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Der Gaetstein. Schilfpaletots. Vicekönig Yeh. Der Richtplatz von Kanton. Gepfählt. Die rothseidene Schnur. Geohrfeigt. Die Sü-Straße. Ein Rattenschlächter. Dejeuner auf einem Blumenschiff. Die Kegelpartie in Kanton. Auf Deck des Kin Shan. Piraterie und Raubmord. Der Giftbäcker.
Mein Absteigequartier ist, wie bei meiner ersten Anwesenheit in Kanton, im Hause des Herrn Mestern, eines Verbündeten der Firma Siemssen. Ich kann aus den Fenstern meines Gemachs die White-Cloud-Bergreihe erblicken, das Getreibe der Böte auf dem unten vorüberfließenden Strom gleicht den Arbeiterzügen eines Ameisenbaues; sie sind fast durchweg mit frischen Blumen in Töpfen und Bouquets beladen, und der köstliche Duft steigt bis zum zweiten Stockwerk empor. Wie gern stürzte ich mich in das Gewimmel dieser meiner Lieblingsstadt, aber das beginnende Regenwetter und der nicht zu durchwatende Straßenschmutz trieben mich nach einer Stunde wieder nach Hause zurück. Der gütige Wirth, Herr Mestern, bemerkte meine Niedergeschlagenheit und suchte mich nach Kräften zu erheitern. Das Programm seiner Unterhaltungsgegenstände war nicht zahlreich, aber vollkommen angemessen dem 64 Welttheile, dem Breitegrade und der Menschenrace. Herr Mestern zeigte mir in einem wohlverwahrten Seitengemach seines Comtoirs einen, ungefähr anderthalb Kubikfuß großen, halbdurchsichtigen grünen Stein, einen »Gaetstein«, wie der Wirth ihn nannte, den der König von Anam dem Hause Siemssen mit dem Auftrage, ihn, wenn möglich, vortheilhaft zu veräußern, in Verwahrung gegeben hatte. Auf Mesterns Gesicht war unschwer zu errathen, daß ein Pfandobject vor uns lag, und Se. Majestät von Anam, notorisch ein nicht sonderlich rangirter Monarch, schon den größeren Theil des Werthes in klingender Münze erhalten habe. Der Preis des Halbedelsteins wurde auf 36,000 Dollars angegeben; so hoch beliebte wenigstens der geldknappe Selbstherrscher ihn zu taxiren. Abends begaben wir uns in einem Palankin in das Hotel des preußischen Consuls und soupirten in Gesellschaft des Prinzen Wittgenstein und des englischen Consuls.
Der klare, aber nur mäßig warme Morgen des 21. Januar veranlaßte mich zu einer Bootsfahrt nach den Blumengärten am Canal, einem mährchenhaften Aufenthalte mit ihren phantastischen Sommerhäuschen, den wunderlichen Zwerggewächsen und den in allerlei Thierformen verschnittenen Myrthenbäumen. Ich verband damit einen Besuch des Südthors, meines ehemaligen Lieblingsstandpunktes für Malerstudien, und traf wieder mit einer eben so freundlichen Wachtmannschaft zusammen. Da ich mit meiner Zeit haushälterisch umgehen muß, hatte mir Herr Mestern einen alten Beamten des Hauses entgegengeschickt, der mich auf dem Südthore erwarten und mir mehrere Merkwürdigkeiten zeigen sollte, die mir bisher entgangen waren. Wir machten 65 uns auf den Weg und hatten Mühe, in den nächsten engen Gassen durch den Schwarm der Kulis zu dringen, die, gleich den Bootsleuten und Fischern, zum Schutze gegen die kühle Morgenluft die landesüblichen Paletots aus Schilfblättern angelegt hatten und Vogelscheuchen täuschend ähnlich sahen. Master Smith, ein redseliger Alter, der viele Jahre in China und Kanton zugebracht, führte mich nach dem Richtplatze, auf dem Yeh, der ehemalige Vicekönig der Hauptstadt, vor sechs Jahren unter den besiegten und gefangenen Taipings ein so namenloses Blutvergießen angerichtet. Wohl die Hälfte der hunderttausend Elenden soll auf diesem Platze enthauptet oder niedergemetzelt sein; endlich wurde dem teuflischen Schlächter das unaufhörliche Blutvergießen langweilig. Die Gefangenen wurden an den Kantonfluß und mit Lanzen in das Wasser getrieben. Die