Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Gesundheitszustand, Leben und Sterben in Shanghai. Tugenddenkmale. Bezopfte Missionaire. Gastereien. Fidibus und Lunte. Dankbezeugung für ein Diner. An Bord des Argus. Nach Tientsin.
Wiewohl mir ein Unterkommen in der Commandite der Firma Siemssen zu Shanghai gesichert war, kam es doch zuerst darauf an, vom Ankerplatz aus die Stadt zu erreichen und das Haus aufzufinden. Diese Aufgabe war bei einem starken Gegenwinde, der Ebbe und der Zudringlichkeit des chinesischen Schiffergesindels keine leichte. Länger als eine Stunde mußte gegen das stromab fluthende Wasser der Ebbe mit äußerster Anstrengung gerudert werden, zudem war der Sampoon, in den die Chinesen, ohne mich viel zu fragen, meine acht Gepäckstücke und Koffer geschleppt hatten, nicht seetüchtiger und geräumiger, als ein Waschfaß größeren Umfanges, ich hatte also zwischen den beiden werthvollsten Stücken Platz genommen, entschlossen, wenn das Verhängniß so wollte, mit meinen Besitzthümern und Arbeiten zu Grunde zu gehen. Bei der Landung entstanden neue Schwierigkeiten, die Kulis in ihrer Gier, ein wenig Geld zu verdienen, fielen über meine Sachen her, und ich mußte selber Hand anlegen, wenn ich den Kasten voller 219 Aquarellen, Farben und Papier vor einem kalten Bade retten wollte. Mit dem Wäsche- und Kleiderkoffer waren die Kulis davongerannt, brachten ihn jedoch zurück, als ich in meiner Noth einen Polizeimann zu ihrer Verfolgung aufforderte. Froh, wieder das Festland unter meinen Sohlen zu haben, sank ich in Siemssens Hause athemlos in einen Sessel.
Eine ungestörte Nachtruhe von acht Stunden stellte meine Kräfte wieder her, ich stattete dem preußischen Vice-Consul am 25. September einen Besuch ab und ließ mich dann nicht durch Kopf und Zahnschmerzen abhalten, an mein künstlerisches Tagewerk zu gehen. Shanghai ist einer der ungesundesten Orte der Welt, hunderte von Quadratmeilen sind nichts als der erdige Niederschlag des ungeheueren Stromgebiets, welches sich in die chinesischen Gewässer ergießt. Der Boden ist hier noch in einem Entwickelungsprocesse begriffen, und der gewöhnliche Gesundheitszustand der europäischen Ansiedler wird scharf durch die bei jeder Begegnung übliche Frage charakterisirt: »Geht es Ihnen heute etwas besser?« Nur selten erhält man die Antwort: »Ich bin ja gar nicht krank gewesen!« Gemeinhin erfolgt als Bescheid eine förmliche Krankheitsgeschichte und Litanei von Klagen.
Die Eingebornen erfreuen sich nach der Zahl der Todesfälle keines besseren Befindens als die Europäer. Gleich auf meinem ersten Spaziergange begegnete ich alle zehn Minuten einem Leichenbegängniß. Die Särge wurden vor die alte, mit einer hohen Mauer umgebene Stadt hinausgetragen und hier am Rande der Gräben niedergesetzt. Sie waren zum Theil so lose verschlossen, daß es den 220 wilden Hunden gelungen war, die Deckel zu entfernen und die Leichen aufzufressen. Die Reinlichkeit der Straßen und Plätze Shanghai's vermag ich nicht zu loben; auf den Fisch- und Fleischmärkten verbreiteten die umherliegenden Abfälle einen pestilenzialischen Gestank, doch hält derselbe die Chinesinnen und auch wohl die anwesenden europäischen Damen nicht ab, ihre Morgenpromenade dorthin zu verlegen und die neueste Toilette zur Schau zu stellen.
