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Die Geschichte des modernen Kapitalismus ist eine Geschichte ökonomischer Krisen. Plötzlich steht die ganze göttliche Weltordnung auf dem Kopf. Die Produktion löst Hungersnöte aus, Arbeitsfleiß setzt sich in Arbeitsmangel um, Reichtum schafft Elend und Verzweiflung. Das wunderbare Rechenexempel der gesellschaftlichen Ordnung hat einen fundamentalen Fehler. Dieser aber kann nicht beseitigt werden, ohne daß der Kapitalismus mit seiner Wurzel ausgerissen wird.
Bereits in seiner Jugend zeigte der Industriekapitalismus auf dem europäischen Kontinent diese Neigung zu Krisen und zur Umgehung einer wirklichen Lösung: die Krise wurde wie ein Kranker, der an erhöhtem Blutdruck leidet, kuriert. Man ließ die Völker zur Ader. Daß ein Krieg neue und schwere Krisen im Gefolge haben muß, stört die Praxis der kapitalistischen Medizinmänner nicht. Es ist nicht ihr eigenes Blut, das vergeudet wird.
Die großen Krisen, die im ersten Jahrzehnt der Regierungszeit Napoleons III. ausbrachen, ließen sich durch die Beteiligung Frankreichs am Krimkrieg nicht von der französischen Nation abwenden. Im Gegenteil, die allgemeine Krise traf Frankreich besonders schwer. Die Lorbeeren des Krimkrieges konnten sich höchstens die Generale aufs Butterbrot schmieren.
Was hatte Napoleon III. in der Krim zu suchen? Die große Masse des französischen Volkes fragte nicht lange. Für sie war das zaristische Rußland immer noch die Verkörperung der finstersten Reaktion, und es war nicht vergessen worden, daß die Kosaken zweimal bis in das Innere des Landes gestoßen waren, um der französischen Nation die Trikolore zu entreißen. Wenn Napoleon III. die Russen schlagen half, dann setzte er die Offensive seines Onkels fort, dann reparierte er den Ruhm der 1812 in Rußland erfrorenen großen Armee. Der Zeichner Gustave Doré gab dieser Volksmeinung Ausdruck, indem er eine Karikatur zeichnete, auf der französische Soldaten den russischen Zaren packen und ihm mit den Gewehrkolben die Zahl 1812 ins Maul stopfen: »Endlich kriegt er sein 1812 in den Rachen zurück, das er uns so oft vorgekaut hat!«
Mit der glorreichen Heiligen Allianz der europäischen Völker unter der Führung Rußlands war es vorbei. Nur die Preußen sahen noch devot zu dem Mann mit der Knute auf. Österreich, das sich Mitte des Jahrhunderts nur mit Hilfe der Kosaken gegen die Revolution im Innern durchgesetzt hatte, schlug mit auf Rußland los, als es zum Kriege kam, weil sich England durch einen plumpen Versuch des Zaren, sich der orientalischen Meerengen und damit des Ausgangs ins Mittelmeer zu bemächtigen, bedroht sah. Kein Mensch redete natürlich von den wahren Ursachen des Krieges, von dem bedrohten Geschäft des im Mittelmeer interessierten Kapitals, sondern von der Anmaßung des Zaren, sich als Schutzherr über die Christen in der Türkei aufzuwerfen. So geschah es, daß drei christliche Staaten die Türkei ermutigten, die Fahne des Propheten gegen einen anderen christlichen Staat zu tragen, und die Westmächte griffen selbst mit an. Eine starke französische Armee entschied die Niederlage der Russen und der russischen Orientpolitik. Freilich unter furchtbaren Verlusten.
»Wenn hinten weit in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen«, läßt sich's in Paris und anderswo gut von kriegerischen Taten in der Zeitung lesen. Die Karikatur durfte in die allgemeine Kriegsbegeisterung einstimmen. Es war ihr gestattet, den Zaren anzugreifen. Daumier machte von dieser etwas seltsamen Freiheit Gebrauch. Auch für ihn mußte der Zar das drohende Gespenst, der Hort aller reaktionären Kräfte sein. Der Krieg gegen ihn war populär, also stellte sich Daumier zur Verfügung. Bedenken wir: Wenn es gegen den Zaren ging, wollten dreißig und vierzig Jahre später noch andere, politisch weitblickendere Leute als Daumier das Gewehr auf die Schulter nehmen!
