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An dem Tage, da der Zigeunerbaron sein Kind auf Hedeby zurückgelassen hatte, war Baron Adrian Löwensköld in strahlender Laune zum Mittagessen erschienen. Heute brauchte er sich nicht nur mit weiblichen Wesen zu Tisch zu setzen! Heute saß ein Junge mit in der Tafelrunde! Es war ihm, als sei eine andere Luft im Zimmer, und er fühlte sich jung, vergnügt und lebensfroh. Ja, er hatte sogar im Sinne, seiner Frau vorzuschlagen, Wein bringen zu lassen, um auf das Wohl des Neuangekommenen ein Glas zu trinken.
Er trat rasch an seinen Platz an dem runden Eßtisch, faltete die Hände und lauschte mit gesenktem Kopfe dem Tischgebet, das das jüngste seiner Töchterchen sprach.
Als dies getan war, ließ er einen strahlenden Blick nach dem Neffen über den Tisch hinschweifen. Aber wie sehr er sich auch angestrengt, er sah kein Geschöpf in Jacke und Hosen. Nichts als Röcke und enge Leibchen gab es am Tisch, gerade wie sonst auch. Er runzelte die dichten Brauen und ließ ein zorniges Schnauben hören. Er hatte ja den Neffen in der Kinderstube lassen müssen, damit er gewaschen und umgekleidet würde; aber war seine Gattin wirklich so einfältig, das Kind nicht bei Tisch haben zu wollen? Allerdings war er ein Zigeunerjunge mit Zigeunermanieren, aber seine fünf wohlerzogenen Töchterchen zusammen waren nicht so viel wert wie der kleine Finger dieses Jungen.
Ehe ihm indes ein Wort über seine Enttäuschung entschlüpfte, machte die Baronin eine kleine Bewegung mit der Hand und deutete auf ein kleines, gut gekämmtes und gut gekleidetes Mädchen, das auf dem Stuhle neben ihm saß.
Baron Adrian rechnete eilig nach, und siehe, an diesem Tage saßen sechs Mädelchen am Tische! Aha, man hatte den Jungen in Mädchenkleider gesteckt! Das war ja ganz natürlich. In den Lumpen, die er beim Kommen angehabt, hätte er nicht erscheinen können, und auf Hedeby gab es ja nichts als Mädchenkleider. Aber das Haar, das lockige Haar hätte man wahrhaftig nicht in zwei Zöpfchen zu flechten brauchen, die genau wie bei seinen eigenen Töchtern um die Ohren bammelten.
»Hättest du nicht ein Paar Hosen beim Verwalter entlehnen können, damit der Junge nicht wie eine Vogelscheuche auszusehen braucht?«
»O doch«, erwiderte die Baronin, und ihre Stimme klang ebenso beherrscht wie gewöhnlich, ohne eine Spur von Spott oder Schadenfreude. »Ja, ich denke, das hätten wir schon können, aber jetzt ist sie so angezogen, wie es sich für sie gehört.«
Baron Adrian sah seine Frau, sah die Kinder an, und dann richtete er seine Augen wieder auf seine Frau.
»Ich fürchte, Göran hat dir wieder einen Possen gespielt«, sagte die Baronin.
Und wieder zeigte sich keine Veränderung in ihrer Stimme, kein Blitzen in ihren Augen, die verraten hätten, daß sie in dieser Sache anderer Meinung sei als ihr Ehegatte.
Und das war sie ja auch nicht. Sie dachte gewiß, Göran habe sich schändlich betragen und von seiner gewöhnlichen Bosheit einen neuen Beweis geliefert. Wenn sich auf dem Grund ihrer Seele etwas anderes rührte, dann geschah es ganz gegen ihren Willen.
Aber wenn nun ein Mensch als Türvorleger erschaffen worden ist, auf dem alle Tage herumgetreten wird, dann hilft alles nichts, dieser Vorleger empfindet eine kleine Bewegung von Befriedigung, wenn der, der am härtesten auf ihn tritt und überdies die schärfsten eisernen Nägel an den Absätzen hat, einmal einen kleinen unfreiwilligen Purzelbaum macht.
Und als die Baronin sah, wie ihr Mann die Stirn runzelte, wie er die Fleischplatte, die ihm die Dienerin eben anbot, zurückwies, als ob ihm das Malheur den Appetit geraubt hätte, da fing ihr Körper an zu zittern, obgleich das Gesicht unbeweglich blieb. Später fragte sie sich oftmals, wie es wohl der alten Tante mitsamt der Erzieherin und den sechs Töchtern gegangen wäre, wenn ihr Mann nicht mit einem derben Fluche vom Stuhl aufgesprungen und eilends zum Zimmer hinausgelaufen wäre? Sie selbst hätte nicht länger ernst bleiben können. Sie mußte lachen, und ebenso erging es den andern auch. Alle mußten sich in ihren Stühlen zurücklehnen und lachen, lachen.
Sie lachten laut und jubelnd, das eine lauter als das andere, aber gleichzeitig schämten sie sich auch. Es war ja gar nicht recht, so über den zu lachen, der der Vater, Gatte und Hausherr war. Sie waren sittsam und wohlerzogen und tadelten sich selbst im höchsten Grade. Aber dieses Lachen kam aus der innersten Tiefe ihrer Natur; wenn sie nicht ersticken wollten, konnten sie es nicht zurückhalten.
Es war ein großer Aufruhr. Während einiger Minuten warfen sie alles ab, was niederdrückte und erstickte. Sie fühlten sich frei und überlegen und glaubten, sie würden sich nun nie mehr so unterdrückt und eingeschüchtert vorkommen wie früher, weil sie über den Unterdrücker hatten lachen können. Während sie über ihn lachten, verlor er seine furchterregende Größe und wurde ein kleiner gewöhnlicher Mensch wie sie selbst. Sie begriffen nicht, warum sie an den anderen Tagen einen so grausigen Respekt vor ihm empfanden.
