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Gestern früh gab ein Soldat von einem Straßenbahnwagen aus bei der Haltestelle vor dem Parlamentsgebäude gegen die vor diesem stehende Statue der Pallas Athene zwei scharfe Schüsse aus einem Gewehr ab. Der Mann wurde von einem Offizier und zwei Soldaten entwaffnet und das Gewehr entladen. Der Soldat, der offenbar geistesgestört ist –
Wieso? Die kann einen schon aufregen. Ich war nicht im Krieg und trage kein Gewehr bei mir. Aber so oft ich die sehe, in ihrer vollkommenen Nichtbeziehung zu den Dingen, die in dem Haus drin und außerhalb vorgehen, höchstens daß einem der Abgeordnete Groß einfällt oder daß einem jetzt um das viele Stearin leid ist – wie sie dasteht, ein Denkmal des Wiener Schönheitssinnes, so eine noch immer fesche Hausmeisterin des hohen Hauses oder Verkörperung des Ideals halt von etwas Idealem oder Antikem oder in der Art, die meisten Passanten glauben jetzt, daß es die Austria ist oder die Germania, aber die Gebildeten wissen, daß es eine Palastathene ist, eigentlich gehört sie vors Burgtheater, weil sie akkurat aso aussieht, wie ich mir das christlichgermanische Schönheitsideal des Herrn Dr. von Millenkovich in antiker Gewandung vurstelle – so oft ich die sehe: was ist, frage ich da, aus all den Arbeitskräften geworden, die das in den Neunzigerjahren hinpappen mußten, ja die Katzelmacher die haben mit ihnerem Colleoni einpacken können aus Furcht vor uns, aber unserer Pallas Athene, der kann nichts g'schehn, in dem Punkt sind wir sicher, sie steht einmal da, keine feindliche Bombe, keine Kugel wird die treffen, und wenn jetzt einer von den Unsrigen sich so weit hat hinreißen lassen, so handelt es sich um die Tat eines offenbar Geistesgestörten, man darf nicht generalisieren, solche Leute soll man nicht auf die heimischen Kunstschätze loslassen, sondern soll sie einrückend machen, die Pallas Athene die muß uns erhalten bleiben im Weltkrieg, wär' nicht schlecht und so oft ich die sehe und alles andere rings herum sehe und höre, da spür' ich ordentlich, daß ich kein Gewehr bei mir trage!
– das ist das dümmste von allen Worten, die die Zeit hat. Kriegsmüde sein das heißt müde sein des Mordes, müde des Raubes, müde der Lüge, müde der Dummheit, müde des Hungers, müde der Krankheit, müde des Schmutzes, müde des Chaos. War man je zu all dem frisch und munter? So wäre Kriegsmüdigkeit wahrlich ein Zustand, der keine Rettung verdient. Kriegsmüde hat man immer zu sein, das heißt, nicht nachdem, sondern ehe man den Krieg begonnen hat. Aus Kriegsmüdigkeit werde der Krieg nicht beendet, sondern unterlassen. Staaten, die im vierten Jahr der Kriegführung kriegsmüde sind, haben nichts besseres verdient als – durchhalten!