Die Karikaturen Daumiers aus dieser Zeit, diese – freilich waren sie es ungewollt – Handlanger der napoleonischen Politik, zeigen den scharf formulierten Haß Daumiers gegen den russischen »Erbfeind«. Da steht der russische Bär in seiner ganzen Größe, auf zwei Beinen, Kriegsfackel und Schwert in den erhobenen Pfoten, die Krone auf dem Haupt. Die Völker liegen zitternd vor seinen Füßen, jedes Antlitz ist in den Staub gedrückt.
Und dann schlägt dieses Haßgefühl in wilden Triumph um: die Generale des Zaren winden sich in den Krämpfen des Durchfalls, weil Niederlage auf Niederlage gemeldet wird. Auf anderen Blättern verhöhnt Daumier den Herrscher aller Reußen, weil er sogar die jämmerlichsten Krüppel zur Front preßt und trotzdem nicht verhindern kann, daß er allein auf weiter Flur hocken bleibt, auf dem Leichenfeld dieses Krieges. Auf einem diese Serie abschließenden Blatt steht der Zar vor einer großen Karte des Kriegsschauplatzes, eine verbogene Figur in Uniform, mit Schleppsäbel und Krone, und betrachtet mit wehmütiger Philosophie einen Zylinderhut, das Symbol der Entthronung.
So weit war es freilich noch nicht. Das zaristische Rußland, das zwar eine militärische Niederlage erlitten hatte, infolge des von Frankreich und England miserabel vorbereiteten Krieges aber einen verhältnismäßig günstigen Abschluß erreichen konnte, sollte noch oft die französische Politik beschäftigen. Und zwar in der allernächsten Zeit. Der Russe zog sich vom Bosporus und den Dardanellen, wo er sich die Pfoten verbrannt hatte, zurück und konzentrierte seine Anstrengungen mit Erfolg auf Zentralasien. Im Westen tastete er unsicher nach offenen Türen, schloß Bündnisse, die in wenigen Jahren wieder einem gerade entgegengesetzten Vertrag Platz machen mußten, und trug so dazu bei, Europa in eine kaum unterbrochene Folge von Kriegen zu stürzen.
Bereits 1859 lagen sich die vorher gegen Rußland verbündeten Staaten Österreich und Frankreich in den Haaren. Rußland durfte jetzt nicht mehr von der französischen Presse angegriffen werden. Es war durch Gottes unerforschlichen Ratschluß der Verbündete Frankreichs geworden. Die Karikatur durfte Österreich angreifen. Eine schmähliche Rolle!
Der Krieg gegen Österreich hatte wieder einen wunderbaren populären Charakter. Diesmal galt es, den italienischen Nachbar »zu schützen«. Dasselbe Frankreich, das in Marokko einen blutigen Kolonialkrieg geführt hatte, entrüstete sich jetzt über die Österreicher, die ihre italienische Kolonie nicht preisgeben wollten. Die Entwicklung der italienischen Bourgeoisie verlangte nach der Bildung eines »freien« Italien, nach einer nationalen Einheit. Und das konnte nur verwirklicht werden, wenn Österreich aus seinem Landbesitz herausgedrängt wurde. Frankreich fand einen billigen Vorwand, schob seine Truppen in Oberitalien vor und schlug die Österreicher entscheidend bei Magenta.
Im »Charivari« vom 17. November 1859 brachte Daumier eine Karikatur, die folgenden Begleittext trägt: »Selbst der Cid zieht ins Feld, um gegen die Mauren zu kämpfen.« Ein gepanzerter Ritter mit geschlossenem Visier, mit Schild und Lanze, reitet hoch zu Roß durch die Straßen von Paris. Das Volk jubelt ihm zu. – Der Bildtext ist bestimmt nur eine Maskierung. In Wirklichkeit ist diese Lithographie ein Hohn auf die ewige Beschützerrolle des dritten Napoleon. Dieser Gepanzerte gleicht aufs Haar dem Ritter von der traurigen Gestalt auf den Don-Quichotte-Bildern Daumiers, dem edlen Don, der ja auch immer bereit war, sich zum Schirmherrn des ersten besten aufzuwerfen. Noch wahrscheinlicher ist es, daß der Gepanzerte mit dem geschlossenen Helmvisier den ewigen Krieg selbst symbolisiert, den Moloch Krieg, der durch das brüllende Gewühl der Straßen reitet. Die kriegsbesoffene Menge schreit begeistert hurra! Und da ist nicht einer, der vor dem Rätsel hinter dem verschlossenen Visier erschrickt.
