Ernst Kossak
Prof. Eduard Hildebrandt's Reise um die Erde
Ernst Kossak

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II.

Die Tempel auf Honam und die heiligen Schweine. Die Schicksalsstäbchen. Die Tempel der Fruchtbarkeit und der Schrecken. Das Bettelsystem zu Kanton. Die Straße ein Sterbebett. Der reiche Potingua. Medicinische Reklame.

Am 15. April begann ich mit einem Frühmarsch durch die Insel Honam, dem gegenwärtigen Wohnsitz der in Kanton handeltreibenden Europäer. Einige malerisch gelegene Hügel hatten schon von unserem Hause aus meine Aufmerksamkeit erregt, und ich trug kein Bedenken, sie zu erklettern, da ich mich, der in Hongkong erhaltenen Warnungen eingedenk, wohlbewaffnet hatte. Meine Vorsicht war unnöthig gewesen, jene Hügel waren nur mit zahllosen Grabstätten der Chinesen bedeckt, und keine sterbliche Creatur begegnete mir in der frühen Morgenstunde. Nachdem ich von einem hervorragenden Punkte aus die schönste Aussicht über den Strom nach Kanton und östlich nach Whampoa betrachtet hatte, begab ich mich zu dem auf der Insel befindlichen Tempel und seinen zahlreichen Seitengebäuden. Strenge genommen ist es eigentlich falsch, von einem Tempel zu reden, denn die gottesdienstlichen Gebäude bilden, genauer betrachtet, einen beträchtlichen Complexus von Kapellen und 16 Wohnungen der Bonzen. Erstere liegen in kleinen Entfernungen hintereinander und nehmen mit den seitwärts ein Spalier bildenden Wohnungen der Geistlichen den Raum einer kleinen Stadt ein. Vor dem Eingange einer jeden dieser Tempelparzellen sitzen auf niedrigen Postamenten abscheuliche Thierfratzen, bald Löwen, bald Drachen ähnlich, dem Eingange gegenüber steht der Hochaltar Buddha's, die Wände sind theils mit kleineren Statuen dieser Gottheit, theils mit alten Waffen und Marterwerkzeugen, Trommeln und Tamtams, oder ähnlichen Sinnbildern des Krieges und der Macht ausgeschmückt. Vor der Pforte des Haupttempels, der sich hinsichtlich seiner Größe kaum von den anderen unterschied, saß ein Unterbonze mit der Gelassenheit eines Oelgötzen und hielt eine brennende Kerze in der Hand. Die Andächtigen zündeten ihre Lichter oder Opferstäbchen an und schritten in den Tempel, um die grellgefärbten vergoldeten oder versilberten Opferpapiere vor dem Altar zu verbrennen. Die Mehrzahl dieser großen Bogen von denen ich eine Auswahl mitgebracht habe, ist von einem so brennenden Mennigroth tingirt, daß ein europäisches gebildetes Auge kaum die Gluth erträgt. Jeder Bogen, der hier und da mit echtem Schaumgold oder Silber bedeckt ist, zeigt in der Mitte eine Menge feine paralleler Durchschnitte, die einen symbolischen Sinn haben mögen. Die Façaden der Tempel sind mit vielfachen Stuccaturarbeiten und moralischen Sprüchen und Sentenzen aus dem Schicksalsbuche mit Gold, rother, blauer, gelber und schwarzer Farbe geschmückt. Die chinesische Sprache ist, wie die Hieroglyphensignatur des alten Aegyptens, eine Begriffssprache und gestattet mithin eine unglaubliche Knappheit des 17 Ausdrucks. Der Himmel mag wissen, wie viele Schriftsätze auf diesen Wänden eng aneinandergereiht stehen. Das Innere aller Tempel ist mit bunten Lampen, hängenden reich betroddelten Laternen und Porzellanvasen überladen. Auf dem Altar stehen in einem Becher die sogenannten Schicksalsstäbe. Noch war ich über ihre Anwendung in Zweifel, als mein junger Wirth, der mir gefolgt war, in den Tempel trat und auf meine Bitte: den priesterlichen Cicerone um Auskunft zu ersuchen, sogleich den Becher ergriff und von den Schicksalsstäbchen Anwendung machte. Der Bonze, ein toleranter Mann, schien durch die Dreistigkeit des ungläubigen rothen Teufels höchlich belustigt zu werden. Mein Freund schwenkte den Becher leicht in der Luft, so daß einige Stäbchen über den Rand zu Boden fielen; das ihm zunächst Liegende wurde aufgehoben und aufgerollt. Es trug eine Nummer, diese wurde in dem auf dem Altar liegenden Schicksalsbuche aufgesucht und ihm der dabei stehende Spruch mitgetheilt. Ich mußte an das Versestechen in der Bibel und die Betschwestern in unserem Vaterlande mit ihren Stopfnadeln denken.