Unweit der Thore Shanghai's fielen mir zwei, im Style von Triumphbogen geformte, wunderlich verschnörkelte, kraus gehörnte Denkmäler auf. Nach eingezogenen Erkundigungen waren sie dem Andenken tugendhafter Frauen der Stadt gewidmet, ein Umstand, der wohl geeignet war, tadellose Sittlichkeit unter den Frauen der Stadt nur als eine seltene Ausnahme anzusehen. Beide Monumente waren aus rosenfarbenem Sandstein angefertigt und mit Inschriften bedeckt. Der große alte Tempel Shanghai's erinnerte mich, durch die von der Decke herabhangenden zierlichen Modelle von Dschunken, an den Artushof in meiner Vaterstadt Danzig, der Verkehr in dem Tempel selber hatte freilich in der Mittagsstunde nichts mit dem kaufmännischen Treiben in dem mittelalterlichen Börsensaal gemein. Die reichen oder aristokratischen Damen mochten um diese Zeit ihre Andacht verrichten, ich traf vor den Altären mehrere Chinesinnen von Distinction, die von den Priestern mit aller erdenklichen Beflissenheit bedient wurden. Eine derselben stammte, nach ihren überaus kleinen Füßen, aus einer der vornehmsten Familien. Sie that alles Mögliche, diese verkrüppelten Glieder auf eine kokette Weise zur Schau zu stellen, und bombardirte mich mit gefallsüchtigen Blicken, als ich Mappe 221 und Tuschkasten öffnete und zum Pinsel griff. An den Fingern der Schönen zählte ich 37 kostbare Ringe und die langen Nägel waren mit goldenen Futteralen bedeckt, die sonstige Kleiderpracht mag der Leser sich nach chinesischen Modebildern selber ausmalen. Unweit des Tempels begegnete ich zwei Chinesen, die ihre Hüte zum Gruß auf europäische Weise lüfteten und mich in geläufigem Französisch anredeten. Die Schwatzhaftigkeit der Herren ließ mich gar nicht zu Worte kommen, und ich erfuhr sehr bald aus ihren Selbstbekenntnissen, daß Beide geborene Franzosen seien, aber zu mehrerer Förderung des Bekehrungswerkes die Landestracht und sogar den – Zopf adoptirt hatten. Nach ihren Behauptungen war es ihnen gelungen, eine Menge Bewohner der Umgegend zum Christenthum zu bekehren. Im Weichbilde der Stadt war ihr Erfolg geringer gewesen. Den Thee nahmen wir Abends bei einem hohen Mandarinen ein. Die chinesischen Gäste rauchten Opium, wir beschränkten uns auf die Tabackspfeife. Als Zuthaten zum Thee wurden Melonenkerne, kleine Kuchen und gedörrte oder geröstete Lotoswurzeln umhergereicht. Daneben wurde ein Theaterstück (Sing Song) ausschließlich von jungen Mädchen aufgeführt. Die Truppe hatte das ganze Verzeichniß des ihr geläufigen Repertoirs mitgebracht, und der Hausherr, ein vielbelesener Beamter, ein beliebtes Stück ausgewählt. Es nannte sich »das Bootsmädchen von Souchow« und übte auf die anwesenden Eingeborenen eine außerordentliche Anziehungskraft aus. Blieb uns der Dialog ein mit sieben Siegeln verschlossenes Buch, so lag die grenzenlose Unanständigkeit der Handlung desto offener zu Tage. Es geschahen in vollständiger Plastik 222 Dinge auf dem Theater, die der verwegenste Pariser Autor nicht einmal durch die Blume zu besprechen wagen darf. Das Stück war Wasser auf die ästhetische Mühle des alten literarischen China. Während der Vorstellung wurde eine trompetenartige Ehren- oder Galapfeife von kleinen Mädchen umhergetragen, und jeder Gast war verpflichtet, einige Züge daraus zu thun. Es gehört zum guten Ton, die Spitze nicht abzuwischen, doch verletzte ich lieber die Sitte, ehe ich mich einer großen Gefahr aussetzte. Die landesüblichen nasenlosen Gesichter drängten sich bei diesem Rundgange der Ehrenpfeife meiner Phantasie auf. Ich benutze diese Gelegenheit, der eigenthümlichen chinesischen Fidibus und Lunten zu gedenken. Erstere bestehen aus hohen schmalen Tüten, die, einmal an der oberen Oeffnung angezündet, leise fortglimmen, lebhafter angeblasen aber lichterloh aufbrennen. Nach angezündeter Pfeife braucht man die Flamme nur anzuhauchen, und die Papiertüte glimmt langsam weiter. Noch gebräuchlicher ist die in allen Haushaltungen und Wohnstuben übliche Lunte, an der man den Schwefelfaden anzündet, sobald man Licht oder Feuer braucht. Sie gleicht einem ziemlich dicken, dunkelfarbigen Tauende, ist aus trockenem, Mist angefertigt und liegt auf zwei Gabeln über einer Metallscheibe. Der Dunstkreis der Gemächer wird durch ihre Aromen eben nicht verbessert.