Dieses Blatt steht hoch über der anderen Kriegsproduktion Daumiers aus dieser Zeit. Hingerissen von dem Schauspiel einer Nation, die sich frei macht, zeichnete Daumier die symbolische Gestalt des erwachenden Italien. Bei den ersten Regungen des entfesselten Italieners ergreifen die österreichischen Bataillone die Flucht. Er verulkte die unfähige Führung der Österreicher, und dieser Hohn war berechtigt, selten hatte eine Armee so unmögliche Generale. Das alte Österreich ging zugrunde an seiner Günstlingswirtschaft und an seiner verfehlten inneren Politik. Österreich wurde Schritt für Schritt aus den italienischen Provinzen hinausgedrängt. Damals begann, was im Weltkrieg beendet wurde.
Freilich, Napoleon III. sah sich getäuscht, wenn er geglaubt hatte, sich aus einem Retter Italiens zu einem nimmersatten Schutzherrn entwickeln zu können. Das mit seiner Hilfe großgezogene Kind verzichtete sehr bald auf seine Vormundschaft und schob ihn energisch beiseite, als er nicht begreifen wollte, daß der Mohr gehen kann, wenn er seine Schuldigkeit getan hat.
Der Abenteurer Bonaparte benutzte die ihm ausgelieferte Staatsgewalt zu immer neuen kriegerischen Experimenten. 1860 führte er gemeinsam mit den Engländern Krieg in China (die chinesischen Karikaturen Daumiers erheben sich nicht besonders über das flache Gewitzel, mit dem das damalige Europa bewies, wie wenig es ahnte, welche Summe von Geschichte, Kultur und Volkskraft der Begriff China in sich birgt); kurz darauf beteiligte sich Napoleon an dem Anschlag auf Mexiko, wobei er sich eine empfindliche Schlappe holte. Überall mußte er seine Hände im Spiele haben. Eine bekannte englische Karikatur stellt Napoleon III. als Stachelschwein dar; an Stelle der Stacheln spießen Bajonette nach allen Seiten. Der Kaiser der Franzosen fühlte sich – wie ein halbes Jahrhundert später ein anderer gekrönter Hans Dampf in allen Gassen – als der Schiedsrichter Europas.
Als er sich in die polnischen Angelegenheiten einmischte und auch hier die Gönnerrolle übernehmen wollte, flog das russisch-französische Bündnis auf, und der Zar ging ein Bündnis mit Preußen ein. Preußen war inzwischen nicht nur einer der stärksten Konsumenten des russischen Getreides, sondern auch eine starke Militärmacht geworden, die sehr wohl geeignet schien, Napoleons militärische Vorherrschaft in Europa zu beschneiden. Vorläufig freilich richtete sich der Kontrakt zwischen Rußland und Preußen hauptsächlich gegen Österreich. Erst später, 1870, sollte es sich zeigen, daß Preußen alle Kräfte gegen Frankreich frei hatte, weil es der russischen Freundschaft sicher war.
Gestützt auf den russischen Nachbar, vermochte Preußen im Innern eine Politik gegen die Demokratie zu machen und in der Außenpolitik die Kanonen sprechen zu lassen. Im Anschluß an den Schleswig-Holsteinischen Krieg holte es zum Schlag gegen Österreich aus, das bis dahin im Chor der deutschen Staaten das führende Wort gesprochen hatte. Bei Sadowa ging diese übergeordnete Stellung in Trümmer. Preußen »einigte« das deutsche Volk auf Bismarcksche Weise, mit Waffengewalt. Daumier fand den richtigen Ausdruck für diesen Zustand, ein Bild: Der preußische Wolf hütet seine Lämmer.
