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Der Schrank

Ein paar Tage später, nachdem Anna die Kinder hatte fortziehen lassen, war sie vollkommen ratlos und von heftiger Reue geplagt; sie konnte sich nicht einmal dazu aufraffen, in der Wohnung ordentlich aufzuräumen. Und bald war sie ganz verzweifelt und fest überzeugt, den Kindern werde es sehr schlecht gehen, sie müßten Not leiden und würden bei den Verwandten sehr hart behandelt; sie selbst und ihr Mann aber würden streng zur Rechenschaft gezogen werden, weil sie die armen Kinder schlechten Leuten überantwortet hatten.

Diese Gedanken überfielen sie wie ein Fieber ganz gegen ihren Willen. Sie wollte dagegen ankämpfen, vermochte es aber nicht. Eigentlich hatte sie ja gar keine Veranlassung, sich in dieser Weise zu sorgen; aber sie konnte eben den Gedanken nicht loswerden, daß der Oheim, der die Kinder abgeholt hatte, ein böses, gefährliches Gesicht gehabt habe, und seine Frau, von der sie zwar gar nichts wußte, stellte sie sich als die ärgste Hexe vor. Und über eins war sie sich auch vollkommen klar: die Strafe würde in allererster Linie sie und das Kind, das sie erwartete, treffen. Als eine Mißgeburt würde es zur Welt kommen, ohne Sehvermögen, ohne Gehör. Oder auch würde sie selbst im Wochenbett sterben, und ihr Kind müßte dann ohne Mutter aufwachsen.

Es nützte nicht viel, wenn sie mit Karl Artur über diese Sachen sprach. Er gab nichts auf ihr Gerede, weder wenn sie meinte, die Kinder müßten Not leiden, noch wenn sie sagte, sie selbst und er würden sicher gestraft werden. Er war in jeder Beziehung sehr freundlich gegen sie, aber diesen Angstgefühlen meinte er keinen Wert beilegen zu müssen, gegen diese müsse sie selbst ankämpfen.

Eines Morgens indes glaubte Anna ein Heilmittel gefunden zu haben. Sie begann den Webstuhl, die Spinnräder und alle anderen Gerätschaften aus der Küche zu entfernen. Die Klappbank und das Schlafsofa, die den Kindern gehörten, schaffte sie in deren eigenes Häuschen hinüber und verriegelte dann sorgfältig die Tür. Darauf scheuerte sie den Boden, bestrich die Wände mit frischer Leimfarbe, wusch alle Hausgeräte und trocknete sie sorgfältig ab, und bald danach saß sie in einer Küche, die ebenso schön und unbewohnt war wie an dem Tage, wo sie sie mit Karl Artur zum ersten Male betreten hatte.

Als dann alles weggebracht war, was ihre Gedanken auf die Kinderschar hinlenken konnte, sagte sie sich, jetzt wolle sie tun, wie wenn alles so wäre wie in der ersten Zeit ihres Ehestandes: die Kinder seien nie dagewesen, alles sei nur ein Traum, den sie gehabt habe. Wenn sie den Gedanken, die Kinder hätten wirklich bei ihr in ihrem Heim gewohnt, loswerden könnte, dann wäre alles gut. Sicherlich würde sich kein Mensch auf der Welt nur eines Traumes wegen Sorgen und Kummer machen!

»Weißt doch woll, daß junge neuverheiratete Frauen an nix anders denk'n als an ihre Männer«, murmelte sie vor sich hin. »Nimm jetzt Garn und Nadeln und strick Fäustling' für ihn, dann hast Arbeit! Denk an nix anders, als wie merkwürdig 's ist, daß du als Pfarrfrau über alle Hausiererinnen 'naufg'setzt worden bist.«

Sie begann auch mit den Fausthandschuhen; aber kaum hatte sie ein paarmal herumgestrickt, als sie auf der Tischkante ein paar Figuren entdeckte, die mit einem scharfen Messer hineingeritzt waren. Da war sicher einer der kleinen Jungen am Werk gewesen! Die Schlingel wußten wohl, daß es verboten war, in den Tisch hineinzuschneiden; aber es war unmöglich gewesen, ihnen diese Angewohnheit, an allem Holzwerk herumzuschnitzeln und hineinzuschneiden, abzugewöhnen.