verhängnißvolle Stelle, die ich später besichtigte, ward in einem weiten Halbkreis von Böten umgeben, deren Mannschaften Jedem der sich durch Schwimmen oder Anklammern an den Rand retten wollte, zurückstießen oder niederstachen. Yeh sollte seines Lebens nicht wieder froh werden, er gerieth bald darauf in die Kriegsgefangenschaft der Engländer, wurde nach Calcutta gebracht und erlag nach Jahresfrist im Fort William dem mörderischen Klima des Ortes. Ich besitze ein, dort nach einer Photographie angefertigtes Portrait des Ungeheuers, das nicht die geringste Spur seiner Erbarmungslosigkeit verräth. Yeh ist ein wohlbehäbiger, gelassen aussehender Herr von einigen vierzig Jahren.
Auf dem erwähnten Richtplatze waren am Tage vorher einige zwanzig Verbrecher vom Leben zum Tode gebracht 66 worden, aber Niemand hatte für die Vertilgung der Blutspuren Sorge getragen; wir wanderten zwischen Lachen geronnenen Blutes. An der Südseite des Platzes stand ein Häuflein geknebelter Schächer, umgeben von Henkern und Schergen. Einer der armen Sünder fragte, nach Master Smiths Angabe, wie lange es wohl noch bis zur Vollstreckung der Exekution dauern könne, und entgegnete unwillig, als man ihm antwortete: »Noch eine Stunde!« das könne er nicht aushalten, ihn hungere, er verlange vorher noch eine Ration Reis! Meine Aufmerksamkeit wurde von den verlorenen Menschen durch einige, drei bis vier Fuß tiefe Löcher abgelenkt, in denen mannshohe Pfähle steckten. Eben traten wir etwas näher, als die Schergen einen dieser Pfähle aus der Erde zogen, ihn mit der Spitze nach oben gerichtet, an den Rücken eines der Verurtheilten stellten und ihn mit demselben vom Halse hinunter bis an die Knöchel so fest zusammenschnürten, daß er sich nicht zu regen vermochte. Anfangs glaubte ich, dieses Verfahren sei das Vorspiel einer Ausstellung am Pranger, aber schon nach wenigen Secunden wurde ich auf die schrecklichste Weise enttäuscht. Mehrere Burschen ergriffen den Pfahl und das daran gebundene Opfer, kehrten mit raschem Schwunge Beide um, stießen die Spitze mit dem, einen Fuß darunter befestigten Kopfe des lebenden Menschen in das nächste der Löcher, während mehrere Helfershelfer dasselbe mit Sand zuschütteten. Vor Schrecken verlor ich fast die Besinnung; ich war, ohne vorbereitet zu sein, Zeuge der Vollziehung einer der scheußlichsten Todesstrafen: des lebendigen Begräbnisses oder Pfählens, geworden. Die Füße zitterten unter meinem Leibe, ich klammerte mich an den Arm 67 meines grauköpfigen Masters, auf den das entsetzliche Schauspiel nicht den geringsten Eindruck machte, verließ den Platz und wankte langsam von dannen. Der Humor Smiths hatte unter dem gräulichen Anblick nicht gelitten; er war seit langer Zeit mit der chinesischen Gerechtigkeitspflege vertraut und suchte mich durch ihre vortheilhaften Seiten auch mit ihren rauhen Eigenthümlichkeiten zu versöhnen. Nach seinen Behauptungen sei es ein Vorzug der chinesischen vor allen Gesetzgebungen civilisirter Nationen, daß ein zum Tode verurtheilter Verbrecher, falls er nicht gewisse, unverzeihliche Uebelthaten begangen habe und sonst die nöthigen Geldmittel besitze, sich einen Stellvertreter schaffen könne, der an seiner Stelle die Todesstrafe erleide. Wirklich soll es nicht an armen Familienvätern fehlen, die zum Besten der Wittwen und Waisen ihr Leben für eine beträchtliche Summe hingeben und die letzten Tage durch allerlei sinnliche Genüsse verkürzen. Die Verantwortlichkeit für die Wahrheit dieses eigenthümlichen Paragraphen im Strafgesetzbuch des himmlichen Reiches muß Master Smith anheimgestellt bleiben. Gleiche Nachsicht wird höheren Ortes in kritischen Fällen mit schuldigen hohen Staatsbeamten geübt.