Und die Baronin, die von Baron Adrian immer als von dem besten Ehemann und von sich selbst als von der glücklichsten unter den Frauen sprach, die Baronin, die niemals einem Fremden, ja nicht einmal der Tante oder der Erzieherin die allergeringste Bemerkung über das Benehmen ihres Mannes erlaubte, sie gelobte sich selbst, falls Göran ihr je wieder in den Weg kommen sollte, dann wolle sie versuchen, zum Dank für diesen fröhlichen Augenblick irgend etwas für ihn zu tun.
Am nächsten Tage jedoch, als der Zigeunerbaron auf den Propsteiwiesen in einem Graben erfroren aufgefunden und kalt und steif nach Hedeby gefahren worden war, da hatte sie jedenfalls keinen Finger gerührt, um ihm die Teilnahme zu bezeigen, die sie während weniger flüchtiger Minuten für ihn gefühlt hatte. Baron Adrian hatte das Begräbnis ganz vollständig nach seinem eigenen Gutdünken, ohne den allergeringsten Widerspruch von ihrer Seite, anordnen dürfen.
Baron Adrian bestellte Sterbekleid und Sarg und ließ das Familiengrab öffnen. Mit dem Pfarrer in Bro vereinbarte er den Tag für die Beisetzung, und er fuhr auch mit einigen seiner Untergebenen nach dem Kirchhof, um dem Begräbnis beizuwohnen.
Aber mehr tat er nicht.
Er erlaubte nicht, daß man auf Hedeby die Fenster mit weißen Tüchern verhängte, nicht, daß man Tannenzweige auf den Weg streute, nicht, daß sich die Baronin und die Töchter in Schwarz kleideten. Er lud keinen von den vornehmen Herren im Bezirk ein, mit im Leichenzug zu gehen, bestellte keinen Leichenkonvent und hielt auch kein Leichenmahl in seinem Hause.
Im ganzen Broer Bezirk gab es keinen einzigen Menschen, der nicht über Göran Löwenskölds Tod froh gewesen wäre. Von nun an würde es nicht mehr geschehen, daß er die Herren auf dem Brobyer Jahrmarkt anpackte und auf die Schulter klopfte, sie mit »du« und »mein lieber Freund« anredete, nur weil er einstmals ihr Schulkamerad in Karlstadt gewesen war. Es war ein angenehmer Gedanke, daß es ihm nun nie mehr einfallen konnte, eine schöne, gute, goldene Uhr gegen eine zerbeulte Zwiebel eintauschen zu wollen oder auch eine prächtige vierjährige Stute gegen eine alte Schindmähre. Ja, gewiß war es schön, daß er fort war. Solange er lebte, war man nie sicher, was ihm plötzlich einfallen könnte, oder auf welche Art von Rache er verfallen würde, falls man sich weigerte, seinen Forderungen nachzukommen.
Aber wie es auch sein mochte, jedenfalls dachte jetzt der ganze Broer Bezirk, Baron Adrians Verhalten beweise eine allzu große Rachsucht. Man sagte, wenn Baron Göran auf solche Weise ums Leben gekommen sei, hätte der Bruder seinen alten Groll vergessen und ihn mit Pracht und Ehren zu Grabe geleiten sollen.
Eigentlich tadelte man indes die Baronin fast noch mehr als ihren Gemahl, weil man von einer Frau mehr Barmherzigkeit erwartet hätte. Man bedenke doch nur, nicht einmal eine Blume hatte sie auf den Sarg gelegt! Man wußte doch, daß die große Kalla im Speisesaal auf Hedeby gerade um diese Zeit blühte, und nichts paßt besser für einen Toten, als ihm auf seine letzte Fahrt eine Kallablüte mitzugeben! Aber das war nicht geschehen. Was sollte man dazu sagen? War es nicht beinahe unmenschlich, für den Schwager nicht einmal eine Kallablüte opfern zu können?
Viele meinten auch, man hätte Baron Görans Frau von dem Tode ihres Mannes benachrichtigen sollen, und man fragte sich, ob denn die Baronin nicht daran erinnert habe? Und für das kleine Mädchen, Baron Göran Löwenskölds liebstes Kind, hätte sie jedenfalls ein Trauerkleid anfertigen lassen müssen. So untertänig ihrem Manne und so voller Angst vor ihm konnte sie doch wohl nicht sein, daß sie nicht eine Nähterin ins Haus zu nehmen wagte, um dem vaterlosen Kinde ein passendes Kleid zu verschaffen.
Die Baronin von Hedeby war, wie überall bekannt, eine sehr kluge Dame, die wohl wußte, was sich gehörte. Und sie hätte es ja als eine Pflicht betrachten sollen, ihren Mann zurechtzuweisen, wenn er sich verkehrt benahm. Aber diesmal merkte man davon nichts.
Der schmutzige Zigeunerschlitten mitsamt den Bündeln und Lumpen, mit den Verzinnungsgeräten und den Branntweinfäßchen und den fettigen Kartenspielen, sowie das kleine Nordlandpferd, das neben seinem toten Herrn stehengeblieben war, bis Leute herbeikamen und den Toten aus dem Schnee herausgruben, hatte man natürlich nach Hedeby gebracht. Der Schlitten war in einen Schuppen und das Pferd in den Stall gestellt worden, und ausgenommen, daß man das Pferd mit Futter und Wasser versorgte, hatte sich niemand um diesen Teil von des Zigeunerbarons Hinterlassenschaft gekümmert. Am Tage nach dem Begräbnis sollte indes auf Befehl des Baron Adrian das Pferd beschlagen werden und eine extra Futterration bekommen. Nun sollte es also auf eine längere Reise geschickt werden, das konnte man merken.
