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Vor der Barre des Peiho. Fort vom Argus. Taku. Bom-Bom-Pidjen. Alles aus Schlamm. Nach Tientsin. Der Kaiserkanal und seine schwimmenden Dörfer. Karrenfahrt. Opiumraucher in der Halbwegskneipe. Glaube, bete und zahle! Chinesischer Pferdewechsel. In Stücke geprügelt. Kurz vor Peking.
Nach einiger Zeit mochte der Capitän an seinen Erfahrungen und nautischen Kenntnissen irre werden; es gelang mir endlich, ihn zur Absendung eines Bootes zu bewegen, das bei jener, noch immer in Sicht lavirenden Dschunke Erkundigungen einziehen sollte. Nach einer halben Stunde kehrte das Boot zurück und brachte uns einen Matrosen der Dschunke mit, der sich anheischig machte, uns in die Mündung des Peiho und nach Taku hinaufzulootsen. Wie aus dem mir vorliegenden, vom Lieut. Col. Wolseley entworfenen »Plan of the Country in the Neighbourhood of the Taku forts« hervorgeht, macht der Peiho noch vor seiner Mündung zwei starke Krümmungen und der chinesische Lootse hat unzweifelhaft Recht, wenn er unsere Entfernung von Taku auf fünfzig englische Meilen veranschlagt. Der beschämte Capitän schiebt jetzt frecher Weise die Schuld auf den Compaß; angeblich wäre die Nadel durch das in der 262 Nähe derselben befindliche Eisen von ihrer normalen Richtung abgelenkt worden! Wir sollten nicht so rasch an Ort und Stelle kommen, als die kurze Entfernung erwarten ließ. Der Chinese zeigte sich so unsicher, daß der Capitän selbst für geboten hielt, einen uns entgegenkommenden englischen Lootsen an Bord zu nehmen, und auf den Rath dieses kundigen Seemannes werfen wir um sechs Uhr Abends, einige englische Meilen vor der Mündung und gefährlichen Barre des Peiho abermals Anker. Auch am nächsten Morgen, 23. October, trug der Lootse Bedenken, die Barre zu passiren, bei schneidender Kälte war ein Sturm von Nord-Ost im Anzuge, und die durch Nothsignale herbeigerufenen chinesischen Böte, in denen ich um jeden Preis an Land gehen wollte, stellten vier Stunden lang vergebliche Versuche an, bei dem hohen Wogengang zu uns hinaus zu gelangen. Der Argus zerrt, wie ein toller Kettenhund, verzweifelt an seinen Ankern, die gesammte Mannschaft arbeitet an den Pumpen, und der Nordost wühlt vor der Barre hinter Schaum- und Wasserbergen unser Grab auf. Der Lootse, ein Mensch mit confiscirtem, von Seelenkämpfen ruinirtem Gesicht, unterhält mich mit Seeabenteuern und schaut so gleichgültig in die vor uns tobende Brandung, wie ein Waschweib in ihre Bütte voll schäumenden Seifenwassers; er hat mit dem Leben abgeschlossen. Mir geht es nicht besser. Nachdem ich noch eine Nacht an Bord des Unglücksschiffes verlebt, beschloß ich am Morgen des 24. October das Wagniß zu unternehmen, in einem Boot die Barre zu passiren, und der englische Agent machte mit mir gemeinsame Sache. Unser Untergang mit dem Argus schien gewiß, ein kleineres Fahrzeug gewährte uns wenigstens einige günstige Chancen. 