Ein in Ungnade gefallener Obermandarin, wenn sein Verbrechen ein todeswürdiges ist, wird nicht durch Henkershände vom Leben zum Tode gebracht, sondern durch eine, ihm vom kaiserlichen Hofe zugesandte rothseidene Schnur benachrichtigt, daß es für ihn gerathen sei, das Zeitliche zu segnen. Nach Ablauf einer Frist empfängt der Schuldige den Besuch mehrerer juristischen Autoritäten, und es ist nun seine Sache, die rothseidene Schnur an dem Haken der 68 Decke zu befestigen, auf den Tisch zu steigen, sie knapp um den Hals zu schlingen, und seinen anwesenden Verwandten einen Wink zu geben. Die Erben und rechtsgelehrten Zeugen ziehen ihm den Tisch unter den Beinen fort, und der Verbrecher hängt in freier Luft. Die Besitzthümer und Standesehren bleiben den Hinterbliebenen, wie in Japan, wenn ein Verurtheilter das »Harikiri« an sich vollziehen läßt, vollständig erhalten. Liegen mildernde Umstände vor, so wird der politische Verbrecher nur zu lebenslänglicher Einsperrung in einem unterirdischen finsteren Loche verurtheilt. Laut Bericht des guten Master Smith sind auch die Polizeistrafen äußerst resolut, selbst gegen das schöne Geschlecht. Die männliche und weibliche Nationaltracht steht gesetzlich fest, wenn nun ein Frauenzimmer sich erkühnt, durch europäische Modejournale verlockt, die geringste Veränderung anzubringen, verfällt sie im strengsten Sinne des Wortes: den Händen des Polizei-Obristen. Die putzlustige Schöne wird vorgeladen und – geohrfeigt. Es soll nichts Seltenes sein, daß unter Umständen ganze Serien von dreißig bis vierzig Maulschellen verabfolgt werden.
Durch die Plaudereien des Masters leidlich erheitert, ersuchte ich Smith, mich in die martialische Drachenstraße zu führen, eine der hervorragendsten Stadtgegenden Kantons. »Dann müssen Sie sich auch die Sü-Straße ansehen!« rief der Alte mit strahlendem Antlitz.
»Die Sü-Straße?« fragte ich verwundert.
