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Der Jahrmarktspfarrer

Kann man sich ein schöneres Erwachen denken, als wenn man hört, daß das Dienstmädchen, das am Morgen ins Schlafzimmer hereinkommt, um Feuer im Ofen anzuzünden, von zwei trippelnden Kinderfüßchen begleitet wird? Oder gibt es etwas Lustigeres, als mit geschlossenen Augen ganz still zu liegen und dann zu merken, daß ein kleines Wesen, ohne sich um die geflüsterten Warnungen, die Schlafende ja nicht zu stören, keck an der Decke zieht, um ins Bett hineinzuklettern? Und welch ein entzückendes Jubelgeschrei nachher, wenn man die Arme ausstreckt und der kleinen Kletterin hinaufhilft, wenn diese dann über einen herfällt, einem mit noch von der Morgenwaschung kalten Händchen auf die Wangen patscht, einen kneift, stößt und küßt! Man kann nichts anderes tun als mitlachen, mitjubeln, man redet in einem Kinderkauderwelsch, man erinnert sich in aller Eile an eine Menge sinnloser Kosenamen. Das Dienstmädchen braucht wirklich nicht um Entschuldigung zu bitten, weil sie das Kind mit hereinkommen ließ. Es habe den ganzen Morgen nichts anderes getan, als gebittet und gebettelt, zu der schönen Dame, die es am vorhergehenden Abend gesehen habe, hinein zu dürfen; es habe auch versprochen, ganz mäuschenstill zu sein und die gnädige Frau nicht zu stören.

Als die Dienerin das Gastzimmer verließ, wollte sie das Kind wieder mit hinausnehmen. Aber davon konnte keine Rede sein. Die Kleine, die wohl etwas Derartiges gefürchtet hatte, war unter die Decke gekrochen und tat, als ob sie schliefe. Aber sobald die Tür sich geschlossen hat, ist sie hellwach und plaudert frisch drauflos. Sie erzählt etwas von ihrem Vater, aber sie spricht rasch und undeutlich, und Charlotte kann ihr nicht folgen. Aber das tut nichts. Schon der hübsche Wohlklang der Kinderstimme entzückt sie.

Als das Feuer im Ofen recht hell lodert, öffnet sich die Tür, und das Dienstmädchen tritt mit dem Kaffeebrett herein. Dicht hinter ihr erscheint auch die Frau des Hauses, die kleine runde Baronin, die sich erkundigen will, wie der Gast geschlafen habe. Sie schenkt den Kaffee ein und auch für sich ein Täßchen, dann läßt sie sich am Ofen nieder und fängt an zu plaudern.

Die Kleine ist verstummt, hält aber die Hand ihrer Bettgenossin krampfhaft fest, aus Angst, man wolle sie fortbringen. Nach einer kleinen Weile schläft sie wirklich, und Charlotte betrachtet ganz entzückt das rosige Gesichtchen. Sie lacht über sich selbst. Sie ist diesem Zigeunerbalg, das eine so innige Liebe zu ihr gefaßt hat, rettungslos verfallen.

Was die Baronin sagen will, ist folgendes: Charlotte dürfe nicht daran denken, Hedeby schon in den nächsten Tagen wieder zu verlassen. Teils wünschten die Baronin und alle andern Bewohner des Hauses aufs innigste, sie solle dableiben und ihnen die Einsamkeit etwas erheitern, teils müsse Charlotte ihr, der Baronin, vor der Abreise erlauben, dem Kinde für passende Kleidungsstücke zu sorgen. Es sei ja doch ein Fräulein Löwensköld, da müsse es ein paar Trauerkleider und verschiedenes Unterzeug haben, damit es nicht allzu dürftig ausgesteuert seinen Einzug auf Groß-Sjötorp halte.

Oder ist es nicht etwas Neues und Rührendes zugleich, wenn Charlotte im Laufe des Tages von dem despotischen kleinen Tyrannen, der sich nach ihr sehnt, ins Kinderzimmer hineingerufen wird. Kinder müssen ein wunderbares Ahnungsvermögen haben. Die Kleine hier hatte gleich gefühlt, daß Charlotte eine ebenso große Pferdeliebhaberin war wie sie selbst. Sie hat herausgefunden, daß niemand anders so gut vor dem auf dem Kopf gestellten Hocker im Kinderzimmer dahintraben kann; niemand trägt die Zügel mit solch wirklichem Pferdeverstand, niemand gehorcht so gut, wenn sie schnalzt und wenn sie »Brr!« ruft. Oder ist es nicht tragikomisch, durch dieses kleine Kind in die Geheimnisse des Landstreicherlebens eingeweiht zu werden, zu spielen, daß der eine Stuhl Ekeby heißt und der andere Börne, an diesen Stühlen vorzufahren und nach Arbeit zu fragen, barsche, abweisende Antworten zu bekommen, sich mit der größten Erfahrung über die Aussichten an dem einen oder andern Orte auszusprechen!

