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Schlaf-Bons. Die Bettlerkaste. Sir Frederics Passepartout. Musikalische Kleinhändler. Vor Hunger gestorben. Eine Gebetmühle. Pfeifende Tauben. Ein Hochzeitszug. Yuan-ming-Yuan. Buddha unter Bonzen und Schweinen. Pekings Kranzler. Nicht alt genug. Dr. Lockhart und mein hohler Zahn.
Nicht nur was die Naturalverpflegung anlangt, auch im Punkte des Quartiers kann man in Peking überaus billig leben. In vielen Stadttheilen sind große Häuser errichtet, in denen das Bettlergesindel bei Nacht ein Unterkommen findet. Der Miethsbetrag ist eben nicht hoch. Ein Bon auf drei Nächte kostet etwa einen preußischen Pfennig. Dafür wird der Schlafgast nicht nur beherbergt, sondern auch vor der Kälte geschützt. Sind die Abonnenten im Saale versammelt, so wird vom Plafond desselben eine große Decke voller Schlitze herabgelassen. Jetzt ist es Sache jedes Schlafgastes, ein Loch zu erwischen, durch das er den Kopf steckt, um Athem zu holen. Bei Tagesanbruch wird die Sippschaft unnachsichtig in's Freie getrieben, das Wetter sei so schlecht und rauh, als es wolle. Der Hausherr läßt sich höchstens herbei, einigen ihm längst bekannten Protegés zerlumpte Pelze auf den Weg mitzugeben, die Abends wieder 307 abgeliefert werden müssen. Wer die Schlafstelle nicht zu bezahlen vermag, muß die Nacht unter freiem Himmel zubringen. Man wird sich die Lage der Aermsten ausmalen können, die ohne einen Fetzen, ihre Blöße zu bedecken, in eisigen Winternächten in den Winkeln der Straßen kauern. Es ist nichts Seltenes, im November und December Morgens auf erfrorene nackte Kinder zu stoßen. Bei der unsäglichen Uebervölkerung des Landes und der Schwierigkeit, sie zu ernähren, vererbt sich der Bettel von Geschlecht zu Geschlecht; er wird eine ordentliche Kaste. Ich habe schon gesagt, daß Eltern kein Bedenken tragen, um ihren Kindern eine Handhabe zur Erregung des Mitleids in ihrer Bettler-Carriere mitzugeben, sie gräulich zu verstümmeln, oder mit ungelöschtem Kalk zu blenden. Will man zudringlichen Bittstellern nichts geben, so sind die Worte »pie kan!« das einzige Mittel, sie los zu werden. Sie üben eine eben so nachdrückliche Wirkung aus, wie ein Griff an den vorderen Rand der Halsbinde auf die Bettler von Neapel.
Am nächsten Morgen sollten auf dem großen, mitten in der Stadt gelegenen Richtplatze dreißig Verbrecher hingerichtet werden, Grund genug für mich, vor zwölf Uhr nicht meine Wohnung zu verlassen; Schlauberger hatte sich Urlaub erbeten. Ich bewilligte ihm denselben in der geheimen Hoffnung, bei einer so großartigen Metzelei könne auch er um irgend ein minder wichtiges Glied seines Körpers kommen und einigermaßen gedemüthigt werden. Wie ich Abends erfuhr, waren zwei Drittel der armen Sünder geköpft worden, den Ueberrest hatte man in vier Fuß tiefe Gruben auf die Köpfe gestellt und lebendig vergraben.