»Ja wohl«, sagte Master Smith, »die Rattenstraße!«
Besagte Straße führt ihren Namen von der besonderen Pflege, welche man diesem Nagethiere grade hier angedeihen 69 läßt. Suchen unsere Feinschmecker ihre guten Bissen zur rechten Zeit auf dem Fisch-, Wild- und Gänsemarkt, so begiebt sich der Gastrosoph von Kanton in die Sü-Straße. Er darf gewiß sein, das beliebte Wild in jeglicher Gestalt und Zurichtung anzutreffen. Ein Theil der Bewohner der Sü-Straße beschäftigt sich mit der Rattenmästung. Die fettesten Exemplare werden sogar in Käfichten einzeln aufbewahrt und theuer bezahlt. Vor dem Laden eines Rattenschlächters hängen die ausgeweideten Ratten, wie bei uns die frisch geschlachteten Schweine. Auch zwischen ihren Hinterbeinen steckt ein Bambusstäbchen. In anderen Geschäften werden geräucherte oder getrocknete Ratten verkauft. Wer seinem Appetit nicht widerstehen kann, wird wie in den süditalienischen Oel-Frituren auf der Stelle bedient. Ueberall auf offener Straße werden Ratten gesotten und gebraten; die Sü-Straße ist voller Frühstückslokale. Ironisch lächelnd fragte Master Smith, ob ich nicht auch einen Versuch machen wolle? Ich schüttelte feierlich das Haupt. An einem andern Tage hätte ich mich vielleicht dazu entschlossen; für heute war mir durch die Scene auf dem Richtplatz aller Appetit vergangen. Der Europäer braucht sich über die chinesische Liebhaberei für dieses bei uns so anrüchige Thier nicht zu wundern; in dem übervölkerten Lande wird Alles gegessen, was, abgesehen von seinem etwaigen Beigeschmack, nur Nahrungsstoff enthält. So gut wie Ratten, werden auch Adler, Geier, Falken und Eulen lebendig in Käfichten, oder todt und gerupft, zu Markte gebracht. Es giebt kaum Etwas, das da »kreucht oder fleucht«, was der Chinese nicht äße.
Aus der Rattenstraße kehrten wir in die fashionablen 70 Gegenden zurück. Wenn ich für Anverwandte und Freunde in Europa noch einige Einkäufe machen wollte, fand ich hier die größte Auswahl und wahrscheinlich auch die erträglichsten Preise. Das chinesische Neujahr rückt heran, und die Geschäftsleute brauchen baar Geld, denn im Februar müssen alle Schulden des verwichenen Jahres bezahlt werden. Schon jetzt bietet man Neujahrskarten oder rothe Bogen mit den Inschriften: »Kindersegen«, »Geldzulage«, »Langes Leben«, zum Verkauf aus. Master Smith und seiner Fertigkeit im Pidjen Englisch hatte ich aber vorzüglich zu verdanken, wenn ich billiger denn je einkaufte. Ein wahres Wunderwerk der Elfenbeinschnitzerei war eine hohle durchlöcherte Kugel, in der sieben ähnliche, immer eine in der anderen, steckten. Nur bei der Bezahlung gab es stets neue Schwierigkeiten. Mit jedem Dollar wurde die peinlichste Silberprobe vorgenommen. Angeblich waren die einzelnen Münzen immer zu leicht. Hatte ich dreißig Dollars zu zahlen, so mußten dem Chinesen deren hundert auf den Tisch gelegt werden, und er traf dann mit Vorbedacht seine Auswahl. Was beim Handel abgelassen war, wurde bei der Verrechnung und dem Wechselgeschäft wieder eingebracht. Meine ziemlich beträchtlichen Einkäufe erregten die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden. Mehrere Respectpersonen traten näher und streichelten mir die Brust und die Arme, ganz wie ich es bei den heiligen Hähnen in Japan beobachtet. Anfangs hatte ich sie im schmählichen Verdacht beabsichtigten Taschendiebstahls; Master Smith benahm mir den Irrthum, Kantons Honoratioren wollten nur ihre Zustimmung zu erkennen geben, daß ein Fremder sich durch reichliche Einkäufe um Handel 71 und Industrie wohlverdient mache. Der Tag rückte vor, wir waren ermüdet und mußten an die Rückkehr denken. Erst jetzt fiel mir und der alten Plaudertasche ein, daß wir seit dem frühen Morgen nichts genossen hatten. Bald war das Ufer des Perlflusses erreicht und ein Sampan gemiethet, dessen hübsche junge Bootsführerin uns schnell genug nach dem nächsten Blumenschiffe ruderte, aber, wie alle diese Flußnymphen und Seejungfern, kein