Das Wolffsche Büro meldet: Die englischen Zeitungen verbreiten seit einiger Zeit wieder einmal allerlei Mitteilungen über den angeblich schlechten Ernährungszustand der deutschen Bevölkerung ... Es spricht nicht gerade für die große Kriegsfreudigkeit unter dem englischen Volke, wenn seine Stimmung immer wieder durch die Verbreitung solcher Nachrichten gehoben werden muß, die allesamt mit den Tatsachen in direktem Widerspruch stehen. So ergab eine soeben abgehaltene Rundfrage bei sechstausend größeren deutschen Krankenkassen, daß die Erkrankungen unter den Versicherten, bei Männern wie bei Frauen, in ständigem Rückgang begriffen sind. Ärztlicherseits wurde dabei ausdrücklich die Bekömmlichkeit der gegenwärtigen Kriegskost festgestellt ... Der Ärzteausschuß für Groß-Berlin insbesondere hat festgestellt, daß die einfache Lebensweise im Kriege für viele Personen direkt gesundheitsfördernde Wirkungen hatte, weil jetzt jeder, auch der Wohlhabende, in der Aufnahme von Eiweißkörpern und Fett und im Genuß von Spirituosen, Tabak und sonstigen anregenden Mitteln enthaltsamer leben muß. Infolgedessen ist auch die Sterblichkeit in den unbemittelten Kreisen Berlins nicht größer als in den bemittelten. Im allgemeinen sind nach den ärztlichen Feststellungen die Krankenhäuser im Kriege weit weniger belegt als in Friedenszeiten. Stoffwechselerkrankungen, wie die Zuckerruhr, gehen in den meisten Fällen zurück oder schwinden völlig. Auch die naheliegende Befürchtung, daß die Kriegskost für die Jugend nachteilige Folgen haben werde, hat sich glücklicherweise nicht erfüllt. Durch eine Rundfrage bei Schulärzten wurde festgestellt, daß eine gesundheitliche Schädigung bei den Kindern nicht eingetreten ist. Für Säuglinge insbesondere wird in völlig ausreichender und vorbildlicher Weise gesorgt ...
Ach, wenn es doch immer so bliebe! Oder: Das war eine herrliche Zeit! Oder wie sagt doch Alletter (Schöpfer des »Obu«)? So ähnlich wie: Ach könnt' ich noch einmal so leben! Aber wahr ist und bleibt, daß es nicht gerade für die Kriegsfreudigkeit unter dem englischen Volke spricht, wenn seine Stimmung immer wieder durch die Verbreitung solcher Nachrichten gehoben werden muß, die allesamt mit den Tatsachen in direktem Widerspruch stehen. Wie z. B., daß es den Deutschen schlecht geht und den Engländern gut. Wie es mit London in dem Punkt steht, ist unbekannt, aber sicher ist, daß heute die Sterblichkeit in den unbemittelten Kreisen Berlins nicht größer ist als in den bemittelten.
Ein Stuttgarter Kind schrieb:
... Heute haben wir zum erstenmal Flieger, und die haben Bomben heruntergeworfen und wir in der Schule haben sie gehört. Dann hat unsere Lehrerin gesagt, wir sollen unter die Schulbänke herunterschlupfen, und die Lehrerin hat sich in den Kasten, wo sie die Kleider darin hatte, versteckt. Aber die Kinder haben alle geweint. Bloß drei Kinder haben nicht geweint, und ich. Die haben gesagt: O Mamale, o Mamale! Ich habe Kopfweh bekommen, mein Herz hat so arg geklopft und zittern hab' ich auch müssen, aber nicht geweint. Dann haben die Kinder gebetet und die Lehrerin auch. Ich wollte auch, aber ich konnte doch keines. Wir sind alle gesund geblieben, Großmutter und Großvater auch. Als ich zum Essen heimkam, war ich noch weiß vor Angst, daß Großmutter, die sich doch nicht schnell verstecken kann und nicht bücken und unter das Sofa und unter alles zu dick ist, schon tot wäre ....
Eine Zeitung in Dunkerque brachte den Bericht eines englischen Soldaten:
.... Die Gasbomben sind eine fürchterliche Waffe der Deutschen. Merkwürdigerweise künden uns die Vögel den Angriff jener an. Häufig riechen wir die Gasdämpfe noch gar nicht, da verlassen die schlafenden Vögel schon die Zweige, auf denen sie gesessen sind, fliegen unruhig hin und her und piepen ängstlich. Solcherweise werden wir beinahe regelmäßig gewarnt und haben Zeit, Maßregeln zu treffen ....
Und die Menschen, die erwachsenen, wissen noch immer nicht, was sie tun.