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An einem Vormittag saß Mamsell Jaquette wie gewöhnlich am Eckfenster im Kabinett ihrer Mutter und las aus den Studentenbriefen ihres Bruders vor.
Sie las sehr deutlich und sorgfältig und legte besonderen Nachdruck auf Ausdrücke wie »meine angebetete Mutter«, »meine zärtlichen Eltern« und »meine kindliche Verehrung und Dankbarkeit«, aber am meisten hob sie doch die Stellen hervor, die von Karl Arturs Bewunderung für die Talente seiner Mutter und ganz besonders für ihre Gedichte handelten. Solche Aussprüche las sie nicht nur ein-, sondern zweimal, weil auf den Wangen der Frau Oberst so schöne Rosen erblühten, wenn sie die starken Ausdrücke hörte, mit denen der Sohn seine Wertschätzung kundtat.
Nicht die geringste Unaufmerksamkeit oder Ermattung konnte bei Mamsell Jaquette wahrgenommen werden. Aber bisweilen hob sie die Augen vom Papier auf und las lange Stücke, ohne den geschriebenen Text anzusehen, gerade als könne sie das Ganze auswendig. Sie schaute hinaus auf den Klarelf, der breit und mächtig gerade vor dem Fenster dahinfloß, sie folgte mit ihrem Blick dem gleichmäßigen, über die Westbrücke ziehenden Menschenstrom. Marktbauern von Grava und Groß-Kil fuhren nach glücklich beendigtem Handel heimwärts. Schuljungen, denen die Bücher im Riemen über der Schulter baumelten, stürmten in der Mittagspause ihrem Heim zu; ab und zu kam auch ein herrschaftlicher Wagen mit flinken Pferden davor und einem stattlichen Kutscher auf dem Bock eiligst in die Bezirksstadt hereingefahren.
Mamsell Jaquette befand sich an diesem Tage in einer schwermütigen Stimmung. Sie dachte, wie doch so ganz ohne Abwechslung ihr Leben verfloß, ohne daß sie die Freuden und Sorgen wirklich lebender Menschen kennenlernte! Sicherlich machte sie sich nicht jeden Tag solche kummervollen Gedanken; aber manchmal wurde sie eben doch von Betrübnis über die Ereignislosigkeit und Leere ihres Lebens überwältigt.
Die Frau Oberst ließ ihre Augen auf ihrem Strickzeug ruhen und merkte gar nicht, daß der Blick ihrer Tochter auf den über die Brücke hinziehenden Menschenstrom gerichtet war. Alles ging auch ausgezeichnet weiter, solange Mamsell Jaquette den Faden ihres Textes nicht verlor. Doch mittendrin geriet sie in einen anderen Brief als den, woraus sie eben vorlas, hinein. Sie sprang plötzlich vom Herbstsemester zum Frühjahrssemester über, und da die Briefe sich sehr ähnlich waren, fuhr sie mit derselben Ausdauer, mit derselben Betonung fort, bis die Mutter zu weinen anfing und sagte, nun wolle sie selbst lesen. Jetzt habe ja Jaquette wieder sieben bis acht Briefe übersprungen. Sie gönne es ihr nicht, die Briefe zu hören, sondern wolle sich vor dem Vorlesen drücken. Und das sei ja auch gar nicht verwunderlich, denn sie habe nie eine richtige Liebe für den Bruder gehabt; das habe übrigens auch Eva nicht und nicht Evas Mann, Arcker, ja, nicht einmal Karl Arturs eigener Vater.
Die Mutter seufzte und weinte bitterlich über die Herzlosigkeit der Familie; aber Jaquette gab sich keine Mühe, sich selbst oder die anderen zu verteidigen. Sie klingelte der Haushälterin und bat um etwas Kompott und Backwerk, und darüber wurde die Frau Oberst so vergnügt, daß sie ihr ganzes Unglück vergaß. Aber kaum hatte sie den Löffel weggelegt, als sie auch schon Jaquette fragte, ob sie ihr die Freude machen wolle, ein Weilchen aus Karl Arturs Briefen vorzulesen? Sie seien so wunderschön, und es sei nun schon so lange her, seit sie nichts mehr aus ihnen gehört habe.
Da griff Mamsell Jaquette aufs neue nach dem Bündel Briefe, und wieder las sie sehr sorgfältig und ausdrucksvoll. Die Mutter saß fein und vornehm neben ihr und lauschte so andächtig, wie sie nun seit bald drei Jahren immer den gleichen Briefen gelauscht hatte.