263 Der Sturm hatte in der Nacht etwas nachgelassen, und ein in See stechendes Fischerboot bewies, daß die Schwierigkeiten der Barre zu überwinden seien; der Chinese kam auf unsere Signale heran, wir verluden unser Gepäck, um nie wieder mit dem vermaledeiten Argus in Berührung zu kommen, und verließen nach einem überaus kurzen Abschied für die lange Freundschaft den trunkfälligen Capitän und seinen Hungerdampfer. Wir kamen unter der geschickten Führung des Chinesen und seiner aufmerksamen Bootsmannschaft leichter durch den Wasserschwall der Brandung, als wir erwartet hatten, und erreichten nach einer fünfstündigen Flußfahrt unbeschädigt, wenn auch bis auf die neunte Haut durchnäßt, das heißersehnte Taku (Takoo). Mit der Barre im Rücken war unser Bootsherr, der das Pidjen Englisch leidlich sprach, redselig geworden, und erzählte uns eine Menge Allotria über den englisch-französischen Krieg: »Bom-Bom-Pidjen,« wie er ihn zu nennen beliebte, dessen Schauplatz wir uns näherten. Seiner triumphirenden Angabe nach sollten viele hundert Engländer und Franzosen in dem Schlamm der Enceinte von Taku, welche die Chinesen obenein mit tausend spitzigen Pfählen gespickt hatten, um das Leben gekommen sein. In Wirklichkeit sprach das Terrain allen militärischen Operationen Hohn. Schon als wir in die Mündung des Peiho (weißer Fluß) hineinschwammen, war es unmöglich, Festland und Wasser zu unterscheiden. Ich glaubte, in jedem Moment werde das drohende Haupt eines der Saurier der Vorzeit aus dem antediluvianischen Brei auftauchen und nach unserem kümmerlichen Boote schnappen. Die Ebbe culminirte und der Fluß hauchte einen entsetzlichen Modergeruch aus. Zwischen dem rohen Elemente 264 und den menschlichen Ansiedelungen zeigten sich nur geringe Unterschiede. Beide, Forts und Ansiedelungen, waren aus Schlamm zusammengebacken, die uns am schmutzigen Landungsplatz empfangenden Kulis mit einer Schlammkruste bedeckt, ebenso die vorüberwatenden, tief in den Boden sinkenden Maulesel. So weit das Auge reicht, entdeckt es nicht einmal die Wölbung eines Maulwurfshügels; in diesem Kothgemisch wächst viele Meilen weit kein Baum, und doch sind in dieses unsägliche Elend zwei Garnisonen des schönen Frankreich, des reichen England verbannt. Von dem links gelegenen Fort wehte das englische Banner, am rechten Ufer flatterte die französische Trikolore und zeigten sich die rothen Beinkleider der leichten Infanterie. Zum Verweilen an diesem abschreckenden Orte hatte ich keine Veranlassung; ich traf mithin sogleich Vorkehrungen, meine Reise nach Tientsin fortzusetzen. Die von ungefähr einer viertel Million Einwohner bevölkerte Stadt liegt oberhalb Taku, an der Mündung des Kaiserkanals in den Peiho, und es wäre am bequemsten gewesen, sich eines Bootes zu bedienen, allein ich hätte auf diese Weise außerordentlich viel Zeit verloren. Ich entschied mich daher für das gewöhnliche Beförderungs- und Frachttransportmittel der chinesischen Reisenden und miethete einen Hauderer. Man würde einen schweren Irrthum begehen, traute man dem Fuhrwerk dieser Leute auch nur den geringsten Comfort zu. Es entspricht durchaus dem verkommenen Zustande der Landstraßen, welche von Regierung und Bevölkerung eben so vernachlässigt werden, wie Beide die Wasserstraßen bevorzugen. So werden die zahlreichen Kanäle, deren Tiefe durchschnittlich zehn Fuß beträgt, sorgfältig überwacht und im Stande erhalten. Ihre Breite 265 wechselt dagegen von zwanzig bis hundert Fuß, der Kaiserkanal soll sogar an einzelnen Stellen über tausend Fuß breit und hier mit Fischerdörfern bedeckt sein. Zwischen den Häuschen bauen die Einwohner auf schwimmenden Bambusschichten Blumen, Reis und Gemüse. Um den Absatz der Produkte zu erleichtern, verändern sie häufig den Ort. Nach Verabredung hißt das ganze Dorf die Mattensegel auf und fährt einige Meilen stromauf oder stromab.