Sie hob den Kopf, um ihre Strafpredigt zu halten; aber da waren keine flachshaarigen Köpfe um sie her, über die sie ihren Zorn hätte ausgießen können. Nichts war da als die weißgestrichenen Wände, die ihr leer und nichtssagend entgegenstarrten.

Eine gute Weile ließ sie die Stricknadeln ruhen. Aber dann stand sie auf, holte ein Messer und schnitt die Figuren in der Tischkante mit einem scharfen Schnitt weg. Sie verzerrte dabei das Gesicht, wie wenn sie in ihr eigenes Fleisch geschnitten hätte, nahm aber dann ohne Zögern ihr Strickzeug wieder in die Hand.

Wie dumm von mir! dachte sie. Karl Artur war's, er allein ist so fingerfertig! Er sitzt ja beim Ess'n auf der Seit' am Tisch. Hier in der Küch' sind nie Kinder g'wes'n. Wie könnten's Leut' wie wir wag'n, fremde Kinder anz'nehmen? 's ist nit möglich. Wir müss'n froh sein, wenn wir uns selbst und 's Kind, das wir krieg'n, ernähren können.

Mit fest zusammengekniffenem Mund und die Augen starr auf ihre Arbeit gerichtet, strickte sie eifrig weiter. Dabei überlegte sie, ob nun auch alles, was an die Kinder erinnerte, weggeschafft sei, damit sie sich einbilden könne, sie habe die ganze Schar nie um sich gehabt.

Gleich nachher hörte sie zuerst ein leises Geräusch und dann einen leichten Plumps. Das Miezekätzchen, der zehn Kinder liebster Spielkamerad, war aus seinem süßen Schlummer erwacht und auf die Tischplatte gesprungen, um mit Annas Wollknäuel zu spielen.

Anna fing das Kätzchen rasch ein; nichts hätte ihre Gedanken sicherer auf die früheren Spielkameraden lenken können, und so wollte sie das Tier zur Tür hinauswerfen. Aber als sie den warmen, weichen Körper unter ihrer Hand fühlte, konnte sie es nicht lassen, ihn zu streicheln. Dadurch rollte das Wollknäuel auf den Boden, und das Kätzchen setzte mit einem großen Sprung nach. Das Knäuel rollte weiter, Mieze wollte es festhalten, aber es rollte immer weiter. Auch Anna versuchte das Knäuel zu fangen, damit es sich nicht verwirrte, und so entstand ein wildes Spiel. Das Kätzchen jagte aus einer Ecke in die andere, und das Wollknäuel rollte umher, wie wenn auch es lebendig geworden wäre. Anna mußte lachen, während sie das Knäuel vergeblich aufzuhalten versuchte, 's freut die Kinder, dachte sie, und sie ließ das Spiel länger als notwendig weitergehen, damit die Kleinen ihren Spaß daran hätten.

»Aber Kinder, kommt doch und helft mir!« rief sie dann.

Kaum war das gesagt, als ihr die Erinnerung zurückkehrte. Jetzt packte sie die Katze rasch und warf sie zur Tür hinaus.

»Kannst denn die Kinder gar nit aus 'm Kopf kriegen!« sagte sie ganz laut, während sie die Wolle wieder aufwickelte. »Ich werd' doch nit am End' noch verrückt werd'n?«

Eine Weile wanderte sie in der Küche hin und her und rang die Hände wie in großer Qual; aber dann setzte sie sich doch wieder an ihre Arbeit. Und froh war sie, daß sie es getan hatte, denn es waren noch keine zwei Minuten vergangen, als auch schon die Tür aufging und die alte Ris-Karin aus Medstuby auf der Schwelle stand.

Die Ris-Karin war in diesem Jahr und auch schon im vorhergehenden mit Grüßen von Medstuby bei ihr eingekehrt. Aber beim letztenmal war die Küche voller Kinder und Gerätschaften und surrender Arbeit gewesen. Die Ris-Karin machte daher große Augen, als sie die jetzige Anordnung in der Küche sah.

»Aber um 's Himmels willen!« rief sie und guckte sich eifrig nach allen Seiten um.

Ei, wie viele Fragen stürmten sofort über die Ris-Karin herein! Sie mußte erzählen, wie es Mutter Svärd und Jobs-Erik ging, wie es bei Schultheißens stand und bei Pfarrers, bei der Ris-Ingeborg und beim Kantor Medberg. In ganz Medstuby gab es keinen Menschen, über den Karin nicht ausführlich Bescheid geben mußte.