Wir schritten, nachdem der Bonze durch einen Schilling für seine Mühe entschädigt worden, wieder ins Freie und wurden zu einem etwas stallartigen, zoologisch duftenden kleinen Seitentempel zur Rechten geführt, in dem acht heilige Schweine es sich wohl sein ließen. Wir mußten von verborgenen Beobachtern umgeben sein, denn als wir das Gemach der Sauen verließen und lachend einige, den Frommen vielleicht anstößige Bemerkungen machten, flog uns ein Dutzend Steine von allen Seiten um die Köpfe, und wir hatten nichts eiliger zu thun, als uns aus der gefährlichen 18 Nachbarschaft zu entfernen. Unser Führer, der Bonze, der, wie alle seine Amtsbrüder, einen grauen Rock trug und einen rattenkahl geschornen Schädel präsentirte, spannte einen Sonnenschirm über sein unbedecktes Haupt und schritt voran in einen kleinen Garten, der mit den wunderlichsten Zwerggewächsen angefüllt war. Diese Gärtnerei schien die Mußestunden der Klosterbewohner auszufüllen. Meistens waren diese Pflanzen reichbelaubte Myrthensträucher, die in der Form von Elephanten, Hirschen, Hunden, Vögeln und Vasen sauber zurechtgeschnitten waren. In der Nähe befand sich ein mit wunderschönen Goldfischen gefüllter Teich. Der große Newfoundländer meines Wirthes, der uns ohne Weiteres in den Tempel begleitet und alle Buddha's argwöhnisch beschnüffelt hatte, unterließ nicht, in den Teich zu springen und zum höchsten Entsetzen der Fische ein kaltes Bad zu nehmen. Die erschrockenen Thiere gewährten ein prächtiges Schauspiel, als sie aus dem Wasser in die Höhe springend im Schimmer der Sonne über dem Spiegel des kleinen Teiches einen Augenblick hindurch einen goldenen Schild bildeten. Die kleine Waldung uralter Banienbäume, welche die Klosteranlagen begrenzt, war durch den letzten Teifun am 27. Juli des Jahres 1862 stark gelichtet worden. Das Unwetter hatte nach der Angabe der Europäer überhaupt in der Umgegend Kantons und auf dem Perlflusse furchtbar gehaust. Viele Tausend Familien, die kein anderes Obdach hatten, als ihre auf dem Fluß schwimmenden Böte, waren elendiglich zu Grunde gegangen. Die stromab getriebenen Leichen hatten am Tage darauf den Umschwung der Räder des von Hongkong kommenden Dampfers gehemmt. Nachdem wir 19 für unser Geld eine Tasse Thee in der benachbarten Bonzenwohnung getrunken, aber den Ankauf einer Partie Goldfische abgelehnt hatten, mit denen von den Klosterleuten ein sehr einträglicher Handel getrieben wird, trennten wir uns von den frommen Männern in bester Freundschaft. Durchschnittlich habe ich, um zu Ehren des Buddhaismus, dessen Entartungen im himmlischen Reiche auf sich beruhen mögen, die Wahrheit zu gestehen, in den chinesischen Priestern aufgeweckte und gut genährte Männer gefunden. Besonders wohl aussehend und von gefälliger Tournüre fand ich die Bonzen in dem Tempel der Fruchtbarkeit, den ich erst einige Tage später besuchte, aber gleich hier erwähnen will. Die Andächtigen in dieser Oertlichkeit bestanden nur aus jungen hübschen Chinesinnen, auf deren überaus zierliche Händchen ich alle Touristen aufmerksam mache, und schienen mir die erwähnten Bonzen, so viel ich in der kurzen Zeit meiner Anwesenheit zu ergründen vermochte, ernstlich beflissen zu sein, die Bittstellerinnen in ihrem Kummer über den bisher mangelnden Ehesegen zu trösten und bei beharrlichem Besuche ihres Tempels auf eine bessere Zukunft hinzuweisen.

