Ernst Kossak
Prof. Eduard Hildebrandt's Reise um die Erde
Ernst Kossak

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VI.

Pallas und Sirius. Piraten-Versuch. Spionerie vor der Abfahrt. Er kehrt bei Tage zurück. Seekranke Kanarienvögel. Der Schiffsschreiber als Vertrauter. Die Dame in Roth. Ein chinesischer Particulier. Die Duenna und ihre siebenzehn Pensionärinnen. Capitän Dr. Hartmann. Die Sturmleiter. Californische Dauerbutter.

Das Verdeck betretend, fand ich Alles noch in weitem Felde. An allen Ecken und Enden wird calfatert, mit Werg verstopft, gestrichen und getheert, die drei Böte der »Pallas« werden »seefest« und dann Alles klar auf Deck gemacht, aber fortwährend kommt noch ein Nachschub. Zuerst trifft der chinesische Lootse ein, und sein Sampan wird hinten am Stern befestigt. Der wackere Seemann hat gleich die ganze Familie, Vater und Mutter, Frau und Kinder mitgebracht, sein Boot ist zugleich ihre Wohnung und sie hätten bei seiner Abwesenheit kein Obdach, während sie als sein Gefolge vom Capitän der »Pallas« mit durchgefüttert werden müssen. Auf den Lootsen folgt der Koch in einem großen, mit Schweinen, Kohl, Zwiebeln, Kartoffeln, Eiern, Zucker und Seife beladenen Boote. Es kostet nicht geringe Mühe, unbeschadet der Eier, das widerspenstige Rüsselvieh auf das Verdeck und in seine Koje zu 79 schaffen. Um drei Uhr trifft ein Billet des Capitäns an den ersten Steuermann mit der Meldung ein, er werde in einer halben Stunde folgen. Man möge nur inzwischen getrost Anker holen und Segel setzen. Wirklich hielt unser Gebieter Wort, und um vier Uhr setzten wir uns zum Abschiedsmahle von Hongkong an den Tisch. Das einfache Diner nahm nicht viel Zeit in Anspruch, und wir waren eben beim Dessert angelangt, als uns ein Zetergeschrei der chinesischen Deckpassagiere aufschreckte. Eine kleine holländische Barke, »Sirius«, war der schwerbeladenen »Pallas« unvorsichtiger Weise zu nahe gekommen, und diese hatte mit ihrem Bugspriet nicht nur die Vormarsraa des »Sirius« zerbrochen und das Segel derselben zerrissen, sondern auch Bugspriet und Gallion des kleinen Schiffes zertrümmert und ihm selber einen energischen Rippenstoß versetzt. »Pallas« war ihrerseits mit einer leichten Contusion davon gekommen. Fünf Minuten später erschien der Steuermann des »Sirius« auf unserem Deck und forderte baaren Schaden-Ersatz oder eine Schuldverschreibung. Nach längerem Hin- und Herreden bequemte sich unser Capitän zu letzterer, und der Steuermann entfernte sich, scheinbar zufriedengestellt.

Ursprünglich war es die Absicht des Capitäns gewesen, schon Vormittags abzufahren, um noch bei Tageslicht aus dem Klippengewirr und Piratenrevier dicht vor Hongkong in die offene See zu kommen, allein die Mannschaft hatte mit den Vorkehrungen zur Abfahrt zu viel Zeit verloren. Allerdings wäre es nun vernünftiger gewesen, wieder bis Tagesanbruch zu warten, doch hätte der Capitän alsdann noch ein Liegegeld (Hafengeld) von 70 Dollars zahlen 80 müssen, und dies sollte selbst auf die Gefahr hin, eine Rencontre mit Piraten zu bestehen, erspart werden. Die unvermeidliche Folge war, daß wir bei der um diese Jahreszeit früh hereinbrechenden Dunkelheit um sechs Uhr Abends eine halbe Meile von Hongkong, dicht vor Green Island, abermals Anker werfen mußten.

