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Heiter, trocken, später leicht bewölkt

»Wie man im Privatleben unterscheidet zwischen dem, was ein Mensch von sich meint und sagt, und dem, was er wirklich ist und tut, so muß man noch mehr in geschichtlichen Kämpfen die Phrasen und Einbildungen der Parteien von ihrem wirklichen Organismus und ihren wirklichen Interessen, ihre Vorstellung von ihrer Realität unterscheiden.« Karl Marx im »18. Brumaire«.

Daumier hatte sein Schaffen damit angefangen, daß er die Phrasen der Parteien von ihren wirklichen Interessen unterschied und diesen Unterschied aus seinen Karikaturen sprechen ließ. Er ging jetzt, unter der Diktatur des Regenschirms, der sich in ein Henkerbeil verwandelt hatte, dazu über, das Privatleben der Menschen nach Schein und Wirklichkeit zu untersuchen. Was er dabei entdeckte, war die elende Komödie einer Klasse, die weder reaktionär noch revolutionär war. Er stieß auf den Kleinbürger, der aus der Charakterlosigkeit eine Tugend macht, der sich darin gefällt, als Schlachtenbummler zwischen der herrschenden Klasse und dem revolutionären Proletariat hin und her zu spazieren. Der Kleinbürger schimpft auf das Großkapital und fürchtet sich vor dem Sozialismus. Das sagt alles.

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Der Pariser Kleinbürger zwischen 1830 und 1848 gefiel sich in seinen Erinnerungen an die große Revolution. Er sah die Trikolore auf dem Regierungsgebäude und war zufrieden. Er hatte seine geschichtliche Rolle ausgespielt und war mit seinem Privatleben beschäftigt.

In diesem Stadium erhob sich Daumier, der aus dem Kleinbürgertum gekommen war, über seine Klasse. Da er sie gut kannte, fiel es ihm nicht schwer, sie in ihrer ganzen Erbärmlichkeit zu zeigen.

Er hatte jetzt nichts Besseres zu tun, als sich das Privatleben dieser Klasse anzusehen. Nach dem Blutbad, in dem die herrschende Schicht den ersten Aufstand der rebellierenden Arbeiter erstickt hatte, war Daumier noch mit zwei Dokumenten hervorgetreten, aus denen sein unerschütterlicher Glaube an die Wiederkehr der Revolution sprach. Auf der einen Lithographie sehen wir die Helden der Revolution von 1830 aus ihren Gräbern auferstehen. »Gefallen für die Freiheit« ist auf den Denkstein über ihrer Gruft geschrieben. Wo ist die damals errungene Freiheit? Mit entsetzt aufgerissenen Augen schauen die Auferstandenen auf die mörderischen Attacken von 1834 und das ihnen folgende Blutregiment. »Dafür war es wirklich nicht der Mühe wert, zu sterben.« – Auf der anderen Lithographie liegt ein gefangener Revolutionär auf einem Strohsack, mit einer schweren Kette an die Wand geschmiedet. Einer von den »Aprilrichtern« steht vor ihm, eine Bestie, die mit ihrem Opfer spielt, der vollendete Ausdruck der Grausamkeit. Eine Vision steigt auf: die Freiheit, die da war, die da ist, die da sein wird!

Aber das Echo, auf das Daumier gehofft hatte, ließ auf sich warten. »Das Quecksilber in Frankreichs politischem Leben«, so schrieb M. Heß, dessen »Briefe aus Paris« in den gesellschaftskritischen »Deutsch-Französischen Jahrbüchern«, herausgegeben von Arnold Ruge und Karl Marx, veröffentlicht wurden, »steht in diesem Augenblick, wie das in Ihrem Thermometer, auf dem Gefrierpunkte, was freilich ganz in der Ordnung ist, denn die Kammern sind eröffnet. Die Revolutionen können hier bekanntlich nur im Sommer und die Gesetze nur im Winter gemacht werden. Die Kammern wurden vor einigen Tagen wieder zusammenberufen, um sich sagen zu lassen, daß alles in bestem Zustande, das Land glücklich und der Weltfriede gesichert sei.«

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Dafür war es wirklich nicht der Mühe wert, zu sterben!

Wer die politischen Absichten Daumiers nicht kennt, kommt vor den Blättern dieser Epoche zu dem Schluß: Ein Kerl mit einem Gallenleiden, ein Buckliger, der keinen geraden Menschen sehen kann, ein verärgerter Spießer, der das eigene Nest beschmutzt. – Es hat tatsächlich solche Meinungen gegeben.