Am Morgen des 16. April ließ ich mich stromauf nach dem Macao-Fort rudern. Nur in Begleitung eines chinesischen Kuli, meines Lohnbedienten, der etwa ein Dutzend kaum verständlicher englischer Vocabeln inne hatte, ging ich ohne Jemand um Erlaubniß zu fragen, in die Festung und skizzirte flüchtig Einzelheiten, ohne von der Mannschaft behelligt zu werden. Der Wachtdienst war mit mehr Comfort, als ihn europäische Wachtstuben aufweisen, verbunden. Mehrere Soldaten lagen in ihren Betten und schliefen 20 hinter Mosquitonetzen, andere saßen bei Tisch und verzehrten mit Eßstäbchen ihr Frühstück. Man behandelte mich sehr zuvorkommend. Eben so freundlich gesinnt fand ich die Besatzung des Südthors (south gate) von Kanton; ich wurde sogar mit dem landesüblichen Thee erquickt, den ich oft in den elegantesten Gesellschaften des europäischen Continents nicht so fein und wohlschmeckend erhalten habe, als inmitten diesen abenteuerlichen Soldateska. Der Sonnenbrand vertrieb mich jedoch bald von der schattenlosen Stadtmauer, die ich der bessern Umsicht halber erstiegen hatte. Am Abend desselben Tages unternahmen wir Hausgenossen noch eine Excursion nach dem den Europäern neuerdings eingeräumten Stadttheile im Westend von Kanton. Man ist fleißig mit dem Häuserbau beschäftigt, aber der sumpfige Boden macht den Grundbesitzern viel zu schaffen. Nach einer Menge vergeblicher Versuche, Gebäude haltbar herzustellen, hat man sich zu ordentlichen Pfahlrosten entschlossen. Die neue englische Kirche, bei der man diese Vorsicht nicht beobachtet hatte, stürzte nach meiner Abreise sammt ihrem Thurme in Trümmer, nachdem noch eine halbe Stunde vorher darin Gottesdienst gehalten worden war.

In Begleitung eines Reisvogels – mit diesem Spottnamen bezeichnen die hiesigen Deutschen die Reiskaufleute – besuchte ich am 17. April die an das Ostthor Kantons grenzende alte Stadtmauer und eine Anzahl Tempel, unter ihnen die Pagode der fünfhundert Genien der Götzen. Das an den Wänden aufgestellte vergoldete und gut erhaltene Bataillon reichte hinsichtlich der Größe des einzelnen 21 Götzenmannes nur um wenige Zoll über das preußische Militärmaß hinaus. Neben den meisten Tempeln befanden sich Gärten voller Zwerggewächse und Fischteiche; im Ertrage beider scheint ein Theil der Einkünfte der Geistlichkeit zu bestehen. Die Gegensätze rücken aber in asiatischen Landen hart neben einander; noch von dem heiteren Eindruck dieser Oertlichkeit erfüllt, wurde ich in der nächsten Straße durch ein melancholisches Schauspiel an die von den Ansichten und Empfindungen europäischer Völker ganz abweichende Weltanschauung der Chinesen gemahnt.