Aber das Entzückendste ist doch wohl, zu sehen, wie diese Kleine mittendrin die Zügel wegwirft, ihr Spiel verläßt, um sich ans Fenster zu stellen und nach dem auszuschauen, der sein Kind für immer verlassen hat. Da steht es stundenlang, taub für alle Verlockungen und Überredungen, ganz von seiner Sehnsucht gefangengenommen.

Fast treten einem die Tränen in die Augen, wenn man das Kind dort stehen sieht, das Gesichtchen an die Scheibe gedrückt und so, mit den Händen an den Schläfen, alles ringsum ausschließend. Man denkt im stillen, welche Fehler das Kind auch immer haben mag, so versteht es doch liebzuhaben. Und was könnte wichtiger sein als das?

Aber nach dem Reichtum der Spiele und Einfälle zu urteilen, müßte das Kind auch in Beziehung auf den Verstand reich begabt sein. Sein Verdienst ist es tatsächlich, wenn die Tage auf Hedeby einem nicht zu lang und einförmig vorkommen, denn unleugbar ruht eine gewisse Düsterheit über dem alten Hofe.

Schuld daran ist ganz allein Baron Adrian. Er ist griesgrämig und übellaunig und wirkt niederdrückend auf die ganze Familie, die sonst gar nicht so übel wäre.

Am Tage nach Charlottes Ankunft in Hedeby befiehlt Baron Adrian dem Verwalter, der sich in den Zigeunerorten der nördlichen Wärmlandsbezirke so gut auskennt, Görans kleines gelbes Nordlandspferdchen einzuspannen und den schmutzigen Zigeunerschlitten mitsamt dem ganzen Inhalt fortzuschaffen. In erster Linie sollte er die armselige Erbschaft der Witwe seines Bruders zustellen und des weiteren ihr mitteilen, daß ihr Mann, der Zigeunerbaron, in einem Straßengraben erfroren sei, und dann zuletzt ihr kundtun, daß Verwandte sich der kleinen Tochter angenommen hätten.

Als der Abgesandte nach ein paar Tagen zurückkehrt, gibt Baron Adrian Charlotte Bescheid. Er sagt, der Verwalter habe zu bemerken gemeint, daß die Mutter des Kindes offenbar froh gewesen sei, das Mädel los zu sein, deshalb nehme er, Baron Adrian, an, Charlotte könne es nun als ihr Eigentum betrachten. Er möchte sie aber warnen, nicht in der ersten Zeit schon Maßnahmen zu treffen, sich das Kind auf gesetzlichem Wege zu sichern. Es sei eben doch ein Bettelkind von schlechtem Herkommen, und es wäre nicht ganz unmöglich, daß Charlotte sich nach ein paar Monaten gezwungen sähe, es zu seiner Mutter zurückzuschicken. In dieser Sache hat sich also der Baron vollkommen korrekt benommen, sonst aber machte er keine bemerkbaren Anstrengungen, seiner Mißstimmung Herr zu werden. Glücklicherweise zeigt er sich kaum zu anderen Stunden als bei den Mahlzeiten. Aber auch da ist es nicht leicht, einen Gesprächsstoff zu finden, den er nicht mit einem Hohnlachen oder einer beißenden Bemerkung unterbricht. Jemand, der, wie Charlotte selbst, vollkommen und unsäglich glücklich in seiner Ehe ist und dazu noch die natürliche Anlage hat, überall zu helfen und zurechtzustellen, fällt es schwer, alles so weitergehen zu lassen, ohne irgendwie einzugreifen. Aber man mußte die Unmöglichkeit dazu einsehen. Der Possenstreich, den Göran Löwensköld seinem Bruder bei dem letzten Zusammentreffen gespielt hatte, war zu unbarmherzig gewesen, nun kann Baron Adrian nicht verzeihen, daß man ihm die Rache, die er nehmen wollte, aus den Händen gerissen hat.