Zu jener Zeit befand sich auf Hedeby ein Verwalter, der in einem der nördlichen Kirchspiele von Wärmland, wo das umherziehende Zigeunervolk seine Winterquartiere hatte, geboren und aufgewachsen war. Er kannte auch die Zigeunerfamilie, in die Baron Göran hineingeheiratet hatte, und wußte, wo deren Unterschlupf war. Diesem Verwalter gab Baron Adrian nun den Auftrag, das gelbe Pferd mitsamt dem Karren und allem, was darauf war, zu der Familie zurückzubringen und die Frau des Baron Göran von dem Todes ihres Mannes zu benachrichtigen.
Die Absicht des Barons war, nicht allein den Schlitten, das Verzinnungsgerät, die Kartenspiele und all das andere Lumpenzeug zurückzuschicken, nein, der Verwalter sollte zugleich auch die kleine Nichte mitnehmen. Sie hatte kein Recht, auf Hedeby zu sein. Sie sollte zu den Leuten zurück, woher sie gekommen war.
Am Tag nach dem Begräbnis teilte also Baron Adrian seiner Gattin mit, das Kind werde am nächsten Tage fortgeschickt. Zugleich sagte er auch, man solle ihm dieselben Lumpen anziehen, die es bei der Ankunft angehabt habe. Dann fügte er noch ein paar Worte hinzu, die ihr kundtaten, er nehme an, daß sie, die Baronin, froh sein werde, wenn sie das Zigeunerbalg nicht länger im Hause zu haben brauche. Die Baronin erwiderte kein Wort. Sie erhob keinen Widerspruch gegen das Fortbringen des Kindes. Sie stand nur auf, um in das Kinderzimmer zu gehen und der Kinderfrau Bescheid zu sagen.
An diesem ganzen Tage jedoch war bei der Baronin eine sonderbare Unruhe wahrzunehmen. Sie konnte nicht stillsitzen, sondern ging beständig von einer Beschäftigung zur andern über, und sie bewegte fortwährend die Lippen, obgleich kein Laut aus ihrem Munde kam.
Öfters als für gewöhnlich schien sie an diesem Tage in das Kinderzimmer zu gehen, wo sie dann ganz still das fremde Kind beobachtete. Das kleine Mädchen stand, solange es noch annähernd hell war, am Fenster und spähte auf die Allee hinaus. Das hatte es alle die Tage her getan, seit es nach Hedeby gekommen war. Es stand am Fenster und wartete auf seinen Vater, der kommen sollte, um es abzuholen. Es war scheu und fremd und machte sich nicht viel daraus, mit den andern Kindern zu spielen. Sicherlich wäre es ihm kein großer Kummer, wenn es Hedeby wieder verlassen müßte.
Als es Nacht wurde und die Baronin neben ihrem Mann in dem breiten Bette lag, war sie noch immer von derselben Unruhe beherrscht und konnte nicht einschlafen. Sie sagte sich, nun sei sie an der Grenze angekommen, jetzt müsse sie sich ihrem Manne widersetzen. Was er jetzt im Sinne hatte, war etwas, das nicht geschehen durfte.
Die Baronin war sich ganz klar darüber, daß Baron Göran absichtlich sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, damit seine Tochter auf Hedeby bleiben dürfe. Er hatte dieses Kind geliebt, und so war er von dem Wunsche erfaßt worden, es möchte in einem guten Heim aufwachsen und so ein tüchtiger Mensch aus ihm werden. Er hatte sich gedacht, es solle seinem Stande entsprechend erzogen werden und sich mit einem vornehmen Herrn verheiraten; dieses Kind sollte kein Zigeunerweib werden und auf einem Zigeunerwagen, fluchend und schreiend und von fluchenden, schreienden Zigeunerkindern umgeben, im Lande umherziehen. Um all dies zu erreichen, hatte Baron Göran sein Leben als Bezahlung hingegeben. Er hatte begriffen, daß so viel dazugehörte; aber er hatte sich den Kosten nicht entzogen, sondern hatte bezahlt.
Begriff ihr Mann wohl, was der Bruder gewollt hatte? Es war wohl möglich, daß er es begriff, aber er machte sich jetzt ein Vergnügen daraus, dem Bruder das zu verweigern, was dieser mit seinem Leben hatte bezahlen wollen. Und das mußte nun sie, seine Frau, ihm verbieten.
Sie mußte es so sagen, daß er auf sie hörte. Mit Kraft und Überlegenheit mußte sie sprechen. Er durfte die Nichte nicht fortschicken. Es wäre ein Unrecht, ja, es wäre eine Tat, die Strafe nach sich ziehen würde. Bis jetzt hatte sie ganz geschwiegen. Sie hatte ihn das Begräbnis so einrichten lassen, wie er es wollte; sie hatte sich ganz zurückgehalten, denn all das war ja eigentlich von keiner Bedeutung.
Sie dachte daran, wie der Schwager niedergeduckt auf dem Schlitten saß, als er vom Herrenhofe wegfuhr. Sie suchte sich seine düsteren Todesgedanken vorzustellen, als er im Schneegestöber dahinjagte. Könnte man sich denken, ein solcher Mann fände Ruhe in seinem Grabe, wenn ihm das verweigert wurde, was er mit seinem Opfer hatte gewinnen wollen? Hier auf Hedeby wußte man wohl, daß ein Toter Macht hatte, sich zu rächen.
Sie mußte reden. Es ging nicht an, einem Toten den Gehorsam zu verweigern. Wie er auch immer im Leben gewesen war, jetzt hatte er sich das Recht verschafft, daß ihm gehorcht wurde.