kleines Geld herausgeben konnte oder wollte. Wir bestellten in dem schwimmenden Tempel der Aphrodite ein leichtes Dejeuner und ersuchten den die Honneurs machenden Mandarinen und mehrere junge Damen, uns dabei Gesellschaft zu leisten; Alle waren sogleich dazu bereit. Sr. Hochwohlgeboren schien meine Manila-Cigarre eben so sehr zu munden, wie der auf meinem Schooß sitzenden Grazie die pikante Fleischpastete, mit der ich sie nudelte, ein Schwarm ihrer Berufsgenossinnen mit blendend weiß geschminkten Gesichtern und carminrothen Backen bildete um uns einen Kreis, und erhielt gelegentlich aus meinen Händen, und zwar ohne Eßstäbchen, einen Fleischknödel oder einen Bissen Zander, wenn ich den kaltblütigen Landsmann nicht verkannt habe. Der Speisesalon war, an sich betrachtet, auch ohne die originelle Sippschaft, ein wahres Wunderwerk der Holzschnitzerei, durchbrochener Arbeit und reicher Vergoldung. Bei strahlender Beleuchtung hätte ich mich in den Palast der schönen Fee Peribanu versetzt geglaubt. Auf den Tod erschöpft, kamen wir mit einbrechender Dunkelheit nach Hause und füllten nach eingenommenem Diner die Stunden von 9 bis halb 11 Uhr mit einer Kegelpartie, zu der hinter dem Hause die besten Vorkehrungen getroffen waren, aus.
72 Der 22. Januar war der letzte Tag meines Aufenthaltes in China; ich konnte die frühen Morgenstunden nicht besser, als zu einer Bootsfahrt auf dem Perlfluß benutzen. Was für ein Leben in diesen Sampans! Jedes der kleinen Fahrzeuge ist das A und O einer Familie. Dort füttert der Großvater, während die älteste Tochter das Boot steuert, das Schwein des Haushalts, hier wird von der Hausfrau die fette Katze, möglicher Weise der Neujahrsbraten, gekämmt. Kinder von fünf bis sechs Jahren müssen schon das Ruder führen, dazu werden ihnen die jüngsten Geschwister fest auf den Rücken gebunden! Die zarten Wesen tragen die Last den ganzen Tag hindurch mit sich herum, und die noch jüngeren Würmer fügen sich mit Engelsgeduld in ihr Schicksal. Ich fuhr an einem fünfjährigen Knäbchen vorüber, welches sein Ruder mit dem Eifer eines alten Matrosen schwang; auf seinem schmalen Rücken war ein halbjähriges Schwesterchen befestigt. Der Kopf des kleinen Wesens hing seitwärts über den Rand des Bandagen-Futterals hinab; es schlief bei dem Heidenlärm vieler tausend Bootsleute so süß, wie von Flöten eingelullt und auf Daunenkissen gewiegt. Einem anderen kleinen Buben, der in einem alten Reissack auf dem Rücken der Schwester hing, wurden von der Frau Mama die ersten Anfänge des Zöpfleins gedreht. Die dünnen Seidenhaare hielten kaum Stich, und es mußte mit Bändern nachgeholfen werden.
Da ich mich schon vor der Abfahrt verabschiedet und meine Effecten mitgenommen hatte, ließ ich mich sogleich an Bord des Dampfers rudern und traf a tempo mit der Abfahrt, um 9 Uhr Morgens ein. Diesmal fuhr ich auf dem Oppositions-Steamer Kin Shan. Für den 73 Steuermann ist es eine unsäglich schwierige Aufgabe, sich mit einem Schiffs-Leviathan, wie Kin Shan, durch das Gewühl der Fahrzeuge zu winden, ohne Schaden anzurichten. Unterhalb des Siemssen'schen Hotels lagen einige zwanzig mit Kanonen bewaffnete kaiserliche Kriegsdschunken, die wir unbehelligt hinter uns ließen; schlimmer erging es einer großen Mandarinendschunke. Das ungeschickt gesteuerte Fahrzeug kam uns grade in den Wurf, und Kin Shan fuhr ihm den ganzen Hintertheil über den Haufen; er selber kam mit einigen Schrammen davon, und Niemand kümmerte sich weiter um das Unheil. Wie gewöhnlich stehen die Posten auf Deck unter Gewehr, zwei stramme Negersoldaten. Als ob mir das Herz zum Abschiede recht schwer gemacht werden sollte, klärt sich der duftig verschleierte Himmel auf, die Sonne beleuchtet magisch die fernen White-Cloud-Mountains und die auf ihren Abhängen befindlichen marmornen Denkmäler – in wilder Hast eilt Kin Shan stromabwärts. Ich resignire und werfe einen Scheideblick auf Kanton; ich werde es niemals wiedersehen.