Als die erste Neugier gestillt war, kochte Anna schleunigst Kaffee. Sie lief in den Holzschuppen nach Brennholz und an den Brunnen nach Wasser. Sie blies auf die Kohlenreste, bis sie aufflammten. Sie mahlte Kaffee, schnitt einige weiche Brotscheiben ab und stellte Tassen und Teller auf den Tisch. Rasch lief sie vor lauter Eifer und stellte alles, was sie in die Hände nahm, äußerst geräuschvoll zurecht. Ris-Karin begriff, daß sie das Fragen nach den zehn Kindern aufschieben müsse, bis Anna am Kaffeetisch zur Ruhe gekommen sei.

Als endlich jedes, mit einem Stück Zucker im Munde, den brühheißen Kaffee, zum Abkühlen in die Untertasse gegossen, vor sich hatte, bekam Karin eine neue Sturzflut von Fragen über sich her. Jetzt galten diese den alten Kameraden. Wie ging es ihnen allen, den Burschen und den Mädeln? Wanderte die Annstu-Lisa, trotzdem sie nun schon so alt war, noch immer umher, und war sie noch ebenso verrückt aufs Kartenspielen aus wie früher?

Die Annstu-Lisa war aber Karins ganz besondere Freundin und Nebenbuhlerin gewesen, und alle ihre Missetaten und kleinen Kniffe gaben genügend Gesprächsstoff sowohl für die erste als auch für die zweite Tasse Kaffee. Die Ris-Karin meinte, man sollte eigentlich eine solche Person gar nicht auf die Landstraße hinauslassen, um da Handel zu treiben. Es sei eine Schande für alle, die rechtschaffen sein wollten, daß eine solche ihre Geschäftsgenossin sein dürfe.

Dann war der Kaffee getrunken, und es war für die ältere Daljungfer Zeit zum Aufbrechen. Oh, die Karin war nicht dumm! Anna wollte ihr eben durchaus keine Auskunft darüber geben, wo die Kinder hingekommen waren, das begriff sie sehr gut; da sie aber wußte, daß sie diese Auskunft im nächsten Hause erhalten würde, sah sie nicht ein, warum sie Anna mit Fragen quälen sollte.

Als indes Karin ihren Kramsack auf ihren alten, gekrümmten Rücken geladen und sich verabschiedet hatte, auch schon mit der Hand auf der Klinke an der Tür stand, wendete sie den Kopf noch einmal um und sagte: »Ich vergess' ja fast d' Hauptsach', warum ich kommen bin.« Damit suchte sie in ihrer Gürteltasche nach ihrem Geldbeutel.

»Du fragst ja gar nit, ob ich nix für dich verdient hab'«, fuhr sie fort, indem sie Anna einen Fünfzigreichstalerschein reichte.

Als Karin im letzten Frühjahr in Korskyrka gewesen war, hatte ihr Anna einige von den Kindern verfertigte Bandgewebe und Spitzenstreifen übergeben und sie gebeten, die Waren zu verkaufen. Anna hatte dies zwar nicht vergessen gehabt, sich aber eben im Gespräch auf nichts, was die Kinder anging, einlassen wollen.

Fünfzig Reichstaler war ja auch ein rein unmöglicher Verdienst, und so fragte sie Karin, ob sie nicht einen kleineren Schein habe, denn sie könne nicht wechseln. »Brauchst nix 'rausz'geb'n«, erwiderte Karin. »Alles g'hört dir; zuerst hab' ich das abg'setzt, was mir mitgeben hast, dann hab' ich das Geld umtrieben, und so ist's auf die Fünfzig aufg'laufen. Und da hast's – du brauchst's; hast ja für so viele zu sorgen.«

Die Ris-Karin war trotz ihres Alters rasch in ihren Bewegungen. Sie machte eiligst die Tür hinter sich zu und lief den Hügel hinauf, um allen Dankesbezeugungen zu entgehen. Ein paar Minuten dauerte es, aber auch nicht länger, da kam Anna schon hinter ihr her. Jetzt war Anna wieder wie früher: Sie dankte Karin höchst wortreich und begleitete sie bis zum Hause des Doktors, wo Karin ein gutes Geschäft zu machen hoffte; denn die Frau Doktor bekam jetzt von ihrer reichen Schwester gewiß so viel Geld, daß sie nicht mehr jeden Heller dreimal in der Hand umzudrehen brauchte, ehe sie ihn ausgab.