Ehe ich auf meinen Nachtrapport komme, habe ich noch der Ceremonien zu erwähnen, durch welche unsere chinesischen Passagiere sich eine glückliche Seereise zu sichern glaubten. Die wohlhabenderen Bewohner der Kajüte bauten auf dem Eßtisch derselben und auf dem Vorderdeck zwei Miniatur-Altäre mit brennenden rothen Talglichtern und kleinen vergoldeten Teufeln; die Frauen oder Töchter der Deckpassagiere stiegen auf das Hinterdeck und warfen unter den seltsamsten Grimassen, die den Teufel verscheuchen sollten, eine Menge versilberter Opferpapiere, winziger Blättchen, zwischen denen wir Gold- und Silberschaum aufzubewahren pflegen, in die See. Auf unserer Ankerstation angelangt, rüsteten wir uns zunächst auf einen möglichen Ueberfall. Mit schwerem Geschütz waren wir nicht versehen, aber zwanzig ausrangirte preußische Musketen mit Percussionsschlössern standen uns zur Verfügung; ich hatte meinen alten Begleiter durch Japan, den siebenläufigen Revolver, gar nicht erst in den Koffer gepackt, und auch Capitän Hartmann war mit einem ähnlichen Schießapparat ausgerüstet. Die Gewehre wurden geladen, an jeden Matrosen 25 scharfe Patronen vertheilt und Posten ausgestellt. Unter tiefem Schweigen war die elfte Stunde herangerückt, und der Capitän wollte sich eben, ohne die Kleider abzulegen, auf seinem Lager ausstrecken, 81 als ein Matrose mit der Meldung in die Kajüte trat, vier verdächtig aussehende Dschunken näherten sich mit umwickelten Rudern lautlos der Backbordseite der »Pallas«. Wir eilten auf das Verdeck und griffen zu den Gläsern. In der That verhielt sich Alles, wie der gute Bursche gemeldet. Die Nacht war bei leicht umwölktem Himmel ziemlich dunkel, doch unterschied ich bei dem schwachen Schimmer von Sternenlicht und dem phosphorischen Leuchten der Wogen ganz deutlich die vier Fahrzeuge von einander. Die größte der Dschunken trug außer dem Hauptmast noch zwei kleine, auf dem Hinterdeck neben einander stehende dünnere Masten. Auf sämmtlichen vier Dschunken kauerten geduckt auf den Masten finstere Gestalten; es waren die Bombardiere mit Stinkpots, die im Moment des Enterns auf unser Verdeck geschleudert werden sollten. Ich verschweige nicht, daß mir bei der gespenstischen Annäherung der Flotille ein kalter Schauer über den Rücken lief, und doch entsprang er nicht sowohl der Todesangst, als meinem unsäglichen Widerwillen vor einer Berührung mit den widerlichen Mischungen der Stinkpots. Schulerinnerungen haften für das ganze Leben und treten oft urplötzlich wieder hervor; so fielen mir jetzt die Töpfe mit gepulvertem ungelöschten Kalk ein, welche die Karthager auf die römischen Schiffe zu werfen pflegten. Es blieb nicht mehr viel Zeit zu philologischen Reminiscenzen übrig. Als die sich rasch nähernden Dschunken auf Flintenschußweite herangekommen waren, commandirte Capitän Hartmann »Feuer«, und zugleich erschallte von den Dschunken her ein gellendes, kurz abgebrochenes Geschrei; die Piraten mochten nicht erwartet haben, uns auf ihren Angriff so vorbereitet zu finden. 82 Ohne weiter einen Laut von sich zu geben, machte das Seeungeziefer Kehrt und verschwand in wenigen Minuten zwischen den dunklen Felscoulissen des Hintergrundes. Der um Mitternacht aufgehende Mond zerstreute alle ferneren Besorgnisse, doch blieb ich in meinen Kleidern und auf Deck; der Gedanke: von chinesischen Mördern im Schlafe überrumpelt zu werden, ließ mich nicht Ruhe finden.