Der Handel mit dem Hauderer war abgeschlossen und um 1 Uhr Mittags stand sein zweiräderiger Karren vor der Thür der Kneipe, in der ich abgestiegen war. Unter das eigentliche Verdeck wurden meine Gepäckstücke geschoben, ich selber mußte neben dem Kutscher vorn auf der Gabeldeichsel kauern, doch verlor diese Fahrmethode viel von ihren Schrecken, da wir bei den grundlosen Wegen oft genug absteigen und die hintereinander angeschirrten Pferde peitschen, oder durch Drehen der in dem Koth versinkenden Räder ihnen helfen mußten. Erst drittehalb Stunden nach Mitternacht hatten wir die nur zehn englische Meilen betragende Strecke nach Tientsin zurückgelegt. Mit Ausnahme einer Stunde, die wir in der sogenannten Halbwegskneipe zubrachten, um die Pferde zu füttern, und ein Tschau-Tschau, bestehend aus Fischen, Eiern und mit Oel angemachten Fladen einzunehmen, wurde die Fahrt ohne Unterbrechung fortgesetzt. Mein ohnehin geringer Appetit wurde weder durch das Lokal, noch durch seine Gäste verbessert. In einer pechschwarz geräucherten, nach heißem Syrup stinkenden Höhle lagen auf schmierigen Pritschen, lachend und lallend, dreizehn Opiumraucher und luden mich durch Gebehrden ein, an ihrem narkotischen Vergnügen theilzunehmen. Ich spülte meinen Ekel mit einem 266 Rest Portwein in meiner Feldflasche hinab, und überließ dem Kutscher den größeren Theil der Mahlzeit. Mir ward erst wieder wohl, als wir eine Viertelstunde gefahren waren. Im Laufe des Tages kamen wir an drei ziemlich ansehnlichen Städten vorüber, die durch Kanäle mit einander verbunden waren; die flache Landschaft an sich glich einem ungeheueren Complexus von Kirchhöfen. Ueberall standen zerfallende Särge, gähnten offene Gräber und erhoben sich kleine Denkmäler. Diese pflegen um die Ruhestätte jedes Ahnherrn eines Geschlechts gruppirt zu werden und der Form von Butter- oder Käseglocken zu gleichen. Der Größe nach richten sie sich nach dem Lebensalter jedes Verstorbenen; es giebt Kindergräber, die mit großen Maulwurfshaufen verwechselt werden könnten.
Im tiefen Dunkel der Nacht war es bei meiner Ankunft in der weitläufigen Stadt nicht leicht, das mir anempfohlene Quartier bei einem Landsmann, Herrn Stammann, aufzufinden. Das Reiseglück ließ mich jedoch nicht im Stich; nach wüstem Umherirren in den kauderwälschen Straßen und vergeblichen Fragen an die, theils noch nicht zu Bett gegangenen, theils schon wieder aufgestandenen Tientsiner traf ich zufällig einen alten Chinesen, dem der Name des Landsmannes nicht fremd war. Ein Dollar löste seine Zunge und beflügelte seine Schritte; die Wohnung lag in der Nachbarschaft, Herr Stammann empfing mich, entzückt über die Laute der geliebten Muttersprache, mit offenen Armen und trug ein Dejeuner aus, wie es sich in der Eile improvisiren ließ: Sardinen und Sherry! Meine Uhr zeigte auf vier, als ich mich, wie gerädert von der Karrenfahrt, auf dem Sopha ausstreckte und in das 267 Asyl des Schlummers allen Mühseligkeiten dieses Lebens entwich.