Sie ballte ihre Hände und schlug ihren eigenen Körper zur Strafe für ihre Feigheit. Warum weckte sie ihren Mann nicht? Warum redete sie nicht mit ihm?
Sie hatte geahnt, was ihr Mann im Sinne hatte, und so hatte sie eine kleine Gegenmaßnahme getroffen. Schon an dem Tage, wo Baron Göran tot aufgefunden worden war, hatte sie seine kleine Tochter zu einem Krankenbesuch in einer armen Kätnerhütte, wo drei Kinder an den Masern krank lagen, mitgenommen. Ihre eigenen Töchter hatten die Krankheit schon gehabt; sie wußte allerdings nicht, ob das fremde Kind sie auch schon gehabt hatte, aber sie hoffte, es werde nicht so sein. Seither hatte sie nun jeden Tag das Kind beobachtet und nach den Anzeichen der Krankheit ausgespäht; aber bis jetzt hatten sich solche noch nicht gezeigt. Im übrigen wußte sie wohl, daß die Krankheit nicht vor dem elften Tage ausbrach, und jetzt war man erst beim achten angekommen.
So schob sie die Aussprache mit ihrem Manne auf, von Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde, aber nun begann sie zu fürchten, sie werde schließlich überhaupt nicht mehr den Mut dazu finden.
Aber wer war sie denn? Warum war sie so jämmerlich feig? Was könnte ihr eigentlich geschehen, wenn sie redete? Ihr Mann würde sie nicht schlagen, das kam ganz und gar nicht in Frage.
Aber ach, er hatte die Gewohnheit, ganz über sie wegzusehen, sich gar nicht darum zu kümmern, was sie sagte! Mit ihm zu sprechen, war für sie so viel, als sich hinstellen und an einen Eisblock hinzupredigen.
Und noch eine Sorge hatte die Baronin, die sie im höchsten Grade beunruhigte. Im vorigen Jahre war ihr Mann auf einer Gesellschaft in Karlstadt mit Charlotte Löwensköld, einer entfernten Verwandten, die mit dem Kommerzialrat Schagerström verheiratet war, zusammengetroffen. Charlotte und Baron Adrian waren alte Bekannte von der Zeit her, wo sie mit seinem Vetter Karl Artur Ekenstedt verlobt gewesen war, ja, sie hatte überdies einmal mit ihrem Bräutigam einen Besuch auf Hedeby gemacht. Auf jener Gesellschaft hatten sich Charlotte und Baron Adrian ganz vertraulich unterhalten, und Baron Adrian hatte dabei so sehr beklagt, daß er lauter Mädchen, aber keinen Sohn habe. Da hatte Charlotte ihn gefragt, ob er ihr nicht eines von den Töchterchen überlassen wolle, denn sie habe gar kein Kind daheim. Sie habe zwar ein Töchterchen gehabt, das aber leider gestorben sei.
Natürlich war der Baron mehr als gerne auf diesen Vorschlag eingegangen, und Charlotte hatte gesagt, sie wolle mit ihrem Manne sprechen und hören, was er zu diesem Plane sage. Kurz nachher traf auf Hedeby eine schriftliche Anfrage ein, ob der Baron und die Baronin wirklich bereit wären, eines ihrer Töchterchen Schagerströms zu überlassen, die es an Kindes Statt annehmen wollten. Der Baron hatte sofort mit Ja geantwortet. Er hatte es nicht einmal für nötig gehalten, zu fragen, ob seine Frau möglicherweise anderer Ansicht sei. Es war ja selbstverständlich, daß ein solches Anerbieten von der reichsten Familie in ganz Wärmland nicht zurückgewiesen werden konnte. Das Kind würde wie eine Prinzessin aufwachsen, und unermeßliche Vorteile konnten durch eine so nahe Verbindung mit einem solch mächtigen Manne gewonnen werden.
Die Baronin hatte auch keine direkten Einwendungen gemacht, aber sie hatte versucht, die Sache etwas auf die lange Bank zu schieben. Charlotte wollte selbst nach Hedeby kommen, um dasjenige von den kleinen Mädchen auszuwählen, das ihr am besten gefiel; aber diese Reise war nun schon gut ein halbes Jahr hinausgeschoben worden. Und die Verzögerung beruhte zum größten Teil auf der Frau Baronin. Sie hatte geschrieben, sie habe gerade Kleiderstoff auf dem Webstuhl und möchte den am liebsten fertig und zu Anzügen verarbeitet haben, damit ihre Töchterchen etwas Hübsches anzuziehen hätten, wenn Charlotte komme, um sie sich anzusehen. Als Charlotte zum zweiten Male kommen wollte, hatten die Kinder die Masern, und so mußte der Besuch abermals verschoben werden. Jetzt hatte die Baronin schon recht lange nichts mehr von Charlotte gehört, und so hatte sie im stillen gehofft, die reiche Frau, die in ihrem großen Hause so vielerlei vorzustehen habe, werde die ganze Sache vergessen haben.
Aber nach dem Besuch von Baron Göran und dessen jähem Tode hatte die Baronin an Charlotte geschrieben und sie um ihren Besuch gebeten; jetzt wolle sie ihr eines von ihren Töchterchen abtreten. Es war ein Opfer, das sie ihres Mannes wegen brachte. Sie dachte, wenn sie ihm hierin entgegenkomme, könne sie dafür von ihm verlangen, das fremde Kind im Hause behalten zu dürfen.
