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Der Staatsstreich des Louis Napoleon traf auch die Karikatur. Ein neues Pressegesetz schützte die geheiligte Person des Monarchen vor unangenehmen Angriffen. Sie hatte es besonders nötig.
Im Monat der Thronbesteigung Napoleons III. sah sich Philipon, der Generalquartiermeister der Karikatur seiner Zeit, vor die Notwendigkeit gestellt, folgende Erklärung in das 1848 von ihm gegründete »Journal pour Rire« einzurücken: »Da das Journal pour Rire sich nicht einbildet, die Kraft zu haben, gegen den Belagerungszustand anzukämpfen, übernimmt es die einzige Rolle, die ihm zu spielen übrigbleibt, die des Verzichts auf alle Politik, bis es von neuem die volle Freiheit hat, die zeitgenössische Geschichte in seiner Art zu illustrieren.«
Was für das »Journal pour Rire« galt, mußte für die gesamte Karikatur gelten. Daumier war wieder einmal auf die »unpolitische« Karikatur angewiesen.
An Stoff sollte es nicht mangeln. Der Robert Macaire des Bürgerkönigtums war ein kleiner Gauner gegenüber den Profitmachern des zweiten Kaiserreichs. Er genügte Daumier nicht mehr als Typ dieser Zeit. Mit dem Kaiserreich war auch der skrupellose Gewinnjäger über das kleinbürgerliche Maß des Macaire hinausgewachsen. Sein Horizont war größer geworden. Sein Appetit nicht minder.
Die Bourgeoisie der jetzt beginnenden Epoche des europäischen Imperialismus sah sich ihrer unmittelbaren politischen Sorgen enthoben. Weshalb sollte sie der parlamentarischen Republik nachtrauern, wenn ihr die Monarchie mindestens ebenso erlaubte, sich zu bereichern? Solange der Säbel nicht nach ihrer Brust zielte, betete sie ihn an. Sie gab sich einer gefährlichen Illusion hin, und das Erwachen sollte schrecklich genug sein.
Soweit dachte die Bourgeoisie nicht. Sie sah nur die gegenwärtige Treibhauspracht, den erstaunlichen Aufstieg aller Unternehmungen. Die Industrie entwickelte sich mit unwahrscheinlichem Tempo. Der Handel ließ in wenigen Jahren alle vorherigen Entwicklungsstufen als mittelalterlich zurück. Und das Finanzkapital bereitete sich auf einen Goldregen vor, der alle früheren Profite als ärmlichen Trödelkram erledigte.
Also hatte Napoleon nicht gelogen, als er der Bourgeoisie versprochen hatte, sie herrlichen Zeiten entgegenzuführen? Ja, aber er hatte der Arbeiterschaft dasselbe versprochen, und viele waren auf seine Versprechungen hereingefallen, weil sie in ihm nur den Mann sahen, der die parlamentarische Regierung ihrer Ausbeuter beiseitegeschoben hatte. Doch der »Wohlstand der Nation« erstreckte sich nicht bis hinunter in die proletarischen Schichten. Diese hatten jetzt die erdrückende Last des imperialistischen Kapitalismus zu tragen.
Die Klassengegensätze wurden mit jedem Jahre schärfer. Der Kaiser garantierte die Freiheit jeglicher Ausbeutung, seine Armee hielt den »inneren Feind« in Schranken. Der auf den Schultern der Achtgroschenjungens vom Präsidenten zum Kaiser beförderte Abenteurer garantierte die Freiheit jeglicher Hochstapelei. Paris wurde die Zentrale der Gaunerei großen und kleinen Kalibers. Damals bekam es seinen Ruf als die Stadt des Glanzes und der Verworfenheit, als die Metropole des Genusses, der Ausschweifungen und der Kokotten.
Daumier, den die brutale Gewalt gezwungen hatte, auf die politische Zeichnung zu verzichten, erhob sich; jetzt als der Anwalt der unterdrückten Klasse. Er hielt der Gesellschaftsordnung ihr Resultat vor: Bilder von Obdachlosen, die auf dem Gerüst eines Neubaus schlafen; Obdachlose im Asyl, Kopf an Kopf auf einen Strick gelehnt – »zwei Sous die Nacht«; Arbeiter, die bis an die Hüften im Wasser stehen oder die Tätigkeit eines Lasttieres verrichten; Proletarier, die aus einem Trog trinken oder heißhungrig über ihr Brot herfallen.
Nun, Daumier war kein Sozialist. Er hat sogar einmal über Äußerlichkeiten der sozialistischen Bewegung gespottet. Den Sozialismus selbst griff Daumier nie an. Sein politischer Sinn sagte ihm, wo der Feind steht, und er leistete sich keine Seitensprünge. Die Front, die anzugreifen war, bot wahrlich Ziel genug!
Da waren zuerst einmal seine alten Freunde wieder, die Herren von der Justiz. Freilich, Daumier mußte sich jetzt darauf beschränken, seinen politischen Haß gegen die Handlanger des Bonapartismus auf die Physiognomien zu konzentrieren und den Mangel an richterlicher Objektivität und an Rechtssinn hinter allgemeinen und banalen Situationen und Redewendungen zu verbergen.