Dieser Anschauung steht schon die Tatsache entgegen, daß Daumier ein derart politischer Kopf war, daß er nie anders als politisch denken konnte. Sein Witz ist stets Gesellschaftskritik, seine Gesellschaftskritik ist stets politisch. Der politische Haß hat auch diese »Witze« auf die kleinbürgerliche Gesellschaft diktiert.

Zu der Schärfe des Politikers Daumier kam natürlich das überlegene Lächeln des Menschenkenners, der sich nichts vormachen läßt und der zur Satire herausgefordert wird, je mehr der von ihm Beobachtete sich anstrengt, etwas anderes zu scheinen als das, was er ist. Die sozialsatirischen Zeichnungen Daumiers sind Sekundenaufnahmen von dem Moment, wo der zur Schau getragene Schein sich in Nichts auflöst und die Wirklichkeit sich nicht mehr verbergen läßt. Auf solche Momente ist Daumier gespannt, und er braucht selten lange zu warten. Der Persönlichkeitskult des Kleinbürgertums im vorigen Jahrhundert ist ihm eine unerschöpfliche Gelegenheit, diesen Größenwahn anzugreifen und die ihm Verfallenen in ihrer ganzen Lächerlichkeit bloßzustellen.

»Die menschliche Komödie« heißt eine Serie dieser Zeichnungen. »Le bon bourgeois«, »Der wohlsituierte Bürger« eine andere. Um diese beiden Brennpunkte ist das gesamte Schaffen Daumiers aus dieser Zeit gruppiert.

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Tauglich!

Sein besonders boshafter Witz galt der Nationalgarde. Sehr früh erkannte Daumier, daß die einst als Armee der Revolution gedachte Nationalgarde verurteilt war, sich selbst zu entmannen und eine Schutztruppe der Besitzenden zu werden. Er tat alles, sie lächerlich zu machen, und er paßte sich dabei dem Volkswitz an. So machte er häufig Anspielungen auf die Gefahr, in die sich der uniformierte Bürger begibt, wenn er sein Weibchen allein zu Hause läßt.

Daumier war aber auch gerecht genug, die tragikomische Seite dieser in Uniform gesteckten Kleinbürger zu zeigen. Das Geschäft der Aushebung war zu allen Zeiten eine Gemeinheit, ob unter einem Bürgerkönig oder unter einem Soldatenkaiser, es kommt auf dasselbe heraus. »Zivilisten« werden ausgezogen, gewogen, gemessen, numeriert ... Die Gesundheit der Nation offenbart sich bei solcher Gelegenheit in ihrer ganzen beglückenden Größe! Tauglich, tauglich, tauglich! Ja, unser Menschenmaterial, fabelhaft! Dieses Blatt ist mehr als ein Witz. Es ist ein politischer Angriff gegen ein System, das sich auf Bajonette stützt.

Nächst dem Militär ist die Justiz die wichtigste Stütze von Thron und Altar. Daumier nahm sie sich aufs Korn. Er durfte nicht mehr nach ihrem Herzen zielen, er schoß jetzt nach den Gliedmaßen. Etliche hundert Bilder sind es, die er der Justiz widmete, Lithographien, Holzschnitte, Tuschzeichnungen, Gemälde, die sich auf die Perioden vor und nach 1848 verteilen. Hier hatte er das dankbarste Objekt, das er sich wünschen konnte! Die Justiz, die vorgibt, die ausübende Gerechtigkeit zu sein, die in jahrtausendelanger Übung gelernt hat, einen göttlichen Schimmer um ihr Haupt und eine eisige Atmosphäre des Unnahbaren um sich herum zu legen, diese Justiz wurde von Daumier durchschaut. Mit der rücksichtslosen Schärfe seiner Karikaturen der Aprilrichter konnte er jetzt nicht arbeiten. Er hielt sich schadlos, indem er in Massen produzierte. Er griff mit dem Quantum an.

Sie alle marschieren auf: die Herren Geschworenen, der Richter, der seine Klassenfeindschaft verrät, indem er den Angeklagten fragt, von was er eigentlich in der fraglichen Zeit gelebt habe; der Rechtsanwalt, in dem ein freundliches Interesse erwacht, wenn der Gendarm einen »neuen Fall« einliefert, das Frohlocken, wenn eine Sache bis zur höchsten Instanz getrieben wird, das kriegerische Theater gegnerischer Anwälte in der Verhandlung und die gemeinsame gespannte Erwartung, wenn die Presse mit den Stimmen über die Plädoyers im Anwaltszimmer einläuft ... das trotz der leidenschaftlichen Rede des Anwalts eingeschlafene Gericht, die Kriminalstudenten im Zuhörerraum, diese lerneifrigen Schüler großer Kriminalfälle ...

