Hausfrau da drunten war, schlich sich ihr Gast in den Flur hinaus, ergriff Frau Sundlers schönen Hut, der da an einem Haken hing, trug ihn in die Küche und steckte ihn in einen großen Kessel hinein, der so hoch oben auf dem Küchenbort stand, daß niemand sehen konnte, was darin war.
Als Anna Svärd fortging, begleitete Frau Sundler sie durch den Flur ins Freie; aber es fiel ihr keinen Augenblick ein, nachzusehen, ob ihr schöner Sonntagshut noch an seinem Platz hänge. In einer Gegend, wo die Menschen so ehrlich waren, daß man es für überflüssig hielt, seine Türen zu schließen, dachte man nie, es könnte etwas gestohlen oder weggebracht worden sein. Anna Svärd wanderte von dem, was sie ausgerichtet hatte, höchst befriedigt heimwärts. Sie war überzeugt, Frau Sundler werde recht lange suchen müssen, bis sie ihren schönen Sonntagshut wiederfinde. Ihr war, als habe sie wie eine rechte Ehefrau alles getan, was in ihrer Macht stand, damit ihr Mann am nächsten Tag ungestört predigen könne und vor dem Erschrecken bewahrt werde.
Am nächsten Morgen, als sie in Gesellschaft ihres Mannes zur Kirche wanderte, fühlte sie noch dieselbe Befriedigung. Sie spürte ebensowenig Gewissensbisse, weil sie den Hut versteckt hatte, wie ein Jäger, der eine Wolfsgrube gegraben hat. Denn wer war sie? Sie war nicht von hier, von Korskyrka, wo alle Menschen aufgeklärt und wohlunterrichtet waren. Sie war Anna Svärd aus Medstuby, und was in den niederen, grauen kleinen Häusern in Medstuby für wahr gehalten wurde, das hatte sie in sich aufgenommen, und das war das Wissen, wonach sie sich richtete.
An diesem Morgen war sie von allem wohl befriedigt. Karl Artur nahm sie mit sich durch die Sakristei, und da wurde sie von der alten Frau Propst aufs freundlichste begrüßt, ja sie durfte im Pfarrstuhl vorne im Chor neben ihr sitzen. Sie wünschte nur, es wäre jemand aus ihrem Heimatdorfe da und könnte sie jetzt sehen; denn das wußte sie gewiß, weder die Frau Schultheiß noch die Ris-Karin konnte je in die Stellung erhoben werden, die sie jetzt einnahm.
Sie schaute sich um, ob sich Frau Sundler in der Kirche befand, konnte sie aber nicht entdecken. Als sie dessen ganz sicher war, beugte sie sich in der Bank vor und betete wie die Frau Propst und alle anderen. Sie rief Gott an, ihr doch beizustehen, damit Frau Sundler nicht in dem großen Kupferkessel nach ihrem Hut suche. Wenn Frau Sundler ihren Hut nicht fand, kam sie auch nicht in die Kirche, dessen war Anna Svärd ganz sicher. Eine unbemittelte Organistenfrau hatte gewiß nicht mehr als einen Sonntagshut, und wenn dieser verschwunden war, mußte sie eben zu Hause bleiben.
Dann betrachtete Anna Svärd die Menschen, die langsam in die Kirche hereinwanderten, und sie war recht unzufrieden, weil die Kirche nicht ganz voll wurde. In allen Bänken waren noch leere Plätze. Im nächsten Augenblick jedoch lachte sie über sich selbst. »Fängst wahrhaftig schon an, dich wie eine richtige Pfarrerin zu benehm'n, du Anna!«
Und damit mußte sie an alle die Pfarrfrauen denken, die vor ihr hier in dem Pfarrstuhl gesessen und darauf gewartet hatten, ihren Mann auf die Kanzel steigen zu sehen. Was sie wohl für Gedanken gehabt hatten, ja was für welche? Hatten sie sich ängstlich und beengt gefühlt, weil ihr Mann da oben stehen und das Wort Gottes verkünden sollte? Ach, sie, Anna Svärd, war so viel geringer als diese andern alle! Trotzdem wagte sie es, den alten Pfarrfrauen einen Seufzer zuzuschicken: »Ach, helft mir, ihr, die ihr wißt, was es heißen will, hier voller Angst warten zu müssen, damit sie, an die ich denke, an dem heutigen Sonntag nicht in die Kirche kommen kann!«
Anna Svärd wurde immer unruhiger, je weiter die Liturgie fortschritt und der Augenblick sich näherte, wo die Predigt an die Reihe kam. Sie fuhr zusammen, sooft die Kirchentür sich öffnete und ein verspäteter Zuhörer eintrat. Jetzt ist's am End' doch noch d' Organistenfrau, die z'letzt kommt! dachte sie.
Aber Frau Sundler war und blieb abwesend. Die Liturgie ging zu Ende, das Lied wurde gesungen, und Karl Artur stieg die Kanzeltreppe hinauf – Frau Sundler war nicht da.
Es war der Fastensonntag, und in der Epistel des Tages fand Anna Svärd die schönen Worte über die Liebe wieder, die Frau Ryen ihr an ihrem Hochzeitstage vorgelesen hatte. Das konnte wohl nichts anderes als eine gute Vorbedeutung sein, und als Karl Artur, nachdem er eine schöne Einleitung gesprochen, nun gerade über diesen Text zu predigen anfing, war Anna überzeugt, daß der liebe Gott und die alten Pfarrfrauen ihre Gebete erhört hatten. Ja, Frau Sundler würde schon wegbleiben, und sie selbst durfte nun in aller Ruhe hier im Pfarrstuhl sitzen und den Mann, den sie liebte, das Wort der Liebe verkündigen hören.