Das Thermometer sinkt mit jedem Morgen tiefer, aber 308 noch immer ist es möglich, im Freien zu arbeiten. Mein Atelier habe ich auf der Stadtmauer aufgeschlagen, weil ich hier am wenigsten von Neugierigen behelligt werde. Nur eine vier Fuß lange, grün und roth gefleckte Schlange leistet mir heute Gesellschaft. Die Kälte hatte die Bewegungen des sonst so regen Geschöpfes verlangsamt; es schlich schwerfällig an meinem Malerstuhl vorbei an einen sonnenhellen Fleck der Mauer. Nach vollendeter Arbeit stattete ich dem benachbarten Tempel der Göttin der Barmherzigkeit einen Besuch ab und bewunderte den Reichthum seiner Ausstattung an Gold und Marmor. Minder ansprechend war der Eindruck eines nahe gelegenen Lama-Tempels mit seinen gelben Bonzen. Die frommen Brüder gingen mir mit einer solchen Zudringlichkeit zu Leibe, daß ich froh war, ihren Betteleien zu entkommen. Gern hätte ich in der Straße, wo ausschließlich Curiositäten der chinesischen Manufactur feilgeboten wurden, einige Ankäufe gemacht, allein die Preise waren nicht zu erschwingen; da Regenwetter ausbrach, betrachtete ich dieses als einen willkommenen Vorwand, die Unterhandlungen abzubrechen und in das Gesandtschaftshotel zurückzukehren.
Am 6. November hatte ein Orkan in der Nacht die Regenwolken verscheucht, allein das Thermometer war gleichzeitig unter Null gesunken und der Hof mit Glatteis bedeckt. Zwar ließ ich mich zu einem Ausfluge nach dem Observatorium verleiten, um meine, von dort aus aufgenommene Ansicht der Stadt zu vollenden, allein ich mußte die Arbeit noch vor dem letzten Pinselstrich unterbrechen. Meine Hände und Füße erstarrten; ich flüchtete Zähne klappernd nach Hause. Die Sprachstudien, welche ich jetzt 309 unternahm, kann ich nur für einen Akt der Verzweiflung ausgeben. So freundlich der Sprachmeister des Gesandten mich unterstützt: diese vermaledeite Schrift und Sprache haftet nicht in meinem Gedächtniß. Schon ihre zweihundert und neun und vierzig Ursignaturen, aus denen nach und nach an 80,000 Schriftzeichen oder Figuren zusammengeschnörkelt worden sind, verursacht mir Schwindel. Wer 12,000 derselben inne hat, gehört zu den Notabilitäten der Gelehrsamkeit; aber mit 2000 kann der gebildete Chinese seinen ganzen Ideenkreis zu Papier bringen. Mein gütiger Wirth Sir Frederic läßt es an nichts fehlen, mir das Leben zu erleichtern. Rührt ihn mein Malerfleiß oder mein unzureichender Ortssinn: um meinen Verirrungen in den Straßen von Peking vorzubeugen, hat er mir seinen Stadtplan, einen Bogen rothen Papiers, auf dem sein Namen in großen chinesischen Worten prangt, anvertraut. Dieses Document wird überall als Passepartout angesehen, man gestattet mir den Zutritt oder weist mich zurecht, wenn ich in die Irre gegangen bin. Erst nachdem ich erfahren habe, daß alle Hauptstraßen von Norden nach Süden und von Osten nach Westen streichen, finde ich mich besser zurecht. Erkundigt man sich in den Straßen nach dem Wege, so sagt der Chinese nie: »Geh' rechts! geh' links!« sondern: »Geh' nach Süden, nach Norden, nach Osten, nach Westen!«
Bei Ankäufen auch der geringfügigsten Gegenstände werde ich regelmäßig übervortheilt. Grundsätzlich fordert der Chinese für jede Waare stets von einem Europäer den höchsten Preis. Wir gelten in seinen Augen für oberflächlich mit Civilisation gefirnißte oder lackirte Barbaren, die den Werth des Geldes noch nicht kennen und deshalb betrogen werden 310 müssen. Der Kleinhandel in den Straßen der großen Hauptstädte Europa's bedient sich auch künstlicher Hilfsmittel, um die Aufmerksamkeit der Käufer zu erregen; die Detaillisten Pekings sind indeß allen ihren Fachgenossen überlegen. Jeder Hausirer oder fliegende Händler, und bestände sein Magazin auch nur in einem Korbe voll saurer Aepfel, führt irgend ein musikalisches Instrument mit sich, durch dessen Klänge er seine Ankunft anzeigt. Die beliebtesten Tonwerkzeuge sind Trommeln, Schellen, Glocken, Triangel, Trompeten und Tamtams, andere echt asiatische Marterwerkzeuge des Gehörs namentlich zu bezeichnen, bin ich außer Stande. In volkbelebten Straßen wird der kaufmännische Zweck tonkünstlerischer Uebungen meistens durch einen zu massenhaften Zusammenfluß von Artisten vereitelt. Die durch ein ununterbrochenes Ensemble jener Instrumente entstehende »symphonische Dichtung« verhindert jeden Käufer, den Schmerzenslaut des einzelnen Händlers zu unterscheiden.