Anna saß dann mit dem Fünfzigtalerschein in der Hand eine gute Weile in ihrer Küche, betrachtete den Schein, und ein glückliches Lächeln spielte dabei um ihre Lippen. Sie freute sich über den Besitz des Geldes, das hatte sie von jeher getan, aber diesmal war's nicht der unerwartete Verdienst, worüber sie sich freute. Dies hier war viel, viel mehr, es war ein Zeichen und ein Wunder.

Sie hatte erwartet, gestraft zu werden, weil sie die Kinder fortgegeben hatte, statt dessen bekam sie nun dieses große Geschenk von ihnen. Niemals hätte sie sich ein solches Glück denken können, und Angst und Furcht schwanden aus ihrem Herzen. Hier war ja das gerade Gegenteil von dem, was sie die ganze Zeit über gefürchtet hatte!

Sie konnte ihr Glück nicht für sich allein behalten; so ging sie zu ihrem Manne hinein, der in seinem schönen Zimmer am Schreibtisch saß, zeigte ihm den Schein und bat ihn, das Geld für sie aufzuheben, denn draußen in der Küche habe sie ja keinen sicheren Aufbewahrungsort.

Als Anna eintrat, sah Karl Artur etwas zerstreut von seiner Arbeit auf. Er hörte kaum zu, als sie ihm erklärte, dies sei der Verdienst für die von den Kindern ganz allein verfertigten kleinen Sachen, und nun hätten diese das Geld geschickt zum Dank und als ein Zeichen, daß er und sie nicht bestraft werden sollten, weil sie die Kinder fortgeschickt hatten.

Karl Artur widersprach Anna nicht, obgleich ihr Gedankengang ihm ziemlich verworren vorkam. Seine Frau hatte ihre Sicherheit und ihre gute Laune wiedererlangt, das sah er, und das genügte ihm. Er schlug ihr überdies vor, sie solle sich für das Geld, das so unerwartet eingetroffen sei, irgend etwas anschaffen, das ihr eine besondere Freude mache.

Das leuchtete Anna ein, und sie ging sofort hinüber in die Küche, um zu überlegen, wie sie ihren Reichtum, der ihr geradezu vom Himmel gefallen war, am besten verwenden könnte. Es dauerte auch nicht lange, bis sie wußte, was sie sich wünschte. Von der allerersten Zeit in Korskyrka an hatte sie in der Küche einen großen Schrank mit Schubkästen und Fächern und Schranktüren bis ganz oben hin vermißt. Ein großer Schrank, der vom Boden bis zur Decke reichte, war nicht nur etwas, das einem nützlich sein konnte, nein, er gab dem Raum, worin er stand, ein gewisses Ansehen. Anna konnte sich nichts denken, was sie mehr brauchten, als so einen Schrank, und da ihr Mann damit einverstanden war und das Geld dazu in seiner Schreibtischschublade bereit lag, wußte sie nichts, was sie hätte hindern können, sofort zum Tischler des Ortes zu gehen, der ein tüchtiger Handwerker war, um den Schrank bei ihm zu bestellen.

Der Tischler wohnte in derselben Straße nur ein paar Häuser weiter entfernt als Organistens, und als Anna nun des Weges daherkam, traf sie mit Frau Sundler zusammen, die draußen gewesen sein mußte, um Frühlingsblumen zu pflücken; sie trug wenigstens ein paar Leberblümchen in der Hand.

Frau Sundler ging ohne Mantel, und Anna war höchst erstaunt darüber. Sie selbst hatte gar nicht gemerkt, daß es ordentlich warm geworden war. Seit die Kinder von ihr fortgezogen waren, hatte sie an nichts anderes gedacht als an ihre Schützlinge. Dem Wetter und allem andern hatte sie keinen Gedanken geschenkt. Jetzt aber sah sie wieder, daß die Sonne schien, sah, daß sich der Himmel tiefblau und voll kleiner wolliger Wölkchen hoch über ihr wölbte. Dies schien offenbar mit zu der Freude zu gehören, die an diesem Tage Annas Seele erfüllte, und als Frau Sundler grüßte und die Hand ausstreckte, eilte sie nicht an ihr vorüber, was sie wohl an einem andern Tage getan hätte, sondern blieb stehen.

Sie sagte sich, es könne wohl nicht gefährlich sein, wenn sie ein Wort mit ihr redete. Sie könne doch auch nicht in alle Ewigkeit im Unfrieden mit jemand leben, der in demselben Orte wohnte.