Ja, wer war sie? Nichts wußte sie, was als eine gute Predigt gerechnet werden konnte, aber – darauf konnte sie schwören – etwas so Schönes hatte sie noch nie gehört. Und sie war nicht die einzige, die mit Freuden lauschte. Sie sah, wie die Zuhörer die Köpfe erhoben und den Prediger ansahen. Einige rückten näher zu ihren Nebensitzern hin und stießen sie an, um sie zur Aufmerksamkeit zu ermahnen. »Gib wohl acht! Das ist eine richtige Predigt!«
Und so war es auch. Anna Svärd dachte, wenn man je vorher einen Menschen auf diese Weise predigen gehört hatte, dann wollte sie gleich in einen Stein verwandelt werden. Sie, die im Chor saß, konnte sehen, wie die Gesichter in den Bänken sanft und feierlich wurden. Ein paar jungen Mädchen trat ein Glanz in die Augen, daß diese wie Sterne leuchteten.
Aber siehe, gerade mittendrin entstand eine kleine Bewegung in der Kirche. Frau Sundler schlich herein. Man merkte, sie war in Verlegenheit, weil sie zu spät kam. Sie ging auf den Zehenspitzen und drückte sich die Banktüren entlang, wie um nicht gesehen zu werden. Aber trotzdem wurde sie von allen Menschen bemerkt, die sie verwundert und mißbilligend anschauten.
Einen Hut hatte sie nicht auf dem Kopfe, sondern die Kapuze, die sie am Werktag trug, die alt und vertragen aussah, der Frau Sundler mit einer großen Bandschleife vorne in der Mitte nachzuhelfen gesucht hatte. Doch im nächsten Augenblick war Frau Sundler vergessen, alle Zuhörer wendeten sich wieder der Kanzel zu und lauschten den schönen Worten, die von da auf sie herabströmten.
Er ist so gut im Zug, dachte Anna Svärd. Ich glaub', er hat sie nit g'sehn, als sie 'reinkam. 's ist möglich, daß sie keine Macht über ihn hat.
Aber Frau Sundler war noch keine fünf Minuten in der Kirche, als Karl Artur mitten in einem Satz abbrach. Er beugte sich weit über die Kanzel vor und starrte nach einer dunklen Ecke in der Kirche hin. Und was er da sah, erschreckte ihn so, daß er leichenblaß wurde.
Es sah aus, als verliere er das Bewußtsein; Anna Svärd stand schon halb von der Bank auf, um zu ihm hinaufzueilen und ihm von der Kanzel herunterzuhelfen. Aber das war nicht nötig. Jetzt richtete er sich hastig auf und fing wieder an zu predigen.
Aber nun war das Zuhören keine Freude mehr. Der junge Geistliche war von dem, wovon er eben geredet hatte, ganz abgekommen. Er sagte einige Worte, die gar nicht mit dem Vorhergehenden in Zusammenhang standen, dann brach er von neuem ab und ging auf etwas anderes über, das auch keinen richtigen Sinn hatte. Die Leute in den Bänken rückten etwas ungeduldig hin und her. Die meisten sahen erschreckt und betrübt aus, und das tat wohl noch das Seine dazu, den Prediger da droben immer verwirrter zu machen. Er wischte sich mit dem großen Kirchentaschentuch den Schweiß von der Stirn und hob die Hände zum Himmel auf, wie in einem verzweifelten Gebet um Hilfe.
Anna Svärd hatte noch nie jemand gesehen, der einem so furchtbar leid tun konnte.
Sie wäre am liebsten auf und davon gegangen. Sollte sie hier stillsitzen und die Qual ihres Mannes mit ansehen müssen! Aber ehe sie aufstand, warf sie rasch einen Seitenblick auf die Frau Propst Forsius. Die alte Dame saß mit andächtigem Gesicht und gefalteten Händen unbeweglich da. Ihr war nicht anzumerken, daß in der Kirche nicht alles so war, wie es sein sollte. Ach ja, auf solche Weise mußte sich eine Pfarrfrau benehmen! Ganz still, mit gefalteten Händen und andächtigem Gesicht, mußte sie sitzen bleiben, was auch immer geschehen mochte.
Anna Svärd blieb auch sitzen. Regungslos und feierlich blieb sie sitzen, bis der Schlußgesang zu Ende war und die Frau Propst aufstand, um zu gehen.
Auf diese Weise bekam sie Zeit, sich zu fassen. Und so besann sie sich darauf, daß sie ein armes Dalmädchen war, das nichts verstand.
Daheim in Medstuby, da glaubten alle Burschen und Mädel gleicherweise, daß es in der Welt draußen abscheuliche Hexen gebe, die den Leuten die Augen so verhexen konnten, daß sie das sahen, was nicht da war. Aber hier in Korskyrka hatte man vielleicht nie von so etwas reden hören.
