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Aquarelle für Zahn. Schlauberger's Diener. Abgelohnt. Mistreß Reynolds. Kutscherwechsel. Tartarus, Inferno und Ausspannung. Segelkarren. Ein umgefahrenes Haus. Mongolische Miethsklepper. Nach Chialin. Die Stinkpots bei Taku.
Das Wetter verschlechtert sich mit jedem Tage und ein anhaltender stürmischer Wind gestattet mir nicht, unter freiem Himmel zu arbeiten. So gleichgültig es mir ist, im Gesicht und an den Händen schwarz, wie ein Schornsteinfeger nach Hause zurückzukehren, der klebrige dunkle Staub, der an jedem frischen Pinselstrich haftet, verdirbt alle neuerdings angefangenen Aquarellen. Auch der Ueberlandweg von Peking nach Tientsin muß reiflich in Erwägung gezogen werden. Nach meiner Bekanntschaft mit der Landstraße kann der Weg bei anhaltendem gelindem Frost unfahrbar werden. Die Kräfte zweier Pferde reichen gewiß nicht aus, den durch die Eiskruste bis an die Achse in den Schlamm gesunkenen Karren tausendmal an einem Tage wieder herauszuziehen. Mein Plan, bald möglichst die Rückreise anzutreten, sollte durch Dr. Lockhardt, den als Zahnbrecher dilettirenden Missionär, vereitelt werden. In Verlegenheit, ihm, dem frommen Diener der Kirche, ein 322 Honorar für ärztliche Leistungen anzubieten, so elend sie gewesen sein mochten, stammelte ich bei meinem Abschiedsbesuch einige Worte der Erkenntlichkeit, doch war Dr. Lockhardt nicht der Mann, sich damit zu begnügen. Keineswegs geneigt, dem Laster der Undankbarkeit Vorschub zu leisten, erklärte er, durch die Zeichnung eines gewissen Theiles der Stadt sattsam für seine Bemühungen belohnt zu werden; es blieb mir also nichts übrig, als einen Tag zu opfern, und bei einem eisigen Winde, der mich mit neuen Zahnschmerzen bedrohte, die Zeichnung für den bescheidenen Priester anzufertigen. Wenn mich das Geständniß nicht schändet, will ich bekennen, niemals ein Blatt so gleichgültig und nachlässig ausgeführt zu haben.
Einmal dieser Verpflichtung ledig, ging ich an das mühselige Geschäft, meine Koffer zu packen. Auf Schlaubergers, meines chinesischen Dieners Hilfe, war nicht zu rechnen; ich suchte ihn sogar Taschen- und Kofferdiebstahls halber fern zu halten. Nur meiner einfältigen Gutmüthigkeit habe ich es zuzuschreiben, wenn mir der heillose Kerl in den letzten Tagen über den Kopf gewachsen ist. Ueberdrüssig, meine Kleider zu reinigen und die Stiefel zu putzen, hält er sich dazu einen Kuli, der mir bei der wahrscheinlich schlechten Bezahlung seines Gebieters, nicht vom Leibe geht, und um »Backschisch« bettelt. Der unaufhörlichen Prellereien Schlaubergers müde, beschloß ich, ihn vor Verschluß meiner Koffer abzulohnen. Zu zahlen hatte ich nichts mehr, da er bereits für anderthalb Wochen Vorschuß empfangen. Diesen ließ ich ihm und fügte sogar noch ein kleines Geschenk hinzu. Dessenungeachtet bettelte der Kerl um Backschisch und dann noch um 50 Cash zu einer Pfeife 323 Opium. Es war unmöglich, ihn aus dem Zimmer zu entfernen, die offenen Koffer und die auf dem Tisch umherliegenden zum Theil werthvollen Gegenstände waren für ihn zu verführerisch. Jetzt ging ich an die Emballage jenes Dutzends Porzellankrucken, in denen die feinsten eingemachten Früchte enthalten waren, die ich, um meinem gütigen Gastfreunde in Tientsin eine kleine Aufmerksamkeit zu erweisen, bei dem ersten Conditor in Peking gekauft hatte. Ich befahl Schlauberger, die Krucken aus einem Wandschrank mir zuzureichen und dann das Gemach zu verlassen. Zu meinem Befremden trat der Kerl, ohne meinem Befehl zu gehorsamen, sogleich den Rückzug an. Der Paß wurde ihm indessen