Der Heidenlärm auf den Straßen gönnte mir nur zwei Stunden Ruhe; wäre es nach meines Herzens Wunsch gegangen, ich hätte mich vor vier oder sechs Wochen nicht von dem Sopha erhoben. Außer der vierzehnstündigen Karrenfahrt hatte ich noch die Vergnügungs- und Hungertour auf dem »Argus« zu verwinden. Schon um sieben Uhr Morgens unternahm ich meinen üblichen Rundgang durch die Stadt. Tientsin ist ein uralter Ort und von einer vielleicht gar vor Erfindung der Schußwaffen erbauten Mauer umgeben, denn die Schießscharten sind offenbar viel später durchgebrochen. Wie alle großen chinesischen Orte ist Tientsin reich mit phantastischen Triumphbögen und Tempeln versehen; mitten in der Stadt befindet sich ein Teich und daneben eine Pagode, in welcher durch Gruppen von Thonfiguren den Gläubigen die Strafen nach dem Tode vergegenwärtigt und sie dadurch zu einem tugendhaften Wandel ermuntert werden. Schon früher habe ich dieser moralischen Anregungsmittel gedacht, aber alles bisherige reichte nicht an die Schrecken des Jenseits der Sündenböcke von Tientsin. Gleich das erste Exemplar war bis an das Kinn in die Erde vergraben, und der Kopf wurde ihm eben abgeschnitten. Dann brach ihm der strafende Dämon die Backzähne aus und schlug sie ihm mit einem Feldsteine in den Schädel! Ein Missethäter saß auf der Schneide eines Schlachtschwertes und unter die Nägel seiner Finger und Zehen waren brennende Kiensplitter gesteckt. Den zahlreich versammelten Neugierigen schien dieses scheußliche Museum weniger Schrecken einzuflößen, als Vergnügen zu bereiten; 268 die Pagode sah wie ein beliebter Rendezvousplatz alles Gesindels der Stadt aus. In den Winkeln wurden Liebeshändel angeknüpft, Schachergeschäfte getrieben und Diebspläne verabredet, die Gesellschaft war alles Andre, nur nicht eine Versammlung von Bußfertigen.
Die Regierung und die Landeskirche begnügen sich indessen nicht allein mit der Schilderung der Strafen des Jenseits; ihre hohen Beamten, wo sie sich öffentlich zeigen, suchen unzuverlässige Unterthanen auch schon diesseits durch ein martialisches Auftreten in's Bockshorn zu jagen. In einem Palankin zog ein aufgeblasener Mandarin an mir vorüber, vor dem eine rothe Tafel mit goldenen Buchstaben getragen wurde, die muthmaßlich seine Titel und Machtbefugnisse näher angaben. Seinen bewaffneten Satelliten nach hielt ich ihn für einen, in criminalen Angelegenheiten höchst einflußreichen Mann. Einige Henker mit Ketten und Schwertern in den Händen folgten ihm, und Alles wich scheu vor dem Unholde in die Häuser zurück oder warf sich auf das Pflaster nieder, und verbarg das Antlitz. Alle Straßen waren mit Blinden, Krüppeln, Aussätzigen und Bettlern angefüllt, die Hilflosesten wurden von kräftigeren Unglücksgefährten in Karren fortgeschafft. Wohl hundert Mal wurde ich mit dem Rufe: »Alter Herr! haben Sie Erbarmen!« um eine Gabe angegangen. An der Außenseite der Tempel und vieler Häuser liest man die Gedenksprüche des Confucius, am häufigsten den Satz: »Glaube, bete und zahle! so wird es dir gut gehen auf Erden!«