Der Morgen des 30. Januar brach unter ätherischer Klarheit des Horizonts und einer leichten Brise an; der Capitän nahm die chinesischen Weiber, welche fortwährend die Köpfe zusammensteckten und tuschelten, in's Verhör, und bald berichteten sie, es seien gestern am frühen Morgen einige verdächtig aussehende Chinesen an Bord der »Pallas« gekommen und hätten sich bei ihnen angelegentlich nach der Zahl der Mannschaft, den Frachtgütern und dem Werth der Ladung erkundigt. Unfehlbar waren sie Kundschafter der Piraten gewesen. Im Verlaufe des Vormittags kommen wir rasch an den Neun-Kegel-Felsen und den Ladroneninseln vorbei und unter einem sich aufsteifenden Nordost in die offene See. Das Tagewerk des chinesischen Lootsen war zu Ende, und er ging den Capitän um die Bezahlung der geleisteten Dienste an, da er gern vor einbrechender Dunkelheit wieder in Hongkong sein wolle. Er traue nicht dem Frieden: seine gut unterrichteten Landsleute lauerten sicherlich im Verborgenen, um ihm seinen Verdienst abzunehmen und nach Umständen zugleich den Hals abzuschneiden. Kaum hatten wir uns von dem zärtlichen Familienvater und seinen zahlreichen Angehörigen getrennt, als der Himmel sich umwölkte und der Nordost wie ein muthiges Schlachtroß zu schnauben begann. Die 83 Bramsegel werden eingezogen, aber bei dem hohen Seegange macht die Seekrankheit reißende Fortschritte. Außer der Mannschaft liegen wir Alle, inclusive zweier Schiffsjungen aus Schleswig-Holstein schwer darnieder; Menschen, Hunde, Schweine, Hühner und Kanarienvögel. Letztere sitzen unbeweglich auf den Stäben des Käfigs, schließen und öffnen langsam die Aeuglein und neigen die Köpfchen traurig hin und her. Ich hatte mich gleich anfangs in meine Kabine geflüchtet und, um das Elend zu lindern, die horizontale Lage gewählt; mir war keine lange Ruhe vergönnt. Der über das Verdeck stürzende Wellenschlag zertrümmerte das auf den Gang hinausgehende kleine Fenster der Kabine, und ein gleich darauf folgendes Sturzbad nöthigte mich, aufzustehen und Hilfe beim Schiffszimmermann zu suchen. Der widrige Wind zwingt uns, den Cours zu ändern und statt nach Nordost nach Südost zu steuern. Wir halten grade auf die Philippinen, nur, um so bald als möglich aus dem Rayon der Piraten zu kommen. Capitän Hartmann verhehlt mir in traulichen Stunden nicht seine Besorgnisse. Den Küsten-Strolchen sind wir glücklich entgangen, aber ungleich größere Gefahren drohen uns von den mit Kanonen bewaffneten großen Seeräuber-Dschunken. Diese streifen viele Meilen weit in der chinesischen See umher und werden von den Kauffahrern am meisten gefürchtet, da sie diesen als Schnellsegler an Geschwindigkeit weit überlegen sind. Ich kann jedoch schon jetzt das Bekenntniß ablegen, daß ich die in Hongkong getroffene Wahl der deutschen »Pallas« unter drei nach San Francisco bestimmten Schiffen nicht zu bereuen hatte. Das englische Barkschiff war, wie ich später in Californien erfuhr, zehn 84 Wochen nach der Abfahrt, ausgehungert und leck, in einen kleinen Hafen von Kamtschatka eingelaufen, und der Holländer, der an einem Tage mit der »Pallas« China verließ, acht Wochen darauf, von den furchtbarsten Stürmen hart mitgenommen, in sinkendem Zustande nach Hongkong zurückgekehrt. Unserer Ueberfahrt ließ sich freilich nicht viel Gutes nachrühmen; wir waren indeß am Orte unserer Bestimmung eingetroffen.