Sie war sehr gut gekleidet und schön frisiert, und ihre Füße steckten wie immer in zierlichen Brokatschuhen. Aber sie war jetzt eine gelblichblasse, zusammengesunkene, kraftlose Matrone. Von dem Liebreiz, der diesem Antlitz zu eigen gewesen, sowie von dem Glanz der schönen Augen konnte man sich jetzt nur noch eine schwache Vorstellung machen. Die Frau Oberst war wie eine verblühte Rose; die letzten Blätter saßen zwar noch am Stiele, aber der kleinste Windhauch konnte sie vollends entblättern.
An diesem Vormittag jedoch war Mamsell Jaquette eine sehr mangelhafte Vorleserin. Die Frau Oberst befand sich eben in einem Kolleg von Atterbom und versuchte sich in der Philosophie der Romantik zurechtzufinden, als sie merkte, daß Jaquette zu stottern anfing, sich in einzelnen Worten irrte und wie geistesabwesend weiterlas. Wieder wurde die Mutter ganz betrübt und sagte, jetzt wolle sie selbst lesen, da Jaquette ja offenbar nichts daran liege, den Bruder auf seinen Studien zu begleiten, sondern nur am Fenster sitzen wolle und nach den jungen Herren, die drüben auf der Westbrücke Hüpfsteine warfen, Ausschau halte.
Ja, Jaquette hatte allerdings ihre Augen auf die Westbrücke geheftet, aber sie hatte nicht nach jungen Herren Ausschau gehalten. Was ihre Aufmerksamkeit gefesselt hatte, war ein Mädchen aus Dalarne, eine große, stattliche Erscheinung mit einem schwarzen Lederranzen auf dem Rücken, die schon eine gute Weile dort über das Brückengeländer vorgebeugt stand und ins Wasser hinunterstarrte.
Es ist nicht möglich, dachte Mamsell Jaquette. Aber ist es denn nicht dieselbe Kleidung? Ach, wenn sie doch nur endlich weitergehen wollte, anstatt sich dort so unbeweglich über das Geländer hinauszubeugen!
Trotz der Klagen der Mutter über das schlechte Vorlesen konnte Mamsell Jaquette es nicht lassen, immer wieder einen Blick auf die Person zu werfen, die dort unausgesetzt in das Wasser hinunterstarrte. Der große Fluß, der jetzt nach der Schneeschmelze ungeheuer viel Wasser hatte, nahm sich prächtig aus, wie er so unter dem Brückengewölbe hervorströmte. Aber wer hatte wohl je gesehen, daß sich eine arme Hausiererin die Zeit nahm, sich stundenlang an dem munteren Spiel der Wellen zu erfreuen?
Nein, das gefällt mir ganz und gar nicht, dachte Mamsell Jaquette. Es müßte jemand mit ihr reden und sie fragen, warum sie so lange dort stehe.
Sie überlegte auch schon, ob sie nicht ihre Mutter bitten solle, mit dem Vorlesen aufhören zu dürfen, um in dem herrlichen Frühlingswetter einen Spaziergang machen zu können; aber als sie wieder aufschaute, war die Hausiererin verschwunden.
Fast gegen ihren Willen richtete Mamsell Jaquette ihren Blick auf den Fluß hinunter, um zu spähen, ob nicht etwas Rot und Grünes zwischen dem weißen Schaum herumwirble? Glücklicherweise aber sah sie nichts Derartiges, und zu ihrer Mutter großer Freude war ihr Vorlesen während der nächsten Minuten vollkommen tadellos.
Doch leider, leider! Das Stottern und Stammeln setzte fast unmittelbar nachher wieder ein. Jaquette war an diesem Vormittag ganz unerträglich.
Ja, Mamsell Jaquette war aufs neue zerstreut. Jetzt lauschte sie auf Stimmen, die aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters, das im unteren Stockwerk gerade unter dem Kabinett der Frau Oberst lag, heraufdrangen.
Ganz deutlich hörte sie ihres Vaters brummigen Baß. Ob er infolge Überraschung oder Ärger so klang, konnte sie nicht wissen, aber ganz sichtlich tönte er tiefer als sonst. Zugleich meinte sie auch, eine weibliche Stimme zu vernehmen, die mit einem eigenen Tonfall stieg und sank.
Zur unsäglichen Bestürzung der Frau Oberst unterbrach Jaquette ohne jegliche Entschuldigung oder Erklärung jählings die Vorlesung von des Bruders wohlgesetztem und inhaltsreichem Bericht. Sie klingelte ganz einfach dem Zimmermädchen, bat sie, eine Weile bei ihrer Mutter zu bleiben, und verließ rasch das Kabinett.