Meiner ursprünglichen Absicht nach wollte ich schon Mittags zwölf Uhr nach Peking aufbrechen, allein mein Paß, um den ich mich früh Morgens bei dem englischen 269 General-Consul bemüht, wurde mir erst um zwei Uhr überbracht. Die chinesische Copie war auf die Kehrseite des preußischen Ministerialpasses geschrieben, und der Polizeibeamte hatte mich darin auf Grund meines vorgelegten Briefes von Lord Russell, in dem ich Königl. preußischer Hofmaler genannt war, als Mandarin erster Klasse signalisirt. Die brennende Neugier, Peking kennen zu lernen, gönnte mir keinen Augenblick länger Ruhe; sobald ich den Paß in der Tasche hatte, bestieg ich den vor der Thür wartenden Karren und fuhr von dannen, erst durch die sich endlos weit ausdehnenden Vorstädte, dann durch sauber gehegte Ländereien, kleine Waldungen, über zahllose Brücken, durch Dörfer und unübersehbare Kirchhöfe, die Ruhestätte vieler Generationen; es war schon spät Abends, als der Fuhrmann vor einer schauerlichen Spelunke hielt und mir ankündigte, hier würden wir unser Nachtquartier aufschlagen. Ich widersprach nicht, denn nach der vorhergehenden schlaflosen Nacht, dem Treiben in Tientsin und der abermaligen Karrenfahrt brach ich fast zusammen. Der continuirliche Menschenstrom auf der Straße nach Peking hatte mich vollkommen schwindelig gemacht. Der Wirrwarr der Uebervölkerung drückt das Gemüth nieder, wie das Schweigen der Einöde. In der Spelunke gab es nichts als eine steinerne Pritsche mit zwei Heizlöchern, einen Tisch und zwei Stühle. Zwar mußte ich erst einen Tausendfuß verjagen, der die Nacht auf den warmen Steinen zubringen zu wollen schien, und sich wüthend gegen meinen Stock aufbäumte, dann streckte ich mich auf den glatten Fliesen aus, schob ein Kissen unter den Kopf und genoß einige Bissen Fisch, der mir auf dem schmutzigen, an die Pritsche gerückten Tische servirt worden war. Als 270 Abschreckungsmittel für das Ungeziefer brannte ich die ganze Nacht hindurch Licht und schlief vortrefflich, obschon ich wie auf dem Paradebette lag und die ganze Nacht hindurch von dem Publikum besichtigt wurde. Die Ankunft eines Fremden im Orte hatte sich schnell umhergesprochen, und die Neugierigen steckten die Finger durch die Papierscheiben des Fensters in meinem Parterrezimmer, um mich durch die Löcher, wie das Hauptthier einer Menagerie, zu betrachten. Ich ließ sie gewähren und legte mich, wenn sie mich störten, nur auf das andere Ohr; ich hätte weiter geschlafen, und wäre jeder der Schaulustigen ein Raubmörder gewesen.
Bei guter Zeit erhob ich mich am 27. October von meinem Kachelpfühl, kämmte in der Eile aus meinem Haar einige Läuschen, von denen ich unentschieden lasse, ob sie von der Decke gefallen, oder Auswanderer aus der Garderobe meines Kutschers waren, frühstückte Eier und Thee, und tilgte die Rechnung. Ich habe dieses Document chinesischer Gastlichkeit zur Erinnerung aufbewahrt. Es beweist schlagend das sich unter allen Breitegraden gleich üppig entwickelnde Talent der Gastwirthe, die Bedürfnisse ihrer Gäste in Atome zu zerlegen und von jedem derselben eine Abgabe zu erheben. Elf honorarpflichtige Leistungen des Hotels sind in der mir vorliegenden Rechnung verzeichnet, und doch war mir nichts als das Nachtlager, ein Licht und etwas Nahrung gereicht worden. Die Summe betrug 1300 Cash, d. h. 1 Thlr. 22 Sgr. preußischen Geldes. Wahrscheinlich hatte der Oberkellner auch den Verzehr des Kutschers, der nach unserem Uebereinkommen für sich selber zu sorgen hatte, nach dem Vorbilde der Schweizer Wirthe, wenn der Fremde ihnen von einem 271 Führer oder Pferdeknecht zugewiesen wird, auf die Rechnung geschrieben. Die Schriftzüge derselben verstand ich zwar so wenig, wie die Abschiedsrede des Oberkellners, doch entging mir nicht seine Aufforderung, unserer jungen Bekanntschaft durch Verabreichung eines Trinkgeldes längere Dauer zu verschaffen. Einige schmutzige Cash stellten ihn zufrieden; der Zuspruch aus dem Inlande hatte ihn noch nicht verwöhnt.