Nun hatte indes dies alles gar nichts genützt. Ihr Gatte war ihr zu rasch vorangegangen. Die Masern waren nicht ausgebrochen. Charlotte war nicht gekommen. In einigen Stunden sollte das Kind fortgeschickt werden. Da lag sie in ihrem Bett und rechnete aus, wie weit es von Hedeby nach Groß-Sjötorp war. Ach, ihr Brief konnte wohl nur gerade angekommen sein! Und schrecklich kalt war es geworden, seit das Schneegestöber aufgehört hatte. In einem solchen Wetter würde Charlotte gewiß die Fahrt nicht unternehmen. Die ganze Nacht hindurch hörte sie, wie die Wände vor Kälte krachten, wie wenn jemand mit einer schweren Keule darauf schlüge.
Warum war sie nur so schrecklich feig? Warum sprach sie nicht mit ihrem Manne, ehe es zu spät war? Endlich hörte sie, wie sich jemand in der Küche bewegte. Die Köchin machte Feuer im Herd und rasselte mit den Kesseln. Vom Kinderzimmer her drangen auch schwache Laute an ihr Ohr. Ach ja, die Kinderfrau stand jetzt auf, um dem Zigeunerkind seine alten Lumpen anzuziehen.
Die Baronin sprach ein paarmal ihres Mannes Namen aus, durchaus nicht laut, aber ganz deutlich. Er bewegte sich auch ein wenig, schlief jedoch weiter. Wäre er aufgewacht, dann hätte sie vielleicht gesprochen, aber noch einen Versuch machen, ihn zu wecken, das überstieg ihre Kräfte. Jetzt hörte sie, wie die Küchentür aufgemacht wurde. Es mußte schrecklich kalt draußen sein; als die Tür sich in ihren Angeln drehte, konnte man es im ganzen Hause hören. Da kam nun gewiß der Verwalter, der das Kind holen wollte.
Gleich darauf öffnete das Zimmermädchen einen Spalt an der Tür, schaute herein und fragte, ob der Herr Baron oder die Baronin wach sei?
Baron Adrian setzte sich sofort im Bett auf und fragte noch schlaftrunken, um was es sich handle.
»Der Verwalter ist da«, sagte das Mädchen. »Er trug mir auf, dem Herrn Baron zu sagen, daß es heute furchtbar kalt sei und er sich nicht hinauswage. Er sagt, als er den Stallschlüssel angefaßt habe, sei ihm die Haut daran hängengeblieben. Bei ihm drüben seien heute nacht Brot und Butter festgefroren, und das Eis auf dem Wassereimer habe er mit einer Axt einschlagen müssen, so stark sei es gewesen. Und er sagt auch, wenn es hier schon so kalt sei, dann sei es da droben im Norden, wohin er fahren solle, noch viel schlimmer.«
»Komm mit deinem Wachsstock her, damit ich das Licht anzünden kann!« befahl Baron Adrian dem Zimmermädchen.
Das Mädchen kam herein und zündete das Talglicht auf dem Nachttischchen an. Der Baron stieg aus dem Bett, hüllte sich in seinen Schlafrock und trat ans Fenster, um nach dem Thermometer zu sehen. Das ganze Fenster war mit dickem Reif wie mit einem Fell bedeckt, nur gerade vor dem Thermometer war noch ein Streifchen helles Glas. Der Baron schaute nach dem Quecksilber in dem Röhrchen; aber es war vollständig verschwunden, war ganz in die Kugel hinabgekrochen. Baron Adrian ließ das Licht vor dem Thermometer hinauf- und hinabgleiten. »Es muß wahrhaftig mehr als vierzig Grad Kälte haben«, murmelte er.
»Der Verwalter sagt, er selbst könne es schon aushalten, wenn der Herr Baron die Fuhre durchaus forthaben wolle«, sagte das Zimmermädchen; »aber bei so einer Winterkälte wolle er kein Kind mit auf dem Schlitten haben.«
»Sag ihm, er soll sich zum Teufel scheren!« schrie der Baron, und dann zog er sich die Decke dicht über die Ohren herauf. Das Mädchen blieb stehen. Sie war unsicher, was dieser Befehl bedeuten sollte, doch die Baronin gab eine Erklärung.
»Der Baron meint, du solltest dem Verwalter sagen, er brauche die Fahrt nicht zu machen, solange diese Kälte anhält. Und du kannst auch ins Kinderzimmer gehen und Martha sagen, daß das Kind nicht fortgebracht wird.«
Die Stimme der Baronin war ebenso beherrscht wie sonst auch. Nichts verriet die ungeheure Erleichterung, die sie fühlte.
Die Kälte hielt an. Weder an diesem Tage noch am nächsten konnte man das Kind fortschicken. Aber gegen Abend des dritten Tages trat ein Umschlag ein. Und sofort sagte der Baron streng, das Kind müsse nun am nächsten Morgen aus dem Hause.
Die Baronin ließ keinen direkten Widerspruch laut werden, aber sie machte doch ein paar Andeutungen, daß das Kind an diesem Tage und auch schon am vorhergehenden etwas sonderbar ausgesehen habe; sie fürchte, die Kleine sei nicht ganz gesund.
Baron Adrian sah seine Frau kalt an.
»Es nützt alles nichts«, sagte er, »dieses Kind darf nicht in meinem Hause bleiben. – Meinst du, ich sei so verliebt in Mädchen, daß ich noch für ein weiteres zu sorgen wünsche?«
Als aber die Baronin nach dem Abendbrot ins Kinderzimmer kam, um nach der Kleinen zu sehen, lag das fremde Mädchen rot und erhitzt im Bett und hustete in einem fort.
»Ach, Frau Baronin, ich glaube bestimmt, daß die Kleine die Masern bekommt«, sagte die Kinderfrau.
Und die Baronin mußte zustimmen, daß es bei ihren Töchterchen genauso angefangen habe, als sie im letzten Herbst die Masern bekommen hatten.
