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Napoleon hatte wohl bemerkt, wie die Opposition gegen sein System anwuchs. Kurz vor dem Kriege legte er das Cäsarenkostüm ab und ließ sich einen liberalen Frack anmessen. Diese Komödie hatte einen respektablen Beweggrund:
Was die fortgesetzte Rüstung und die Kriege der letzten Jahre volkswirtschaftlich für Frankreich bedeuteten, das hat Daumier auf einer Zeichnung festgehalten: Unter dem Gewicht des Staatsbudgets droht das Volk zusammenzubrechen. Der riesige Geldsack wird es in die Tiefe reißen. Also muß das Parlament poussiert werden. Napoleon ging noch weiter. Er stellte das Parlament vor das Ergebnis einer Volksabstimmung. Das französische Volk entschied sich mit ungeheurer Mehrheit für die Regierungspolitik.
Daumier versah die Serie dieser traurig-lächerlichen Komödiantentricks mit bissigen Kommentaren. »Ihr habt alle nicht das Maß, das die Zeit von einem Politiker verlangt!« rief er den Katastrophenpolitikern zu. Mit berechtigtem Spott fiel er über die »Volksvertreter« dieser Epoche her. Während die Nation sich in aufgeregten Krämpfen wand, spiegelten sich die Abgeordneten im eitlen Glänze ihrer imaginären Größe, spielten sie Komödie, während die Tragödie bereits an die Tür klopfte. Daumier ließ sich nicht täuschen. Wieder taucht die Gestalt der Freiheit in seinen Zeichnungen auf. Die Konstitution mißt ihr ein neues Kleid an, aber Madame Liberté ist nicht sehr entzückt! – Die Konstitution hypnotisiert die Freiheit und versetzt sie in lähmenden Schlaf. – Die Freiheit wird von allen Seiten umworben, besonders heftig von den Männern der Rechten. Aber sie ist keine Anfängerin mehr und lehnt mit ruhiger Entschiedenheit ab. – Und schließlich konstatiert Daumier: Die Verfassung liegt auf dem Seziertisch des Parlamentarismus. Soweit ist es schließlich gekommen.
Zu der Volksabstimmung, diesem letzten Gaunertrick Napoleons, paßt ein erschütterndes Blatt Daumiers: Die Walstatt ist mit Toten bedeckt. Auf der Leiche im Vordergrund liegt eine Wahlurne ... Daumier behielt recht. Die letzte Volksabstimmung des zweiten Kaiserreichs entschied über das Leben von Hunderttausenden.
Bald sollte sich die grausame Spannung entladen. Die Zukunft, von Daumier gezeichnet als maskierter Ringer, der Stundenglas und Sense fortgeworfen hat und den athletischen Körper in herausfordernde Stellung setzt, sollte bald das unverschleierte Antlitz zeigen. Das Blindekuhspiel des Krieges, den Daumier mit ausgebreitet tastenden Händen mitten im Gewühl der durcheinander rennenden Völker stehen läßt, sollte in wenigen Wochen Platz machen für einen fürchterlichen Totentanz. Die drei Symbole der sozialen Republik: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, sind weggeräumt, und an ihre Stelle hat das Kaiserreich – so stellte Daumier mit einer grausam-witzigen Zeichnung fest – drei andere Symbole gesetzt: die Herren Bombardard, Fusilard und Mitrallard. (Karl Marx hat fast zu derselben Zeit konstatiert: An die Stelle von Liberté, Egalité und Fraternité waren getreten Infanterie, Artillerie und Kavallerie.)
1866 hatte Napoleon den Preußen aus den Kinderschuhen verholfen und die kleineren deutschen Staaten an Bismarck ausgeliefert. (1868 hatte Daumier dieses von Napoleon begünstigte Gebilde gezeichnet: auf Holstein, Nassau und Hannover thront der preußische Koloß, schnauzbärtig, säbelschwingend.) 1870 half der russische Zarismus den Preußen weiter. Der Zar mobilisierte und hielt so die Österreicher, die sich für Sadowa rächen wollten, in Schach. Damit fiel Napoleons Hoffnung in sich zusammen. Der von ihm mitverschuldete Krieg schleuderte ihn in das Nichts zurück.
Im letzten Augenblick hatte die französische Bourgeoisie plötzlich nicht an den Krieg glauben wollen. Sie wurde überrumpelt, wie sie von dem Staatsstreich zwanzig Jahre zuvor überrumpelt worden war. Was nützte es der Opposition, daß sie noch an dem Tage, an dem der Krieg amtlich angezeigt wurde, gegen die Bewilligung der vorläufigen Gelder stimmte? Draußen zogen bereits die Bataillone des Todes mit »Vive la France!« durch die Straßen, brüllte bereits der wohlsituierte Mob sein hysterisches »Nach Berlin!«
Die französischen Arbeiter waren bei der letzten Volksabstimmung in der Minderheit geblieben. Als sie in der Stunde des Kriegsausbruchs gegen das Völkermorden protestierten, konnte das nichts anderes sein als eine heroische Geste, eine Geste allerdings, deren Heroismus eine Götterdämmerung anzeigte, ein erstes Aufleuchten der proletarischen Internationale gegen den imperialistischen Krieg!