Im nächsten Augenblick trat Jaquette in das Arbeitszimmer ihres Vaters und fand ihn im Gespräch mit seiner Schwiegertochter, der früheren Hausiererin Anna Svärd, einer Person, deren Namen man in dem Ekenstedtschen Hause seit jenem Unglückstage, wo die selige Frau Dompropst Sjöborg begraben wurde, nicht mehr auszusprechen gewagt hatte. Der Oberst saß, von seiner Schwiegertochter halb abgewendet, am Schreibtisch. An seiner Haltung konnte man deutlich erkennen, daß ihm der Besuch nicht willkommen war. Anna Svärd stand mitten im Zimmer; sie hatte den Kramsack abgestellt und war eben dabei, die Knoten und Schnallen aufzumachen, um ihn zu öffnen. Keines von den beiden ließ sich durch Jaquettes Eintreten im Gespräch stören.
»Erst wollt' ich grad'wegs heim nach Medstuby«, sagte Anna Svärd, »aber du begreifst woll, daß 's nit leicht wär', so ganz ohne 'nen Groschen im Sack zu meiner Mutter heimz'kommen. Da hab' ich den Umweg über Karlstadt g'macht, hab' g'meint, der Kaufmann Hoving soll mir War' auf Borg geb'n, nur grad so viel, als ich in mein'm Sack trag'n könnt. Hab' g'meint, er werd's wegen der alten Freundschaft tun, aber er hat nit g'wollt.«
Mamsell Jaquette, deren Kopf noch von dem erfüllt war, was sie droben vom Fenster aus gesehen, sowie auch von einem Brief, den sie am selben Vormittag von der alten Frau Propst Forsius in Korskyrka erhalten hatte, betrachtete die Schwägerin mit größter Neugier. Daß sie hoch in der Hoffnung war, merkte man sofort; aber bei ihrer Größe und Stattlichkeit wirkte es nicht besonders verunstaltend. Das Gesicht war noch ebenso schön wie früher; aber die Brauen waren jetzt dicht zusammengezogen und bildeten eine ununterbrochene schwarze Linie. Unter dieser funkelten die tiefen blauen Augen trotzig, ja, geradezu böse.
Der Oberst antwortete seiner Schwiegertochter nicht sofort, sondern wendete sich an Jaquette.
»Deine Schwägerin hier«, sagte er zu ihr in trockenem Ton, »ist gekommen, um uns mitzuteilen, daß sie das Zusammenleben mit deinem Bruder satt habe und nun ihre frühere Beschäftigung wiederaufnehmen wolle.«
Anna Svärd hatte jetzt alle Knoten an ihrem Kramsack aufgelöst. Sie hob ihn, der nur mit Heu und Stroh gefüllt war, auf und streckte ihn dem Oberst unter die Nase.
»Siehst jetzt, daß nix weiter drin ist«, sagte sie. »Hab' g'meint, 's wär zu dumm, mit 'nem leeren Sack 'rumz'lauf'n, deshalb hab' ich 'nen Strohwisch 'neing'steckt.«
Der Oberst zog rasch den Kopf zurück und schob den Sack mit allen Zeichen heftigen Widerwillens von sich weg. Doch nun wendete sich die Hausiererin an Jaquette.
»Du, Jaquette, bist mal gut gegen mich g'wesen. Leg jetzt 'n gut's Wort für mich ein, daß der Oberst mir zweihundert Reichstaler leiht. Übers Jahr an Michaelis kriegt er sie wieder.«
Mamsell Jaquette, die vorhin oben bei ihrer Mutter über die Leere und Ereignislosigkeit des Lebens geseufzt hatte, sah ganz bestürzt aus, als sie aufgefordert wurde, zugunsten der Schwägerin einzugreifen. Sie kam auch nicht dazu, etwas zu sagen, denn der Oberst ergriff jetzt das Wort.