Auf einer meiner letzten Promenaden wurde ich durch einen Auflauf überrascht, der beinahe die etwas enge Passage versperrte. Um den, vor der Thür seines Ladens stehenden Hauswirth hatte sich eine Menge armen Volks versammelt und begleitete seine lauten Wehklagen durch Beileidsbezeugungen. Da ich kräftig vorwärts drängte, machte man mir Platz, ich trat näher und erblickte neben dem Eingange eine, in Lumpen gehüllte Leiche. Spuren äußerer Gewalt fehlten, aber Mangel und Elend hatten an dem Körper größere Verheerungen angerichtet, als eine Mörderhand im Stande gewesen wäre. Der Unglückliche war am Abende vorher, bei der früh einbrechenden Dunkelheit ohne Wissen des Besitzers in den Laden gekrochen und dort in der 311 Nacht Hungers gestorben. Am Morgen hatte man die Leiche gefunden. Anfangs begriff ich nicht die Aufregung des Hauswirths, da hier eine in China keineswegs ungewöhnliche Todesart vorlag, als ich später jedoch erfuhr, daß der Grundbesitzer in jedem solchen Falle nicht nur eine Geldstrafe an die Regierung zahlen, sondern auch die Kosten der Beerdigung tragen muß, verzieh ich ihm seine Lamentationen. Noch mißlicher wäre seine Lage gewesen, hätte ein Mord oder auch nur Selbstmord nachgewiesen werden können. Mindestens würde er zur ferneren Unterhaltung der Hinterbliebenen des Todten verurtheilt worden sein. Es kommt vor, daß Chinesen, nur um einen Akt der Rache auszuüben, sich in das Haus eines Feindes schleichen und dort entleiben. Das Gesetz macht den Eigenthümer auch verantwortlich, wenn sich ein Lebensüberdrüßiger vor sein Haus legt, und dort zu sterben anschickt. Entdeckt er ihn rechtzeitig, so sucht er ihn durch das Angebot einer kleinen Geldsumme auf andere Gedanken zu bringen und in die Nachbarschaft zu schicken.
Im Innern der Stadt ist jedes zehnte Haus, wie bei uns ein Bierlokal, eine Restauration. Wie das Proletariat sich beköstigt, habe ich schon beschrieben, aber die Beschränktheit der Wohnungen und die Benutzung aller Räume zu industriellen Zwecken, zwingt meistens auch den Mittelstand, seine Nahrung außer dem Hause zu suchen. Dem Pariser ähnlich, dinirt der Einwohner von Peking gern bei einem Restaurant. In den feineren Speisehäusern so gut, wie in den gewöhnlicheren, habe ich oft zahlreiche Familien getroffen, die rasch ihr Mittagsmahl einnahmen und dann wieder in das Geschäft zurückeilten. Trotz meiner geringfügigen Sprachkenntnisse schließe ich mich gern solchen Kreisen 312 an und niemals hat man mein Entgegenkommen abgelehnt. Sehr auffallend war mir, daß diese Familien, Alt und Jung, Groß und Klein, stets vor den Schaufenstern von Läden verweilten, wo die frechsten Photographieen nach lebenden Gruppen ausgestellt waren. Diese Schmutzbilder werden für den Verkauf in den großen chinesischen Städten eigends in Paris fabricirt und repräsentiren ohne andere Concurrenz die Höhe der europäischen Kunstentwicklung. Dürfen wir uns wundern, wenn der denkende Chinese über unsere Ethik und Aesthetik nur mit äußerster Verachtung spricht?