Aber wenn Charlotte sich Baron Adrian gegenüber machtlos fühlt, dann versucht sie es mit um so größerem Eifer, den Druck, der auf seiner Gattin und seinen kleinen Töchtern liegt, zu erleichtern. Die arme Baronin scheint schon durch Charlottes Anwesenheit im Hause mutig und beruhigt zu werden, und allmählich gelingt es Charlotte auch, daß bei den Mahlzeiten Scherz und Lachen ertönt und in der Dämmerung am knisternden Feuer Märchen und Sagen erzählt werden. Sie fordert zu Rodelpartien auf, sie ladet die Hedebydamen zu langen Schlittenfahrten mit ihren eigenen Pferden, die in fauler Ruhe im Stalle stehen, ein. Sie verlockt die Baronin, auf ihrem kleinen Klavier schöne Stücke von Bach und Händel zu spielen, und als sie mit weiser Klugheit herausbringt, daß die fünf Rotköpfchen recht nette Stimmen haben, bläst sie ihnen Mut ein, sich rings ums Klavier her aufzustellen und zur Begleitung ihrer Mutter zu singen: »Komm, schöner Mai, und mache die Bäume wieder grün!«

Schließlich scheint aber doch die Baronin zu denken, das kleine Zigeunermädel habe nun genug Kleider und Weißzeug bekommen, und so widersetzt sie sich Charlottes Abreise nicht mehr. Diese ist übrigens auch aus einem andern Grunde notwendig geworden. Seit Charlotte auf Hedeby eintraf, hat jeder Tag herrlichster Sonnenschein geherrscht. Die ungeheuren Schneemassen sind zusammengesunken, und auf dem Wege, der zur Broer Kirche führt, zeigen sich schon da und dort kahle Stellen. Drunten auf dem Löwensee liegt das Eis dick und stark, aber auf der Eisdecke sammeln sich schon Wasserpfützen, und die langen Reihen von Geleisen, die sich nach allen Richtungen kreuzten, sind verschwunden. Charlotte darf nun nicht länger zögern; sie muß abreisen, ehe die Schlittenbahn nicht mehr befahrbar ist.

Am Tage vor der Abreise schlägt die Baronin Charlotte einen Spaziergang nach der Broer Kirchhof vor, um dort das so viel besprochene Familienbegräbnis zu besuchen. Charlotte ist sofort mit dem Vorschlag einverstanden, und gleich nach dem Mittagessen, das auf Hedeby um halb ein Uhr eingenommen wird, machen sie sich auf den Weg. Sie haben nicht weit zu gehen, aber der Weg ist infolge der Schneeschmelze glitschig und beschwerlich. Doch ist dies eine Schwierigkeit, die durch die sie durchströmende behagliche Wärme, durch die milde Luft, die ihnen um die Wangen streicht, und durch die Freude, die sie beim Trillern der ersten Lerche über den noch fast schneebedeckten Feldern empfinden, vollständig aufgewogen wird.

Unterwegs versucht die Baronin ganz vorsichtig ein heikles Thema aufs Tapet zu bringen. Sie beginnt von Karl Artur Ekenstedt zu reden, und obgleich sie merkt, daß Charlotte bei diesem Namen gleichsam zurückschreckt, redet sie doch eifrig und tapfer weiter.

Sie versucht, Charlottes Mitleid zu erwecken. Sie, die so reich ist und einen Gatten hat, der ihr alles gibt, was sie von ihm verlangt!

Charlotte zuckt die Schultern ein wenig. Ja, es ist gewißlich wahr, niemand kann einen besseren Mann haben als sie, aber gerade deshalb … Das alte Polhemsche Sägewerk steht noch auf Groß-Sjötorp. Sie will nichts riskieren. In ganzen vier Jahren hat sie sich nicht erlaubt, Karl Artur einen Gedanken zu schenken und noch viel weniger, ihm zu helfen. Und so versucht sie, das Gespräch sofort in andere Bahnen zu leiten.