Bald kamen wir an umfangreichen Stapelplätzen von Balken und Salz vorüber; letzteres lag an den Ufern des Peiho in gleich riesigen Haufen, wie der polnische Weizen an der Weichsel. Häufig bezahlten die Chinesen dem Staate ihre Abgaben nicht in baarem Gelde, sondern in Naturalien, und die Holzstöße, an denen wir vorüberfuhren, waren der Betrag der letzten Steuerrate des Distrikts. So berichtet wenigstens mein Kutscher in seinem besten Pidjen Englisch; wir verständigen uns ganz leidlich, denn meine Fortschritte in diesem Lotterdialekt kann ich ohne Ueberhebung schon bemerkenswerth nennen. Der gute Rossebändiger ist nicht ohne Humor. Unbekannt mit den Transportmitteln des Landes hatte ich, um so rascher vorwärts zu kommen, vor der Abfahrt mir ausbedungen, daß mehrmals täglich die Pferde gewechselt werden müßten. Als ich ihn heut an sein Versprechen erinnerte, leistete er mir sogleich Gehorsam, d. h. er traf einen Tausch zwischen den beiden, hinter einander angespannten Gäulen des Karrens, und wiederholte denselben nach anderthalb Stunden mit dem ernsthaftesten Gesichte von der Welt. Was sollte ich in diesem Lande thun, wo der Postdienst noch in den Kinderschuhen steht? 272 ich schwieg, ich lachte; dabei hatte es denn sein Bewenden. Als guter Wirth vermeidet der Kutscher unterwegs alle unnöthigen Ausgaben. Auf den Stationen, wo die Pferde gefüttert und getränkt werden, betheiligt er sich an ihren Rationen von Grünzeug und frißt Kräuter und Gras mit einem Heißhunger, daß ich glauben muß, er sei an der Raufe großgezogen. Wie glücklich wäre ich bei einer ähnlichen Bedürfnißlosigkeit, denn die ländliche Verpflegung ist unbeschreiblich schlecht. Außer Eiern und Thee, höchstens einigen Fetzen faulen Fisches, wird in den Ausspannungen nichts vorräthig gehalten. Zwar suche ich den Wirthen meine Wünsche begreiflich zu machen; wenn ich Schinken haben will, so zeichne oder male ich auch wohl erst ein Schwein und dann die Keule desselben auf ein Blättchen Papier; das handgreifliche Verfahren hat jedoch gemeinhin keinen Erfolg. Die Leute selber sind blutarm und fristen ihr Leben mit den dürftigsten Nahrungsmitteln; bessere Reisende führen eigenen Proviant mit sich.
Ueber die Hammelnieren, die ich Abends 9 Uhr im heutigen Nachtquartier erhielt, will ich keine gründlichere Untersuchung anstellen; auch ein anderes, vielleicht selbst fleischfressendes Thier, kann die pikante Assiette zu meinem Souper beigesteuert haben. Die Fahrt selber war unterhaltend gewesen. Die Vegetation der Landschaft erinnerte an den Pflanzenreichthum der italienischen Seen. Aus Rhicinus- und Theegesträuchen blickte der Oleander und Orangenbaum hervor. Kleine Seen belebten die üppig grüne Gegend und mehrere, annähernd im indischen Style erbaute thurmartige Minarets gewährten anmuthige Abwechselung. Vor einem Landhause fand unter freiem 273 Himmel eine Theater-Vorstellung statt. Der reiche Grundherr mochte ein Familienfest feiern und auch seinen Hörigen ein Vergnügen bereiten wollen. Ich ließ mitten unter dem armseligen Volke halten und schaute ein Viertelstündchen hindurch dem »Sing Song« zu. Der Dichter und mit ihm die Acteure schmeichelten dem chinesischen Nationalstolz. Ein betrunkener, rothborstiger Engländer liebt eine eingeborene Schöne, wird aber von einem jungen Mandarinen ausgestochen. Einmal abgewiesen, verfällt der unglückliche Seladon gleich der Volksjustiz, kahlköpfiges Volk läuft zusammen und prügelt ihn nicht nur zu Tode, sondern sogar in einzelne Stücke, die in einem Korbe davon getragen werden. Dem lebendigen Original war im Handgemenge natürlich längst eine ausgestopfte Puppe untergeschoben worden, und doch fuhr ich vor Schreck zusammen, als ein furchtbarer Kantschuhieb den rechten Arm des Gentleman plötzlich vom Rumpfe trennte.