verlegt; ich drängte ihn gegen das Fenster und griff selber nach den Krucken. Sie waren sämmtlich leer; der Schlecker hatte den Inhalt bis auf die letzte Fruchtfaser verzehrt. Bei der geringsten Spur von Verlegenheit oder Scham wäre ihm seine Gefräßigkeit hingegangen, aber die freche Hohnlache des Buben, der die Dieberei für einen guten Witz zu halten schien, empörte mich aufs Aeußerste. In Ermangelung eines Säbels griff ich nach der Nilpferdpeitsche, welche mich auf meinen letzten Reittouren begleitet hatte und ging Schlauberger zu Leibe. Er wollte mir unter dem Arm durchschlüpfen, allein ich kam ihm zuvor und versetzte ihm mit Aufgebot aller meiner Kräfte einen regelrechten Schwadronhieb. Schlauberger warf sich zu Boden und stieß ein lautes Jammergeschrei aus, sprang jedoch, als ein Regenschauer von Kantschuhieben über ihn hereinbrach, geschwind wieder auf und rannte heulend davon. Zu meinem Troste machte sich der im Hofe beschäftigte Mongole, dem er stets ein Dorn im Auge 324 gewesen war, über ihn her und versetzte ihm, den Zopf festhaltend, mehrere Fußtritte, wie sie eben nur einem Mongolen zur Verfügung stehen.
Das Geschrei des Sträflings zog die Dienerschaft des Hauses herbei und ich benutzte gleich die Gelegenheit, um meinen Dank für geleistete Dienste auszusprechen und die Abschieds-Trinkgelder zu vertheilen. Mit ungeheuchelter Rührung trennte ich mich von Mistreß Reynolds, der dicken Köchin. Die würdige Frau hatte sich um mein Leibeswohl hochverdient gemacht; ihre Diners werden niemals aus meiner Erinnerung schwinden. Ein feierlicherer Act war die Verabschiedung von Sir Frederic und seinen jugendlichen Attachés. Der Aufenthalt in diesem Hause und einer Gesellschaft, die alle Bildung und den edlen Anstand Englands besaß, hat mich für sämmtliche, auf See im Kreise roher Kapitäne und Passagiere erlittenen Ungebührlichkeiten entschädigt. Am 11. November sagte ich den liebenswürdigen Gastfreunden für immer Lebewohl und bestieg den, vor dem Hotel harrenden »Todeskarren«. Herr Karl Bismarck und ein junger Attaché gaben mir noch zwei Stunden weit zu Pferde das Geleit. Der Himmel mag wissen, wann ich dem freundlichen Landsmanne die mir erwiesenen Gefälligkeiten vergelten kann.
Die Gegenwart der beiden Herren mochte meinen Kutscher in Zaum gehalten haben, als sie ihm aus dem Gesicht entschwunden waren, entwickelte er plötzlich eine der unangenehmsten Eigenschaften, an der Rossebändiger zu leiden pflegen. Seiner gigantischen Statur nach ein geborener Raufbold, fing er mit einer Menge Passanten Streit an, und ging gleich zu Schimpfworten und 325 Thätlichkeiten über. Für einen schlichten Deutschen ist es immer eine bedenkliche Aufgabe, die Streitigkeiten chinesischer Pferdeknechte schlichten zu müssen; ich machte gute Miene zum bösen Spiele. Zänkereien kommen bei der tief eingewurzelten Feigheit der ostasiatischen Völker selten vor, und mich belustigte dieser Wortwechsel, wie ich ihn noch nie erlebt. War der Frieden wieder hergestellt, so suchte mich der störrige Kutscher durch Geschichtserzählungen für meine Vermittelung zu belohnen. Ihrem Gange vermag ich nicht zu folgen, doch lerne ich immer einige neue Vocabeln, die ich aber schon in Tientsin nicht mehr verwerthen kann. Die Naturalverpflegung auf dem Rückwege flößt mir keine Besorgnisse mehr ein. Mistreß Reynolds hat hausmütterlich für mich gesorgt. Noch im Augenblicke des Scheidens brachte die gute Frau einen Kober voller gebratener Rebhühner, Zungen, Pickles und Brandy; eingedenk des Schlaubergerschen Appetits habe ich ihn sofort, wie eine Reisetasche, um die Schulter gehängt.