Daheim bei ihr in Medstuby, da wußte man von einer Finnen-Lotte zu berichten, die eine boshafte Hexe gewesen war und verbrannt werden sollte. Sie wurde mit verbundenen Augen auf den Richtplatz geführt; aber ehe sie auf dem Scheiterhaufen angebunden wurde, bat sie, nur noch einmal über Himmel und Erde hinschauen zu dürfen. Der Scharfrichter löste die Binde, und siehe, im selben Augenblick sahen die Umherstehenden, daß das Rathaus in hellen Flammen stand. Alle Leute liefen vom Richtplatz fort, um beim Löschen zu helfen, und so gelang es dem Weibe zu entwischen. Aber im Rathaus war gar keine Feuersbrunst. Die Hexe hatte der Gemeinde die Augen verhext gehabt.
O ja, daheim bei ihr in Medstuby, da wußte man noch mehr als das. Da konnte man davon berichten, wie Jobs-Erik einmal mit einem Stand ganz voller Waren auf dem Jahrmarkt gewesen sei, aber gar nichts habe verkaufen können, weil so ein Hexenmeister seinen Stand neben dem von Jobs-Erik hatte, so einer, der Werg essen und Feuer speien konnte. Er hatte es so eingerichtet, daß Jobs-Eriks prächtige spitzige Sicheln und glänzende Messer und scharf geschliffene Sägen wie rostiger Schund aussahen. Nicht so viel wie einen dreizölligen Nagel konnte der Oheim verkaufen, ehe er den bösen Streich entdeckte, den ihm der Hexenkerl gespielt hatte, und ihn dann vom Jahrmarkt verjagte.
Daheim hätten alle die Burschen und Mädel sofort verstanden, daß die Organistenfrau es war, die Karl Artur die Augen verhexte, demzufolge er seine Mutter in der Kirche zu sehen vermeinte. Wenn jemand von Medstuby heute hier dabei gewesen wäre und gesehen hätte, wie alles zugegangen war, wäre er seiner Sache ebenso sicher gewesen wie sie, Anna Svärd, selbst.
Aber Korskyrka war nicht Medstuby. Anna Svärd mußte daran denken, wer ihr Mann war und wer Frau Sundler war und wer sie selbst war und daß sie das, was sie wußte und glaubte, für sich selbst behalten müsse.
Sie mußte auch das ertragen, daß ihr Mann auf dem Heimweg von der Kirche nicht ein Wort mit ihr sprach, sondern neben ihr herging, als ob er gar nichts von ihrer Gegenwart wüßte. Sie dachte an alle die Blicke, die ihm folgten, und versuchte, wie eine richtige Pfarrfrau auszusehen, wußte aber nicht recht, ob es ihr glückte.
Als sie nach Hause gekommen waren, ging Karl Artur sofort in sein Zimmer und schloß sich da ein. Nicht die kleinste Handreichung leistete er ihr beim Tischdecken oder beim Kochen. Sonst schien es ihm Freude zu machen, ihr ein wenig zu helfen, nur zum Spaß natürlich.
Während des Mittagessens saß er ihr gegenüber und sagte kein Wort. Nun kam sie sich allmählich als die größte Sünderin vor! Jetzt glaubte sie, es sei so schlimm mit der Predigt gegangen, weil sie und Karl Artur sich nicht an Frau Sundlers Vorschriften gehalten hatten. Ach, sie hätte am liebsten laut hinausgeschrien! Ach, vielleicht würde er nun nie mehr etwas von ihr wissen wollen!
Frau Ryen hatte Anna Svärd geraten, ein paar Haselhühner und andere Waldvögel zu braten, von denen es in ihrer Heimat sehr viele gab, und sie mitzunehmen, damit sie in den ersten Tagen fertig zubereitete Gerichte auf den Teller stellen könnte. Aber offenbar wurden Haselhühner in dieser Gegend hier unten nicht für einen großen Leckerbissen gehalten; denn Karl Artur legte Messer und Gabel weg, nachdem er kaum ein paar kleine Bissen gegessen hatte. Während der Mahlzeit wagte Anna Svärd keine einzige Frage zu stellen. Und im selben Augenblick, wo sie vom Tisch aufstanden, murmelte Karl Artur ein paar Worte, daß er Kopfweh habe und durchaus einen Spaziergang machen müsse. Damit ging er und ließ sie mit ihren traurigen Gedanken allein.
Ist es nicht merkwürdig, daß es so schwer sein soll, das zu erlangen, was man sich wünscht?
Wenn man sich etwas wünscht, was unrecht war, konnte es ja wohl so sein, aber wenn man nichts anderes begehrte, als daß der Mann, nach dem man sich sehnt, an einem oder zwei Abenden in der Woche zu einem kommen, bei einem sitzen und sich mit einem unterhalten oder in dem kleinen Wohnzimmer Musik anhören soll, dann müßte einem ein solcher Wunsch doch eigentlich erfüllt werden. Wenn man durchaus allein mit ihm sein möchte, wäre es ja etwas anderes; aber das verlangt man ja ganz und gar nicht. Herr Sundler darf herzlich gerne dabei sein. Sie beide hatten nichts zu verbergen, sie nicht und gewiß auch Karl Artur nicht.