»Das ist aber doch zu schlimm«, sagte sie. »Mein Mann hat soeben befohlen, daß sie morgen früh nach Hause gebracht werden solle.«
Sie überlegte einen Augenblick, dann schickte sie die Kinderfrau zu ihrem Manne und ließ ihn bitten, doch einen Augenblick ins Kinderzimmer zu kommen, vielleicht könne er herausbringen, was dem fremden Kinde fehle.
Der Baron kam; er verstand sich zwar nicht besonders auf Krankheiten, aber daß es mit der kleinen Nichte nicht ganz richtig war, das mußte er jedenfalls zugeben. Übrigens zweifelte er durchaus nicht daran, daß es die Masern waren, denn es sah ja wahrhaftig aus, als ob er das Zigeunerbalg nie mehr loswerden könnte.
Und das Kind bekam wirklich die Masern. Mochte der Baron nun argwöhnen oder nicht argwöhnen, seine Frau habe die Hand mit im Spiele gehabt, um dem Kinde eine ungefährliche Krankheit zu verschaffen, so war er jedenfalls jetzt gezwungen, die Kleine noch eine Woche im Hause zu behalten, und so geriet er in eine furchtbar schlechte Laune. Zum Glück für den Hausfrieden auf Hedeby traf jedoch bald ein Brief ein, der ihm aus seiner Mißstimmung heraushalf. Charlotte Löwensköld meldete, sie werde, wenn die gute Schlittenbahn sich noch länger halte, Mitte März ihre Reise nach Hedeby antreten, am sechzehnten oder siebzehnten dürfe man sie erwarten.
Der Baron ging jeden Tag selbst ins Kinderzimmer und sah nach, ob das fremde Mädchen noch zu Bett lag; denn danach urteilte er. Und die Baronin, die wohl sah, daß das Kind die Krankheit nur sehr leicht bekommen und sich auch schon geschält hatte, fand es sehr schwierig, die Kleine noch im Bett zu halten, und die Kinderfrau meinte allmählich auch, das Kind könne jetzt recht wohl Kleider anziehen und auf sein. Die Baronin konnte die Kinderfrau nur schwer überzeugen, daß das Kind noch einige Tage ruhig zu Bett liegen müsse.
Es war ihr eine unbeschreibliche Erleichterung, als sie am Nachmittag des sechzehnten März Charlottens Schlitten in den Hof hereinfahren sah. Die Reisende wurde so freundlich empfangen, so umarmt und geküßt, daß sie sich etwas zu verwundern schien. Sie hatte wegen des beständigen Hinausschiebens ihres Besuchs vielleicht den Verdacht geschöpft gehabt, die Baronin betrachte sie als einen Dieb, der komme, um sich des Hauses kostbarstes Gut anzueignen.
Die fünf kleinen Fräulein Löwensköld wurden gewaschen, bis die rosigen Gesichter von Seife glänzten, und gekämmt, bis jedes einzelne Haar dicht am Kopfe wie angeklebt war und die kleinen harten Zöpfe in runden Ringen an den Ohren hinausstanden. Sie mußten ihre im Hause gewobenen und genähten wollenen Kleider und die bastenen, daheim verfertigten Stiefel anziehen. Die Baronin betrachtete sie mit wahrem Mutterstolz, als sie die Schar in den Salon führte. Sie dachte, es seien die süßesten Mädelchen, die es auf dieser Seite des Weltalls gebe.
Alle waren gesund und wohlgebildet und wohlerzogen, davon war sie überzeugt, und nicht ohne lebhafte Erwartung trat sie mit der ganzen langen Reihe hinter sich zu Charlotte in den Salon.
Charlotte ließ ihren Blick rasch von einem Kinde zum andern gleiten, und sie beherrschte sich vollkommen, war lauter Freundlichkeit und Sonnenschein, reichte den Mädelchen einem nach dem andern die Hand und fragte, wie sie hießen und wie alt sie seien.
Aber so großes Entzücken, wie die Baronin erwartet hatte, legte sie doch nicht an den Tag.
Vielleicht tauchte in Charlottes Erinnerung die vornehme und veredelte Schönheit der Frau Oberst Ekenstedt auf, vielleicht dachte sie an ihre Schwester Marie Luise, ja, vielleicht auch an ihr eigenes Kind, und deshalb fiel es ihr etwas schwer, zu begreifen, daß diese kleinen Mädchen hier den Namen Löwensköld trugen.
Alle waren artig, gesund und fröhlich, das sah Charlotte sofort, und sie würden gewiß auch vortreffliche Menschen und Hausfrauen werden, gerade wie ihre Mutter, der sie aufs Haar genau glichen. Wie die Mutter waren die Kinder auch rothaarig, von kleiner, untersetzter, rundlicher Gestalt mit etwas kurzen breiten Händen. Alle fünf waren nach ein und derselben Form gegossen, mit runden Wangen, Stumpfnasen und blauen Augen, und wenn sie erwachsen waren und dann nicht mehr von verschiedener Größe, konnte man wohl kaum mehr die eine von der andern unterscheiden.
Charlotte, die zur Zeit dreißig Jahre alt war, stand noch in ihrer vollen Blüte. Die Baronin fand sie jetzt bei weitem schöner als bei ihrem damaligen Besuch auf Hedeby als junge Braut. Elegant und von feiner Lebensart war sie überdies auch, und die Baronin hatte vielleicht ein leises Gefühl, daß ihre Töchter nicht recht in Charlottes jetzige Umgebung paßten. Aber sie wies diesen Gedanken zurück, denn davon war sie fest überzeugt, auf welchen Platz man ihre Töchter auch stellen würde, sie würden ihn in aller Einfachheit gut ausfüllen.
So ungefähr dachte Charlotte auch. Sie fragte sich, ob sie sich wohl daran gewöhnen könnte, ein Bauernmädchen, ein kleines häßliches, ungraziöses Bauernmädchen, neben sich in ihrem Hause zu haben, selbst wenn dieses Mädchen ein wahrer Tugendspiegel wäre.