Die Eintheilung unserer Nachtlager ist eine andere, als auf der Hinreise nach Peking, aber ein Unterschied in der Einrichtung der Gasthäuser ist nicht zu bemerken. Sie sind immer dieselben schmutzigen und stinkigen Kabachen mit aufgemauerten Bettpritschen und ungeflickten Papierfenstern. Wäre ich den Peiho stromab gefahren, so hätte ich wohl diese Unbequemlichkeiten gemieden, bei den Krümmungen des Flusses aber beinahe fünf kostbare Tage verloren. Gelegenheit zu Kutscherbekanntschaften wird mir häufig geboten.
Sobald nämlich ein Gespann das andere einholt, ist es Brauch der Fuhrleute nach Austausch der weitläufigen 326 Begrüßungs-Ceremonien, nun auch ihre Sitze auf der Gabeldeichsel und die Lenkung der Pferde zu wechseln. Ohne den Fahrgast zu fragen, nimmt der fremde Kutscher neben ihm Platz und knüpft sogleich eine vertrauliche Unterhaltung an. Mehrmals wurden mir von den galanten Herren angebissene Aepfel oder brennende Tabakspfeifen angeboten, die ich regelmäßig mit tiefgefühltem Dank zurückwies. Verriethen sie Spuren von Empfindlichkeit über die Ablehnung dieser Artigkeiten, so stellte das Geschenk einer Cigarre ihre gute Laune schnell wieder her. Der Uebersiedelung des Ungeziefers, mit dem sie bedeckt waren, konnte ich mich leider nicht mit gleicher Leichtigkeit erwehren. Mit untergeschlagenen Beinen sitzen wir einander so nahe, daß die Colonisation der kleinen Kriechthiere rasch und ungehindert vor sich gehen kann. Die Dichter des Alterthums haben sich über die Schrecken des Tartarus ebenso ausführlich verbreitet, wie Dante über die Gräuelscenen der christlichen Hölle, aber in den Schilderungen Beider vermisse ich das Bild des deutschen Reisenden, der Abends in einer chinesischen Ausspannung angelangt, seine geräderten Glieder auf der geheizten Steinpritsche ausstreckt, hier vor einer eiskalten Kachel zurückschaudert, dort sich an einer glühend heißen Stelle verbrennt, trotz des Getuschels am Papierfenster, nachdem er das qualmende Talglicht ausgeblasen, endlich in einen unruhigen Schlummer verfällt, plötzlich aber von naschhaften Kerbthieren angezapft, entsetzt von der Folterbank aufspringt, sich aller Kleidungsstücke entledigt und wie irrsinnig in der Höhle umhertobt.
