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Aus dem Jahre 1850 gibt es eine Lithographie Daumiers: Vier Insekten umschwärmen eine brennende Kerze, vier Repräsentanten der Reaktion pusten auf die kleine Lichtflamme los. Sie können es nicht erwarten, daß die Kerze niederbrennt, und sie ist doch nur noch ein armer Stumpf. Am Fuß des Lichtständers liegen diejenigen, die dem Licht zu nahe gekommen sind.
Das war die Situation der Republik nach der Wahl des dritten Napoleon.
Was war die erste Tat dieses Präsidenten? Er hatte eine Belastungsprobe gemacht, deren Ausgang für ihn entscheidend wurde. Das Parlament wurde zu leicht befunden. – Die französische Republik hatte sich bereits vor dem Amtsantritt Louis Napoleons in die italienischen Verhältnisse eingemischt. Wie sehr unterschied sich diese Einmischung von dem Einmarsch des revolutionären Frankreich unter dem Kommando des Generals Bonaparte. »Völker Italiens!« hatte der Korse bei seinem bewaffneten Eintritt in Norditalien versichert, »Frankreichs Armee kommt, um eure Ketten zu brechen! Es ist aller Völker Freund. Vertrauet!« Damals wurde das reaktionäre Österreich, des Papstes Schildknappe, vernichtend geschlagen. Ein halbes Jahrhundert später leistete die französische Republik den Österreichern Waffenbrüderschaft in Italien, aber diesmal gegen das italienische Volk und für die Reaktion und den Papst. Der Präsident Louis Napoleon setzte fort, was Cavaignac begonnen hatte, er schickte französische Truppen gegen die italienischen Revolutionäre, er hetzte die Revolution zu Tode und öffnete dem aus Rom vertriebenen Papst wieder die Tür. Die italienische Reaktion hatte wieder das Zepter in der Hand.
Daumier hat diesen Triumph der Ordnung in Italien bildlich dargestellt. »Ich sehe mit Befriedigung, daß es in meiner guten Stadt Neapel vollkommen ruhig wird«, konstatiert der Monarch auf dem Balkon seines Schlosses im Angesicht der zerschossenen Stadt und der Leichenhaufen, die alle Straßen bedecken. Diese Fassung des Blattes wurde verboten, und Daumier war genötigt, eine zweite Fassung zu zeichnen, etwas gemütlicher, aber noch aufreizend genug.
Mit dem Feldzug gegen die italienische Revolution sicherte sich der Präsident Napoleon die Sympathie der stärksten reaktionären Macht der Welt, sich und seinen Plänen. Wenn er je von seinem »kaiserlichen Oheim«, dem ersten Kaiser der Franzosen, etwas gelernt hatte, dann war es dessen »staatsmännische Klugheit«, sich der Kutte zu bedienen. Der erste Napoleon hatte es bereits als Konsul im Staatsrat ausgesprochen, was er später in die Praxis umsetzte: »Ich sehe in der Religion nicht das Geheimnis der Inkarnation, sondern die soziale Ordnung. Mit dem Himmel verbindet sie eine Idee der Gleichheit, die verhindert, daß der arme Mann den reichen massakriert. Die Religion hat den Wert der Kuhpocken-Impfung: indem sie unsere Neigung zum Wunderbaren befriedigt, schützt sie uns vor Scharlatanen ... Ohne Ungleichheit des Vermögens kann die Gesellschaft nicht bestehen; diese aber nicht ohne Religion. Wer neben dem Prasser Hungers stirbt, der kann sich nur durch den Glauben an eine höhere Macht erhalten und an eine Ewigkeit, in der eine andere Teilung kommt.«
Der Schlag des dritten Napoleon gegen die italienische Revolution widersprach der Verfassung, in der es heißt: »Die französische Republik verwendet ihre Streitkräfte niemals gegen die Freiheit irgendeines Volkes.« Der Präsident setzte sich über die von ihm beschworene Verfassung hinweg, und das Parlament, das erst die Anklage gegen ihn erheben wollte, zog sich aus Angst vor der eigenen Courage zurück.
Dieses erbärmliche Possenspiel ist die Schlußvignette unter dem revolutionären Kapitel der französischen Bourgeoisie. Sie hatte unter dem ersten Napoleon die Heilige Allianz bekriegt, sie verbündete sich unter dem Neffen Napoleons mit derselben Allianz gegen die Revolution. Das Resultat war der Ruin der republikanischen Bourgeoisie und der kleinbürgerlichen Demokratie, war der Ruin des allgemeinen Wahlrechts und des parlamentarischen Einflusses auf die Armee, war das Ende der Bourgeoisherrschaft, die abgelöst wurde durch den Bonapartismus.
Und das arbeitende Volk? »Das Proletariat ließ sich zu keiner Emeute provozieren, weil es im Begriff war, eine Revolution zu machen«, sagt Karl Marx zu diesem Stadium der Klassenkämpfe in Frankreich. Es gibt eine Lithographie Daumiers, die wie eine Illustration dieses Marxzitats wirkt: Bourgeoisrepublikanismus und Bonapartismus gehen in Boxerstellung aufeinander los, Thiers steht abwartend beiseite, und im Hintergrund erhebt sich groß die Gestalt eines Mannes in der Bluse der Pariser Arbeiter, und dieser Mann hat die Hände auf dem Rücken und schaut verächtlich lächelnd auf die Kämpfer nieder. Dabei bleibt sein Gesicht nachdenklich und seine ganze Haltung abwartend.
Er wartete noch zwanzig Jahre.