Das Tiffin bringt mich rechtzeitig auf andere Gedanken, und das Gespräch mit einem lieben Landsmann, Herrn Gaupp aus Stuttgart, versetzt mich sogar in Gedanken in das theure Vaterland. Die Gesellschaft war aus Deutschen, Nordamerikanern und Franzosen zusammengesetzt, zum Schweinebraten wird nach Yankeebrauch Syrup und Maiskuchen umhergereicht, Herr Gaupp und ich halten uns an die dampfende Fischsuppe, und unter geistreichen Gesprächen über Runkelrübenzucker und Frachtpreise stehen wir von Tisch auf und besichtigen die Einrichtung des Kin Shan. Der riesige Dampfer ist nach dem Muster der 74 Mississippiböte gebaut und die Maschinen liegen an beiden Seiten außerhalb des Schiffsraumes. Diese Einrichtung gereicht nicht allein dem Heizerpersonal, sondern auch den Passagieren zum großen Vortheil. In der Cajüte erster Klasse riecht man weder den Schmirgel der Maschine, noch der Küche, und die Bedienungsmannschaft der Maschine kann – eine Wohlthat unter diesem Himmelsstriche – ihre Geschäfte in frischer Luft verrichten. Die praktischen Yankee's bauen keine kleinen Schiffe mehr; die, auf dem Vordertheil gelegene Cajüte gleicht mit ihrer weiten Aussicht fast dem Gartensaale einer italienischen Villa. Unsere Fahrt wurde durch die Bauart und starke Dampfkraft des Kin Shan eben so sehr, wie durch die Windstille und den raschen Stromlauf des Perlflusses gefördert, schon um drei Uhr waren wir in Hongkong und eine Stunde darauf zu Hause. Wir werden gleich von einer Hiobsbotschaft empfangen. Am gestrigen Nachmittage war eine dänische Brigg, mit Reis beladen und nach Ningpo bestimmt, aus dem Hafen gegangen, hatte sich aber in der frühe hereinbrechenden Dunkelheit eine Viertelmeile weiter abermals vor Anker gelegt. In der Nacht war das Schiff von den hier überall umherlungernden Piraten überfallen worden. Der Capitän, die beiden Steuermänner und ein Matrose hatten sich zur Wehr gesetzt und das Leben verloren, die übrigen Matrosen waren in das Meer gesprungen und von den durch das Feuer der in Brand gesteckten Brigg herbeigelockten Böten gerettet worden. Man fand das Deck des vollkommen ausgeplünderten Schiffes über und über mit dem Inhalt von Stinkpots übergossen; den vier Leichen waren Hände und Füße abgehauen worden. Da die Hilfe rasch bei der Hand 75 gewesen war, hatte man das Feuer gelöscht und Schiff nebst Ladung gerettet. Das Geld und alle Werthsachen waren mit den Piraten verschwunden. Die englische Seepolizei hatte sich schon im Laufe des heutigen Tages mit zwei Kanonenböten ans Werk gemacht und fünf verdächtige Dschunken mit Mann und Maus in Grund geschossen. Freilich ist die Frage, ob sie die Schuldigen getroffen. Doch kommt nach solchen Gräuelthaten Alles nur darauf an, das Raub- und Mordgesindel im Großen und Ganzen einzuschüchtern. In derselben Nacht ist nebenbei ein großer Einbruchsdiebstahl von Chinesen versucht worden, doch wurden die Verbrecher auf frischer That ertappt und sämmtlich verhaftet. Unsere Abendpromenade wurde daher mit frischgeladenen Revolvern in der Hand veranstaltet, und man zeigte mir, den jüngsten Ereignissen entsprechend, als Merkwürdigkeit das Haus, in welchem anno 1857 das vergiftete Brod gebacken worden war, das dem Leben der Europäer in Hongkong ein Ende machen sollte. Der Giftmischer hatte glücklicherweise die Arsenikdosis nicht richtig bemessen; Alle, die von dem Brode genossen, waren mit heftigem Erbrechen und Unwohlsein davongekommen.