Wenn man Charlotte Löwensköld auf häßliche, unbarmherzige Weise fortgeschickt hätte, wenn diese als arme Lehrerin oder Haushälterin sich ihr Brot hätte verdienen müssen, dann hätte man ja Strafe und Enttäuschung erwarten müssen. Wenn man ihr aber die beste Partie im ganzen Lande, Stellung, Reichtum und einen ausgezeichneten Mann verschaffte, warum soll man dann nicht das bescheidene, anspruchslose Glück, das man für sich selbst begehrt, genießen dürfen? Warum soll einem die Frau Propst Forsius darum feind sein? Denn man verstand es recht gut: Karl Artur schob allerdings die Hausbesuche und alles mögliche andere vor; aber natürlich war es die Pröpstin gewesen, die ihm ins Ohr geflüstert, die Leute hätten angefangen, über ihre vertrauliche Freundschaft zu tuscheln, und natürlich war dieser Klatscherei wegen im Herbst Woche um Woche vergangen, ohne daß Karl Artur sich gezeigt hatte.
Wenn man nur im allergeringsten schuld daran gewesen wäre, daß Karl Artur die liebe Tante Ekenstedt in der Kirche gesehen hatte, wenn man ihn nachher wieder aufgeschreckt hätte mit dem Gedanken, es könnte möglicherweise eine Veranlassung sein, den vertraulichen Umgang wiederaufzunehmen, ja dann hätte man Grund gehabt, sich auf Unglück und Widerwärtigkeiten gefaßt zu machen. Aber da man ihn nur zu trösten und die Sache wegzuerklären versucht hatte, hätte man da nicht Gelegenheit bekommen sollen, ihm in aller Ruhe in seinem Kummer zu helfen? Hatte man es verdient, daß der eigene Mann gerade anfing, eifersüchtig zu werden und Auftritte herbeizuführen, infolge derer es fast unmöglich wurde, Karl Artur noch im Hause zu empfangen?
Noch niemals hatte Karl Artur ein vertrautes Wesen so nötig gehabt als gerade damals, und man verlangte ja nichts, nichts, als ihm helfen zu dürfen.
Und wenn man da, um die Eifersucht des Mannes zu beruhigen, Karl Artur vorschlug, sich zu verheiraten, konnte darin etwas Strafbares oder Verdammungswertes liegen? Allerdings konnte man Karl Artur nicht den wirklichen Grund sagen, er war ja eine so weltfremde Natur und verstand so etwas gar nicht; aber jedenfalls, was konnte für ein Unrecht dabei sein, wenn man ihm half, seinen teuersten Jugendtraum zu verwirklichen? Und dieses einfache Mädchen aus der Wildnis da droben, hätte sie nicht damit zufrieden sein sollen, in seinem Hause leben und für seine Kleider und für seine Nahrung sorgen zu dürfen? Hätte man sich jemals denken sollen, daß eine ungebildete Person ihn gefangennehmen könnte, daß er von der Hochzeitsreise zurückkehren würde, ganz verliebt und ohne noch für irgend jemand anderes als für seine Frau einen Gedanken übrig zu haben?
Es war ja wunderschön gewesen, ihm beim Erwerb des Häuschens zu helfen, nach Rücksprache mit ihm Hausrat einzukaufen und die Verbesserungen in den Räumen vornehmen zu lassen. Man hatte viele holde Träume träumen können, während all dies vor sich ging. Aber sollte man jetzt damit gestraft werden, daß man sich in demselben Augenblick, wo die junge Gattin das Haus betrat, überflüssig fühlen mußte? Wer war es, der dieses gewöhnliche Geschöpf zur Pfarrfrau gemacht hatte? Wer war es, der ihr den edelsten, geistreichsten und vergeistigtsten Mann geschenkt hatte? Aber was für Dankbarkeit legte sie an den Tag? Als man in das Häuschen kam, in dem man selbst alles angeordnet hatte, da fühlte man, wie die Neueingezogenen sich nur danach sehnten, einen loszuwerden. Nicht einen Augenblick lang hatte man es gewünscht; aber man konnte es fast nicht lassen, etwas Schadenfreude zu empfinden, als die »Erscheinung« sich abermals zeigte. Man hatte es ja erwarten können, weil die Ratschläge, die man gegeben hatte, nicht befolgt worden waren. Nein, man hatte es gewiß nicht gewünscht, aber es fiel einem wirklich schwer, Mitleid zu fühlen.
Etwas war ja auch noch ganz besonders ärgerlich. Jemand hatte einem den Sonntagshut gestohlen. Höchstwahrscheinlich handelte es sich gar nicht um einen gewöhnlichen Diebstahl; nein, sicherlich hatte irgendein Schelm den Hut fortgenommen, nur damit sie nicht in die Kirche gehen und Karl Artur predigen hören könnte. Und der Gedanke, wer dieser Missetäter wohl sei, war im höchsten Grade aufregend. Wäre es möglicherweise, könnte es wirklich ihr Mann sein, der auf den Einfall gekommen wäre, den Hut zu verstecken?
Man wußte es ja, Karl Artur würde kommen, um sein Leid zu klagen, und man erwartete ihn gleich nach Tisch, statt dessen aber verging eine Stunde um die andere, ehe er erschien. Man war schon soweit gekommen, sich einzureden, er habe sich seiner Frau anvertraut, er habe in dieser Sache, die bisher nur zwischen ihnen beiden verhandelt worden war, Trost bei seiner Gattin gesucht. Man hatte sich an alle Enttäuschungen erinnert, an alle unbefriedigten Wünsche, und so war man nicht in der rechten Stimmung, ihn zu empfangen, als er schließlich eintraf. Man führte ihn in das kleine Wohnzimmer, man setzte sich in eine Sofaecke und hörte ihm zu, aber man war sonderbar verstimmt. Man hörte ihn klagen, ohne bewegt zu werden. Man mußte die Zähne zusammenbeißen, um ihm nicht immerfort freundlich und untertänig zu sein; es gebe eine Grenze auch für die größte Geduld; man sei nicht diejenige, die man nach Belieben an sich ziehen und wieder zurückstoßen könne.