Ungeachtet es in der Nacht vor dem 27. September in Strömen geregnet hatte, mochte ich dennoch nicht meinen täglichen Spaziergang aufgeben. Mein zuvorkommender Wirth, Herr Schwemmann, bot mir ein Paar Wasserstiefel an, deren man sich bei dem schlammigen Boden selbst in trockenen Tagen auf weiteren Ausflügen bedient, und wir 223 traten eine dreistündige Wanderung an, von der wir todtmüde, bis an die Spitze der Vatermörder mit Koth bespritzt, zurückkehrten. Außer offenen Gräbern und Särgen hatten wir vor der Stadt nichts Bemerkenswerthes gesehen. Wir besuchten den Kleinkinder-Thurm von Shanghai, d. h. den officiellen Behälter, in welchen die Eltern ihre todtgebornen, verkrüppelten oder schwächlichen Kinder werfen, und mein Begleiter versicherte mir, er habe die gefühllosen Chinesen im Verdacht, die Neugebornen oft noch lebend in dieses Beinhaus hinabzuschleudern. Mir ward erst wieder wohl, als wir der entsetzlichen Schädelstätte den Rücken gekehrt hatten.
Am nächsten Tage genoß ich das lange entbehrte Vergnügen einer guten Musikaufführung. Ein junger Dilettant, Herr Krämer, sang mit sonorer Baßstimme mehrere Arien und Lieder, und zwei gebildete Handlungsgehülfen ergingen sich auf dem Pianoforte in Thalbergschen Compositionen mit einer Gewandtheit und Sauberkeit, die ich in diesen Regionen des Erdballs nicht erwartet hatte. Die besagte Matinée fand während eines Diners statt, das Herr Schwemmann zu Ehren der Consuln veranstaltet hatte. An demselben Tage mußten wir Abends sieben Uhr noch eine zweite Gasterei überstehen. Von einem reichen chinesischen Kaufmanne waren wir zu einem Souper geladen, und mein weltkluger Wirth hielt es aus Geschäftsrücksichten nicht für rathsam, dasselbe abzulehnen. Wie bei allen asiatischen Völkern, denen die Reize der bunten Reihe bei Tisch unbekannt geblieben sind, nehmen die Frauen und Töchter an den Tafelfreuden ihrer Väter und Gatten nicht Theil. Doch kommen Ausnahmen vor, wenn seltenen Gästen besondere 224 Ehren erwiesen werden sollen. Wir waren unser vier deutsche Herren, außer dem Gastgeber; den drei Ehefrauen nebst fünf Töchtern desselben waren ihre Plätze hinter uns angewiesen. Zwischen den einzelnen Gängen, die stets aus mehreren Speisen bestanden, ließen sich die Damen auf unserem Schoß nieder und suchten uns durch kunstlose Griffe auf ihren Mandolinen zu erheitern. Auf mir hatte die reifste der Mütter Platz genommen, ohne daß ich geneigt gewesen wäre, die Ehre ihrer Niederlassung gehörig zu würdigen. Rechtzeitig kam mir ein rettender Gedanke. Wie, wenn ich nach dem Vorbilde Sr. Maj. von Siam meine liebenswürdige Beisitzerin durch einen phantastisch componirten Kloß zu zerstreuen trachtete, da mir ja doch jede Unterhaltung mit ihr durch Unkenntniß der Sprache abgeschnitten war? Das Herz des Menschen ist ein Drachennest, ich gestehe unumwunden, daß ich mit teuflischer Schadenfreude meiner Alten dieselben Qualen zu bereiten trachtete, die mir einst die Gabe Königs Monkut zu Bangkok verursacht hatte. Aus gesottenem Reis, Hachée von Regenwürmern und den bewußten, vier Jahre hindurch vergrabenen Eiern fertigte ich einen handlichen Bissen, der eben so schwer zu kauen, wie zu verschlingen sein mußte, und schob ihn Madame mit tückischem Lächeln in den Mund. Mein Zweck war erreicht. Die Artigkeit an sich wurde zwar sehr gut aufgenommen, doch erwies sich bald, daß meine Gönnerin der Bewältigung des höllischen Bissens nicht gewachsen war. Noch heute verursacht mir die unmenschliche Kaltblütigkeit, mit der ich die Anstrengungen der Unglücklichen, das formlose Compositum niederzuwürgen, beobachtete, Gewissensbisse, plötzlich sprang sie auf und entfernte sich, um – nicht wiederzukehren. 225 Die Zahl der Gerichte überstieg sechszig, doch habe ich nur von den wenigsten etwas zu mir genommen. Ich beschränkte mich auf die Assietten, deren organische Bestandtheile ich zu enträthseln vermochte, bei der chinesischen Küche kein leichtes kritisches Unternehmen. Der Gastgeber machte es sich schon im Verlaufe der Abendmahlzeit bequem. Er ließ seine Opiumbettstelle an die Tafel setzen, zündete die Pfeife an und verfiel bald, ohne von uns weiter Notiz zu nehmen, in die ersehnten paradiesischen Träume. Der Wirth lag wie ein Todter auf seiner Matratze und verlautbarte ein dumpfes Röcheln, die Diener standen schweigend an den bunten Tapetenwänden; wir setzten unsere Unterhaltung fort.