Durch den prachtvollen Anblick eines auffallend bunten Ladenschildes gefesselt, stolperte ich über einen am Boden liegenden Gegenstand und wurde nur durch den kühnen Griff meines Reisvogels vor dem Fall bewahrt. Beinahe in der Mitte der Straße lag ein alter Mann, beide Arme kraftlos von sich streckend. Mit einem unsäglich dürftigen und schmutzigen Gewande bekleidet, schien er aus Schwäche niedergesunken und eingeschlafen zu sein. Als ich, so weit es mir der vorüberfluthende Menschenstrom gestattete, ihn näher in Augenschein nehmen und mitleidig etwas bei Seite an die Wand des Kaufmannsladens schieben wollte, entdeckte ich meinen Irrthum. Der bräunlich gelbe Teint, der sich über Gesicht, Stirn und Schädel bis an den schneeweißen Zopf erstreckte, zeigte einen Stich ins Leichenfarbige, die Augen hatten eine seltsame Starrheit angenommen, der zahnlose Mund war halb geöffnet; der Alte lag offenbar im Sterben. Ich prallte entsetzt zurück, aber Niemand von den Vorübergehenden warf auch nur einen Seitenblick auf den Sterbenden, ja mit heitrem Lächeln trat der Ladenbesitzer aus seinem Lokal und lud uns mit freundlichen 22 Handbewegungen ein, die Waarenvorräthe zu besichtigen. Wir traten ein, kauften eine unbedeutende Elfenbeinschnitzerei, und mein Begleiter erzählte mir, wie es oft genug vorkomme, daß hochbejahrte entkräftete Leute, wenn sie die Annährung des Todes fühlten, sich mitten auf die Straße legten und mit heroischer Resignation das Ende ihrer Tage erwarteten. Die sittliche Motivirung dieses Verfahrens blieb der Berichterstatter mir schuldig. Ob die jammervolle Beschränktheit der chinesischen Wohnungen, oder die unwiderstehliche Sehnsucht: Angesichts des freien Himmels die Trümmer des sterblichen Leibes dem Walten der Elemente zurückzuerstatten, die Unglücklichen zu diesem Entschlusse treibt, wage ich nicht zu entscheiden. Die Polizei mag, außer Stande, die Lebensüberdrüssigen daran zu verhindern, doch mit ihrem Verfahren nicht einverstanden sein. Mir wurde später ein eingepferchter Raum in einer etwas freier gelegenen Stadtgegend gezeigt, wo die Sterbelustigen unter amtlicher Billigung ihr Lager wählen dürfen. Die Vorübergehenden können hier durch den Stacketenzaun, wie durch das Gitter der Morgue zu Paris, die Todescandidaten betrachten, und es soll vorkommen, daß Verwandte und Freunde hier alte Angehörige und Bekannte wieder erkennen und sich zuweilen bemühen, sie ihrem verzweifelten Entschlusse abwendig zu machen und am Leben zu erhalten. Wir achten das Dasein dem Golde gleich; in den Augen der Ostasiaten ist es nur ein unedles Metall.

Ein anderer Gräuel ist zu Kanton der polizeilich geduldete, ja organisirte Bettel. Die Zahl der von Almosen lebenden Einwohner übersteigt angeblich hunderttausend. Wohl die Hälfte derselben ist blind; dem Vernehmen nach werden 23 sogar viele Kinder armer Leute von ihren Eltern absichtlich geblendet, um durch Betteln zur Erhaltung der Familie beizutragen und den Alten die Arbeit zu ersparen. Unter Anführung eines noch leidlich Sehenden ziehen kleine Trupps durch die Straßen und lassen sich durch das festgehaltene Stockende des vor ihnen gehenden Gefährten leiten. Sie treten in die offenen Läden und Hausflure und klappern oder blasen auf einer schrillen Pfeife so lange, bis der Eigenthümer sie durch eine kleine Gabe zum Abzuge bewegt. Selten erhalten sie mehr als einen Cash, eine durchlöcherte schlechte Kupfermünze, den fünfhundertsten Theil eines Dollars, oft müssen sie selbst die Hälfte, ein Bruchstück herausgeben. Alle diese Bettler stehen unter einem Chef und bilden mehrere Associationen. Ihr Geschäft wird planmäßig betrieben, sie treten am Morgen auf bestimmten Sammelplätzen an und begeben sich von da nach verschiedenen Stadttheilen von Kanton. Die Nacht bringen diese Unglücklichen, falls sie ganz obdachlos sind, in großen scheunenartigen Gebäuden zu. In der kühlen Jahreszeit wird auf die reihenweise ausgestreckten Schläfer eine große Decke herabgelassen, durch deren Schlitze jeder, um nicht zu ersticken, den Kopf zu stecken hat. Am Morgen wird die Decke wieder in die Höhe gezogen und die Hausgenossenschaft vertrieben. Der Anblick dieser Unglücklichen ist häufig erschütternd. Einst begegnete ich einen noch jungen Menschen, in dessen leeren Augenhöhlen zwei blutige Charpiebündel steckten. Er schien erst vor Kurzem geblendet zu sein.