Frau Sandler erzählte, sie fühle sich wie aus dem Gefängnis befreit, weil es ihrem Manne jetzt soviel besser gehe und er nun allein ausgehen könne. Sie selbst sei ein paar Stunden im Walde spazierengegangen und könne gar nicht beschreiben, wie wunderschön es dort gewesen sei. Sie sei innerlich aufgetaut und habe neues Leben bekommen, gerade wie die Natur auch.

Zum ersten Male, seit sie nach Korskyrka gekommen war, fühlte Anna eine Art Mitleid mit Frau Sundler. Sie sprach daher ein paar Worte mit ihr und sagte, Frau Sundler habe in diesem Winter gewiß eine schwere Zeit durchgemacht, und dann wollte sie weitergehen. Aber Frau Sundler hielt sie zurück. Sie sagte, wenn man einen ganzen Winter hindurch eingesperrt daheim gewesen sei, freue man sich von Herzen über das Zusammentreffen mit einer alten Freundin, und als solche habe sie diejenige, die mit Karl Artur verheiratet sei, immer betrachtet. Ob nicht Frau Ekenstedt zu ihr hereinsehen wolle, um ein wenig zu plaudern? Es sei ja nur zwei Schritte bis zu ihrem Hause.

Anna wollte sich indes nicht am Bestellen des Schranks verhindern lassen, und so schlug sie die Einladung kurz ab. Aber sie fühlte sich eben immer etwas unsicher, wenn sie mit Leuten von besserem Stande zusammen war. Vielleicht war Frau Sundler jetzt gekränkt, weil sie, ohne einen Grund anzugeben, nein gesagt hatte. Deshalb erzählte sie nun, sie habe ganz unerwartet Geld bekommen und sei gerade auf dem Wege zum Tischler, um einen Schrank zu bestellen. Frau Sundlers Gesicht hellte sich während Annas Erzählung auf; und sie erwiderte, sie wundere sich gar nicht über Annas Eile und gratuliere ihr, weil sie sich etwas so Schönes und Praktisches wie einen Schrank anschaffen könne.

Danach ließ sie Anna wirklich weitergehen, und diese stand bald darauf in der Tischlerwerkstatt. Hier hatte sie es durchaus nicht eilig, sie ließ sich gut Zeit, und so verging wohl eine Stunde, bis sie und der Tischler über alles einig geworden waren, über Form und Höhe der Schubkästen, über Beschläge, Farbe und Verzierung. Der Preis war nicht so leicht festzusetzen, aber schließlich wurden sie auch darüber einig.

Als sie mit dem Versprechen des Tischlers, den Schrank in einem Monat zu liefern und der Preis werde sich nicht auf mehr als vierzig Reichstaler belaufen, heimging, war sie seelenvergnügt, und so konnte sie sich nicht enthalten, gleich zu Karl Artur hineinzugehen, um ihm zu erzählen, was sie ausgerichtet hatte.

Aber Karl Artur schien alles andere als erfreut zu sein. »Es wäre mir doch nie eingefallen, daß du es so eilig hättest«, sagte er. »Ich wäre gern dabei gewesen, um selbst mit dem Tischler zu reden.«

»Wie hätt' ich denken können, daß du dich mit so was abgeben möcht'st.«

»Nein, sonst nicht, aber dies …«

Er hatte ganz eifrig angefangen, doch nun stockte er und biß sich auf die Lippen.

Seine Frau betrachtete ihn forschend. Sie sah, daß er errötete und verlegen wie ein junges Mädchen war. »Jetzt mußt mir sag'n, was du meinst, Mann«, sagte sie.

»Was ich meine?« antwortete Karl. »Nun, ich meine – wenn du selbst denkst, dies Geld sei uns auf eine so merkwürdige Weise in den Schoß gefallen, dann sollten wir es nicht für uns selbst verwenden, sondern einen wirklich schönen Gebrauch davon machen.«

»Wirst doch nit etwa mein Geld weg'geben haben?« sagte seine Frau, ohne doch im allergeringsten zu denken, es könnte wirklich der Fall sein.