Ein Besuch, den ich am Morgen des 23. Januar an Bord der »Pallas« abstatten wollte, wurde durch die stürmische See vereitelt. Ich besuchte den chinesischen Markt, wo grade Joß Pidjen stattfand und für drei Cash Ablaß ertheilt wurde, und erfuhr, daß Vormittags ein Chinese, der einen schwarzen Policemann ermordet, zum Galgen verurtheilt worden sei. Die Kenner des hiesigen Volksschlages schieben das Motiv der fast täglich vorkommenden Verbrechen gegen das Eigenthum auf die Annäherung des 76 neuen Jahres. Es gilt für die größte Schande, an diesem Termine seine Schulden nicht zu bezahlen, und der Chinese will lieber ein Verbrechen begehen und die härteste Strafe riskiren, als sich einen Lumpen schelten lassen. So wurden in der Nacht vom 24. zum 25. Januar zwei reiche Parsis in ihrer Wohnung ermordet; wir gehen ohne den Revolver in der Hand und den Säbel an der Seite sämmtlich nicht mehr aus. Den Policemen, schwächlichen schwarzen Indiern, ist nicht viel Vertrauen zu schenken; die stämmigen Chinesen sind ihnen an Körperkraft weit überlegen.
Nachdem ich an Mutter und Geschwister in der Heimath geschrieben und ihnen die Absendung meiner, mit chinesischen und japanischen Raritäten angefüllten Kiste aus Kampferholz, unter der Adresse des Hauses Siemssen, mit der dänischen Brig »La Plata« nach Hamburg für Leben und Sterben angezeigt hatte, begann ich meine Abschiedsbesuche. Die Zahl derselben war beträchtlich und ich verschone den Leser mit allen ihren lächerlichen Eventualitäten; nur meine Visite in einer englischen Familie darf ich des mir ertheilten komischen Bescheides halber nicht übergehen. Ich hatte den chinesischen Diener mit einer Karte hinausgeschickt und um Audienz ersucht; nach fünf Minuten kam »Jungchina« zurück und brachte folgende Antwort: Missis no can see, hab got Cow-Chilow - hab got Master topside! d. h.: »Madame kann Sie nicht empfangen, sie hat ein Kuhkind (Mädchen) bekommen; aber der Herr ist oben!« – Von Stunde zu Stunde erwarte ich das Signal der Abfahrt, von meiner Veranda aus kann ich die »Pallas« sehen und mit dem Fernrohr, das mir mein Kuli-Lakai auf den Befehl in Pidjen Englisch: »Katchi fatchi that maki 77 luksi« (Hol' mir das Fernrohr), die blau- und weißgestreifte Flagge, den sogenannten »blauen Peter« unterscheiden, eine Aufforderung für alle Gläubiger des Capitäns und der Mannschaft, die Einreichung ihrer Forderungen zu beschleunigen, aber Capitäne und schöne Frauen können mit der Toilette und der Herrichtung des Schiffes niemals zur rechten Zeit fertig werden. Erst am 29. Januar, 10 Uhr Vormittags, begab ich mich am Bord der »Pallas«. Wir sollten unverzüglich in See stechen. 78