Auf die Denkungsart der Chinesen erlaubt ihr kaufmännisches Verfahren Rückschlüsse. Im Kleinhandel ist 24 auch für den Fremden eine Waage unentbehrlich. Erhält der Chinese beim Ankauf einer Waare einen Dollar, so wirft er ihn zuerst auf den dünnen Stein, der auf keinem Ladentische fehlt, dann wird das Geldstück sorgfältig gewogen, zu mehrerer Sicherheit schickt er den Dollar wohl noch zu einigen Nachbarn und bittet um ihr Gutachten. Natürlich nimmt er keinen Anstoß daran, wenn man ihn beim Herausgeben klingender Münze mit gleichem Argwohn behandelt. Ist ein Dollar von ihm als vollgewichtig anerkannt, so prägt er ihm seinen Stempel auf. Das Gepräge des mir vorliegenden Geldstücks ist durch zahllose winzige Stempel nicht nur total zerstört, sondern auch die Platte durch die heftigen Schläge so entstellt, daß in der Mitte eine tiefe Aushöhlung entstanden und der Rand brüchig geworden ist. Die Fragmente zerbrochener Dollars werden als Scheidemünze benutzt, da nur der gemeine Mann plumpe, auf einen Riemen gezogene Kupferstücke bei sich führt. Die Zahl der Leihhäuser ist beträchtlich; in allen Stadtvierteln zeigte man mir großartige Speicher, in denen die versetzten Waaren aufbewahrt werden. Je nach der Jahreszeit trägt der arme Mann bald seine Sommer-, bald seine Wintergarderobe dorthin; der geringe Zinsfuß der Anstalten soll ihm dies Verfahren erleichtern.

In den späteren Nachmittagsstunden segelten wir den Perlfluß eine Viertelmeile weit oberhalb Kanton hinauf und besuchten den berühmten Garten eines reichen Chinesen, des Herrn Potingua, einer kaufmännischen Notabilität von Kanton. Das Grundstück dieses Gentlemans ist ein seltsames Sammelsurium von Palästen, Brücken, Fischteichen, Pagoden, Blumenbeeten und Irrgängen, es fehlt sogar 25 nicht an einem Theater und einer Holzschneidewerkstatt nebst Druckerei. In einem geschlossenen Raume wird ein zerbrochener Wagen als Rarität aufbewahrt. Die schmalen Straßen Kantons, wie der Sumpfboden seiner Umgegend, verbieten den Gebrauch des Fuhrwerks; reiche Personen bedienen sich der Palankins und der Reitpferde. Potingua, ein überaus beleibter, von Fett glänzender Handelsherr, sah bei unserer Ankunft eine Menge (nur männlicher) Gäste bei sich, die von hundert bezopften Dienern umgeben waren, und feierte ein Gelage. Wir zogen uns rasch zurück, doch nickte uns der Gastgeber von seinem Sitze aus freundlich zu, als wollte er uns ermuntern, sein reiches Eigenthum gründlich zu betrachten. Wohl eine Stunde bedurften wir, um uns nur flüchtig in den Gärten umzusehen. Die Promenade war zudem mühselig genug, da die schmalen mit Fliesen gepflasterten Fußsteige uns zwischen den bewässerten Reisfeldern oft zum Balanciren nöthigten. Es blieb uns nichts Anderes übrig, als im Gänsemarsch vorzugehen. Die Pfade waren bisweilen nicht viel breiter, als die Schärfe eines Rasirmessers.

Die Besichtigung der chinesischen Läden hat für mich unbeschreibliche Reize; ich kann mich an diesen phantastischen Theeservicen, den Schnitzereien aus Ebenholz, den Stühlen, Sophas, Tischen und Bettstellen aus den kostbarsten Hölzern und einer Mosaik von rothen oder weißen Marmorstiften und Platten gar nicht satt sehen. Die Preise, selbst für Kleinigkeiten, sind abschreckend hoch; ich habe durch meine späte Ankunft die beste Zeit zu Einkäufen verfehlt. Kurz vor Neujahr läßt der Chinese am leichtesten mit sich handeln, da er um diese Zeit, wie auch andere Leute ohne 26 Zopf, viel Geld braucht. Einige remarquable Vasen wurden mir im tiefsten Vertrauen von Landsleuten als Manchester- und Birmingham-Fabrikat bezeichnet, das von englischen Speculanten nur nach Kanton geschickt worden war, um durch den chinesischen Stempel die Bürgschaft der Echtheit zu erhalten. Minder anziehend als diese prachtvollen Bazars sind die Wohnungen der Aerzte. Der bei uns wildwachsende Pfuschdoctor hat hier noch nicht Platz gegriffen; die chinesische Medicin führt unumschränkt das große Wort. So viel ich zu ermitteln vermochte, bestehen die Medicamente meistens aus Pillen und Pflastern. Von letzteren wird die sonderbarste Anwendung gemacht. Fällt das lange getragene Pflaster endlich von dem Patienten ab, so bedient sich der Arzt seiner als Reclame. Unsere wilden Mediciner, die Daubitze, Hoffs, Jacobi's, Popps, Lampe's und Dubarry's drucken zu ihrer Empfehlung die Dankbriefe der Genesenen für schweres Geld in den Zeitungen ab; die chinesischen Heilkünstler wissen dergleichen billiger herzustellen. Sie kleben oder nageln die Pflaster an die Fronten ihrer Häuser. Angehende Aerzte, deren Praxis noch in den Kinderschuhen steht, beginnen mit der Hausthür; die Wohnungen renommirter Doctoren sind bis an den ausgeschweiften Giebel, der widerwärtigste Anblick von der Welt, mit Pflastern bedeckt. Billionen Fliegen machen den Aufenthalt in der Nachbarschaft unerträglich. Die gelehrten Herren verstehen auch hier, sich äußerlich ein Ansehen zu geben. Sie tragen große Brillen und bauen ihre Häuser im Stile der Tempel.