Mit den Passagieren bin ich, da die Seekrankheit uns zu einem andauernden Isolirsystem zwingt, noch nicht näher bekannt geworden, doch unterscheiden sie sich schon nach den ersten flüchtigen Beobachtungen von allen meinen bisherigen Reisegefährten. Sie scheinen sämmtlich die Flagge des Glücksritterthums aufgehißt zu haben; nicht ohne triftige Gründe vollzieht der Mensch den Tausch des Aufenthalts in zwei verschiedenen Welttheilen. Von den Kajüte-Nachbaren wäre zunächst ein langer Engländer zu nennen, der in Amerika aufgewachsen, später sein Heil als Schiffsschreiber in den asiatischen Gewässern versucht hat, und jetzt auf die Spielplätze seiner Kinderjahre zurückkehrt, ohne in dem Lande der Diamanten und Perlen Schätze gesammelt zu haben. Er ist in der Heimath der Leberkrankheiten wie ein Kabeljau zusammengetrocknet und eignet sich trefflich für den Durchwässerungsprozeß, zu dem wir Passagiere der schwerbeladenen »Pallas« verurtheilt sind. Mit klingender Münze mag er nicht allzu reichlich versehen sein, denn er spielt die Rolle eines Vertrauten des Capitäns, leistet ihm Hand- oder Spanndienste und füttert die Kanarienvögel. Mein Urtheil über die »Dame in Roth« muß ich bis nach ihrer Genesung von der Seekrankheit 85 aufschieben. Ihrem Aussehen nach halte ich sie für eine Kunstreiterin außer Engagement oder Dilettantin in der Kunst auf Pfänder, und zwar nicht in Gesellschaftsspielen, sondern im bittern Ernst des Lebens zu leihen. Sie steht in den besten Mannesjahren, trägt als Peplon ein rothes Garibaldihemde und ist von untersetzter Leibesstatur. Vorläufig weiß ich nur, daß sie wiederholt beim Capitän den Antrag gestellt hat, um von den Qualen der Seekrankheit befreit zu werden, die »Pallas« in den Grund zu bohren. Der Stubenkamerad des Engländers ist ein chinesischer Particulier, der sich zum Behufe von Opiumspeculationen unter seinen dortigen Landsleuten nach Californien begiebt. Er hat seine Baarschaften in blanken Dollars, und den Opiumvorrath in Holzkisten verpackt, in seinem Bette untergebracht, mit der Matratze bedeckt, und verläßt dieselbe nur in Geschäften, die kein Anderer für ihn verrichten kann. Seine Schutz- und Trutzwaffen bestehen in einem anderthalb Fuß langen Messer, das über dem Kopfende des Bettes hängt, und einer phantastisch geformten Vogelflinte, die bei Nacht queer vor die Thür der Kabine gestellt wird. Von unseren anderweitigen chinesischen Passagieren ist nur noch eine weibliche Respectsperson in einer Kabine der Kajüte untergebracht; die übrigen – ihre Zahl beträgt fünfundsechszig – logiren in Bretterverschlägen auf Deck und beköstigen sich selbst. Ueber diese ehrwürdige Duenna kann ich mich etwas zuversichtlicher äußern. Sie ist ein Mittelding zwischen Frau Hurtig, der Amme in »Romeo und Julie«, und der Martha in Goethe's »Faust«. Gleich den bekannten Sachwalterinnen zwischen Berlin und Hamburg, fährt sie zwischen Hongkong und San Francisco 86 hin und her und verhandelt die Töchter China's in der amerikanischen Goldstadt. Madame steht an der Spitze eines Rudels von siebenzehn hübschen jungen Pensionärinnen, und macht den Eindruck großer Wohlhabenheit; das Transportgeschäft wirft augenscheinlich gute Spesen ab. Die Hüterin der angehenden Vestalinnen spricht fertig Pidjen-Englisch und ist ein sattsam reisiges Frauenzimmer, um schlimmsten Falles ihre Schutzbefohlenen mit eigener Faust vertheidigen zu können.

Das Wetter bleibt anhaltend schlecht, aber man gewöhnt sich an Alles, und obgleich die »Pallas« in der Nacht vom 30. bis zum 31. Januar, wie der Capitän zu sagen beliebte, beinahe »auf dem Kopfe stand«, habe ich doch unvergleichlich geschlafen und bleibe aus Dankbarkeit im Bette liegen. In der That wüßte ich nicht, wo ich mich sonst aufhalten sollte, denn die Wogen rollen unablässig über das Verdeck. Dank der Empfehlung des preußischen Herrn Consuls in Hongkong pflegt mich Capitän Hartmann wie seine Schoßpuppe, und der Steward ist angewiesen, sich mir stets zur Verfügung zu stellen. Unsere Lage ist bei der stürmischen Witterung und dem dichtbewölkten Himmel gar schwierig: wir nähern uns der Gegend des Pratas-Riffs, einer kleinen, weithin von Klippen umgebenen Insel, an der in den letzten Monaten fünf Schiffe gescheitert sind. Bis auf die Marssegel wird daher alle Leinwand dicht gerefft. Am 1. Februar vertrieb mich die schlechte Luft aus der Kabine. Angethan mit einem chinesischen Strohpaletot und Gummischuhen, trotze ich dem über Bord brausenden Wellenschlage und stärke mein Herz durch eine Promenade in der frischen Seeluft. Unter dem 87 Vorsitz ihrer Frau Hurtig haben sich die jungen Colleginnen Dortchens in Shakespeare's Heinrich IV. in die Kajüte zurückgezogen und üben sich dort in Kraftäußerungen der Seekrankheit: die Dame in Roth ist noch nicht wieder sichtbar geworden. Am Morgen des 2. Februar hat sie nach meinem Schiffstagebuch endlich die ärztliche Hilfe des Capitäns in Anspruch genommen. Ich fürchte, der brave Hartmann curirt nach der scharfen Methode des Doctors Eisenbart im Volksliede:

Zu Wimpfen accouchirte ich
Ein Kind zur Welt gar meisterlich,
Dem Kind zerbrach ich sanft's Genick,
Die Mutter starb zum guten Glück.
In Ulm curirt' ich einen Mann,
Daß ihm das Blut vom Beine rann,
Er wollte gern gekuhpockt sein,
Ich impft's ihm mit dem Bratspieß ein.
Des Küsters Sohn in Dudeldum,
Dem gab ich zehn Pfund Opium,
Drauf schlief er Jahre, Tag und Nacht
Und ist bis jetzt noch nicht erwacht.