Nicht nur die Bildideen und die Bildtexte sind gut und witzig, Daumier hat auch prachtvolle Typen eingefangen, die in ihrer Gesamtheit die Justiz darstellen, und nicht nur die Justiz zur Zeit Daumiers. Gerade die Justiz hält an ihrer Tradition fest. Das ist ihre Stärke, und damit hat sie sich bis in unsere Zeit behauptet. Nichts hat sich geändert. Die grauen Korridore mit ihrem Ölsockel, die muffigen Verhandlungsräume mit ihrem trostlosen Farbanstrich, die grotesken Roben und Mützen der Amtspersonen, alles ist heute noch so, wie es Daumier gezeichnet und gemalt hat. Und nicht nur die äußerlichen Dinge sind so geblieben. Wenn irgend jemand daran zweifeln wollte, daß Daumier heute noch »aktuell« ist, der braucht nur seine Justizbilder mit dem heutigen Stand der Justiz zu vergleichen. Mit der französischen natürlich, überhaupt mit der außerdeutschen; in Deutschland gibt es keine Klassenjustiz! Daumier kann lachen, daß er längst tot ist.

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Auf der Freitreppe des Justizpalastes

Von der Komödie der Justiz bis zur »richtigen« Komödie ist kein weiter Weg. Daumier soll ein eifriger Theaterbesucher gewesen sein. Er studierte die Welt hinter den Kulissen genau so wie die Schau vor den Kulissen, und besonders interessierte er sich für das Publikum. Das Theater lebt von der Illusion, von der Vorspiegelung. Nirgends ist der Kontrast zwischen Schein und Wirklichkeit größer und so voll Komik als hier. Das klassizistische Drama hebt diesen Kontrast besonders hervor.

Hier hakte Daumier ein. Ungezählte Lithographien füllte er mit toller Situationskomik, die sich ergeben muß, wenn ein Mime mit Kartoffelbauch und Knollennase als antiker Held, bei dessen Zeugung ein Gott beteiligt war, auftritt, oder wenn vier Choristen, denen man ansieht, daß sie zu Hause Strümpfe stricken, Windeln waschen und mit hungrigem Magen die Welt verfluchen, als Streitmacht der Griechen heranrücken und ihre Speere schwingen.

Das Theater ist seiner Natur nach konservativ. Es reagiert nur langsam auf die Forderungen einer in Bewegung geratenen Zeit. Fünfzig Jahre nach der Umwälzung spielte das offizielle Kunstinstitut noch die alten Schmarren. Daumier protestierte gegen diese überflüssige Angelegenheit. Was er mit seinen satirischen Zeichnungen begann, setzte Offenbach mit seinen musikalischen Parodien fort.

Die Situationskomik war Daumier nur ein Mittel zu dem Zweck, die Lacher auf seine Seite zu bringen und ihnen die Erkenntnis zu vermitteln, daß sie selbst es sind, mit denen Theater gespielt wird. So ein kleiner Kläffer war Daumier nicht, daß er seine Aufgabe darin erblickt hätte, Schauspieler zu verspotten, weil sie nicht wie die griechischen Halbgötter der Sage gewachsen waren. Daumier wußte sehr wohl, daß auch die griechischen »Helden« in Wirklichkeit schiefe Schultern und Zahnlücken hatten. Er verspottete nicht den Mimen, der damit sein Brot verdient, daß er sich selbst für einige Zeit einredet, das zu sein, was er scheint, Daumier verspottete die überlebte Institution dieses Theaters.

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Auf der Galerie eines Boulevardtheaters

Und er spottete über die Menschen, die sich bei Kälte und Regen vor der Theaterkasse anstellen, um für ihr sauer erspartes Geld drei Stunden Illusion zu kaufen, die sich auf der Galerie drängeln und stoßen, die im letzten Akt in hysterische Tränen ausbrechen, weil das den Genuß erhöht, die bei einer gespielten Szene des Unrechts in größeren Zorn geraten als über eine Schandtat, die ihre Regierung täglich an ihnen begeht.

Was für den Theaterbetrieb galt, hatte nicht minder Geltung für den ganzen Kunstbetrieb von damals. Der Unfug, große Säle voll Bilder zu hängen und das Publikum in dies Sammelsurium zu lotsen, wurde von Daumier genau so belacht, wie das Schauspiel, das die Kritik dabei aufführte. Daumier, der selbst unter der Engstirnigkeit des Publikums und der Kurzsichtigkeit der »Kenner« und berufsmäßigen Kritiker zu leiden hatte, rächte sich mit vielen prächtigen Witzen. Die von ihm gezeichneten Physiognomien der erstaunten oder »Kunstverständnis« markierenden Besucher, die verschiedenen Variationen des »Kennerblicks« und des »kritischen Maßstabs« wurden zu einer Versammlung der menschlichen Torheiten.