Man lernt täglich etwas Neues. Einer meiner flüchtigen Speisehaus-Bekannten führte mich in den Hof seines Häuschens, und zeigte mir mit triumphirendem Lächeln seine neu eingerichtete Gebetmühle. Der religiöse Apparat stand auf einer vergoldeten Stange, und das vielfarbige Rädchen drehte bei dem frischen Herbstwinde wacker die mit Gebeten beklebte Walze. Auf dem Gesicht des Gebetmüllers lag das selige Bewußtsein, ein der chinesischen Gottheit wohlgefälliges Werk verrichtet zu haben. Demselben Privatmanne verdanke ich auch die Erklärung eines akustischen Phänomens, über das ich mir in Peking oft vergebens den Kopf zerbrochen hatte. Die Taubenschwärme, wenn sie sich in der Luft umhertummelten, stießen dabei ein seltsames pfeifendes Geräusch aus, das ich mit der Natur dieses schweigsamen Geflügels nicht zu vereinbaren vermochte. Nachdem ich mich mit meinem Chinesen durch Gebehrdenspiel verständigt, ersuchte er mich, mit ihm auf seinen Taubenschlag zu klettern und zog mit flinker Hand einen stattlichen Täuberich hervor. Jetzt war mir Alles klar. Um doch ein neues unerquickliches Getön hervorzubringen, war an dem Vogel eine kleine Pfeife 313 oberhalb der Schwanzfedern befestigt, auf welcher der Luftzug beim Fluge jenes Geräusch hervorbrachte.
Am 8. November begab ich mich nach dem Tempel der Agricultur, wo der Kaiser jährlich einmal zu Ehren des Landbaus mit dem Pfluge eine Furche zieht, wie sich meine Leser aus Gozzi's und Schillers »Turandot« erinnern werden, und vollendete eine frühere Aquarelle. Auf dem Heimwege begünstigte mich das Glück; ein chinesischer Hochzeitszug kam mir entgegen. Ich trat in einen Theeladen, wurde von dem Eigenthümer sehr höflich empfangen, zum Sitzen genöthigt, und ließ die Prozession gemächlich vorbei defiliren. Der Hochzeitsvater mußte ein bemittelter, wenn nicht reicher Mann sein, denn an die Ausstattung des Zuges war viel verwandt worden. Bei seiner, durch den lebhaften Straßenverkehr gebotenen geringen Breite, dauerte es eine Viertelstunde, ehe die letzten Gäste an mir vorüberzogen. Eine Doppelreihe von Kulis schritt voran, und schwenkte rothe und weiße, vergoldete, und mit einem grünen Drachen bemalte Fahnen, dann erschien ein Orchester von Pfeifern, Gong und Trommelschlägern; die Braut folgte. Sie saß in einem prachtvollen, mit Gold, Silber, Spiegelglas, Glöckchen und Laternen ausgeschmückten, vielfarbig bemalten Hochzeitspalankin, und blickte aus ihren geschlitzten Aeuglein über das kaum bemerkbare Stumpfnäschen hinweg, fröhlich in die Welt hinein. Der Bräutigam befand sich nicht im Zuge. Nach vollendeten Heirathsfeierlichkeiten im Hause der Schwiegereltern, führt er die Neuvermählte in den Palankin, verschließt die Thür und eilt nach Hause. Hält der Zug vor demselben, so erscheint er mit dem Schlüssel in der Hand, öffnet den Palankin und führt die junge Gattin 314 in ihre Wohnung. Hinter dem von acht Kulis getragenen Palankin der Braut wurde die Mutter, aber nur von vier Kulis getragen.