Ich verschone meine Landsleute mit einer ausführlichen Beschreibung des ersten Nachtquartiers auf der Rückkehr 327 von Peking nach Tientsin. Die Qualen desselben hatten bei der früh hereinbrechenden Dunkelheit der Herbstabende schon um halb acht Uhr begonnen, aber erst eine Stunde nach Mitternacht hatte ich meine Fassung so weit wieder errungen, um zu Gunsten der Gastwirthschaft selbst einige Milderungsgründe beizubringen. Möglichst ruhig setzte ich mir auseinander, die Gründung dieser Kneipe könne vielleicht bis in die ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt hinausreichen, und schon ein Zeitgenosse des Attila auf der, über die Pritsche gebreiteten Strohmatte geschlafen haben; die älteren Anrechte der darin hausenden Insecten-Bevölkerung seien daher zu respectiren. Ich hüllte mich wieder in meine Kleider und wandelte bis drei Uhr in dem kleinen Hofe umher. Bis zum Tode erschöpft, schlummerte ich dann noch eine halbe Stunde, wurde aber gegen vier Uhr schon von meinem Kutscher geweckt. Der schlechten Wege halber trieb er, um das nächste Quartier noch rechtzeitig zu erreichen, so frühe zum Aufbruch. Es war bitterkalt und sternenklar, um so unheimlicher wirkte der Leichengeruch, den der Nachtwind uns von benachbarten Gräberstätten entgegentrieb. Der Kutscher bemühte sich wieder, mich durch Fortsetzung seiner gestrigen Erzählungen zu zerstreuen, doch sprach er heute viel lauter. Er mochte mich, da ich meistens nur durch Kopfnicken geantwortet, für harthörig halten. Auch heute setzte ich meine Kutscherbekanntschaften fort, und kam nach einer vierzehnstündigen Fahrt an Gräbern und offenen Särgen vorbei, bald nach Sonnenuntergang, betäubt von dem wirren Geschwätz der Barbaren, in der Herberge an. Seit sechs und dreißig Stunden habe ich keinen Europäer mehr gesehen. Die grundlosen Wege 328 hatten die Karrenfahrt doppelt unerträglich gemacht. Dreimal mußten wir queer durch kleine Flüsse fahren, in deren Lehmgrund die schweren Karrenräder bis an die Achse versanken und das trübe Wasser unsere Füße benetzte. Wegebau-Commissionen mögen in China nicht existiren!
Um über die Schwierigkeiten der Straßen leichter hinwegzukommen, bedienen sich die Führer von Schiebkarren des eigenthümlichen Hilfsmittels der Mattensegel, und wirklich scheint der Wind bei leichten Fahrzeugen ausreichende Kraft zu besitzen, den Karren rascher von der Stelle zu bringen. Vor einem freistehenden Thor oder Triumphbogen hielt ich eine Viertelstunde und skizzirte ihn flüchtig. Zwei fünfzehn Fuß hohe hölzerne Figuren veranlaßten mich besonders dazu. Beide mochten Teufel vorstellen, aber während der Eine sich mit einem Säbel gar grimmig gebehrdete, musicirte der Andere unter leutseligem Lächeln auf einer Guitarre. In dem nahen Tempel stand ein Hauptgott aus Bronze, wie eine Bruthenne von ihren Küchlein, umgeben von vielen kleinen Götzchen. In unserem heutigen Nachtquartier sah es etwas reinlicher aus, man war sogar auf ein warmes Abendessen eingerichtet, doch war auch der Betrag der Rechnung diesen Genüssen angemessen. Das Dokument habe ich gleichfalls aufbewahrt, und erfreue mich noch heute in Stunden der Erinnerung der zierlichen Schrift des chinesischen Wirthes. Wenn unsere Oberkellner die Rechnung möglichst flüchtig auf das Papier werfen und die einzelnen Posten gern in ein Pauschquantum zusammenziehen, befleißigt sich der Chinese einer wahrhaft kalligraphischen Ausführung. An den, oft aus zwanzig Haarstrichen gebildeten einzelnen Wörtern fehlt nicht ein Häkchen, 329 die Anfertigung der Rechnung von der Größe eines Thalerscheins konnte eine Stunde gedauert haben. Am 13. November brachen wir um fünf Uhr Morgens wieder auf und erreichten Nachmittags noch bei guter Zeit Tientsin.