»Schade, daß unser Wirth alle Viere von sich gestreckt hat,« sagte Herr Schwemmann, »wenn Einer der Herren sich disponirt fühlte, könnte er ihm den Dank für das genossene Souper durch die höchste Artigkeit nach chinesischen Begriffen ausdrücken.«
»Erklären Sie sich doch näher,« rief ich, da Siemssens Compagnon durchtrieben lächelte.
»Am Ende ist es gleichgültig, ob er schläft oder wacht, die Dienerschaft wird ihm die dargebrachte Huldigung doch verrathen!« schmunzelte Herr Schwemmann.
Noch immer war mir die Rede des Landsmanns unverständlich; bald sollte mir eine Erklärung werden. Er erhob sich und gab den Dienern einen Wink, zwei derselben traten mit strahlenden Gesichtern näher und gingen, nachdem ihnen Herr Schwemmann ein chinesisches Wort zugerufen, mit Papierlaternen voran. Wir passirten zwei schmale Corridore, stiegen mehrere Stufen hinab und befanden uns an einem, in der Ecke des Hofes gelegenen Orte, der nach 226 dem Zahlensystem der Gasthofsbesitzer gemeinhin mit einer Null oder Doppelnull beziffert wird. Besondere architektonische Vorkehrungen für die Bequemlichkeit der Hospitanten waren nicht getroffen, ich gewahrte nichts als eine kleine, sauber gehaltene Grube. Unsere Begleiter postirten sich zur Rechten und Linken mit ihren Laternen, und Herr Schwemmann sagte lächelnd: »Hoffentlich verstehen Sie mich jetzt? es wäre in einem europäischen Hause ein eben so großer Verstoß, nach Beendigung der Mahlzeit der Dienerschaft kein Trinkgeld zu verabreichen, als hier zu Lande von dieser Oertlichkeit keine Nutzanwendung zu machen.« Verlegen stammelte ich noch einige Worte, aber schon wurden von Seiten des guten Landsmannes die Präliminarien des Actes chinesischer Courtoisie eröffnet, und es blieb mir zuletzt nichts übrig, als unter den dankend bewundernden Blicken der Laternenträger dem Beispiel meines Mentors zu folgen. Meine Mittheilung würde unvollständig sein, wenn ich nicht noch hinzufüge, daß die Diener die Belege unserer Artigkeit gegen den Festgeber durch einen Deckel vor Entweihung schützten und ihre Dankbarkeit für die dem Hause erwiesene Ehre durch tiefe Verbeugungen ausdrückten. Ich hatte mich außer einigen Bissen Entenzungen und Fischlebern auf etwas Hühnerbraten und Austern beschränkt, um nicht unter den Nachwehen des Soupers zu leiden.