Als ich im Gesandschaftshotel anlangte, war eine halbe Stunde vorher Herr Karl Bismarck von Tientsin eingetroffen. Wir füllten die übrige Zeit des Tages mit Spaziergängen aus, speisten bei einem eleganten Restaurant und trafen die nöthigen Vorkehrungen zu einem Ausfluge nach Yuan-ming-Yuan, den kaiserlichen Sommerpalästen, für den nächsten Morgen. Die Weite und Schlechtigkeit des Weges ließ es unbillig erscheinen, sich mit der Bitte um Reitpferde an Sir Frederic zu wenden, obwohl er sie nicht abgeschlagen hätte; wir wandten uns an einen Rossetäuscher und mietheten einige mongolische Gäule, bei deren Bösartigkeit wir allerdings auf die verschiedenartigsten equestrischen Wechselfälle gefaßt sein mußten. Am 9. November, Morgens sieben Uhr, brachen wir auf. Die Kälte war schneidend, unsere Hände erstarrten an den Zügeln, unsere Füße an den Steigbügeln; ohne Herrn Bismarck, der dem Reitknechte in chinesischer Sprache gebot, Letztere mit Stroh zu umwickeln, wäre ich umgekehrt. Erst die steigende Sonne erwärmte uns ein wenig. Wir ritten durch eine Menge Dörfer und eine ziemlich große Stadt, und erreichten Mittags halb zwölf Uhr die kaiserliche Sommerfrische. So viel sich noch ermessen ließ, war sie ein Inbegriff alles Phantastischen und Mysteriösen, was Baukunst und Landschaftsgärtnerei aus Porzellan-Pagoden, Kiosks, Bronzestatuen, Marmorbrücken und Pflanzen-Combinationen zu schaffen vermögen. Die Vegetation hatte schon durch die vorgerückte Jahreszeit gelitten und der größte Theil der Prachtbauten war vor drei Jahren (1860) 315 durch die barbarische französische und englische Soldateska zerstört worden, doch machte die von klaren Wasserstreifen und kleinen Seen belebte Hügellandschaft, welche die malerischen Contouren des Mongolen-Gebirges harmonisch abgrenzten, noch immer einen hochpoetischen Totaleindruck. Entzückend ist die Rundsicht von dem höchsten Punkte, einem Hügel, den ein großer Sommerpalast krönt. Ein Theil desselben hat der Zerstörungslust der europäischen Vandalen getrotzt, aber an vielen Orten ist kein Stein auf dem Andern geblieben. Man verdummt vor dieser brutalen Freude am Ruin von zierlichen Werken der fleißigen Menschenhand, wenn man unter muthwillig zerschmetterten Marmortreppen und Brücken, umgestürzten Götzenbildern und verwüsteten Landhäusern umherwandelt. Offenbar sind die gelb glasirten Dachziegeln abgerissen und absichtlich mit den Absätzen zertreten oder den Flintenkolben zerstampft. Weite Strecken glichen im Sonnenglanze Feldern von Goldsand. Nur zwei, wenn ich nicht irre, aus Banca-Zinn gegossene, auf hohen Marmor-Piedestalen stehende colossale Löwen, waren der Wuth der Eroberer unzugänglich geblieben, und bewachten noch heute am Eingange die Ruinen des Sommerpalastes ihres kaiserlichen Gebieters. Wir hielten uns nur zwei Stunden auf, denn es war grimmig kalt und der vom Mongolengebirge wehende Wind hatte alle stehenden Gewässer mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Unserer Abenteuer mit den Mongolenkleppern sei nur beiläufig Erwähnung gethan. In einem langen Gange des kaiserlichen Gartens nahm mein Schimmel das Gebiß auf die Zähne und Reißaus, um mich später über seinen Kopf weg hart vor einem dichten Gebüsch in den Sand zu setzen. Um fünf Uhr Nachmittags 316 waren wir wieder in Peking, aber acht Stunden hindurch im Sattel geblieben. Unterwegs hatte sich uns ein Chinese aus den besseren Klassen angeschlossen, mit dem Herr Bismarck ein lebhaftes Gespräch anknüpfte. Der Reisegefährte besaß in der Gegend eine ausgebreitete Bekanntschaft und stieg regelmäßig vom Pferde, so oft ihm ein Freund begegnete, um der Etikette gemäß ihm parterre seine Ehrfurchtsbezeugungen zu erweisen. Da der Freund dieselben stets gewissenhaft erwiederte und dadurch viel Aufenthalt entstand, wurden unsere Klepper noch störrischer als