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Fünfzig Jahre

Fünfzig Jahre später, das ist die Gegenwart.

Fünfzig Jahre ist Daumier bereits tot. Ein halbes Jahrhundert. Es stand im Zeichen des Fortschritts. So heißt es.

Daumier war gegen billige Illusionen. Auch gegen die Illusion, daß der Fortschritt identisch ist mit dem daherstürmenden Läufer von Marathon. Der Fortschritt, so zeichnete er ihn, ist ein Schneckengang. Es ist nützlich, diese Zeichnung Daumiers nicht zu übersehen. Die Erfahrung eines Menschenlebens spricht aus ihr.

Wer möchte widersprechen? Das Werk Daumiers schneidet jeder Gegenrede das Wort ab. »Ich bin von meiner Zeit.« Dieses Bekenntnis Daumiers sollte eine Begrenzung darstellen. Daumier ist noch heute aktuell.

Das spricht für ihn und gegen uns.

Der Herausgeber einer politisch-satirischen Wochenschrift könnte heute noch, ohne sich einschränken zu müssen, drei Jahre lang in jeder Nummer eine im höchsten Grade aktuelle politische Karikatur von Daumier bringen. Nur die Bildunterschrift brauchte er dem heutigen Tag anzupassen. Allerdings, etwas Mut müßte er haben und Prozesse nicht scheuen.

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Der Schneckengang des Fortschritts

A propos, die Justiz! Fünfzig Jahre Fortschritt, hier spüren wir ihn am deutlichsten, wie? Nicht nur, daß sie, die Angestellte der Republik, mit wenigen Ausnahmen die Monarchisten belohnt und die Republikaner bestraft, nicht nur, daß sie ihre Hände breitet über das als Eigentum deklarierte Diebesgut, das bei der vorenthaltenen Lohnsumme anfängt und bei dem Fürstenbesitz aufhört, die Justiz ist auch noch die alte in den tausend Kleinigkeiten, mit denen sie den Mann aus dem Volke verwirrt, einfängt und ruiniert. Verschanzt hinter ihren Aktenstößen, hinter einer Bannmeile des heiligen Respekts, gegen Sicht maskiert durch das Zeremoniell der Objektivität, hat sich diese Armee in ihren schwarzen Roben und Baretten zäh gegen allen Fortschritt und gegen alle Revolutionen verteidigt, und diese Festung wird erst fallen, wenn der Vorhang der Geschichte die Szene freigibt, zu der die Kommune von 1871 das Vorspiel war.

Weiter: Das Militär! Die Uniformen sind anders geworden, auch die Technik des Krieges. Aber sonst? Das Militär ist ein Staat im Staate, eine Macht, die das bürgerliche Parlament nur als vorgesetzte Behörde duldet, solange dieser Vorgesetzte ihre materiellen und ideellen Forderungen bewilligt. Ein verlorener Krieg wurde wettgemacht durch die Niederwerfung der Revolution; die Bourgeoisie ist der Schuldner des Soldaten. Die Verfassung ist ein Stück Papier auf der Spitze eines Bajonetts.

Es ist die Verfassung einer Republik, die ihre Existenz dem Arbeiter verdankt, ihren Dank dem Arbeiter aber noch schuldig ist. Die Republik hat seltsame Paladine: links den Staatsanwalt, rechts den Staatssoldaten, über sich (als Ersatz für das Damoklesschwert) die segnenden Hände der streitbaren Kirche.

Das öffentliche Leben Daumiers ist die Geschichte der Klassenkämpfe im Frankreich des vorigen Jahrhunderts. Das öffentliche Leben Daumiers, das ist sein künstlerisches Schaffen. Von diesem Schaffen zu sagen, daß es noch aktuell ist, heißt nichts anderes als: die Klassenkämpfe der Gegenwart haben das Kampfziel, das bereits zur Zeit Daumiers Geltung hatte, noch nicht erreicht.

Die Klassenkämpfer in Deutschland wiederholen die Fehler, die ihre französischen Brüder ein Jahrhundert zuvor gemacht haben. Es bleibt hinzuzufügen: Die deutschen Arbeiter sind der Geschichte noch die heroischen Leistungen ihrer französischen Vorläufer schuldig.

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Die aktuelle Bedeutung Daumiers ist nicht auf die großen Institutionen der Politik begrenzt. Seine sozialen Karikaturen gehören ebensowenig in das Schubfach der Vergangenheit.

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Wann ist der nächste Krieg fällig?

Oder ist das Privatleben des heutigen Kleinbürgers anders als vor fünfzig Jahren? Ist seine Ehe weniger bemitleidenswert? Hat er seine Angst vor politischen Leidenschaften verloren? Bewundert er etwa nicht mehr jeden hergelaufenen Abenteurer, der ihm eine heroische Komödie vorspielt? Will jemand bestreiten, daß die Parole »Bereichert euch!« nie aufgehört hat, sein Evangelium zu sein?

Der Kleinbürger ist arbeiterfeindlich geblieben trotz der Attacken, die die herrschende Klasse im Kriege und mehr noch in der Nachkriegszeit gegen ihn geritten hat. Er hat nichts gelernt, trotzdem diese Klasse nicht mit dem Ruin der von ihm gezeichneten Kriegsanleihe zufrieden war, sondern auch noch den Inhalt seiner Sparkassenbücher plünderte. Er rebellierte nicht, er wählte vielmehr den Mann, dessen Unterschrift unter dem Kriegsanleiheplakat dazu beigetragen hatte, daß er seine letzten goldenen Reserven in den blutigen Dreck des Krieges warf. Der Kleinbürger ist in den vergangenen fünfzig Jahren noch mehr an sein Schicksal geschmiedet worden. Er kann den Untergang vor sich sehen, er wird, das Wasser an der Gurgel, mit einem Hoch auf die Flagge des Kaisers versinken. Der deutsche Kleinbürger ist der Träger des deutschen Bonapartismus. Seine Söhne, alliiert mit dem käuflichen Lumpenproletariat, bilden die Knüppelgarde des »dritten Reichs«.

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Arbeiter, prügelt euch nicht! Baut lieber eure Welt auf!

Das Leben Honoré Daumiers war Kampf. Sein Werk steigt vor uns auf: eine leidenschaftliche Hingabe an den Beruf, politische Wahrheiten auszusprechen und die Erkenntnis zum Angriff zu steigern. Solange dieser Angriff nicht zu einem Sieg auf der ganzen Linie fuhrt, solange die Form der heutigen Gesellschaft nicht umgestoßen ist, solange wird das Werk Daumiers ein Signal zum Aufbruch bedeuten.

Es ist an der Zeit, dieses Signal zuhören! Daumier noch aktuell! Er hat für den Tag geschaffen, bedenken wir es, und nicht für ein Jahrhundert. Beeilen wir uns!

 


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