Im tiefsten Vertrauen hat er mir verrathen, und es ist eine Indiscretion, dergleichen Mittheilungen von Männern der Wissenschaft auch nur zu Papier zu bringen, er habe ihr »eine Hand voll« Rhabarber eingegeben, und die Wirkung könne, nach seinen bisherigen ärztlichen Erfahrungen, nicht ausbleiben. Wie es mit Dr. Hartmann's Examen und Antecedentien als »Accoucheur« aussieht, weiß ich nicht, und doch macht er sich darauf gefaßt, drei bis vier chinesischen Frauen nächstens die Dienste einer Wehemutter zu 88 leisten. Er spricht mit großem Selbstvertrauen von seiner ausgebreiteten Praxis auf dem stillen Ocean.

Seit dem Morgen unserer Abfahrt von Green Island liegt die »Sturmleiter« auf dem Eßtische. Es ist dies ein von vier Leisten umspanntes hölzernes Gitterwerk, das an die Tischbeine gebunden wird und dazu dient, bei heftigem Schwanken des Schiffes die Teller vor dem Zerschlagen zu bewahren. Die Sturmleiter schützt nun zwar die Teller, aber nicht den gegenüberstehenden Tischgenossen, dem jedesmal, wenn Steuerbord oder Backbord in einem Winkel von 45 Graden sich erheben, die Erbsen- oder Graupensuppe in den Schooß gegossen wird. Ohne den Griffel zu Hilfe zu nehmen, ist es absolut unmöglich, unsere Positionen am Tische zu veranschaulichen. Wir essen nothgedrungen »im Profil«. Mit welcher Aufmerksamkeit Jeder das Gleichgewicht seines Sessels, Tellers und Glases zu beobachten hat, geht daraus hervor, daß es ganz unbeachtet blieb, als zwei große Steinbüchsen voll eingemachten Ingwers vom Tische, und eine Kiste voller Patronen vom Gesimse geworfen wurden. Wir merkten das Unglück nicht eher, als bis Nelson, des Capitäns riesiger Newfoundländer, der sich in dem Ingwersyrup gewälzt, nach Hundeart an uns vorüberstrich und alle Kleider beschmutzte. Der Fußboden der Cajüte war mit Syrup, Ingwer und Schießpulver bedeckt, hinreichend, das ganze Schmutznest in die Luft zu sprengen. Nachmittags zog mich Capitän Dr. Hartmann mit strahlendem Gesicht bei Seite und flüsterte mir in's Ohr, die Rhabarberdosis habe ihre Wirkung gethan, und die ferneren gesegneten Folgen seien unberechenbar. Einmal in die Mysterien der Heilkunde 89 eingeweiht, hielt ich nicht für ungeziemend, einige Erkundigungen über den Vorrath der »Pallas« an Apothekerwaaren einzuziehen. Sie konnten, wie das ärztliche Wissen Dr. Hartmann's, nicht umfassend genannt werden und bestanden nur aus Rhabarber, Rhicinusöl und Heftpflaster. Früher, sagte der Capitän, habe er auch Brechmittel »gefahren«, allein der stille Ocean sei ungleich wirksamer als tartarus emeticus und Ipecacuanha, und diese Ausgabe deshalb vom Budget gestrichen worden.

Mit chirurgischen Instrumenten ist Dr. Hartmann nicht versehen, es sei denn, man rechnete den siebenläufigen Revolver dahin, von dem er sich weder bei Tage noch bei Nacht trennt. Er empfiehlt mir, dieses Geräth gleichfalls stets in der Rocktasche zu tragen; den Kulis, die der Goldgräberei wegen nach Californien reisen, sei niemals zu trauen. Gewiß hatte er wenigstens in sofern Recht, als Alles, was nicht niet- und nagelfest war, namentlich Eßwaaren, sobald man den Rücken kehrte, spurlos verschwand.