zuvor, und Herr Bismarck, der den seinigen durch europäische Reiterkünste sanfter stimmen wollte, that einen bedenklichen Sturz, und beschädigte sich im Gesicht und an den Händen. Wir griffen zum Kantschu und ließen den überhöflichen Chinesen hinter uns, der natürlich nicht zögerte, nochmals abzusteigen und uns aus der Ferne feierlich Lebewohl zu sagen. Nicht weit von der Stadtmauer führte mich Herr Bismarck in einen Tempel, wo uns die Bonzen gegen ein Trinkgeld die größte Glocke des Kaiserreichs zeigten. Das Ungeheuer besitzt einen Umfang von 33 englischen Fuß. Es war fünf Uhr, als ich im Hotel anlangte. Nach den Strapazen des Tages genoß ich eine erquickliche Nachtruhe und wurde nur zu frühe durch ein, aus den Dienerwohnungen über den Hof erschallendes Jammergeschrei erweckt. Ein chinesischer Diener hatte die Ofenklappe zu frühe geschlossen und war in seiner Kammer am Kohlendampf erstickt. Nun höre man, wie der englische Gesandte sich benahm! Auf seine Kosten wurde ein Sarg herbeigeschafft und die Familie des Verstorbenen citirt, welche vom Haushofmeister 20 Dollars Schmerzensgeld erhielt. Zugleich wurde aber im Bedientenviertel ein Plakat an die Hofmauer 317 geklebt des Inhalts, daß der Gesandte dem Verstorbenen seine Unvorsichtigkeit verzeihe, sich aber gemüßigt sähe, jeden Nachfolger strenger zu behandeln.
Wer die Klappe wieder zu frühe schlösse, hätte es sich selber zuzuschreiben, wenn er weder einen Sarg, noch eine Unterstützung für die Hinterbliebenen erhielte! Ich bedaure von ganzem Herzen mit dem liebenswürdigen und geistvollen Bismarck so spät zusammengetroffen zu sein. Er besitzt die Ortskenntniß eines Eingeborenen und führt mich an Orte, von deren Vorhandensein ich keine Ahnung hatte. So besichtigten wir im nördlichen Theile Pekings einen, anderthalb Meilen vom Hotel entfernten Buddhatempel und darin das 75 Fuß hohe, 25 Fuß breite, aus Holz geschnitzte Standbild des Götzen, und tummelten uns unverdrossen unter den zahlreichen Bonzen und Schweinen umher, die gemeinschaftlich den Tempel bewohnten. Auch dem freundlich gelegenen Kirchhof der russischen Mission und den Gräbern der am 18. September 1860 ermordeten sechs Europäer wurde ein kurzer Besuch abgestattet, der uns nur durch den Ueberfall einer Horde von Bettlern aller Lebensalter verleidet wurde. Um sich zu erwärmen, überschlugen sich die unbekleideten Kinder fortwährend, wobei sie zuweilen in eine Pfütze taumelten und das dünne Eis derselben durchbrachen. Auf einem Thore zeigte mir Herr Bismarck eine Reihe gemalter Kanonenmündungen in den Schießscharten; mit unbewaffnetem Auge hatte ich bisher wirkliche Geschütze dahinter vermuthet.
Sir Frederic war heute bei Tisch in besonders heiterer Laune, er erzählte mit vielem Humor von mancherlei Verlegenheiten, die ihm seine undeutliche Handschrift bereitet. Er hatte z. B. vor Jahr und Tag an eine berühmte Firma 318 der Havannah geschrieben und sich für 200 Pf. Sterling der feinsten Cigarren ausgebeten. Die Firma schickte für 600 Pf. Sterling und der Gesandte mußte bezahlen, da die Zahl mehr Aehnlichkeit mit einer Sechs, als einer Zwei besaß. Vor mehreren Monaten hatte er für 600 Frcs. Trüffeln in Paris bestellt, aber unter Hinzufügung der Entschuldigung: es sei schwer gewesen, in so kurzer Zeit die nöthige Quantität in gutem Zustande herbeizuschaffen, deren für 6000 Frcs. erhalten. »Sie werden erklärlich finden, daß bei keiner Mahlzeit Trüffeln fehlen!« schloß der Bericht Sir Frederics. Nach dem Dessert verabschiedete sich Kapitän Osborne, um mit seinen acht Schiffen nach England zurückzukehren. Der tapfere Seemann hat sich dem Gedächtniß der chinesischen Piraten für immer eingeprägt. Auf seinem Schiffsregister stehen mehr als zweihundert Dschunken, die er in den Grund gebohrt, oder nach Gefangennahme der Mannschaft in Brand gesteckt.