Das Nachtquartier war, wenn möglich, noch scheußlicher, als alle vorhergehenden. Auf dem steinernen Ofenbrett krochen so viele Tausendfüße, und aus den Spalten der Wände drang, wenn ich einen todt trat, eine solche Menge jüngeren Nachwuchses, daß ich die Nacht auf einem Stuhle zubrachte, und dem giftigen Ungeziefer das Schlachtfeld überließ. Um drei Uhr Morgens hieß ich den Kutscher anspannen und floh die stinkende Mördergrube. Die Nacht war furchtbar gewesen. Fortwährend hatte ich von dem Argus geträumt und mehrmals Schiffbruch gelitten. Bei dem Anstoß des Kieles auf den Fels fuhr ich regelmäßig von dem Stuhle in die Höhe, zuletzt fiel 274 ich selbst zu Boden. Ich trennte mich von der Kneipe nach abermaliger Niedermetzelung mehrerer Tausendfüße, die den Thee mit mir theilen wollten.
Die kühle Morgenluft erfrischte wohlthuend meine angegriffenen Kopfnerven. Der Mond stand noch hoch am Himmel und verklärte mit seinem magischen Schimmer eine kleine uralte Stadt, die wir ohne anzuhalten, durchkreuzten. Der Ort war bewohnt, aber so morsch, daß wir, an der Stadtmauer vorüberfahrend, den Fall der zerbröckelnden Steinchen hörten, als wäre sie ein sich zurückziehender Gletscher, der sich der auf ihm angesammelten Felsbrocken und Muränentrümmer entledigt. Meine einzige Leibesstärkung bestand um 8 Uhr in einem heißen Lappen, mit dem ich mir das Gesicht anfeuchten und dann trocknen und abkühlen lassen sollte; als ich wieder auf die Deichsel des Karrens stieg, brachte mir der Wirth, der mir den Hunger ansehen mochte, zwei Eier, von denen das größere faul war. Trotzdem mußte ich zehnmal mehr dafür bezahlen, als jedem Chinesen abgefordert worden wäre. Der Kutscher nahm sich meiner an und machte dem habgierigen Wirthe Vorwürfe, zuletzt verständigten sich Beide indeß unter ironischem Gelächter, und der Wirth steckte dem Fuhrmann, wie er glaubte, ohne daß ich es bemerkte, eines der von mir erbeuteten Geldstücke zu. Gegen Mittag, als wir uns Peking näherten, begegneten wir einer glänzenden Prozession, deren Mitglieder, Erwachsene wie Kinder, große Fächer trugen. In Palankinen von rother Seide und blauem Sammt saßen Mandarinen obersten Ranges, und mein Kutscher machte diesen Honoratioren äußerst demüthig Platz; über die Tendenz der Prozession wußte er keine 275 Auskunft zu ertheilen. Ich fragte nicht weiter, wir mußten Peking bald erreicht haben, die Landschaft wurde welliger, blaue Berge erschienen im Hintergrunde, vor ihnen zeigen sich lange Streifen der wohlerhaltenen hohen Mauer, und mit jedem Schritte vorwärts wird das Menschengetümmel auf der Landstraße dichter. 276