Charlotte war durchaus nicht eingebildet oder aufgeblasen, Gott bewahre, das konnte ihr niemand nachsagen. Und sie wußte auch Menschen nach ihrem Werte zu schätzen. Sie sagte sich, wenn sie eines von diesen artigen, rothaarigen kleinen Mädchen zu sich nähme und ihm eine rechte Liebe zu ihr, der Pflegemutter, einflößte, dann bekäme sie eine Freundin, die ihr niemals untreu würde. Niemals würde diese an sich selbst denken und bis ins späte Alter bei ihr bleiben, denn verheiraten würde sie sich bei ihrer Häßlichkeit natürlich nicht können.
In aller Eile nahm sie ihre Vernunft zu Hilfe und beglückwünschte sich dazu, ein kleines häßliches Geschöpf als Pflegetochter zu bekommen. Das war eine wahre Gnade der Vorsehung. Wenn sie selbst hätte anordnen dürfen, hätte sie sich gewiß eine kleine Schönheit gewählt, die dann verzogen und empfindlich geworden und nur auf ihr eigenes Wohlergehen bedacht gewesen wäre.
Oh, Charlotte gehörte nicht zu denen, die es schwer fanden, mit groß oder klein gut Freund zu werden, und schon nach ein paar Augenblicken hatte sie die fünf Löwensköldschen Mädchen ganz für sich gewonnen. Alle die zehn blaßblauen Augen hingen an ihren Lippen, alle die kleinen Hände schmiegten sich in die ihren, sobald sie nur dazu kommen konnten. Sie fühlte, welches von ihnen sie auch als Pflegekind wählte, es würde ihr folgen, ohne Murren und ohne Bedenken.
Die treuherzige Art, mit der diese Kinder ihre Fragen beantworteten, gefiel Charlotte sehr gut; ja, sie machten den allerbesten Eindruck auf den Gast, sie waren wirklich sehr nett und drollig.
Alles ging genau, wie es gehen sollte. Baron Adrian saß den ganzen Abend mit im Salon und zeigte sich dem Gaste gegenüber von seiner liebenswürdigsten Seite, und die Baronin versuchte auch froh auszusehen, da es ja den Anschein hatte, als ob ihr Opfer angenommen würde.
Die fünf kleinen Fräulein waren durchaus nicht aufdringlich; aber sie hielten sich die ganze Zeit in Charlottes Nähe, verschlangen sie mit den Augen und warteten auf ein freundliches Kopfnicken oder ein Lächeln. Sie war erfreut über diese Bewunderung, aber sie fand es sonderbar, daß sie durchaus nicht das Gefühl hatte, als ob sie mit ihnen verwandt wäre.
Während man beim Abendbrot saß und Charlotte immer noch die fünf rothaarigen Köpfchen vor sich hatte und die fünf Paar blaßblauen Augen starr auf sich gerichtet sah, wurde sie von einem geheimen Schrecken erfaßt. Wie, wenn sie etwas allzu Schweres auf sich nähme? Wie, wenn sie es auf die Dauer nicht ertragen könnte? Wie, wenn sie gezwungen wäre, das Kind zu seinen Eltern zurückzuschicken, weil es zu häßlich war? Sie fand diese Sorge zwar recht übertrieben, beschloß aber jedenfalls, ein wenig vorsichtig zu sein und ihre Wahl nicht gleich am ersten Tage zu treffen, sondern bis morgen zu warten.
Gerade als die Familie die Mahlzeit fast beendet hatte, ertönten aus einem nahe liegenden Gemach ein paar laute Lachsalven. Charlotte sah etwas überrascht aus, und die Baronin beeilte sich, eine Erklärung zu geben. Ihr Mann habe die Küche aus dem Flügel, wo sie vorher gewesen sei, in das Hauptgebäude herüber verlegt; und das sei ja auch ein großer Vorteil, obgleich man ab und zu bis in den Speisesaal herein Lärm und Geräusch von da zu hören bekomme.
Es wurde dann des langen und breiten über diese Veränderung gesprochen, und da die Mahlzeit zu Ende war, bot der Baron Charlotte den Arm und sagte, er wolle ihr zeigen, wie er den Umbau angeordnet und durchgeführt habe.
Sie gingen zuerst in die Küchenstube, und da erklärte der Baron, wie er hier eine Wand eingerissen und dort eine Mauer aufgeführt habe. Charlotte folgte gespannt seinen Worten, denn auf solche Dinge verstand sie sich ausgezeichnet.
Aber während sie noch darüber verhandelten, drangen die Lachsalven aus der Küche immer lauter herüber, und nun wurden alle miteinander von Neugierde erfaßt. Die kleinen Fräulein sprangen voraus und schlugen die Küchentür sperrangelweit auf, ohne daß sie jemand daran zu hindern suchte.
Auf dem großen Küchentisch stand ein vierjähriges Mädel im Hemd und Leibchen, aber ohne Röcke und Strümpfe. In der Hand hielt sie eine Peitsche, hergestellt aus einem Rührlöffel und einem Hanfwisch aus einem Wocken, und vor ihr auf dem Boden standen zwei Spinnrädchen, die sie schnalzend anfeuerte und mit der Peitsche traktierte, und so wurde sich jedermann sofort darüber klar, daß die Spinnräder zwei Paradepferde vorstellen sollten.
Und ebenso konnte man sich denken, daß es sich um ein Wettfahren durch das Volksgewimmel eines Jahrmarkts hindurch handelte. Durch Zurufe und Peitschenhiebe aufgestachelt, jagten die Pferde mit furchtbarer Eile dahin, und die Umstehenden stoben nach allen Seiten auseinander.