Und die Baronin biegt ab, wie sie es immer tut; aber als sie den Grabhügel mit dem großen steinernen Sarkophag erreicht haben, zeigt sie Charlotte absichtlich die Stelle, wo Malwina Spaak einstmals den furchtbaren Ring ins Grab hinunter gleiten lassen konnte, und sie sagt dabei:

»Diese Frau, die jetzt mit Karl Artur herumzieht, soll ja eine Tochter von Malwina Spaak sein?«

»Ja, gewiß«, erwiderte Charlotte, »gerade deshalb hat ja auch Karl Artur ein so grenzenloses Vertrauen zu ihr gefaßt. Aber laß uns doch ja nicht mehr von diesen beiden sprechen! Ich hab' ihretwegen genug Kummer durchgemacht.«

Die kleine Baronin gehorcht sofort; aber nun wird Charlotte plötzlich gerührt. Ei, sieh! denkt sie. Ich führe mich jetzt genauso auf wie ihr Mann und lasse sie nicht mit dem herausrücken, was sie gern sagen möchte.

»Ich sehe, du hast etwas auf dem Herzen, das ich deiner Ansicht nach wissen sollte«, sagt sie dann laut. Und die Baronin beginnt gleich mit ihrem Bericht. Im letzten Herbst hatte sie den großen Brobyer Jahrmarkt, der acht Tage dauert und bei dem mehrere tausend Menschen zusammenströmen, besucht. Wie sie so zwischen den Buden dahinwanderte und ihre Einkäufe machte, hörte sie plötzlich eine Frauenstimme, die ein Kirchenlied sang. Das nahm sich ja in dem Jahrmarktgetöse höchst merkwürdig aus, und sie blieb stehen, um zu lauschen. Es war durchaus keine schöne Stimme, aber das Lied wurde mit solcher Gewalt hinausgesungen, daß es wahrhaft ohrenbetäubend klang. Die Baronin, die ja durchaus nicht wußte, wer die Sängerin war, hatte bald genug von diesem Spektakel und wollte in einer andern Richtung weitergehen; aber das war nicht leicht zu bewerkstelligen, denn als dieser entsetzliche Gesang ertönte, strömten die Leute von allen Seiten herbei. Eifrig und lachend kamen sie daher, wie wenn dieses Singen die Einleitung zu einem ungewöhnlich lustigen Jahrmarktsvergnügen wäre. Die Baronin, die mitten in dem Gewimmel stand, hatte nicht mehr zurücktreten können, im Gegenteil, sie wurde nach vorne gedrängt, so daß sie sich schließlich dicht vor der Sängerin befand. Diese stand auf einem gewöhnlichen Zigeunerkarren mit einer Menge grauer Bündel auf den Brettern. Die Person selbst war häßlich und dick. Ob sie alt oder jung war, konnte die Baronin nicht sehen, denn das Weib war in einen langen wattierten Mantel gehüllt, der zwar an mehreren Stellen geflickt war, aber gewiß warm hielt. Um den Kopf trug sie einen breiten, dicken Schal, der unter den Armen durchgezogen und auf dem Rücken zusammengeknüpft war. Sie sah aus wie eine Gemüsehändlerin in ihrer Bude. Bei dieser Person zeigte sich auch nicht die geringste Lust, sich angenehm oder anziehend zu machen.

Übrigens hatte sie ihr Lied nicht zu Ende singen dürfen, denn die Zuhörer hatten ihr zugerufen, sie solle mit ihrem Geplärr aufhören, und als sie nicht sofort gehorchte, äfften einige ausgelassene junge Burschen ihren Gesang nach. Da brach sie jäh ab, kehrte der Volksmenge den Rücken zu und kauerte sich zwischen den Bündeln auf dem Karren ganz zusammen. So blieb sie, sich mit dem Oberkörper hin und her wiegend, sitzen, und die Baronin meinte zu bemerken, daß sie wie vor Kälte oder Angst ab und zu zusammenschauderte.

Als die Frau verstummte, war sofort ein Mann auf den Wagen gesprungen und hatte zu reden angefangen, und von diesem Augenblick an schenkte die Baronin der Sängerin keinen Gedanken mehr. Der Mann hatte einen großen graugesprenkelten Bart, und als er einen breitrandigen schwarzen Hut abnahm, sah die Baronin, daß er fast kahlköpfig war. Immerhin erkannte sie in dem Manne sofort Karl Artur Ekenstedt; nein, es konnte niemand anders sein. Er war zwar erschreckend mager und abgefallen; von der früheren Schönheit war keine Spur mehr vorhanden; aber die Baronin erkannte ihn an der Stimme und an der Art, wie er die schweren Augenlider aufschlug. Außerdem wußte sie ja, daß er auf solche Weise umherzog und auf den Jahrmärkten, sowie auch sonst überall, wo viele Leute zusammenkamen, predigte.