Man hörte ihn sagen, er habe einen langen Spaziergang gemacht, um einen ruhigen Entschluß fassen zu können, es gehe ihm aber noch immer alles wie ein Mühlrad im Kopf herum. Dann kamen alle die früheren Klagen wieder, daß er diese Verfolgung nicht länger ertragen könne und daß er seinen Abschied vom Pfarramt nehmen müsse; das sei es, was seine Mutter von ihm fordere.
Ein anderes Mal würde man sich aufs Äußerste angestrengt haben, ihm Trost zuzusprechen. An diesem Tag aber ist man kaum imstand, ihn anzuhören. Man verbleibt schweigsam, aber es zuckt einem in den Fingerspitzen. Man möchte die Nägel ins Fleisch drücken und kratzen. Man weiß nicht, ob man sie in sein oder in das eigene Fleisch schlagen möchte, aber man hat das Gefühl, daß es eine große Erleichterung wäre, wenn man etwas in dieser Art vornehmen dürfte.
Er spricht und spricht, aber schließlich merkt er doch, daß man ihm nichts erwidert, daß man ihm nicht das gewohnte Mitgefühl zuteil werden läßt. Er verwundert sich und fragt, ob man krank sei. Und man antwortet ganz unfreundlich, man sei vollständig gesund, aber man sei erstaunt, weil er noch immer zu einem komme, um sein Leid zu klagen, wo er doch jetzt eine Frau habe.
Ja, so antwortet man. Man sagt gerade das Dümmste, was man sagen könnte. Vielleicht hatte man gehofft, er werde einwenden, seine Frau sei zu unerfahren und unwissend, er müsse mit einer gebildeten Frau reden, die seinem Gedankengang folgen könne. Aber das, was man gehofft hat, trifft nicht ein. Statt dessen sieht er etwas verwundert aus, sagt ein paar Worte des Bedauerns, weil er ungelegen gekommen sei, und geht seiner Wege.
Man bleibt unbeweglich sitzen, bis man ihn die Haustür zumachen hört. Man kann nicht glauben, daß er im Ernst geht, man ist gewiß, er werde wieder zurückkommen. Erst als die Tür hinter ihm ins Schloß fällt, springt man auf, man ruft, ruft ihm nach. Was hat man getan? Ist er für immer gegangen? Wie ist das möglich? Er war da, und da hat man ihn fortgewiesen. Man will nicht zuhören, wenn er einem sein Leid klagt. Man riet ihm, Hilfe bei seiner Frau zu suchen. Und das heute, gerade an dem Tage, wo alles auf dem Spiele stand, wo man ihn für immer hätte gewinnen können!
Jenes eigene Wohlbehagen und die Zuversicht, die jedermann zu überkommen pflegt, wenn er in die Nähe seines Heims gelangt, konnte Karl Artur natürlich nicht fühlen, als er in später Dämmerung von seinem Besuch bei Frau Sundler zurückkehrte. Als er das Häuschen am Hügel über dem Doktorgarten auftauchen sah, sagte er sich gewiß nicht, dort habe er einen kleinen Winkel auf Erden, wo er immer willkommen sei, wo er allezeit in Schutz genommen werde, wo er seinen bestimmten Platz habe und niemand im Wege sei. Im Gegenteil, er wünschte, er hätte sich nie eine Frau genommen, nie das alte Haus gekauft, sich nie auf dieses Abenteuer eingelassen!
Dies ist ja ganz furchtbar! dachte er. Wie unglücklich ich mich auch fühle, kann ich doch nicht einmal allein sein! Ich habe eine Frau, die jetzt einen recht langweiligen Nachmittag verlebt hat. Ihr muß ich mich jetzt widmen, um sie aufzuheitern. Sie wird sich vielleicht gekränkt zeigen und mir bittere Worte sagen. Und sie hat wirklich ein Recht, das zu tun; aber wie soll ich ihre Klagen ertragen können?
Er trat auf die wacklige Hausstaffel und streckte widerstrebend die Hand aus, um das Schloß aufzuschließen. Aber ehe er so weit gekommen war, fuhr er zurück. Im Hause drinnen ertönte Gesang, von Kinderstimmen gesungene Gesangbuchlieder!
Fast augenblicklich durchströmte ihn ein Gefühl der Erleichterung. Der furchtbare Druck auf seinem Herzen, der ihn seit dem Vormittag so gequält hatte, wurde merklich leichter. Etwas in ihm flüsterte, er könne ohne Angst eintreten. Da drinnen erwarte ihn etwas, was er durchaus nicht zu denken gewagt hätte. Im nächsten Augenblick öffnete er ganz sachte die Küchentür und schaute hinein. Fast der ganze Raum war dunkel; aber auf der Feuerstelle flammten noch ein paar Scheiter, und vor dem erlöschenden Feuer saß eine Frau mit der großen Kinderschar aus des Kätners Matt Hütte rings um sich her.