»Aus 'm Weg, Pej Osla! Aus 'm Weg, Bauernpack!
Da komm' ich! – Hab' keine Angst! Nit vorm Vogt, nit vorm Schütz!
Da komm' ich, der Zigeunerbaron!
O hei, hei, hei, jetzt ist Markt in Bro!
O hei, hei, hei, 's ist 'n lustig Leben!«
Die ganze Küche widerhallte von den muntersten Lachsalven. Aller Augen waren auf das Kind gerichtet, das mit glänzenden Augen und rosenroten Wangen da auf dem Tische stand.
Es war so in sein Spiel vertieft, daß man fast zu sehen meinte, wie das goldlockige Blondhaar im Winde flog. Man meinte, der ganze Küchentisch fahre wie ein schüttelnder, schwankender Zigeunerwagen durch das Jahrmarktgewimmel dahin.
Ja, da stand das Kind auf dem Tisch, wild und ausgelassen, voll Scherzhaftigkeit und Lebenslust. Alle in der Küche, von der Wirtschafterin bis zum Stallknecht, waren ganz aus dem Häuschen. Alle hatten ihre Arbeit liegenlassen, um die kühne Fahrt des Kindes zu verfolgen.
Und ebenso war es bei denen, die unter der Tür standen. Sie waren wie gebannt. Auch sie sahen, daß das Kind sicherlich nicht auf einem Tische stand, sondern auf einem hohen Wagen, auch sie sahen die Volkshaufen, die auseinanderstoben, und die Pferde, die mit wehenden Mähnen zwischen Marktständen und Fuhrwerken im Galopp daherjagten.
Wer zuerst zur Besinnung kam, war Baron Adrian. Er war mit seiner Frau übereingekommen, daß das Abenteuer mit dem Bruder bei Charlotte gar nicht erwähnt werden und sie das Zigeunerkind auch nicht zu sehen bekommen solle. Die Baronin hatte wie gewöhnlich zu allem ja gesagt und nur hinzugefügt, da die Kleine von den Masern noch nicht ganz hergestellt sei, werde sie natürlich im Kinderzimmer verbleiben.
Jetzt trat Baron Adrian ganz energisch vor und machte die Küchentür zu. Dann reichte er Charlotte den Arm, um sie in die Wohngemächer der Familie zurückzuführen.
Aber Charlotte blieb unbeweglich stehen, als ob sie den ihr angebotenen Arm gar nicht bemerkte.
»Was ist das für ein Kind?« fragte sie. »Und was ist das für ein Gesicht? Es muß ja in unsere Familie gehören?«
Sie umfaßte des Barons Arm mit hartem Griff, und es war fast, als klängen Tränen durch ihre Stimme, als sie fortfuhr:
»Vetter, du mußt mir sagen, ob sie in unsere Familie gehört. Ich habe das Gefühl, daß ich mit ihr verwandt bin.«
Baron Adrian wendete sich ab, ohne zu antworten. Seine Gattin war's, die Charlotte Auskunft gab.
»Es ist eine Tochter von Göran Löwensköld. Sie hat die Masern gehabt, und die Kinderfrau hat sie ohne Erlaubnis in die Küche herunter gelassen.«
»Du hast wohl von meinem Bruder, dem Zigeunerbaron, gehört?« sagte Baron Adrian mit harter Stimme. »Die Mutter des Kindes ist eine Zigeunerdirne.«
Aber Charlotte ging, wie wenn sie im Schlafe wandelte, auf die Küchentür zu, öffnete sie und trat mit ausgebreiteten Armen an den Tisch.
Das Zigeunerkind, das da droben stand und Pferdehändler spielte, warf einen Blick auf Charlotte, und da mußte das kleine Landstreichergehirn in der Fremden etwas entdeckt haben, das ihr gefiel. Sie warf die Peitsche weg, und mit einem verwegenen Sprung stürzte sie sich in Charlottes ausgebreitete Arme.
»Dich, dich will ich haben«, sagte sie, »dich, dich, dich!« Es war eine Rettung. Sie atmete auf.
Die Häßlichkeit, die erschreckende Häßlichkeit, gegen die sie den ganzen Abend angekämpft hatte, die Häßlichkeit, die sie nützlich und gut zu finden versucht hatte, die ließ sie nun dahingestellt sein. Was der Baron und die Baronin sagen würden, wußte sie nicht, aber dies hier war das Kind, das zu finden sie ausgezogen war.
Plötzlich wich sie erschrocken zwei Schritte zurück. Baron Adrian war mit rotunterlaufenen Augen und geballten Fäusten dicht auf sie zugetreten. Er sieht aus wie ein Stier, der mich auf die Hörner nehmen will, dachte sie.
Doch rasch trat die Baronin zwischen die beiden. Ihre Stimme klang ruhig und beherrscht wie gewöhnlich, aber sehr nachdrücklich.
»Wenn du dich um dieses Kind annehmen willst, Charlotte, werden mein Mann und ich dir außerordentlich dankbar sein.«
»Ich dankbar sein?« brach der Baron mit einem Hohnlachen los. Die Baronin vollendete mit einem sehr warmen Klang in der Stimme:
»Ich werde dir dankbar sein, weil ich dadurch keines von meinen geliebten Töchterchen hergeben muß; aber Adrian ist dir zu noch größerem Danke verpflichtet, weil du ihn daran hinderst, etwas zu tun, was er nachher sein ganzes Leben lang bereuen würde.«
Vielleicht war es die Wahrheit, die in den Worten seiner Frau lag, vielleicht aber war es reine Verwunderung darüber, daß sie es wagte, sich ihm zu widersetzen, was Baron Adrian den Mund verschloß. Er wendete sich rasch ab und verließ schweigend die Küche.