Aber Charlotte dürfe ja nicht denken, fuhr die Baronin fort, daß Karl Artur eine erbauliche oder ernste Ansprache gehalten habe. Allerdings habe er zuerst einige Bibelworte gebetet, aber dann nichts weiter getan, als zanken und schelten. Er schien von Anfang an gereizt zu sein, schrie und brachte heftige Anklagen vor, ja, er sei aufs höchste aufgebracht gewesen, weil die Menge sich nur um ihn versammelt habe, um sich über ihn lustig zu machen. Dann habe er sich an eine Bauernfrau gewendet und sie ausgescholten, weil sie zu fein angezogen sei, und ebenso an einen Burschen, weil er ihm zu wohlgenährt und rotwangig erschien. Warum er diese beiden angriff, sei einem durchaus unverständlich gewesen, der einzige Grund hätte sein können, daß in seinem Innern ein unauslöschlicher Zorn gegen alles und alle brennen mußte.

Die ganze Zeit über habe er mit geballten Fäusten dagestanden und seine Worte mit solcher Kraft hinausgeschleudert, daß sie wie ein Hagelwetter über einen hergefallen seien. In großen Haufen hätten sich die Leute um ihn zusammengedrängt und über alles, was er sagte, laut gelacht. Niemand habe nur im entferntesten daran gedacht, er könnte eine andere Absicht haben, als Gelächter hervorzurufen.

Aber für sie, die Baronin, die Karl Artur von früher her kannte, sei nichts überraschender gewesen, als zu hören, wie er sich in höchstem Zorn hauptsächlich über die Armut ausließ, die er doch früher nicht genug hatte preisen können. Aber nun sah sie, wie er der Menge seine vielfach geflickten Kleider zeigte, und sie hörte, wie er die verfluchte, die an seiner Armut schuld seien. In erster Linie klagte er seinen Vater und seine Schwestern an. Seine Mutter sei tot, er hätte sie beerben müssen, aber sein Vater und seine heuchlerischen, habsüchtigen, diebischen Schwestern hätten ihm sein Erbteil vorenthalten.

Als die Baronin dies erzählt, machte Charlotte eine Einwendung.

»Es ist unmöglich«, sagt sie, »es kann nicht Karl Artur gewesen sein.«

»Aber, meine Liebe, er nannte die Seinigen doch mit Namen. Darüber kann, wie gesagt, gar kein Zweifel herrschen, daß er es war.«

»Ist er verrückt?«

»Nein, verrückt ist er nicht. Es war immerhin eine Art Vernunft in dem, was er vorbrachte; ich möchte eher sagen, er sei ein ganz anderer Mensch geworden. Von dem früheren Karl Artur war nichts mehr da. Oder was sagst du nun dazu? Er rühmte sich, daß er, wenn er nur gewollt, Bischof hätte werden können. Niemand in diesem Lande habe so predigen können wie er. Ja, er hätte Erzbischof werden können, wenn er nicht durch böse Menschen ins Verderben gestürzt worden wäre. Du wirst begreifen, wie lustig es die Leute fanden, als dieser elende, ausgemergelte Tropf behauptete, er hätte Bischof werden können. Man wollte sich vor Lachen ausschütten, ich aber hatte keinen anderen Wunsch, als fortzukommen.«

Die Baronin macht eine kleine Pause und wirft einen prüfenden Blick auf Charlotte. Mit gerunzelter Stirn und halb abgewendet steht sie da, wie wenn sie gezwungen wäre, eine Geschichte anzuhören, die sie eigentlich langweilt.

»Ich habe nun nicht mehr viel hinzuzufügen«, fährt die Baronin seufzend fort. »Nur eins will ich noch sagen: Als Karl Artur behauptete, er hätte Bischof über ganz Schweden werden können, stieß die Frau, die auf dem Boden des Wagens zu seinen Füßen saß, ein kleines Hohngelächter aus. Das hörte er, und von dem Augenblick an wendete sich sein Zorn gegen sie. Er stampfte mit dem Fuß auf und fragte, wie sie es wagen könne, zu lachen, sie, die ihn von seiner Braut, seiner Mutter und seiner Frau getrennt habe, sie, die die Ursache sei, daß er nicht mehr als Pfarrer in den Kirchen predigen dürfe, sie, die die Schlinge um seinen Hals, ja die Giftschlange sei, die jeden Tag Gift in seine Wunden träufle und die nicht aufhören werde, ihn zu reizen, bis er ihr schließlich das Messer in die Brust stoßen müsse.«

Wieder machte die Baronin eine Pause, wie um zu sehen, ob auch dies keinen Eindruck auf Charlotte mache. Jetzt aber hat sich diese ganz abgewendet; weder durch Worte noch durch Bewegungen bekundet sie irgendein Interesse für die Erzählung.