Auf meinen Spaziergängen, über denen die künstlerischen Arbeiten leider gar arg vernachlässigt werden, lerne ich 27 täglich etwas Neues. Gewiß erinnert sich so Mancher, wie lebhaft ihrer Zeit die Frage der Bedürfnißanstalten erörtert wurde, wie uneinig man noch jetzt in der preußischen Capitale über die Kanalisation oder die systematisch geordnete Abfuhr der Dungstoffe ist. In Kanton hat man längst den Werth derselben eingesehen. Die Besitzerinnen der sogenannten »Cabinets d'Aisance« in Paris lassen sich von ihren Gästen einen Entgelt von fünfzehn Centimes zahlen; in Kanton verhält es sich umgekehrt. Der Inhaber jedes Erleichterungsinstitutes fühlt sich verpflichtet, alle bei ihm vorsprechenden Personen ihren Leistungen gemäß zu honoriren. Für die Lieferung zahlt er, je nach ihrem Aggregatzustande und ihrer Substanzialität, einen bis vier Cash. So geht der Landwirthschaft kaum ein Atom der städtischen Dungstoffe verloren, und die chinesische Gärtnerei zieht daraus die außerordentlichsten Vortheile. Im Großen und Ganzen verdient die Straßenreinigung Kantons das höchste Lob. Die schmalen Straßen werden sehr sauber gehalten, und selbst die Fußpfade vor der Stadt sind mit Granitplatten gepflastert, da man bei dem fetten Erdreich bei anhaltendem Regenwetter gleich knietief in den weichen Boden sinken würde.

Ist die Hitze nicht zu erdrückend, so besuche ich auch Werkstätten und Fabriken und bewundere den rastlosen Fleiß und die Geschicklichkeit der Bevölkerung. Schon Kinder von sechs Jahren gehen ihren Eltern zur Hand und verrichten den Tag über unverdrossen irgend eine leichte, aber für das Geschäft unerläßliche Arbeit. In jedem Winkel Kantons, oft in Oertlichkeiten, die nur noch für den Aufenthalt des Ungeziefers geeignet zu sein scheinen, wird gesponnen, 28 gewebt, geschnitzt, gemalt und gefärbt. Der Chinese ist unermüdlich; was Erholung heißt, ist ihm vollkommen unbekannt.

Am 17. April wurde schon um 7 Uhr Morgens in Gesellschaft von fünf Landleuten eine Wanderung in die Straßen der Stadt angetreten. Wir besuchten den »Tempel der Schrecken.« Als abmahnendes Beispiel sind in diesem, um der Geschäftsüberhäufung der Criminaljustiz nachdrücklich vorzubeugen, die furchtbarsten Todesstrafen durch Holzfiguren vergegenwärtigt. Ein Delinquent wurde zwischen zwei Brettern zersägt; ein anderer saß in einem mit Wasser gefüllten Kessel, unter dem Feuer brannte. Eine mir vollkommen neue Todesstrafe war das haarsträubende Verfahren, den Verbrecher zu Tode – zu läuten. Eine große Glocke wird über ihn herabgelassen und einen halben Fuß hoch über dem Erdboden schwebend erhalten; nun bearbeiteten die Schergen das Metall so lange mit gewaltigen Hämmern, bis das Opfer, von dem wüsten Lärm innerlich vernichtet, zu Boden sinkt und endlich den Geist aufgiebt. Sind diese Illustrationen zum chinesischen Strafgesetzbuch maßgebend, so werden im himmlischen Reiche Verbrecher auch wilden Thieren vorgeworfen. Bei meinem langen Aufenthalte in China werde ich mich genöthigt sehen, auf das Capitel der Rechtspflege, des Gefängnißreglements und der starken Nervensysteme der Chinesen wiederholt zurückzukommen. 29


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