Wäre ich abergläubisch; unser Einzug hätte mir für eine üble Vorbedeutung gelten können. Mein Kutscher, der seit Tagesanbruch wenig Gelegenheit gefunden hatte, seiner Händelsucht Luft zu machen, suchte in der Vorstadt einiges Aufsehen zu erregen, und fuhr ein kleines Haus um. Wäre ihm dieses Attentat auf den befestigten Grundbesitz von Tientsin ungestraft hingegangen, er hätte von den wuchtigen Karrenrädern noch weiteren Mißbrauch gemacht und die ganze Straßenfront von Kartenhäusern über den Haufen gefahren, allein der Hausherr, die Miether und alle Nachbarn, fielen über uns her, und überschütteten den Freund des Umsturzes mit bittern Vorwürfen. Man forderte von mir Bezahlung des übergefahrenen Hauses? Nach Abrechnung des Werthes der Baustelle, für die ich nicht verantwortlich gemacht werden konnte, hätte sich die Entschädigungssumme wohl noch erschwingen lassen, denn die Trümmer des Gebäudes glichen nur einem Haufen übereinander geworfener Bettschirme, allein rechtzeitig überfiel mich der Argwohn, das kleine Haus könne aus Speculation so weit aus der Straßenflucht hervorgerückt sein, um dem Besitzer zuweilen eine Extra-Einnahme zu verschaffen; ich verweigerte jegliche Zahlung. Der Wortwechsel mit dem Kutscher dauerte noch an zehn Minuten, dann ließ man uns passiren und kurz vor Sonnenuntergang hielt der Karren vor dem Hause des Herrn Stammann.
Während meiner ersten Anwesenheit in Tientsin war 330 mir die Zeit nur spärlich zugemessen, jetzt bin ich genöthigt, den Abgang des Dampfers nach Shanghai hier abzuwarten, und gesonnen, das Versäumte nach Kräften nachzuholen. Gleich am nächsten Morgen (14. November) begünstigte die herrliche, nicht zu kalte Witterung meinen ersten malerischen Ausflug. Schnell war eine Ansicht der Stadt zu Papier gebracht, und Nachmittags ein Spazierritt mit zwei Deutschen unternommen, der leicht traurige Folgen hätte haben können. Den mongolischen Miethsgäulen blieb unsere schülerhafte Reitkunst nicht lange verborgen. Nachdem dicht vor dem Thore erst der Braune und dann der Schimmel mit meinen Begleitern durchgegangen, fühlte sich auch mein Fuchs gedrungen, seinen Stallgenossen zu folgen. Ich verlor die Bügel, avancirte über den Sattelknopf auf den Hals der Mähre und flog endlich über ihren Kopf auf die Landstraße. In einiger Entfernung lagen die Landsleute; in dem tiefen Schmutz hatte Niemand Schaden genommen, nur mußten wir in der traurigsten Gestalt zu Fuß nach Tientsin zurückkehren. In den engen Straßen wurden wir eine willkommene Beute der Bettler, die, ohne unsern bejammernswerthen Zustand zu berücksichtigen, unser Mitleid zu erwecken suchten. Einige hatten unsere, in die Stadt zurücklaufenden Pferde erwischt und erbaten sich ein Trinkgeld, andere suchten unser Erbarmen zu erregen, indem sie ihre nackte Brust mit großen Mauersteinen so gewaltsam bearbeiteten, daß die Stöße blutige Spuren hinterließen. Gerade diese Bettler waren immer gesunde und robuste Personen, die ihren Lebensunterhalt mit geringer Mühe durch Arbeit hätten erwerben können.