»Als Karl Artur das Weib anklagte«, fährt die Baronin fort, die aus Verzweiflung über eine solche Gleichgültigkeit nun mit rasender Eile spricht, »bediente er sich solcher feierlichen Redensarten, die du ja an ihm kennst. Aber das war wohl nichts, was das Weib rührte, denn sie saß nur schweigend da. Dann aber mußte er eine Äußerung getan haben, die, wie man zu sagen pflegt, den Becher zum Überlaufen brachte, denn nun kam sie mit Gegenreden, und die beiden begannen aufeinander loszuschimpfen. Nein, ich kann nicht wiederholen, was sie sich alles an den Kopf warfen. Es sah aus, als wollten sie aufeinander losgehen und sich prügeln. Ich hatte wirklich Angst, ich würde das mit ansehen müssen. Wie ich mich dabei anstellte, weiß ich nicht, aber ich puffte die Leute, die an nichts anderes dachten, als zu lachen, auf die Seite und drückte mich durch. Aber, Charlotte, seither kann ich diese verkommenen, unglückseligen Menschen nicht mehr vergessen. Sie ziehen wohl bis zum heutigen Tage noch in dieser Weise umher. Und sein Vater und seine Schwestern leben, und du, Charlotte, du …«

»Ich verstehe gar nicht«, unterbrach sich Charlotte in mißfälligem Tone, wie wenn sie sagen wollte, sie halte die ganze Schilderung für übertrieben, ja beinahe erfunden. »Ich habe Karl Artur vor vier Jahren gesehen. Damals trug er zwar einen Friesanzug, er sah aber aus wie ein verkleideter Prinz.«

»Aber die Qualen, liebe Charlotte, die Qualen! Bedenke, was er alles durchgemacht hat! Denk an die Niederlage, die Enttäuschungen, die Demütigungen! Bedenke, mit jener Frau zusammenleben zu müssen. Denk an die Hoffnungslosigkeit, an die Selbstvorwürfe! Bedenke, daß er wohl ungefähr dasselbe Leben geführt haben muß wie mein Schwager, der Zigeunerbaron! Bedenke, wenn er als Mörder endigen würde! Wenn du ihn je geliebt hast …«

»Wenn«, sagte Charlotte mit leiser Stimme, »wenn ich …«

Ganz rasch setzte sie sich in Bewegung. Sie preßte die Lippen zusammen, um nicht schreien zu müssen. Nun hatte sie geglaubt, mit dem Manne für immer fertig zu sein, und jetzt kehrte er auf diese Weise wieder, unglücklich, verloren, sich ihr durch seinen Verfall, durch sein furchtbares Schicksal aufzwingend.

Die beiden Damen legen beinahe den ganzen Weg nach Hedeby voneinander getrennt zurück. Charlotte etwas voraus, die Baronin ein paar Schritte weiter zurück; keine spricht ein Wort.

Doch am Eingang der Allee bleibt Charlotte stehen und wartet auf die andere. Sie lächelt etwas wehmütig und schüttelt den Kopf, berührt aber das, wovon vorhin die Rede gewesen ist, durchaus nicht.

»Weißt du was«, sagt sie mit etwas erzwungener Munterkeit in der Stimme, »ich glaube, ich bin nicht einmal eine ganze Stunde lang weg gewesen, und doch freue ich mich sehr, wieder zurück zu sein. Kannst du begreifen, was das für eine Macht ist, die dieses Bettelkind über mich gewonnen hat? Ich sehne mich ordentlich nach dem kleinen Mädel.«

Und während sie nun durch die Allee wandern, wirft Charlotte einen Blick auf das Fenster des Kinderzimmers, um zu sehen, ob nicht ein dicht an die Scheiben gedrücktes Gesichtchen da zu entdecken sei. Als sie den Hofplatz erreichen, erwartet sie, daß die Tür aufgerissen werde und ein Kind herausstürze, um durch Wasserpfützen und schmelzenden Schnee hindurch zu ihr zu gelangen.