Nach einer ruhigen Nacht benutze ich die Morgenstunden fleißig zur Arbeit, packe einen Theil meiner Effecten, da der Abgang des Dampfers nach Tientsin und Taku bevorsteht, und mache dann meine Toilette zu dem um sieben Uhr Abends vom Consul Probst arrangirten Diner. Die guten Landsleute überbieten sich in Artigkeiten gegen ihren 227 Gast. Man erläßt mir wohl, über die Opulenz des Gelages zu sprechen, ich erwähne nur eines alten Taschenspielers, der uns zwischen den Gängen der Mahlzeit durch seine Künste zu unterhalten suchte. Der Geschichtsschreiber der Prestidigitation mag untersuchen, ob die Erfinder derselben in Europa oder in Asien seßhaft sind; der Chinese schien mir seine Stücke ungleich vollkommener, als unsere diesseitigen Stammverwandten auszuführen. Sein Becherspiel war bewundernswerth, und das Wachsthum eines Kügelchens, das auf dem unbedeckten Tische unter einem großen Becher nach und nach bis zu einer Kanonenkugel anschwoll, ist mir bei den nackten Armen des Magiers vollkommen unbegreiflich geblieben. Gleich Houdin und Herrmann brachte er unter seinem Talar Schaalen mit Wasser hervor, aber er ließ auf Wunsch der Zuschauer auch eine Menge Taschenkrebse darin erscheinen und verschwinden und entwickelte zuletzt, wohlgemerkt, ohne sich vorher zu entfernen, unter einem Tuche zwei brennende Lampen. Der geschickte Mann würde in Europa große Summen verdienen, während hier nur ein sehr mäßiges Honorar seine wunderbaren Leistungen belohnte. Die Vorstellung schloß mit dem Flug zweier papierenen Schmetterlinge, welche der Taschenspieler mit Fächern in der Luft flatternd erhielt, und dem Tanz kleiner Figuren auf einem Fächer. Ich darf nicht vergessen, anzuführen, daß bei unserem Diner eine, ursprünglich chinesische Sitte angenommen war, die ich in heißen Klimaten zur Nachahmung empfehlen kann. Alle Viertelstunden wurden nämlich heiße feuchte Tücher umhergereicht, mit denen man das Gesicht und die Hände abwischte. Das darauf folgende 228 Gefühl der Abkühlung durch Verdunstung des Wassers war ungemein angenehm.
Das Wetter sah am 30. September drohend genug aus; der starke Wind bei dicht bewölktem Himmel versprach nichts Gutes für meine bevorstehende Seereise. Zudem werden die Dampfer von Ort zu Ort immer kleiner. Das nächste Schiff soll zwar geräumiger sein, allein ich müßte dann noch siebenzehn Tage in Shanghai warten, eine zu starke Zumuthung in der vorrückenden Jahreszeit. Das Fahrzeug, zu dem ich verurtheilt bin, ein wahres Kinderspielzeug, heißt Argus und ist für die Beförderung von Passagieren gar nicht eingerichtet. Dieser klägliche Umstand verhinderte den Capitän nicht, mir für die Ueberfahrt nach Tientsin 60 Taels, d. h. 120 Thlr., abzufordern. Der letzte Tag meiner Anwesenheit in Shanghai mußte nothgedrungen einem Cirkel von Schiffscapitänen gewidmet werden, deren Unterhaltung, wie immer, in haarsträubenden Lügen bestand. Nach meinem Dafürhalten kann die »Jagdgeschichte« sich längst nicht mehr mit der »Schiffsgeschichte« messen. Der Klipper eines dieser wahrheitsliebenden Berichterstatter segelte z. B. so rasch, daß sein Befehlshaber alle halbe Stunden ein wenig halten und auf den zurückgebliebenen Wind warten mußte. Um Sonnenuntergang traf der aus dem Süden kommende englische Postdampfer ein. Er hatte vor vier Tagen in den Gewässern von Hongkong mit einem furchtbaren Teifun gekämpft und starke Havarien erlitten. Die Nachricht lautete nicht ermuthigend.
Um elf Uhr Abends stieg ich in einen Sampoon und erreichte nach einstündiger Fahrt und endlosen Fragen endlich den Argus. Wir waren in der Dunkelheit der 229 bewölkten Septembernacht mehrmals an dem winzigen Schiffe vorübergefahren. Argus war kaum größer, als die Steamer, welche die Communication auf der Spree zwischen Berlin und Köpenick vermitteln und ihre Schornsteine bereitwillig vor jeder Brücke umklappen.