Die parlamentarischen Kretins gaben einem Vabanquespieler alle Chancen; sie erlaubten dem Neffen, sich als Onkel zu fühlen. Und Louis Napoleon nützte die Stunde. Er mußte sie nützen, das Feuer brannte ihm auf die Nägel seiner schmutzigen Finger. Lange konnte er mit seinen profitablen Experimenten, mit einer schwindelhaften Lotterie, falschen Losen und anderen unsauberen Manipulationen nicht mehr operieren. Er brauchte den großen Schlag.
Alles war vorbereitet. Seine Schutztruppen, zehntausend Lumpenkerle, entgleiste Existenzen, die er besoldete, terrorisierten die Republikaner, folgten ihm auf seinen Propagandareisen, machten Stimmung für ihn. Wenn es sein mußte, mit dem Knüppel. Die Hochfinanz und die große Industrie haben es sich schon immer etwas kosten lassen, wenn sie einen »starken Mann« brauchten, von dem sie hofften, daß seine Politik besser als das wacklige Parlament dazu beitragen könnte, ihre Aktien steigen zu lassen.
Diese täglich frecher werdenden Knüppelgarden, diesen Stoßtrupp der Bonapartisten, hat Daumier sehr bald durchschaut. Er haßte sie, wie er den Mann gehaßt hat, dessen verlauste Prätorianer sie waren. Es wird berichtet, daß Daumier einst dem dritten Napoleon begegnete und daß er, jäh umkehrend, auf dem ganzen Heimwege von einem rasenden Zorn geschüttelt wurde und sich auch in seiner Wohnung kaum beruhigen konnte.
Daumier, der in der Zeit Louis Philipps die Figur des Robert Macaire zu einem Sammelbegriff aller Niederträchtigkeiten gemacht hatte, schuf jetzt eine neue Figur: den Ratapoil, die Verkörperung des politischen Strolchs, der sich kaufen läßt, mehr noch: die Verkörperung des ersten Präsidenten und seiner Eigenschaften.
Welche Kühnheit in den Karikaturen dieser Periode! Da verbeugt sich ein Bonapartist, der den Knüppel hinter seinem Rücken versteckt, zynisch vor der Republik: Schöne Dame, wollen Sie meinen Arm annehmen? Antwort: Ihre Leidenschaft ist mir zu plötzlich, als daß ich daran glauben könnte. – Dastehen zwei Knüppelgardisten vor einer Tür, in einer Hand den Hut für die Haussammlung, in der anderen den Knüppel, zwei Kerle, wie vom Galgen abgeschnitten. Wehe dem Republikaner, der sie abweist. – Da stehen die Ratapoils Spalier und brüllen Hurra für Bonaparte, und wehe dem, der nicht in das Geschrei der bezahlten Claqueure mit einstimmt.
Ehe das Jahr 1851 zu Ende ging, holte Bonaparte zum Todesstoß gegen die Republik aus. Er benutzte die Angst der konservativen Bauern vor den Republikanern, die »alles teilen wollen«, das Bedürfnis der Großfinanz nach einer »Schildwache der Ordnung« (wie ein Londoner Blatt ihn nannte, ihn, der die Bank von Frankreich um fünfundzwanzig Millionen erleichtert hatte wie ein gemeiner Einbrecher!), er stützte sich auf das Bedürfnis der Mittelklasse nach Ruhe und gesicherter Existenz, auf die Geistlichkeit, die er mit allerhand Konzessionen, z. B. einer Verschärfung der Sonntagsruhe, gewann, er stützte sich auf seine Knüppelgarde und auf die regulären Truppen, die er mit Knoblauchwürsten, Champagner und Zigarren beschenkt und gekauft hatte, was man im Volksmund heißt, mit der Wurst nach der Speckseite werfen!
Am 2. Dezember war der von langer Hand vorbereitete Staatsstreich bei der Schlußszene angekommen. Das Parlament gab seinen Geist auf, Louis Bonaparte zog als Kaiser Napoleonerleichtert hatte wie ein gemeiner Einbrecher!), er stützte sich auf das Bedürfnis der Mittelklasse nach Ruhe und gesicherter Existenz, auf die Geistlichkeit, die er mit allerhand Konzessionen, z. B. einer Verschärfung der Sonntagsruhe, gewann, er stützte sich auf seine Knüppelgarde und auf die regulären Truppen, die er mit Knoblauchwürsten, Champagner und Zigarren beschenkt und gekauft hatte, was man im Volksmund heißt, mit der Wurst nach der Speckseite werfen!
Am 2. Dezember war der von langer Hand vorbereitete Staatsstreich bei der Schlußszene angekommen. Das Parlament gab seinen Geist auf, Louis Bonaparte zog als Kaiser Napoleon III. feierlich in Paris ein. Die Nation hatte ihn gewählt, unter gemeinster Wahlbeeinflussung, unter der Drohung der Knüppelgarden, unter der Suggestion des Namens Napoleon, immerhin: sie hatte mit 7 824 129 Ja-Stimmen gegen 253 149 Nein-Stimmen für das zweite Kaiserreich entschieden. Zwanzig Jahre später zeichnete Daumier das Ergebnis dieses Plus von mehr als siebenundeinerhalben Million Stimmen: Ein Leichenfeld, die Verwüstung von 1871, eine entsetzte Frau mit allen Zeichen des Schreckens und der Anklage, die mit der rechten Hand auf das Totenfeld zeigt und mit der linken auf die Wahlurne vom Jahre 1851: Eure Ja-Stimmen haben die dort getötet!
Was hatte der dritte Napoleon gewagt, seinem Volke und der Welt zu sagen? »Das Kaiserreich ist der Friede.« Er hatte gelogen. Er hatte alle belogen, die ihn gewählt hatten. Er mußte sie belügen, weil er ihnen alles versprach. Das französische Volk mußte durch diesen blutigen Sumpf hindurch, es mußte durch einen Bonaparte vom Bonapartismus geheilt werden.