Aber nichts Derartiges ist zu sehen. Wer dagegen in großer Eile auf die Heimkehrenden zukommt, ist niemand Geringerer als Baron Adrian.

Der Baron hat seinen Wolfspelzmantel an, und ein langer bunter Reiseschal ist mehrfach um seinen Leib geschlungen. Dazu stecken seine Füße in Riesenstiefeln, die so hoch und so weit sind, daß man fast denken muß, sie seien nach den Karolinischen Reiterstiefeln auf dem Porträt seines Stammvaters zugeschnitten worden. Unverkennbar hat er eine Reise vor, und er kommt den beiden Damen entgegen, um ihnen die Ursache dazu zu erklären.

Die Baronin fürchtet sogleich, es werde während ihrer Abwesenheit ein Unglück passiert sein, und Charlotte hört sie seufzen: »Ach, ach, ach! Was ist nun los?«

Es schien indes nichts Schlimmes zu sein, ja man hätte eher das Gegenteil glauben sollen, denn Baron Adrian schien auf einmal seine Verdrossenheit abgeworfen zu haben und lebhaft und umgänglich geworden zu sein. »Ja, nun sollt ihr hören!« beginnt er. »Ihr mögt wohl eine halbe Stunde weggewesen sein, als ein Zigeunerkarren an unserem Hause vorbeifuhr. Er war mit den gewohnten Bündeln gefüllt, zwischen denen ein Herr und eine Dame von derselben Sorte saßen. Die Dame verblieb im Schlitten, der Herr aber stieg aus und kam zu mir auf mein Zimmer. Und was meint ihr wohl in welcher Angelegenheit er sich einstellte? Ja, nur um für meine geehrte Schwägerin Ersatz zu verlangen, weil sie uns erlaubt hat, für ihr Kind zu sorgen.«

»Da sieht man's«, sagte Charlotte. »Aber das konnte man ja erwarten, man mußte darauf gefaßt sein.«

»Ja, natürlich mußte man das«, gibt Baron Adrian zu, »aber das war auch nicht das Merkwürdigste an der Sache. Der Mann, der mit mir darüber sprechen wollte, war schlecht gekleidet und sah genauso aus, wie solches Pack auszusehen pflegt, und ich hielt ihn deshalb auch im Anfang für einen gewöhnlichen Zigeuner. In seiner Stimme jedoch lag etwas, das mir bekannt vorkam, und während er mit mir redete, mußte ich mich die ganze Zeit über besinnen, wo ich wohl früher schon mit ihm zusammengetroffen war. Er benahm sich auch nicht ganz so, wie sich ein solcher Mensch benommen hätte.«

»Ach mein Gott!«

»Ja, Base Charlotte, ich sehe, du hast schon erraten, wer es war. Ich aber war nicht so schnell bei der Hand, sondern suchte nur in meiner Erinnerung unter allen den Zigeunergesichtern, die man auf dem Brobyer Jahrmarkt zu sehen bekommt. Indessen aber schalt ich ihn wegen seiner unverschämten Forderung tüchtig aus. Ich sparte weder an Flüchen noch an Schimpfworten, denn das ist ja das einzige, worauf sich solche Leute verstehen. Wäre er nur ein gewöhnlicher Zigeuner gewesen, dann hätte er geschwiegen und die Scheltworte hingenommen, denn diese Sorte Menschen hat ja meist vor uns Herrenleuten noch etwas Respekt. Dieser aber widersprach mir und ließ mich wissen, wofür man mich hält. Ich erfuhr, daß ich mich gegen meinen Bruder erbärmlich benommen habe und daß ich meine Schwägerin zur Beerdigung hätte einladen sollen sowie noch vieles andere Derartige. Ich aber schlug mit der Faust auf den Tisch und sagte, er solle machen, daß er fortkomme, aber das half nichts.«

»Hast du ihm gesagt …«

»Du meinst wohl, ob ich ihm mitgeteilt habe, daß die reiche Frau Schagerström sich des Kindes annehmen wolle? Nein, Base Charlotte, davor hab' ich mich gehütet, das hätte die Ansprüche nur vervielfältigt. Der Mensch stritt immer weiter mit mir, wie wenn das ein ausgezeichnetes Vergnügen für ihn wäre. Und schließlich erklärte er, wenn ich für das Mädchen nicht bezahlen wolle, dürfe ich es auch nicht behalten.«

Charlotte hört mit großer Angst zu. Auf dem Heimweg vom Kirchhof ist sie zu dem Ergebnis gekommen, daß sie für Karl Artur nichts tun könne und es überdies auch nicht wage. Sollte der alte Kampf nun aufs neue beginnen?