Bei meiner späten Ankunft fand ich den Capitän und die gesammte Mannschaft schon sattsam auf die Abfahrt vorbereitet, d. h. radical betrunken. Ich war genöthigt, mir über das enge Verdeck einen Weg in die mit abscheulich riechenden Waaren vollgepackte Kajüte zu bahnen. Durch Fußtritte gelang es mir endlich, ein Subject zu ermuntern, das noch so viel Besinnung auftrieb, mir ein Lager zu bereiten. Da, wie ich zu spät erfuhr, jeder Argus-Passagier sein Bett selbst zu beschaffen hat, erhielt ich nur das anderthalb Fuß breite Fragment einer Matratze, zu der ich mit Lebensgefahr über zwei Kisten und einen Tisch kletterte. Besagter Pfühl war etwas unbequem, und eine Analyse seines Innern ergab, daß die Füllung nicht aus Roßhaaren, sondern aus alten Tauenden, aufgedröselten Stricken, Fetzen von Segeltuch, zerrissenen Schuhen, abgebrauchten Matten und zerbrochenen Blumentöpfen bestand. Es dauerte eine ganze Stunde, ehe es mir gelang, meinem Lager seine Aehnlichkeit mit einer Folterbank zu nehmen und mit Hülfe meines Plaid, den ich in ein Kopfkissen umgestaltete, ein Bett, gut genug für einen Hund, herzustellen.
Am 1. October, lange vor Tagesanbruch, begann die Ouvertüre der Abfahrt mit der Heizung der Maschine und dem Lichten der Anker; der unglückliche Argus ragte kaum drittehalb Fuß über das Schmutzwasser des Yantsekiang hinaus. Eben so tief ging der Capitän, jedoch nicht in Fluß- 230 oder Seewasser, sondern in Whiskey. Er trennt sich von der Flasche so wenig, wie eine Schildwache von ihrem Gewehr. In der Mittagsstunde kamen wir an dem Feuerschiff vorbei und steuern auf die Saddle Islands, eine starre nackte Felsengruppe. Der Lootse verläßt uns, und Capitän, wie Steuermann begleiten ihn mit einem Epilog des tröstlichen Inhalts, es werde ihnen auch ohne seine Hülfe gelingen, noch einmal mit dem hochbejahrten Argus Tientsin zu erreichen. Die Herren sprechen einander Muth ein und stärken ihre Herzen durch Whiskey. Ich sehe mich während ihrer Unterhaltung nach einer leeren Portweinflasche um, füge meinem Testamente ein Codicill hinzu und versiegle die Papiere in der Flasche, nachdem ich das Datum der Abfahrt aus der Flußmündung hinzugefügt. Ein unheimliches Gefühl sagt mir, eine Reise unter so jämmerlichen Verhältnissen könne nicht glücklich enden. Dann richte ich ein Gemetzel unter den Cockroaches an, die sich auch bei Tage nicht mehr von mir trennen wollen. Mein Helfershelfer bei dieser Unthat ist ein Hund, der trotz mehrerer Prügeltrachten nicht von mir weichen will und mir seinen Ueberfluß von Flöhen mittheilt. Das arme Geschöpf war ursprünglich weiß, ist aber durch die auf Deck lagernden Kohlensäcke schwarz gefärbt. Der für den zur Reise nothwendigen Vorrath an Heizungsmaterial zu enge Schiffsraum zwingt uns, die Kohlen auch an diesem ungeeigneten Orte aufzubewahren.
Die Theestunde brachte das erste unangenehme Reise-Intermezzo: der Steuermann, ein heulender Feigling, stürzte in die Kajüte und meldete, die Steuerkette sei gesprungen. Wir trieben steuerlos in der Nähe steiler Felsen, doch war 231 die Witterung zu unserem Heile nicht unfreundlich und der Seegang nur mäßig. Nach zwei Stunden war der Schaden nothdürftig ausgebessert. Meine im Verlaufe des ersten Tages angestellten Beobachtungen haben nichts Gutes ergeben. Der Capitän, ein langer Schotte, auf dessen Nase eine Riesenwarze wuchert, ist nichts als ein roher Matrose und hat niemals eine Steuermannsprüfung bestanden: die Mannschaft besteht fast ganz aus entlassenen chinesischen Sträflingen. Sie sind leicht an ihren abrasirten Schädeln zu erkennen, da bei der Verurtheilung wegen eines Criminalverbrechens dem Schuldigen stets der Zopf aberkannt wird. Demgemäß wird auch von den Oberen mit diesen elenden Menschen umgegangen. Ich kam dazu, als der Steuermann, der zugleich den Schiffsarzt spielt, einen kranken Matrosen, bei dem das Rhicinusöl nicht mehr anschlug, zwingen wollte, einen großen Tassenkopf voll trockenen Bittersalzes zu sich zu nehmen. Trotz der Drohungen des Steuermannes mit der neunschwänzigen Katze wollte der arme Mensch nicht Folge leisten und gehorchte erst, als der mordlustige Heilkünstler drohte, ihm einen Zahn auszuziehen. 232