331 Am Morgen des 15. November wurde mir der Mangel jedes Heizapparates in unserer Wohnung schmerzlich fühlbar. Der Aufenthalt im Freien war immer noch erträglicher. Sobald der Nebel sich etwas verzogen hatte, bepackte ich mich mit meinem Malerstuhl und sonstigen Utensilien, und nahm eine sehr malerische Straße mit mehreren Triumphbögen auf. Nach dem Tiffin stattete ich dem preußischen Consul, Herrn Alisch, einen Besuch ab. Der blaue Himmel und warme Sonnenschein forderten zu einem Spaziergange auf, und der Consul führte mich zu den nahe gelegenen Forts, die in der Geschichte des letzten Krieges und Tractatenabschlusses von Tientsin eine große Rolle gespielt hatten. Die Wälle sind durchweg von Schlamm aufgeworfen, ein Material, das der Beschießung stärkeren Widerstand als Mauern und andere solide Befestigungen entgegengesetzt haben soll. Beim Brescheschießen blieben die Kugeln in der zähen Masse stecken oder fuhren hindurch, ohne eine Oeffnung zu hinterlassen. Die Zahl der Gefallenen muß sehr beträchtlich gewesen sein: die Forts sind von einer Menge von Grabhügeln umgeben, unter denen die Soldaten der Engländer und Franzosen ruhen.
Für den 16. November war ich auf den Landsitz des Herrn Alisch nach Chialin (Tschialin) zu einem Diner geladen. Die Villa war eine Stunde von der Stadt entfernt, und es blieb mir, da es die ganze Nacht hindurch gestürmt und geregnet hatte, nichts anderes übrig, als mich eines Tragsessels zu bedienen, doch versanken selbst die acht handfesten Kulis, die abwechselnd den Palankin trugen, nicht selten tief in den Schlamm. An die Rückkehr nach Tientsin 332 war nicht zu denken: ich wäre in Nacht und Nebel sammt meinen Trägern in der chaotischen Masse zu Grunde gegangen. Ich blieb in der Villa des Consuls, aber auch an ruhigen Schlaf war nicht zu denken. Der Sturm drückte die kleinen blauen und gelben Fensterscheiben des Gemachs ein, und ich holte mir einen heftigen Schnupfen, der mir auch die letzten Stunden der Nachtruhe verdarb.
Am Morgen war die weite Fläche der Flußniederung, so weit das Auge reichte, in Schnee gehüllt, und ein scharfer Nordost trieb ein dichtes Gestöber der feinsten Flocken vor sich her. Dessenungeachtet traten meine acht Kulis an, und über Hals und Kopf kehrten wir mit unserem Palankin nach Tientsin zurück. Consul Alisch versichert mir, wir thäten wohl, stromabwärts nach Taku zu fahren, ehe der Fluß zufriert. Es sei sicherer, von dort aus den Abgang des Dampfers nach Shanghai abzuwarten. Meine Effekten waren rasch gepackt, nur mit klingender Münze war ich noch nicht ausreichend versehen. In der asiatischen Geschäftswelt wird meistens bis auf den letzten Augenblick gewartet. Erst im Moment der Abfahrt war es mir möglich, meine Papiere in Gold umzusetzen. Der Consul, den ich bis Shanghai begleiten werde, hatte ein geräumiges, mit vier und zwanzig Ruderern bemanntes Mandarinenboot gemiethet, und um vier Uhr fuhren wir nach der europäischen Ansiedelung den Fluß hinab. Wir sollen hier von der Abfahrtszeit des Steamers in Kenntniß gesetzt werden. Es stürmt gewaltig bei eisiger Kälte; die Flasche muß den gemüthlichen deutschen Ofen ersetzen. Obgleich man uns längst auf den Abgang des Dampfers vorbereitet hatte, traf doch erst am 19. November Vormittags 333 die briefliche Aufforderung des Capitäns ein, uns sofort an Bord zu begeben. Die Dienerschaft des Consuls brannte bei hellem lichten Tage ein Abschiedsfeuerwerk ab, und um halb zwei Uhr Mittags schifften wir uns nach dem zehn Meilen entfernten Taku ein. So rüstig unsere schlecht gekleideten Kulis ruderten, um sich zu erwärmen, erreichten wir den Ort unserer Bestimmung doch erst in den Mittagsstunden des nächsten Tages. Kurz vor Taku zeigte mir Herr Alisch die künstlich aufgeworfenen Hügel, auf welchen vor drei Jahren die Scheinbefestigungen der Chinesen gestanden hatten. Diese waren nichts weiter, als Decorationen aus Leinwand und Papier gewesen, die man zwischen Bambusstäben aufgehängt und mit Schießscharten nebst Kanonenmündungen bemalt hatte. Die einzige Armirung dieser Pseudo-Forts bestanden aus sogenannten »Stinkpots«, mit denen man den Bajonettangriff der Engländer und Franzosen beantwortete. Die teuflische Mischung verbreitet einen scharfen betäubenden Dunst, der den Athem benimmt und das Auge zu brennend heißen Thränen reizt. Eine andere, noch abscheulichere Composition ist mit feuchtem Schießpulver angemacht und verbrennt langsam, indem die Stinkmasse verdampft.