Seinen heftigsten Spott verspritzte Daumier gegen den Monsieur Prudhomme, den Typ des modernen Biedermannes. Prudhomme, das war der Bürger des zweiten Kaiserreichs, der emporgekommene Kleinbürger, der den Luxus der oberen Zehntausend nachahmen möchte, der Parvenü mit seinem Bildungseifer, seinem Theaterenthusiasmus. Alle diese Lächerlichkeiten machte Daumier zum Gegenstand seiner Karikatur, und das sind seine besten Blätter aus dieser Zeit, in der er meist ohne Freude arbeitete, weil die flachen Witze auf unpolitische Dinge ihn nicht zeichnerisch anregen konnten. Er hielt sich einigermaßen schadlos, wo er die soziale Satire klar formulieren durfte.
Sein Gelächter über das Theater des zweiten Kaiserreichs ergänzte er durch den Hohn über das Dilettantentheater der guten Gesellschaft, über die gnädige Frau, die sich vor geladenen Gästen produziert, über den Sänger, der sich von den zärtlichen Blicken der Damen und von der Aussicht auf ein gutes Abendessen bis zur Katastrophe des hohen C treiben läßt. Daumier machte sich über den Kunstbetrieb lustig, über die Ausstellungspsychose, über die Kritiker, und sein besonderer Spott galt den Künstlern selbst, die aus der Wirklichkeit fliehen, während sie die Wirklichkeit zu malen glauben. Daumier verachtete die aus Prinzip unpolitische, sozial desinteressierte Künstlergruppe. Er konnte nicht begreifen, wie sich jemand um die Aufgaben drücken wollte, die ihm von der Zeit gestellt wurden. So groß war seine politische Leidenschaft, daß er sie zum Maßstab machte für alles, auch für das künstlerische Schaffen, das er nur anerkannte, wenn es den Zweck hatte, dem sozialen Fortschritt zu dienen. Unermüdlich rief er seinen Freunden zu: Habt ihr keine Augen? Seht ihr nicht, um was es geht, begreift ihr nicht, daß es jetzt nicht an der Zeit ist, einen Korb Apfel oder eine Kerze auf einem Tisch zu malen? Ein Jahrhundert steht auf dem Spiel, und ihr entzückt euch an den Impressionen des Augenblicks?
Besonders diese Bilderfolge hat Daumier das Urteil eingetragen, er sei eben mehr Politiker als Künstler gewesen. Hinter dieser Ansicht versteckt sich meist politische Gegnerschaft. Die besten politischen Blätter Daumiers sind auch künstlerisch die besten. Auch er hat eine brennende Kerze auf einem Tisch gezeichnet, ein Sonnenlichtflimmern im Walde, Impressionen des Augenblicks, aber stets nur als Beiwerk. Es gibt Lithographien, Holzschnitte und Aquarelle von ihm, die vieles von dem vorwegnehmen, was spätere Generationen von Malern als umwälzend proklamierten. Aber das war ihm nie genug, war ihm nie Problem, er entwickelte weder Theorien noch Prinzipien daraus. Er blieb stets der Handwerker, der in jedem guten Künstler steckt, er entwickelte seine Fähigkeit, und er liebte es, alles, was er konnte, in den Dienst seiner Aufgabe zu stellen. Diese Aufgabe mochte noch so klein sein, Tagesarbeit, Journalismus, Flugblatt, für ihn war sie groß: er wandte sich an die Mitmenschen, er wollte sie mit seinen Bildern an sich selbst und an ihre Mission erinnern.
Bald genug sollte es wieder so weit sein, daß die Mahnung, die hinter seinem Spott stand, Berechtigung erhielt. Keine fünf Jahre hatte das goldene Zeitalter unter Napoleon III. gedauert. Der kaiserliche Adler entpuppte sich als Pleitegeier.
Der erste Napoleon hatte auf St. Helena Gelegenheit gehabt, über seine Kriege nachzudenken. Da er immer noch daran geglaubt hatte, sein Sohn könne den Thron Frankreichs einnehmen, hatte er ihm diese Mahnung hinterlassen: »Wenn mein Sohn aus bloßer Nachahmung und ohne zwingende Notwendigkeit meine Kriege wieder anfangen wollte, würde er nur mein Affe sein. Man kann dieselbe Sache nicht zweimal in einem Jahrhundert tun.«
Was für den zweiten Napoleon bestimmt war, hatte auch für den dritten Gültigkeit. Aber der dritte Bonaparte mußte eine Serie von Kriegen beginnen. Nicht nur, um sich und seiner Clique die politische Herrschaft zu erhalten. Der unter seinem Vorsitz ins Leben gerufene europäische Imperialismus zwang ihn dazu.
Und dieser Imperialismus war nichts anderes als der politische Ausdruck für eine inzwischen vollzogene wirtschaftliche Entwicklung. Der fortgeschrittene Kapitalismus räumte mit der Kleinstaaterei in Europa auf. Die großen Reiche entstanden, und ihre Bildung vollzog sich mit jener Gewalt, die an die Allmacht großer Naturvorgänge erinnert. Das eherne Muß der Geschichte vollendete jetzt, was in den kriegerischen Jahren der französischen Republik begonnen worden war. Frankreich hatte seine geschichtliche Rolle, die es infolge seiner damals führenden kapitalistischen Stellung auf dem Kontinent übernommen hatte, bis zu Ende zuspielen, ob Republik, ob Kaiserreich!
Napoleon III. war allerdings nicht der Mann dazu, sich als Werkzeug der ökonomischen Entwicklung und als Vollstrecker geschichtlicher Notwendigkeiten zu fühlen. Er verwechselte die Rollen und spielte Vorsehung. Damit begann eine neue Tragödie des französischen Volkes.