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ist, nach Keyserling, sofort auf das Wesentliche »eingestellt«. Nichts entgeht ihm und in dem Passanten mit schwarzem Schnurrbart entdeckt er auf den ersten Kennerblick Johann Strauß, während einer, der dieser Zier entbehrt, offenbar Girardi ist. Tot oder lebend, der typische Wiener wird agnosziert. Mit solchem Scharfblick hat Obertäng uns heimgesucht und nun überprüfte uns sein Chef, Herr Theodor Wolff, der sich persönlich überzeugen wollte, daß der Wiener nicht untergegangen ist, sondern sich weiter als Phäake fortbringt, was sich auf dem Hintergrunde der deutschen Not auch so gehört. Das Wiener Paradies ist jetzt als Gegenstück zur Berliner Hölle ein vielbegehrter Artikel, den zu schreiben sich kein deutscher Publizist entgehen läßt und in dem nur die aus der Sintflut geretteten Waschermadaln (auch –madroln), die ehedem auf der Ringstraße vor den Berlinern defilierten, auffallender Weise fehlen. Aber sonst ist alles da, nich so wie bei arme Leute, die noch nicht saniert sind. Herr Wolff stellt also fest:
Wenn wir, von allen Stürmen gepeitscht und von dem Pariser Poseidon geschunden, nach Wien kommen, so ist das beinahe, als ob der hin und her geworfene Odysseus die Insel der Phäaken betritt. Hier lächeln nicht nur Nausikaa
(offenbar die Jeritza gemeint)
und die schön gelockten Töchter des Landes
(aha, also doch die Waschermadroln)
sondern das ganze Leben lächelt hier schon wieder in angenehmster Behaglichkeit. Wie im Hause des Phäakenkönigs
(offenbar Seipel)
werden die Kälber und Rinder reihenweise geschlachtet
(die goldenen von Seipel, die andern von mir)
und da man die Berliner Theaterleute gleichfalls reihenweise auf der Ringstraße sehen kann, müssen hier, wie auf jenem glücklichen Eiland, Gesang und andere Künste ganz besonders blühen.
Schönes Phäakentum, wo sich nicht nur mit Hilfe des ausländischen Kredits am Herde der Spieß, sondern auch zum Berliner Gesang der Spießer dreht. Eitel Frohsinn begegnet Herrn Wolff auf der Ringstraße.
Die Bettler und Kriegsinvaliden dagegen, die noch vor nicht langer Zeit die abgemagerten Arme ausstreckten, sind aus dem wundervollen Bilde dieser Stadt gleichsam hinweggelöscht.
Vermutlich sind sie, damit das Bild nicht gestört werde, verhungert.
Eine Neid erweckende Stadtverwaltung ordnet ihre Finanzen –
nicht die der Bettler und Kriegsinvaliden, die offenbar von der Bundesverwaltung saniert wurden. Und nun kommt der Fremdling auf das Wiener Papperl und speziell auf die dazugehörigen Erzherzoge zu sprechen, die es ihm seit jeher angetan haben.
In jenen berühmten alten, verqualmten Beiseln, in denen früher auch die Erzherzoge und Aristokraten sich zum Volke gesellten,
(was Herr Theodor Wolff noch vor sich sieht, als obs heut wär', Gott wo sind die Zeiten)
kann man nur durch Gunst und Freundschaft an einer Tischecke Platz finden, und
(muß Wolff heute zwischen Volk Platz nehmen oder wer gesellt sich jetzt zu diesem?)
nicht nur Schieber und neue Reiche, sondern die wirklichen Wiener Bürger und Bürgersfrauen verzehren dort Schnitzel, so groß wie Bettdecken, und Berge von Kaiserschmarrn, während ein prächtiges Bier in hohen Gläsern vor ihnen steht.
Kein Zweifel, Wolff ist ins Schlaraffenland geraten. Die Wiener Bürgersfrauen decken sich mit Schnitzeln zu, die Bürger entschädigen sich für die Leiden der Republik durch Berge von Kaiserschmarrn.
Und der Genuß ist ungetrübt, weil sogar anständige Menschen hier nicht mehr bei jedem Bissen daran zu denken brauchen, daß aus dem Hintergrund Millionen mit kranken Augen herüberstieren und in außergewöhnlichem Elend ein Teil des Volkes an Hunger und Entkräftung stirbt ...
Da also dieser Teil der Bevölkerung bereits gestorben ist, so müssen die anständigen Menschen nicht mehr daran denken, sondern können mit einem de mortuis nil nisi bene weitere Schnitzel und Kaiserschmarrn, Bettdecken und Berge bestellen. Schn S', so heiter is das Leben bei uns in Wien, wenn der Berliner nachschauen kommt!