»Ich rate ihr, sich das nicht einfallen zu lassen!« brach er los. »Wir verstehen sehr gut, wer Euch hierhergeschickt hat«, wendete er sich direkt an Anna Svärd. »Er wagt nicht; selbst herzukommen, statt dessen haben wir nun das Vergnügen Eures Besuches.«
»Aber lieber Vater …«
Anna Svärd war nicht sehr empört über diese Anklage. »Unsinn!« sagte sie. »Du hast's ja selbst nit ausg'halten, ihn zum Sohn zu hab'n, da verstehst vielleicht, daß ihn jemand anders als Mann übersatt hab'n kann.«
»Lieber Vater, ich habe heut morgen einen Brief von Frau Forsius in Korskyrka bekommen. Es ist ganz richtig, daß Anna und Karl Artur im Unfrieden auseinandergegangen sind.«
»Na ja«, erwiderte der Oberst, »deshalb ist es doch nicht angenehmer für mich, eine Schwiegertochter zu haben, die mit dem Kramsack umherzieht.«
»O ja, versteh' woll, daß dir das nit paßt«, sagte Anna Svärd. »Aber wenn du mir in der Weis' nit helfen willst, dann find halt was Bess'res! Wie wär's, wenn's dir zum Beispiel einfallen würd', mir dreitausend Reichstaler zu geben, dann könnt' ich mir 'nen kleinen Hof kaufen, hätt' Pferd und Kuh, könnt' beim Kind daheim bleib'n und braucht' nit auf den Landstraßen 'rumzieh'n, und ich hätt' wahrlich nix dagegen, da kannst dich drauf verlass'n.«
Sie schwieg einen Augenblick, nachdem sie dem Oberst diesen Vorschlag gemacht hatte. Ganz deutlich wartete sie auf eine Antwort, aber es kam keine.
»Kannst dir woll nix Derartig's denken?« fragte sie.
»Nein«, antwortete der Oberst, »das kann ich nicht.«
»Na ja«, sagte die Schwiegertochter, »wenn du nit willst, gibt's vielleicht andre, die mir Geld borg'n, damit ich mein' Handel in Gang bring'. Der Anton Bonander ist in der Stadt. Hab' mich eigentlich nit mit dem einlass'n woll'n, weil er 'n Spitzbub' ist, aber jetzt geh' ich doch hin.«
Noch einmal schien sie auf Antwort zu warten; als aber keine kam, beugte sie sich über den Kramsack und begann ihn zuzuschnüren. Ihre Finger bewegten sich mit verzweifelter Schnelligkeit; aber es waren viele Schnallen, und Mamsell Jaquette war sich bewußt, wenn sie noch etwas sagen oder tun wollte, um ihren Vater zu erweichen, dann war immerhin noch Zeit dazu da. Und Mamsell Jaquette wollte wohl; aber sie wußte durchaus nicht, wie sie es machen sollte. Zu viel stand ihr im Wege.
Der Oberst war noch ebenso kräftig und stattlich wie früher. Er war nicht zusammengesunken oder gealtert wie seine Gattin. Aber auf seiner Stirn hatten sich viele tiefe Runzeln eingegraben, und in seinen Augen glühte ein loderndes Feuer, das sich von einem inneren Brandherd, der nie erlöschen wollte, zu nähren schien. Mamsell Jaquette hatte oft größeres Mitleid mit ihrem Vater als mit ihrer Mutter. Die Erinnerung ist eine köstliche Gabe; aber vielleicht ist es besser, sie zu verlieren, als daß sie von einem Haß, der nie erlischt und sich nie mildert, genährt wird.
Nur einen Schlüssel gab es, der die Tür zur Barmherzigkeit des Oberst aufschloß, und Mamsell Jaquette wußte wohl, wie dieser Schlüssel hieß, aber sie wußte nicht, in welcher Weise sie ihn hier anwenden könnte. Und ganz rasch schien sie der ganzen Sache überdrüssig zu werden. Sie überließ die beiden Streitenden ihrem Schicksal und verschwand aus dem Zimmer.
Sie blieb indes nicht lange weg. In dem Augenblick, wo die Schwägerin sich mit dem Kramsack auf dem Rücken zum Gehen wendete, erschien Mamsell Jaquette wieder, diesmal in Hut und Mantel. Rasch trat sie auf ihren Vater zu und reichte ihm die Hand. »Adieu, lieber Vater«, sagte sie.
Der Oberst sah von seinen Papieren auf. »Was hast du denn? Wohin willst du?«
»Ich gehe mit Anna, lieber Vater.«
»Bist du ganz verrückt?«
»Gewiß nicht, lieber Vater. Aber als ich vor kurzem dreißig Jahre alt wurde, warst du so herzensgut und hast mir dein kleines Landgut draußen vor Karlstadt geschenkt. Ich weiß, es ist dein Wunsch, daß ich dort wohne, wenn du einmal nicht mehr da bist; das Haus ist auch sehr schön und behaglich eingerichtet, einige Haustiere und ein kleiner Obstgarten sind da, gewiß könnte sich niemand ein besseres Heim wünschen. Aber für mich findet sich wohl auch noch etwas anderes, lieber Vater, und mit deiner Erlaubnis will ich den Hof jetzt meiner Schwägerin schenken. Ich will jetzt gleich mit ihr hinausgehen und in der ersten Zeit bei ihr bleiben – jedenfalls so lange, bis das Kind zur Welt gekommen ist.«
Der Oberst war aufgesprungen; er sah nicht gerade sanft aus.