Karl Artur hustete und räusperte sich ein paarmal, aber dann rückte er mit der Wahrheit heraus: der Organist Sundler hatte ihn besucht, und er war äußerst glücklich gewesen, weil er nun wieder ausgehen konnte, nachdem er den ganzen Winter krank gelegen hatte. Karl Artur hatte gesagt, er müsse sich diesen Sommer pflegen, damit das alte Elend nicht im nächsten Winter wieder anfange, und der Organist hatte erwidert, er möchte nichts lieber, als nach dem Loka-Bad reisen und seine Gicht da wegbaden, aber er habe ja kein Geld dazu.

»Aber du hast ihm doch woll nit das Geld geben, was uns die Kinder g'schickt hab'n?« fuhr Anna in vorwurfsvollem Tone heftig auf.

»Meine Liebe«, sagte Karl Artur, und er wurde ganz steif und feierlich, »kannst du mir eine edlere Verwendung einer Gottesgabe nennen, als sie zu einem Werk der Barmherzigkeit hinzugeben?«

Anna trat dicht auf ihn zu. Sie war bleich, und ihre tiefen Augen leuchteten wie zitternde Funken in ihrem Gesicht. Es sah fast aus, als wolle sie ihr Geld mit Gewalt zurückverlangen.

»Aber hast denn nit begriffen, was ich g'sagt hab', Mann? Daß es ein Zeichen und ein Gruß von den Kindern g'wes'n sei? Denkst denn gar nicht dran, wie der Sundler gegen mich g'wes'n ist, als er z'letzt hier in unserer Küch' war?«

»Vielleicht hab' ich gerade daran gedacht«, erwiderte er.

Da brach Anna in ein lautes hartes Lachen aus, aber ohne alle Fröhlichkeit.

Karl Artur wendete sich ihr ungeduldig zu. »Findest du das so lächerlich?« fragte er.

»Ach nein, das nit! Aber's ist mir was ander's eing'fallen. Möcht' woll wissen, wann der Organist zu dir kommen ist?«

»Er? Nun, es mag eine halbe Stunde her sein. Er war nicht lange hier. Du hättest ihm eigentlich auf dem Heimweg begegnen müssen.«

»Denk' woll, er ist vielleicht nit so drauf aus g'wesen, mich z'treffen.«

Wieder fing sie an zu lachen, unheimlich und unheilvoll. Karl Artur wurde immer steifer und würdiger. »Vielleicht wirst du so gut sein und mir sagen, warum du lachst?«

»Ich lach' nit über dich, sondern nur über mich selbst – daß ich so dumm g'wesen bin, dieser Thea von den fünfzig Reichstalern was zu sag'n! Hätt' doch wiss'n können, daß sie sie dir 'rausluchsen werd'n.«

Karl Artur fühlte sich etwas ängstlich. Aus den Augen seiner Frau leuchtete eine unverkennbare Schadenfreude; er begriff, daß da etwas dahinterstecken mußte, was er nicht verstand; aber er schlug fest mit der Hand auf den Tisch, um ihr ein wenig Respekt vor sich einzuflößen.

»Jetzt berichtest du ordentlich, worüber du so lachst!« befahl er.

Da erfuhr er endlich, wie alles zusammenhing. Aber er wollte eben durchaus nicht glauben, daß Frau Sundler ihren Mann zu ihm geschickt habe, um den Fünfzigtalerschein aus ihm herauszulocken. Das konnte wirklich nichts anderes als ein Zufall gewesen sein.

»Es ist nicht möglich«, sagte er; »sich so zu betragen, wäre ja beinahe schurkenhaft. Sollte Thea ihren Mann so rasch hergeschickt haben, nachdem sie von unserem Besitz des Geldes erfahren hatte? Thea, die so edelmütig, so hochgesinnt, so gewissenhaft ist?«

»Ja, ich weiß nit, wie's z'sammenhängt, aber sonderbar ist's, daß er grad heut kommen mußt', um's Geld von uns zu verlang'n.«

Obgleich Karl Artur Frau Sundler verteidigte, sah er doch so verstört aus, als wäre der Turm zu Babel vor seinen Augen eingestürzt. Anna dachte an jenen Sonntagabend vor zwei Jahren, als Thea und der Organist zu ihnen gekommen waren, um Rechenschaft wegen des Sonntagshuts zu verlangen. Die jetzige Enttäuschung ihres Mannes zu sehen, war vielleicht schon die fünfzig Reichstaler wert.