»Aber gerade, als er die Tür aufriß«, spricht Baron Adrian weiter, »ging mir ein Licht auf. Der Vetter Ekenstedt war's, mit dem zu reden ich die Ehre hatte. Er ist offenbar mit meinem Bruder viel zusammengewesen, auch fährt er ja auf dieselbe Weise wie Göran im Zigeunerwagen umher, und im Winter scheint er da droben im Norden, wo alles fahrende Volk sich aufhält, gewohnt zu haben. Da war es ja ganz natürlich, daß er für das Zigeunerweib, das mein Bruder zufälligerweise geheiratet hat, den Erpressungsversuch übernahm.«

»Aber nachdem du ihn erkannt hattest, hast du ihn dann gehen lassen, Vetter Adrian?«

»Nein, nachdem ich begriffen hatte, wer es war, wollte ich natürlich noch ein Wort mit ihm reden. Ich lief auf die Freitreppe hinaus; aber da hatte er schon seinen Schlitten erreicht und war vom Hofe abgefahren. Ich rief ihm nach, so laut ich konnte: ›Karl Artur!‹, aber er hielt nicht an.«

»Und jetzt willst du hinter ihm her?«

»Ja, das will ich in der Tat. Denn hör nur, was weiter geschah! Als Karl Artur schon ein Stück durch die Allee gefahren war, hielt er plötzlich an. Unsere Kinderfrau war da eben mit allen Kindern unterwegs, gewiß in der Absicht, euch entgegenzugehen. Die Frau im Wagen erkannte das Töchterchen meines Bruders, und ich hörte, wie sie ihm rief. Und als das Kind herbeieilte, bog sie sich vor, packte es und zog es zu sich in den Schlitten hinein. Karl Artur knallte mit der Peitsche, und das Pferd setzte sich in Trab. Und auf diese Weise haben diese beiden mir wahrhaftig das Kind vor der Nase weggestohlen.«

»Was, ist mein kleines Mädchen fort?«

»Ja, und da stand ich vollkommen hilflos. Ich konnte sie nicht verfolgen. Alle unsere Pferde sind tief drinnen im Walde beim Holzfahren.«

»Aber meine Pferde dann?«

»Ja gewiß, Base Charlotte, ich dachte sofort an sie, und da es sich ebensosehr um dich wie um mich handelt, erlaubte ich mir, deinen Kutscher anspannen zu lassen. Ich wartete hier eben auf ihn, als ich dich und Amelie daherkommen sah. Du brauchst dich gar nicht zu beunruhigen, das Kind soll bald wieder bei dir sein. Na, da haben wir ja die Pferde mitsamt dem Schlitten!«

Er wollte zu dem Gefährt hinlaufen, als Charlotte ihn am Arm ergriff.

»Vetter Adrian, wart noch einen Augenblick! Kann ich nicht mitkommen!«

Baron Adrians Gesicht überzog sich mit einer dunklen Röte. Aber mit der freimütigen Offenherzigkeit, die ihn in seiner Jugend ausgezeichnet hatte, wendete er sich jetzt an Charlotte.

»Du brauchst keine Angst zu haben, Base Charlotte. Ich werde das Kind wieder herbeischaffen, und sollte es mich auch mein eigenes Leben kosten. Zum Kuckuck, da hab' ich mich nun die ganze letzte Woche hindurch geschämt! Und nun möchte ich dir gerne meine Dankbarkeit beweisen, weil ich nicht dazu kam, das arme Geschöpf fortzuschicken.«

»Ach, Vetter Adrian«, erwiderte Charlotte, »diese Sache ist durchaus nicht der Grund, warum ich mitfahren möchte. Aber bei mir ist's eben so, daß ich nicht das Schlimmste glauben will. Erst jetzt, wo Karl Artur das Kind gestohlen hat, versteh' ich, wie schlimm es um ihn steht. Laß mich dich begleiten, Vetter, damit ich mit ihm reden kann!«


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