Trotz der ärmlichen Beleuchtung, oder gerade weil diese so unzureichend war, bot die Gruppe einen entzückenden Anblick. Das jüngste Kind lag ruhig schlafend auf dem Schoß seiner Frau, die andern standen, die Augen fest auf ihr schönes Antlitz gerichtet, so nahe wie nur möglich um sie her und sangen: »Der Tag ist nun vergangen, die güldnen Sterne prangen am hohen Himmelssaal …«
Karl Artur machte die Tür hinter sich zu, trat aber nicht vor, sondern blieb in der Dunkelheit an der Wand stehen.
In sein von Angst und Gewissensqual zerrissenes Herz schlich sich aufs neue der heilende Gedanke, hier sei die Frau, die ihm Gott zur Rettung ausersehen habe. Sie war vielleicht nicht so, wie er sie sich zuvor erträumt hatte; aber was verstand er? Ja, seht nur! Anstatt sich über seine Abwesenheit zu grämen, hatte sie die Kinder zu sich geholt, die er einmal aus dem größten Elend errettet hatte, und um die Zeit herumzubringen, hatte sie sie Lieder singen lassen. In dieser Handlungsweise seiner Frau trat Karl Artur etwas sehr Kluges und zugleich auch sehr Rührendes entgegen. Warum soll ich mich nicht ganz aufrichtig an sie wenden und sie bitten, mir zu helfen? dachte er.
Sobald das Lied zu Ende war, stand Anna Svärd auf und schickte die Kinder nach Hause. Vielleicht hatte sie die Rückkehr ihres Mannes gar nicht bemerkt, jedenfalls ließ sie ihn ganz ruhig in seiner Ecke stehen. Noch immer das Abendlied vor sich hin summend, das sie noch eben mit den Kindern gesungen hatte, ging sie nach der Speisekammer, um Milch und Dünnbier zu holen, legte dann frisches Holz auf die Glut, setzte einen kleinen dreibeinigen Kessel aufs Feuer, um die Milch zur Biersuppe zu wärmen.
Dann ging sie wieder im Zimmer umher. Sie stellte Butter und Brot auf den Tisch an dem Fenster und rückte zwei Stühle davor.
Es war ein schöner Anblick für Karl Artur, als sich seine Frau so im Zwielicht hin und her bewegte. Die bunten Farben ihrer Volkstracht, die beim Tageslicht etwas hart erscheinen konnten, schmolzen nun zu warmer Schönheit ineinander. Das steife Tuch erschien wie Brokat. Karl Artur ging plötzlich ein Licht darüber auf, welchen tieferen Sinn alle die Volkstrachten hatten. Sitte der Bauernfrauen war es, die Gewänder aus Seide und Samt der früheren Königinnen und adeligen Damen nachzumachen. Die bunten vorderen Rockbahnen, die weiten, bauschigen Ärmel, die Haube, die den größten Teil des Haares bedeckte; man konnte ganz sicher sein, daß etwas in dieser Art von den vornehmsten Frauen im Lande getragen worden war.
Gleichzeitig war ihm, als werde seine Frau durch irgendeine Zauberkraft zur Erbin der Würde erhoben, die die alten Edelfrauen umgeben hatte. Was andere an ihrem Gebaren gewöhnlich fanden, waren ganz einfach die altmodischen Gewohnheiten jener Zeit, wo die Königinnen selbst das Feuer auf dem Herd anzündeten und Prinzessinnen Wäsche am Flußufer spülten. Als Anna Svärd die Biersuppe in zwei Tassen gegossen hatte, zündete sie ein Talglicht an und stellte es mitten auf den Tisch. Dann ließ sie sich auf dem einen Stuhl nieder und faltete die Hände zum Tischgebet. Im Scheine der flackernden Kerze kam Karl Artur an diesem Abend das Gesicht seiner Frau merkwürdig veredelt vor. Die Klugheit und der stille Ernst einer geprüften Frau war an Stelle des früheren jugendlichen Trotzes und Selbstvertrauens getreten.
So, wie sie jetzt war, kam es Karl Artur durchaus nicht unmöglich vor, sie in die schwierigsten und tiefsten Fragen einzuweihen.
Es war kindisch von mir, zu glauben, sie könnte mich nicht verstehen, dachte er. Der Adel ihrer Natur wird sie auf die rechte Spur leiten.
Ehe noch seine Frau das Tischgebet vollendet hatte, saß Karl Artur ihr gegenüber, und wie sie faltete auch er die Hände zum Gebet.
Schweigend aßen sie das Abendbrot. Ihm gefiel diese Art zu schweigen, während man aß, wie wenn das Verzehren der Speisen eine heilige Handlung wäre, eine Gottesgabe, die das Leben erhalten sollte.
Sobald die einfache Mahlzeit zu Ende war, rückte Karl Artur seinen Stuhl um den Tisch herum und setzte sich neben seine Frau, legte ihr den Arm um die Schulter und zog sie an sich.
»Du mußt mir verzeihen«, sagte er. »Ich war heute mittag sehr heftig und ungeduldig, aber du weißt nicht, wie unglücklich ich mich fühlte.«
»Gräm dich nicht deswegen, Mann! Du brauchst dir nie Gedanken darüber zu machen, wie du gegen mich bist. Ich habe dich lieb, was du auch immer tun magst.«
In diesem Augenblick, der ihr sicher höchst feierlich vorkam, hatte Anna Svärd ihren heimatlichen Dialekt ganz abgelegt, und sie redete reines Schwedisch. Das trug wohl auch dazu bei, daß Karl Artur ihre Äußerung sehr schön fand, und zum Dank dafür küßte er sie.