Wir hatten uns beeilt, an Bord des Dampfers Gerard zu kommen, allein die Mühe war umsonst gewesen. Erst am Tage darauf sollte der »Gerard« die Anker lichten. Die Mannschaft des Steamers begleitete eben die Leiche des Lootsen Wingate zu ihrer letzten Ruhestatt. Der unglückliche Mensch, derselbe, welcher den Argus vergebens über die Barre der Peiho-Mündung zu bringen versucht hatte, war gestern sinnlos betrunken in die See gefallen 334 und todt herausgezogen worden. Kaum hatten wir uns ein wenig in unserer Kabine eingerichtet, als Herr Alisch die traurige Entdeckung machte, ein Korb mit zwölf Flaschen Champagner und eben so vielen feinen Medocs sei in unserem Mandarinenboot vergessen worden. Eine so wichtige Herzstärkung durfte nicht zurückbleiben. Der Diener, welcher mit uns die Abfahrt erwarten und erst dann zurückkehren sollte, wurde dem schwerfälligeren Boote der Kulis nachgeschickt, holte es wirklich mit seinem winzigen Schnellsegler ein, brachte aber um halb sieben Uhr Abends nur noch drei Flaschen Champagner zurück. Den Rest hatte die Bootsmannschaft für gute Prise erklärt und – ausgetrunken.
Im Verlaufe des Tages kamen noch fünf Passagiere an Bord, darunter drei französische Missionäre, mit denen ich schon in Peking flüchtige Bekanntschaft gemacht hatte, und am Theetisch wurde denn auch die Ursache der Verzögerung unserer Abfahrt nach Taku erörtert. Wieder ist es die leidige Barre, die uns, wie früher die Einfahrt, jetzt die Abfahrt erschwert. Sie besteht aus einer, mit Schlamm bedeckten Sandsteinbank und legt sich, gleich einem Schlagbaum, queer vor die Mündung des Peiho. Der Wasserstand hatte bei dem gestrigen Winde nur sieben Fuß betragen, bei dem heutigen Nordost war er um einen Fuß gestiegen; morgen hoffte der Capitän bei ausreichender Tiefe den »Gerard« glücklich über die Barre zu bringen. Wirklich wurden am 21. November mit steigender Fluth alle Vorkehrungen zur Abfahrt getroffen. Ein deutscher Lootse trat an das Steuerrad, und alle Passagiere, der zweite Platz war mit chinesischen Handelsleuten gefüllt, 335 legten mit Hand an, den Anker zu lichten. Die siamesischen und malayischen Matrosen sind nur ein schwächlicher, schlaffer Menschenschlag. Nach einer halben Stunde lag die Mündung des Peiho hinter uns, doch sollten wir abermals aufgehalten werden. Der Capitän eines, auf die links gelegene Sandbank gerannten amerikanischen Barkschiffes kam an Bord und bot eine beträchtliche Summe, wenn der Dampfer ihn flott machen wollte. Unser Capitän war nicht der Mann, ein so vortheilhaftes Anerbieten abzulehnen; der »Gerard« ging sogleich ans Werk. 336