Diese Geburt Deutschlands (bei der Bismarck als Geburtshelfer übrigens ein hübsches Vermögen machte) mit Hilfe des preußischen Soldatengeistes und des Zündnadelgewehrs hatte aber nicht nur den Zar zum Paten, sondern auch den dritten Napoleon! 1865 hatte Bismarck mit dem Kaiser der Franzosen verhandelt, und Napoleon hatte es Preußen ermöglicht, bei Sadowa zu siegen. »Wäre die Schlacht bei Sadowa verloren worden«, so heißt es in der ersten Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiter-Assoziation vom 23. Juli 1870, »französische Bataillone hätten Deutschland überschwemmt als Verbündete Preußens.« So zog Napoleon III. die Macht groß, die ihn stürzen sollte.
Nach Sadowa wurde die blutige Auseinandersetzung zwischen Preußen und Frankreich unvermeidlich. Die deutsche Industrie war bereit, sich der führenden Position auf dem Festlande zu bemächtigen. Und die ganze Welt sah diesen Krieg kommen. Überall Nervosität, Rüstungsfieber. Zwei große Militärmächte nebeneinander? Unmöglich!
Die Vorbereitung auf den Krieg beherrschte auch die innere Politik. Wieder einmal wurden den unterdrückten Klassen goldene Versprechungen gemacht. Napoleon ließ die gefesselte Pressefreiheit losbinden, stellte aber einen Polizeistrafrichter neben sie.
So erhielt Daumier etwas von der Freiheit, die er so lange entbehren mußte. Die Politik und die Person des Monarchen durfte allerdings noch immer nicht angegriffen werden. Aber Daumier wußte sich zu helfen. Er steigerte die Darstellung der Kriegsgefahr zu allgemeingültigen und nicht auf eine Nation beschränkten Warnungen und Beschwörungen an die Adresse der gesamten Menschheit aller Zeiten. Was aus den Blättern, die er jetzt zeichnete, mit lauter Stimme sprach, das war nicht nur die Stimme des wahren Patrioten, den die Sorge um das Schicksal Frankreichs quälte. Daumier appellierte an die Vernunft Europas.
Er zeichnete die Diplomatie, ein altes, grinsendes Frauenzimmer im Kostüm des alten Regimes, an der Wiege des Krieges, der von ihren Wiegenliedern täglich größer und stärker wird. Daumier ließ sich durch keine feierlichen Erklärungen der Friedenskongresse irreführen. Eines seiner Blätter aus dem Jahre 1866 stellt die Diplomatie dar, wie sie dem Frieden einen zerbrochenen Stuhl anbietet.
Und Daumier sah nicht nur, wie der Gegner rüstete, wie die kriegslüsterne deutsche Bourgeoisie ihren Kamm schwellen ließ, oh, er sah auch, wie der französische Bürger, der Monsieur Prudhomme in der sicheren Erwartung, daß er die Heldentaten anderen überlassen kann, sich in die Brust warf: Pah! Preußen? Lächerlich! In zwei Wochen haben wir Hackefleisch aus ihnen gemacht!
Europa auf einer Bombe!
»Sie finden den Frühling dieses Jahres zu kalt«, ruft die symbolische Figur des Krieges einem im stürmischen Regen klappernden Bürger zu, »nächstes Jahr werden Sie ihn vielleicht zu heiß finden.« (Charivari, März 1867.)
Europa mit Bajonetten gespickt!
»Galilei ist von dem neuen Aussehen der Erdoberfläche überrascht«, ebenfalls ein Blatt aus dem Jahre 1867. Der Astronom Galilei hat Gelegenheit, darüber nachzudenken, ob er Ursache hatte, von der Erde eine so gute Meinung zu äußern: Und sie bewegt sich doch! Er findet sie in seltsam »fortgeschrittener« Verfassung. Da ist kaum ein Fußbreit, aus dem nicht ein Bajonett spießt. Daumier läßt den alten Gelehrten mit allen Zeichen des Schreckens über die mit Waffen gespickte Erde taumeln.
Europa verliert das Gleichgewicht!
Auf einer rauchenden Bombe, die im nächsten Augenblick explodieren kann, balanciert die Großmutter Europa auf unsicheren Füßen hilflos dem Verderben entgegen.