»Abermals«, so heißt es in dem vor Kriegsbeginn veröffentlichten Manifest der Pariser Sektion der Internationale, »bedroht politischer Ehrgeiz den Frieden der Welt unter dem Vorwand des europäischen Gleichgewichts und der Nationalehre. Französische, deutsche und spanische Arbeiter! Vereinigen wir unsere Stimmen zu einem Ruf des Abscheus gegen den Krieg ... Gegenüber den kriegerischen Aufrufen derjenigen, die sich von der Blutsteuer loskaufen und im öffentlichen Unglück nur eine Quelle neuer Spekulationen sehen, protestieren wir laut, wir, die wir Frieden und Arbeit nötig haben! ... Arbeiter aller Länder! Was auch für den Augenblick das Ergebnis unserer gemeinsamen Anstrengungen sein möge, wir schicken euch als Pfand unauflöslicher Solidarität die guten Wünsche und die Grüße der Arbeiter Frankreichs.«
Und das Manifest der Pariser blieb nicht allein. Aus vielen Städten kamen die Proteste und offenbarten den Gegensatz zwischen dem Bonapartismus und den Arbeitern Frankreichs. Die deutschen Arbeiter antworteten ihnen kameradschaftlich und im Gefühl der klassenmäßigen Verbundenheit, aber diese Sektionen in Berlin und Chemnitz und anderswo waren zu klein. Ihre Stimmen gingen im patriotischen Rummel und im Kanonendonner unter.
Honoré Daumier wurde zum Chronisten dieses Krieges. Er zeichnete in etwa siebzig Lithographien nicht die militärischen Ereignisse, sondern das Schicksal Frankreichs. Die Verzweiflung des französischen Bauern, dessen Existenz verwüstet wird, die Willkür der bewaffneten Eindringlinge, die Zerstörung – ein erschütterndes Blatt »Ein Landschaftsbild aus dem Jahre 1870«: nichts als eine verlassene Kanone im Trümmerfeld einer ehemaligen menschlichen Siedlung – die politische Abrechnung: Das gefesselte Frankreich zwischen zwei Geschützmündungen. »Paris 1851« steht auf dem einen Kanonenrohr, »Sedan 1870« auf dem anderen. 1851, das ist der Staatsstreich Bonapartes, die Kaiserkrönung, das Versprechen des Monarchen: »Das Kaiserreich ist der Friede!« 1870, das ist das Ende einer zwanzigjährigen Gewaltpolitik nach innen und außen, das ist der schmähliche Bankerott Bonapartes bei Sedan.
Und dieser Napoleon hatte es gewagt, einen Monat vor Kriegsbeginn Daumier mit dem Orden der Ehrenlegion dekorieren zu wollen. Der aber hatte voll Abscheu abgelehnt, sich mit notorischen Verbrechern, hochstaplerischen Ausbeutern und anderen Verderbern der Nation auf eine Stufe zustellen.
Sein geliebtes Frankreich sah Daumier verwüstet und geschändet. Das war das Ende, so zeichnete er es: In einer Landschaft der Ruinen, übersät von bleichenden Skeletten, sitzt der Tod in komisch-grauenvoller Positur und spielt die Friedensschalmei.
Die Warnung der deutschen sozialistischen Arbeiter, die gegen die Annexion von Elsaß-Lothringen stimmten, mußte in dieser Wüste des Todes verhallen. Sie verlangten »die Auslieferung Napoleons als eines gemeinen Verbrechers an die französische Republik« und sprachen »im gemeinsamen Interesse Frankreichs und Deutschlands, im Interesse des Friedens«. Umsonst! Der Sieger folgte dem Gesetz, das allen Handlungen des von ihm gefestigten Systems innewohnt: im Moment seines Triumphs bereitete er seinen Untergang vor. Die Russen hatten nicht umsonst Schmiere gestanden, jetzt pochten sie auf ihren Schein. Deutschland mußte dafür sorgen, daß der Krimkrieg und sein Ergebnis ausgelöscht wurden, Rußland durfte abermals Kriegsschiffe im Schwarzen Meer halten und so die »Politik der Meerengen« wieder beginnen. Die Annexion von Elsaß-Lothringen trug dazu bei, Frankreich Rußland näherzubringen.
Mit einer gefälschten Depesche hatte sich das deutsche Kaiserreich der Welt vorgestellt. Ein halbes Jahrhundert lang setzte es den Bonapartismus in Bismarckscher Prägung fort – nach außen und nach innen. Das Ende?