Der 3. Februar brach wieder unter Sturm und Regen an, seit gestern sind alle Segel gerefft, und der hartnäckige Nordost treibt uns immer weiter nach Süden hinunter; wir nähern uns der Nordspitze von Manila und versinken immer tiefer in den Regensack dieser Zone. Wie undankbar ist der gedankenlose Mensch, wenn er sich im Mittelpunkte einer großen Hauptstadt, im Schooße aller Reichthümer von Wissenschaft und Kunst, im Kreise interessanter Frauen und Männer über Langeweile beklagt; nur zur Warnung für übermüthige Europäer auf dem Festlande theile ich meine heutige Vormittagsunterhaltung mit Capitän 90 Hartmann mit. Ort der Handlung: die Kajüte. Das Ameublement besteht in zwei mit Kattun überzogenen, stark geflickten Sophas und einem dazwischen befindlichen Tische. Personen: der Capitän, der Verfasser, Nelson, ein Newfoundländer.

Capitän (eine blaue Kanasterwolke aus der Pfeifenspitze vor sich herblasend und den Kopf Nelson's streichend): Er geht mir über Alles . . . . . er ist mir gestern sogar über die Butter gegangen!

Verfasser: Ah! (Pause von fünfundzwanzig Minuten. Geräusch einer über das Dach der Kajüte hereinbrechenden Sturzsee).

Capitän: Kreuzschockschwerenoth! (Nelson winselt leise. Pause von fünfundvierzig Minuten. Der Capitän und Verfasser sind in sitzender Stellung eingenickt. Hinter der Scene heftiger Husten des chinesischen Opiumschmugglers.) Hier wurde der Tisch zum Tiffin gedeckt und der Capitän gab mir die nöthige Aufklärung über die von seinem Busenfreunde angetastete Butter im Verlaufe der Mahlzeit. Die Fettigkeit in Rede ist californischen Ursprungs, und so mancher an seine Scholle gefesselte Kleinstädter gäbe etwas darum, die Reisen und Schicksale dieser Butter getheilt zu haben. Vor Jahr und Tag ging sie von San Francisco nach Australien, und von hier nach Hongkong. Aus nicht näher zu erörternden Gründen wurde sie mit Protest nach San Francisco zurückgeschickt, aber sofort, da sie ihr Heimathsrecht eingebüßt, wieder nach Hongkong spedirt; jetzt bestreichen die Passagiere ihren Schiffszwieback mit der californischen Dauerbutter. Erst in den chinesischen Gewässern habe ich mich in die Tiefe dieses 91 technischen Ausdrucks unserer Milch- und Sahne-Bureaux versenkt. Der Capitän behauptet, die Butter von San Francisco könne sehr – sehr alt werden. Ich bin weit entfernt, ihm zu widersprechen oder gar ihr Dasein durch Mitbetheiligung an ihrem Genuß zu verkürzen; seien ihr die Jahre Methusalems vergönnt! Nelson besitzt eine weniger sensible Zunge; er verzehrt meine Portion mit unverkennbarem Wohlgeschmack. Des Capitäns unbegrenzte Zuneigung glaube ich nur durch meine Zuvorkommenheit gegen diesen seinen Busenfreund gewonnen zu haben. Er hat das Prachtexemplar vierfüßiger Säugethiere und stinkender Faulheit pfundweise bezahlt, also nach Nelsons damaligem Gewicht für ihn 130 Dollars erlegt, gegenwärtig ist der colossale Hund unter den Einwirkungen der Seekrankheit etwas heruntergemagert und leichter geworden. Nelson hat bisher Tage und Nächte unter dem Eßtisch der Cajüte zugebracht; am 5. Februar wurde er zum ersten Male aufgescheucht. Die See hob die Backbordseite der »Pallas« so hoch, daß der schwere Tisch mit allen Tassen und einer Oellampe umstürzte, und zwei seiner plumpen Füße abbrachen. Der Schiffsjunge, welcher die Geräthe hatte stehen lassen, mußte die Schuld der See büßen und erhielt eine weidliche Tracht Hiebe mit dem Tauende. Ich meinerseits war nicht Augenzeuge der Execution, da ich mit gutem Vorbedacht am Morgen mein schmales, sargähnliches Bett gar nicht verlassen hatte. Der grundgutmüthige Capitän war dennoch meines Frühstücks eingedenk gewesen. Er überbrachte mir eine Tasse schwarzen Kaffee, den er eigenhändig mit einem Eigelb abgerührt und mit 92 Muscobade versüßt. Es war das letzte der von Hongkong mitgenommenen Eier gewesen; die Flitterwochen der Reise sind vorüber, und den an Bord befindlichen Hühnern fällt von jetzt an die alleinige Sorge für unsere Küche anheim. 93


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