Aber dieser Kuß brachte ihn ein wenig aus der Fassung. Tatsächlich hätte er seine Frau am liebsten weiter geküßt, ohne an etwas anderes zu denken.
Ich liebe sie wie wahnsinnig, dachte er. Sie gehört mir, und ich gehöre ihr. Die Erscheinung in der Kirche wird sich mir wahrscheinlich zeigen, sooft ich die Kanzel besteige. Ich werde wohl nie ein guter Prediger werden; aber warum soll mich das verhindern dürfen, mit meiner Frau in meinem Heim glücklich zu sein?
Anna Svärd schien seine Gedanken zu erraten. »Nun will ich dir eins sagen, Mann: du sollst in der Kirche nie mehr erschreckt werden«, sagte sie. »Dafür werde ich einstehen.«
Karl Artur lachte über diese zuversichtliche Versicherung. Ach, seine unerfahrene, unwissende Gattin konnte ihm nicht helfen, das wußte er nur zu gut; aber die Teilnahme, die aus ihren Worten sprach, übte eine beruhigende und befreiende Wirkung auf ihn aus.
»Ich weiß, du liebst mich genügend, um alle meine Sorgen mit mir zu tragen«, sagte er in warmem Ton und küßte sie noch einmal.
Dies war ein Augenblick großen, wohltuenden Glücks. Die Liebe goß ihre Freude und ihren Mut in das Herz des jungen Mannes. Er sah in eine Zukunft, wo er und seine Frau immer in derselben Zärtlichkeit vereint diese kleine Heimstätte in ein Paradies verwandelten, das der ganzen Gemeinde zum Vorbild diente.
»Frau«, flüsterte er, »Frau, wir wollen uns gegenseitig helfen. Wir wollen sehr glücklich werden.«
Doch kaum hatte Karl Artur dies gesagt, als er hörte, wie die Haustür heftig und geräuschvoll aufgerissen wurde und laute Schritte durch den Flur daherstapften.
Anna Svärd stand hastig auf, und als der Besuch eintrat, nahm sie rasch die Butterdose und die übriggebliebenen Brotscheiben vom Tisch und stellte sie auf die Seite.
Karl Artur war sitzen geblieben und murmelte vor sich hin, wie merkwürdig es doch sei, daß man so spät am Abend nicht in Ruhe gelassen werden könne. Aber als er sah, wer die Eintretenden waren, nämlich der Organist Sundler und seine Frau, stand auch er auf und ging ihnen entgegen.
Der Organist, ein großer alter Mann mit dichtem, struppigem Haar und einem Gesicht, das immer rot und aufgedunsen aussah, erschien an diesem Abend noch röter und aufgedunsener als gewöhnlich. Er führte seine Frau am Arm und schritt mit ihr mitten in die Küche herein. So kaltes Winterwetter auch draußen herrschte, so ließ er doch die Türe hinter sich offen stehen. Er sagte weder guten Abend, noch streckte er die Hand zum Gruße aus.
Er war fürchterlich erregt, das war leicht zu sehen, aber wahrscheinlich sah er gerade dadurch ganz stattlich aus. Anna Svärd bekam den Eindruck eines tüchtigen Mannes, während Frau Thea, die an seinem Arme hing, ihr wie ein alter verbrauchter Waschlappen vorkam. Sie hat 'nen rechten Mann, dachte sie; aber sie selbst ist in zu viel Schmutz getaucht word'n, sie kann nimmer sauber werd'n.
Kaum hatte Anna Svärd dies gedacht, als sie sah, daß Frau Thea ihren schönen Sonntagshut auf dem Kopfe trug, und da sagte sie sich: »Aha, jetzt gilt's!«
Sie ging an die Tür, um sie zuzumachen, und zugleich fragte sie sich, ob es nicht am klügsten wäre, sie liefe auf und davon. Doch sie ermahnte sich und blieb tapfer da.
Der Organist ging ohne weiteres zum Angriff über. Er berichtete, als seine Frau an diesem Morgen in die Kirche gehen wollte, habe sie ihren Sonntagshut nicht finden können. Sie habe geglaubt, er sei gestohlen worden, aber jetzt, am Abend, hätten sie, nachdem sie gemeinsam alles durchsucht, den Hut ganz hoch oben auf dem Küchenbort in einem Kupferkessel entdeckt. Frau Thea habe darauf ihn, ihren Mann, angeklagt, den Hut versteckt zu haben; aber er fühle sich vollkommen unschuldig, er müßte es denn im Schlafe getan haben. Dagegen habe er gehört, daß Karl Arturs Frau am gestrigen Tage mehrere Stunden lang in seinem Hause gewesen sei. Ja, und nun sei er hier, um eine offene Frage zu stellen und wahren Bescheid zu erhalten.
Sofort trat Anna Svärd vor und erklärte, daß es sich so verhalte, wie er vermute. Während Frau Sundler in den Keller gegangen sei, um den Saft zu holen, habe sie sich in den Flur hinausgeschlichen, den Hut geholt und ihn in dem Kessel versteckt.