Den Reigen der Satiren auf den Kunstbetrieb schließen die Karikaturen, mit denen Daumier über die Erscheinung des »Blaustrumpfs« spottete. Die bürgerliche Gesellschaft von damals lockerte die Ehe etwas und gab der Frau eine gewisse Bewegungsfreiheit. Damals wurde der »Blaustrumpf« Mode, die schriftstellernde Frau. Daumier lachte über diese Dämchen, die alle Mätzchen ihrer männlichen Kollegen nachahmten. Ist er deshalb ein Spießer, der bei der verbohrten Meinung bleibt, die Frau gehöre an den Kochtopf? Nein. Daumier erkannte nur zu gut, daß diese dichtenden Frauen ihrer Zeit nichts Entscheidendes zu sagen hatten und daß all ihr geniales Getue eher eine Entartungserscheinung einer beiseitegeschobenen Klasse war als ein Ausdruck des Emanzipationskampfes der Frau. Er schätzte diese dichtenden Damen nicht hoch ein, und er hat recht behalten.

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Das Ankündigungsblatt der Karikaturenseite »Die Blaustrümpfe«

»Unerhört, daß so etwas gestattet wird!«

Vierzig Karikaturen »Die Blaustrümpfe« schüttete er über die schriftstellernde Frau dieser Zeit aus: wie sie sich abmüht, der George Sand, ihrem Vorbild, ähnlich zu sein, wie sie männlicher als die Männer sein will, wie sie so lange in den Mond guckt, bis sie lyrisch wird, und wie sie im Theater zur Premiere ihres Stückes in ihrer Loge steht, stolz und einsam unter so vielen Männern: »Der Autor bin ich!«

Es gibt wohl kaum eine soziale Erscheinung, der Daumier in dieser Zeit keine Aufmerksamkeit zuwandte. Und es macht ihm alle Ehre, daß er sich besonders heftig auf die Kritik der verlogenen Volkswohlfahrt seiner Zeit warf, die nur dazu beitrug, die skrupellose Profitmacherei der herrschenden Gesellschaft zu übertünchen und den weiteren Bestand der sozialen Unordnung zu garantieren. Daumier hatte seine Augen, und was sah er?

Ein Wohltätigkeitskomitee, das zunächst an seine Aufwandsentschädigung denkt – und ein paar tausend Francs dürfen dabei keine Rolle spielen;

einen dicken Kerl, der mit der Miene eines Heiligen Brennholz verteilt, und einen Suppenkoch, der seltsamerweise von der Verteilung seiner Wohlfahrtssuppe fetter geworden ist als die armen Luder, die er speist;

einen Wohlfahrtsball, bei dem man, um den Armen zu helfen, gut tanzt und noch besser ißt und trinkt;

den guten Bürger, der es ablehnt, ferner noch ein Almosen zu geben, seit er selbst zur Notgemeinschaft gehört.

Der gute Bürger! Le bon bourgeois! Er genießt die Freuden des Bades, er ruht sich am Busen der Natur aus, er steigert die Miete, er geht wie ein vornehmer Herr auf die Jagd, und die Politik, um Gottes willen, lassen Sie ihn damit in Ruhe!

Aber es half ihm nichts. Die Politik selbst ließ ihn nicht in Ruhe. Sie zog ihm das Faulbett unter dem Hintern weg.

Gestützt auf die Gleichgültigkeit des Kleinbürgertums, auf ein williges Parlament, das die Korruption duldete, war die Reaktion unter Louis Philipp immer frecher geworden. Das Ansehen dieser Regierung, die sich selbst Millionen in die Tasche schob, war längst dahin. Als eine Mißernte und eine Handelskrise das Elend der unteren Schichten verdoppelten, als die Geschäfte immer schlechter gingen, Hungerkrawalle losbrachen und der König so unverschämt war, Truppenverstärkung nach Paris zu holen, um die Bevölkerung mit blauen Bohnen zu füttern, da war es mit der Ruhe des bon bourgeois vorbei. Er wurde in die Sturmflut der Ereignisse mit hineingerissen.

Im Februar 1848 wuchsen in den Straßen von Paris wieder die Barrikaden aus dem Pflaster.

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Ein böses Zeichen


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