Aber eine lange Genugtuung wurde ihr nicht zuteil. Im Flur ertönten Schritte, gleich darauf wurde ein schwaches, schüchternes Klopfen an Karl Arturs Tür hörbar, und Thea trat herein. In demselben Augenblick kehrte sich Karl Artur seinem Schreibtisch zu und blätterte in seinen Papieren, ohne Frau Sundler anzusehen. Diese tat auch, als sähe sie ihn nicht, sondern wendete sich ausschließlich an seine Frau.

»Liebe Frau Ekenstedt«, begann sie, »es ist mir so sehr leid. Ich hörte von meinem Manne, daß Karl Artur so außerordentlich freundlich gewesen ist und ihm fünfzig Reichstaler gegeben hat. Ich habe aber sofort zu ihm gesagt, das seien wohl die fünfzig Reichstaler, die Frau Ekenstedt verdient habe, und diese könnten wir nicht annehmen. Diese müsse Frau Ekenstedt zu einem Schrank haben, und einen solchen habe sie gewiß sehr nötig, denn jetzt habe sie es in der Küche recht ungemütlich, weil ihr ganzer Hausrat da auf Wandbrettern stehe und staubig werde.

Und so bat ich Sundler, mir den Schein zu geben, damit ich hierhergehen könne, um zu fragen, wie es sich verhalte. Ich sagte zu ihm, wenn es Frau Ekenstedts Schein sei, dann solle er lieber auch ferner seine Gicht ertragen, denn dann müßten wir ihn zurückgeben. Ist er aber Karl Arturs Eigentum, dann dürfe er ihn natürlich annehmen. Ja, ich versichere Ihnen, Frau Ekenstedt, er tat mir von Herzen leid; denn er kam so beglückt heim, weil er nun nach Loka fahren und seine Gicht wegbaden könne. Aber er verstand ja sofort, daß ich recht hatte.«

In demselben Augenblick, wo sie ihren Redeschwall vollendet hatte, zog sie den Geldschein aus der Tasche und reichte ihn Anna auf dieselbe Weise, wie die Ris-Karin ihr ihn vor ein paar Stunden hingereicht hatte. Aber Anna merkte es kaum. Ihr Blick war nicht auf Frau Sundler, sondern auf ihren Mann gerichtet. Er stand noch am Schreibtisch, ohne ein Wort zu sagen; aber mit jedem Wort, das Thea sagte, wurde er aufrechter und größer, und er wendete sich ihr mehr und mehr zu. Als sie geendet hatte, stand er mit klarer Stirn und weitgeöffneten Augen da, und die kleine Person mit den Fischaugen bekam einen Blick, um den seine Frau sie hätte beneiden können. Dann wendete sie sich Anna zu, die gerade die Hand ausstreckte, um den Geldschein zu nehmen, und da verdüsterte sich seine Stirne, seine Augenlider senkten sich und er kreuzte die Arme vor der Brust.

Ach, es gab keinen andern Ausweg! Anna mußte die fünfzig Reichstaler lieber opfern, als daß die andere wie ein Wunder von Rechtlichkeit vor ihm stehen sollte.

»B'halt den Schein nur«, sagte sie zu Frau Sundler. »'s ist nit der, von dem ich dir heut vormittag g'sagt hab', 's ist ein anderer. Der hier ist Karl Artur seiner.«

»Ist es möglich, ist es wirklich möglich?« rief Thea, und sie geriet ganz außer sich vor Glück und Dankbarkeit. Aber sie sagte eigentlich nicht viel, sondern ging so eilig ihrer Wege, fast als hätte sie Angst, es könnte etwas geschehen, wodurch sie gezwungen würde, den Schein doch zurückzugeben.

Anna aber verwunderte sich, daß Karl Artur, der es doch sonst so genau mit der Wahrheit nahm, nicht zu Thea sagte, seine Frau habe gelogen; aber diesmal schien er höchst erfreut über ihre Unwahrheit zu sein. Er begleitete Thea auf den Flur hinaus, und als er wieder hereinkam, wollte er Anna in seine Arme schließen.

»Ach, meine Liebe«, rief er, »ich glaube, ich habe noch nie etwas so Großartiges erlebt! Du und Thea! Ich weiß nicht, welche von euch am bewunderungswürdigsten ist!«

Aber Anna stieß ihn zurück; mit festgeballten Fäusten und das Gesicht vor Zorn verzerrt, stand sie vor ihm. »Alles hätt' ich dir verzeih'n können, nur das nit, daß du mir den Schein hast nehmen lassen«, sagte sie, drehte sich um und verließ das Zimmer.


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