»Aber ums Himmels willen …«
Der Oberst und seine Töchter waren indes von jeher auf einem sehr vertrauten Fuße miteinander gestanden, und so fürchtete sich Mamsell Jaquette durchaus nicht vor ihm. Sie war es nur gar nicht gewohnt, einzugreifen, zu beschließen und anzuordnen. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie etwas Derartiges tun müssen.
»Du hast mir das Gut in gesetzlicher Form geschenkt, lieber Vater, und kannst es mir also nicht wieder nehmen. Und Anna wird es viel besser verwalten als ich. Du läßt uns ja nicht von Karl Artur sprechen, deshalb weißt du auch nicht, welch eine tüchtige Frau er hat. Eva und ich haben oft gewünscht, ihr eine Freundlichkeit erweisen zu können, aber wir haben es nur deinetwegen nicht gewagt, lieber Vater.«
Mamsell Jaquette stand mit roten Rosen auf den schon etwas verblühten Wangen vor ihrem Vater und verbreitete sich mit wahrem Entzücken noch weiter über ihren Plan.
»Wenn es dann Sommer ist, fährst du, lieber Vater, mit der lieben Mutter im Boot nach Älvsnäs hinaus, und ihr seht euch euer Enkelkind an. Ach, wie schön wird es sein, wenn wir euch da empfangen dürfen! Und die liebe Mutter wird wieder aufleben.«
Es zuckte in dem Gesicht des Obersten. Bis jetzt hatte er nicht daran gedacht, wie es mit seiner Frau gehen würde, wenn Jaquette das elterliche Haus verließ. »Willst du lange fortbleiben?« fragte er. »Wer soll denn dann der lieben Mutter vorlesen?«
»Du mußt Eva sagen, sie soll jeden Vor- und Nachmittag ein paar Stunden kommen und vorlesen. Oder vielleicht würdest du es fürs Beste halten, dich nach einer neuen Pflegerin umzusehen.«
Der Oberst schob seine Hände in seine Westentaschen und pfiff. Er dachte daran, wie schrecklich es war, wenn Eva der Mutter vorlesen sollte. Und das wußte er auch: keine Pflegerin auf der Welt hielt es auf die Dauer aus, Tag und Nacht Karl Arturs Studentenbriefe vorzulesen. Jaquette war die einzige, die die Geduld nicht verlor.
»Hör, Jaquette!« sagte der Oberst. »Was willst du haben, um diese Verrücktheit aufzugeben?«
»Dreitausend Reichstaler, lieber Vater.«
Der Oberst zog einen Schubkasten in seinem Schreibtisch auf und entnahm ihm drei große Banknotenbündel, die er Mamsell Jaquette hinreichte. Diese aber stopfte sie ihrer Schwägerin in die Tasche und küßte sie.
»Liebe Anna«, sagte sie, »ich sehe, es hat dich jemand unbarmherzig behandelt. Aber wenn du heimkommst und in aller Ruhe zu Hause sitzest, dann denk daran, daß du doch hast erfahren dürfen, wie das Leben gibt und nimmt.«
Dann begleitete sie die Schwägerin bis zur Gartentür. Und als sie sich da trennten, meinte Mamsell Jaquette, Annas Augen funkelten nun etwas weniger hart und böse als vorher.
Darauf legte Mamsell Jaquette Mantel und Hut wieder ab, stieg die Treppe hinauf und setzte sich am Kabinettfenster ihrer Mutter gegenüber. Sie legte das Briefbündel in ihren Schoß und fing wieder an, schön und mit ausgezeichneter Betonung vorzulesen. Das gewöhnliche Mißgeschick, daß sie von einem Brief in einen andern übersprang, traf allerdings auch an diesem Tage ab und zu ein. Aber an diesem Tage war nicht der Menschenstrom auf der Westbrücke schuld an Mamsell Jaquettes Zerstreutheit. Dafür aber träumte sie, daß sie und die Schwägerin auf das Landgut hinausgezogen seien und daß sie selbst ein arbeitsames Leben für etwas Junges und Heranwachsendes und nicht für das Alte und Dahinwelkende führe.