Während sie dieses Bekenntnis ablegte, fühlte sie, wie sie sank, sank. Sie sank in den Augen des Organisten, und sie sank in den Augen Karl Arturs. Dagegen kniff Frau Sundler die Augen zusammen und sah sie mit offenbarem Interesse an.
»Aber um's Himmels willen, warum haben Sie denn das getan, Frau Ekenstedt?« fragte der Organist ganz bestürzt, und Karl Artur stellte dieselbe Frage mit schriller Stimme. »Warum, um's Himmels willen? Was wolltest du denn? Welche Absicht hattest du nur?«
Nachher begriff Anna Svärd, wieviel besser es gewesen wäre, wenn sie nicht die Wahrheit gesagt, sondern irgendeine Ausrede vorgebracht hätte. Aber in diesem Augenblick freute sie sich nur, den wahren Zusammenhang sagen zu dürfen. Sie vergaß, daß sie nicht in Medstuby war und mit ihrer Mutter und Jobs-Erik redete. Sie glaubte, sie werde Frau Sundler, diesen Waschlappen, zerdrücken und vernichten können.
»Ich wollt', daß sie hier heut' nicht in die Kirch' kommen könn'«, sagte Anna Svärd, indem sie auf Frau Sundler deutete.
»Aber warum denn? Warum?«
»Weil sie Karl Arturs Augen verhext, daß er das sieht, was gar nit da ist.«
Alle drei waren bestürzt. Sie starrten Anna Svärd an, wie wenn sie eine eben aus dem Grabe erstandene Leiche vor sich sähen.
Was hatte sie gesagt? Wie konnte sie glauben? Wie konnte sie sich einbilden?
Jetzt wendete sich Anna Svärd direkt an Frau Sundler. Sie trat zwei Schritte vor, bis dicht zu ihr hin. »Willst leugnen, daß du's bist, die ihm d' Augen verhext? Kannst ja die Pröpstin frag'n, ja, alle in der Kirch', ob sie je 'ne bessere Predigt g'hört hab'n als die heutig' in der Kirch'? Aber sobald du 'reinkommen bist, war's vorbei mit ihm.«
»Aber Frau Ekenstedt, liebe Frau Ekenstedt! Wie sollte ich das können? Und selbst wenn ich es könnte? Wie sollte ich Karl Artur, meinem und meines Mannes bestem Freund, schaden wollen?«
»Man kann nie wiss'n, was so eine wie du ausheckt.«
Karl Artur ergriff seine Frau heftig beim Arm und riß sie zurück. Er schien zu fürchten, sie wolle sich auf Frau Thea stürzen und sie schlagen.
»Schweig!« rief er. »Kein Wort weiter!«
Der Organist trat mit geballten Fäusten vor Anna Svärd hin.
»Nimm dich in acht, was du sagst, du Bauerndirne!«
Die einzige, die ihre Ruhe bewahrte, war Frau Sundler, ja, sie fing sogar an zu lachen.
»Aber um alles in der Welt, wir wollen doch das nicht ernst nehmen! Frau Ekenstedt ist offenbar etwas abergläubisch. Aber was kann man wohl anderes erwarten?«
»Verstehst du denn nicht«, sagte ihr Mann, »daß sie dich für eine Art Hexe hält?«
»Doch, natürlich versteh' ich das. Ich hab' ihr gestern erzählt, daß Karl Artur bisweilen seine Mutter in der Kirche zu sehen meinte, und das ist nun ihre Art, diese Sache zu erklären. Sie hat ihren Mann retten wollen, so gut sie es versteht. Alle Mädchen in Medstuby hätten wohl genauso gehandelt wie sie.«
»Thea!« rief Karl Artur, »du bist großartig!«
Frau Sundler erklärte indes sofort, nein, das sei sie nicht. Sie sei nur froh, weil der kleine Zwischenfall so schnell und leicht aufgeklärt worden sei. Jetzt, wo dies geschehen, sei für sie und ihren Mann kein Grund zu längerem Verweilen da. Sie würden deshalb gleich wieder gehen und die jungen Eheleute sich selbst überlassen.
Darauf sagte sie sowohl Karl Artur als auch seiner Frau sehr freundlich gute Nacht und entfernte sich dann mit ihrem Manne, der immer noch sehr erregt und brummig war, weil er seine ganze Wut nicht an Anna Svärd auslassen konnte.
Karl Artur begleitete das Ehepaar bis an die Tür. Dann trat er zu seiner Frau, stellte sich mit über der Brust gekreuzten Armen vor sie hin und sah sie an. Er machte ihr keine Vorwürfe, aber sein Gesicht drückte Widerwillen und Abscheu aus.
Er sieht aus wie einer, der zu 'nem Festmahl geladen war, dort aber nur Wassersupp' kriegt hat, dachte Anna Svärd.
Schließlich konnte sie das Schweigen nicht länger ertragen, und so sagte sie ein paar demütige Worte. »Wirst du dir nun nie mehr was aus mir mach'n?« – »Kannst du mir den Glauben wiedergeben, daß du die Frau bist, die Gott selbst für mich auserwählt hat?« sagte er mit gebrochener Stimme.
Noch einen langen Blick voll Zorn und Schmerz richtete er auf sie, dann verließ er die Küche. Sie hörte ihn über den Flur und in sein Zimmer gehen, hörte, wie er die Tür hinter sich zumachte und den Schlüssel zweimal im Schloß umdrehte.