Um auch die Zuckerbäckerkünste von Peking kennen zu lernen, führte mich Herr Bismarck zu dem ersten Conditor des Orts, dem Kranzler von Peking. Unserem europäischen Geschmack sagten die candirten Früchte und feinen Säfte am meisten zu; wir gehörten nicht zu den passionirten Kuchenfreunden. Um meinem Gastfreunde in Tientsin eine kleine Artigkeit zu erweisen, kaufte ich zugleich ein Dutzend mit den erlesensten Früchten gefüllter Flaschen und ließ sie durch einen Kuli in das Hotel tragen. Mit einem Antiquare konnte ich nicht Handels eins werden, so eifrig Bismarck intervenirte. Von einem anderen Bibliothekar hatte ich irgend ein altes Buch verlangt, und der schlaue Händler pries mir als Unicum eine, von Würmern zerfressene Scharteke an, die vor 8000(!) 319 Jahren gedruckt sein sollte. Er mochte diese Kostbarkeit schon lange auf dem Lager haben, denn er empfahl mir den morschen Fascikel mit einer Leidenschaftlichkeit, die mich vielleicht zu Fall gebracht und um zehn Dollars ärmer gemacht hätte. Nur die verstohlenen Winke Bismarcks belehrten mich eines Bessern, aber wie dem Zudringlichen entrinnen? Ruhig legte ich das Heft nach einiger Prüfung des Inhalts auf den Tisch und bat meinen Begleiter, dem Verkäufer zu sagen: ich würde es gern behalten, aber es sei mir nicht alt genug! Dem Chinesen blieb der Schrei des Entsetzens im Schlunde stecken; wir entfernten uns mit feierlichen Schritten. Ein solcher Antiquitäten-Liebhaber mochte ihm in Praxi noch nicht vorgekommen sein. Der liebenswürdige Landsmann veranlaßte mich ferner zu einem Besuche in Dr. Lockhardts Heilanstalt. Der ehrwürdige Herr ist seines Zeichens Missionär und beschäftigt sich nur nebenbei mit der Heilwissenschaft. Eine Kritik derselben mag den Männern von Fach anheimgestellt bleiben: ich beschränke mich auf eine Beschreibung seiner Fixkurmethode. Ich fand das Vorzimmer Mr. Lockhadts voller lahmer, blinder und tauber Chinesen, anderer Uebel und Gebrechen gar nicht zu gedenken. Für alle diese Leiden gab es nur eine Arznei. Die krankhafte Stelle wurde zuerst mit gelber Farbe angemalt, dann erhielt der Patient eine Handvoll Pillen, die er gleich vor den Augen des Wunderdoctors zu sich nehmen mußte. Von der Wirksamkeit seiner Medicamente war Mr. Lockhardt felsenfest überzeugt. Von seiner zahnärztlichen Geschicklichkeit bin ich weniger erbaut. Ich wollte die Gelegenheit benutzen, mich von meinem Quälgeist, einem hohlen Zahne, zu befreien, aber Se. Hochwürden brachen in der Hast die 320 Krone auf den ersten Ruck ab und gruben dann eine Stunde lang, während deren ich von zehn Kulis, seinen Assistenten, an Armen und Beinen, Kopf und Kragen festgehalten wurde, an der Wurzel umher, die endlich in einzelnen Stücken zu Tage kam. Das Personal im Gesandtschaftshotel schlug die Hände über dem Kopfe zusammen, als ich mit bombenartig angeschwollenem Gesichte am Theetische erschien. 321