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Was war geschehen?
Im achtzehnten Jahre der Regierung des Herzogs von Orleans alias Louis Philipp, Bürgerkönig von Frankreich, wurde das Maß des Erträglichen voll. Die schöne Phrase »Unter einem Bürgerkönig sind alle Bürger Könige« hatte sich als gefährlicher Betrug offenbart. Die Nemesis der Geschichte hatte der Bourgeoisie, die geglaubt hatte, einen Königsmantel zu brauchen, um herrschen zu können, bewiesen, daß die Monarchie, die von jeher das Mausen nicht lassen kann, nicht der richtige Geschäftskompagnon für die Bourgeoisie ist. Trotzdem schrien die guten Bürger von Paris jetzt nicht »Revolution!«, sondern »Reform!« Die Angst vor der Straße, die Angst vor den Arbeitern lähmte ihre Energie, saß wie eine Rückenmarkschwindsucht in ihrem »Mannesmut vor Königsthronen«.
Die Monarchie kannte dieses Leiden und kalkulierte es mit ein. Reformen? Weshalb nicht? Als die Empörung gegen das korrupte Kabinett in dem Schrei »Es lebe die Reform!« endete und Steine in die Fenster des verhaßten »Bereichert-Euch-Ministers« Guizot flogen, gab der König nach, und Guizot selbst schlug seine Abdankung und – seinen Nachfolger vor. Ein anderer Name, das System konnte bleiben.
Bei diesem Vorstoß hatte die Nationalgarde entscheidend mitgewirkt. Als in den Arbeitervierteln Barrikaden errichtet wurden, zogen die Nationalgardisten auf, also jene Kleinbürger, die ihre Kopfsteuer bezahlen konnten und die außerdem imstande waren, sich selbst Uniformen zu leisten. Es geschah, daß sich diese Schutztruppe des Kleinbürgertums zwischen die aufständischen Arbeiter auf den Barrikaden und die Truppen der Regierung schob. Und ein Kommandant der Nationalgarde trug dem König eine Bittschrift vor, eine Bittschrift! – Guizot zu entlassen und die Reform zu genehmigen.
Als Guizot, der schlaue Fuchs, seine eigene Entlassung zugunsten seines Nachfolgers »durchgesetzt« hatte, als der Wunsch nach einer Wahlreform als berechtigt anerkannt worden war, geriet Paris in einen Taumel der Begeisterung. Die Bourgeoisie glaubte sich gerettet, gerettet vor der finsteren Drohung der Arbeitervorstädte, und sie veranstaltete am Abend des 23. Februar 1848 ein Schaustück mit viel Freudengeschrei und Lichtverschwendung, alles in der Absicht, sich selbst einen Sieg und den Proletariern eine Aussicht auf bessere Zeiten einzureden.
Aber das Proletariat glaubte nicht an diesen plötzlichen Eintritt ins Schlaraffenland. Die Arbeiter hatten in den letzten zehn Jahren einen aufschlußreichen Kursus über »Kapital und Arbeit« durchgemacht, der bei Morgengrauen begann, Tag für Tag, und bei später Dunkelheit endigte. Wenn auch die industrielle Bourgeoisie nicht in dem von ihr ersehnten Maße an die Futterkrippe der Regierung herangekommen war, so hatte sie doch unter dem Schutz einer allgemeinen Reaktion die Möglichkeit gehabt, sich auf Kosten der Arbeiter zu bereichern. Das Industriekapital hatte inzwischen an Umfang und Macht so gewonnen, daß es den Zeitpunkt für gekommen hielt, dem Finanzkapital die ausschließliche Herrschaft aus den Händen zu reißen. Und die Arbeiter verstanden sehr wohl, was ihre Herren meinten, wenn sie »Reform« riefen. Die schrankenlose Ausbeutung hatte im Proletariat Raum geschaffen für die neuen sozialistischen und kommunistischen Ideen, und wer es nicht wußte, der ahnte es, daß die Reform selten etwas anderes ist als ein politisches Abtreibungsmittel, das besonders dann gern angewendet wird, wenn sich im Schoß der Gesellschaft die Geburt einer Revolution ankündigt.
Es gab viele unter den Arbeitern, denen auch die Verbrüderung mit dem Kleinbürgertum und seiner Garde nicht recht geheuer war. Das Kleinbürgertum, so ahnten sie, versteht unter Reform wieder etwas anderes: den Protest gegen die großkapitalistischen Vorläufer in der Wirtschaft, gegen die Kaufhäuser, die den kleinen Budiker ruinierten, gegen die Konkurrenz der Fabriken, die den kleinen Handwerker zu einem Wettlauf anspornten, den er nicht lange aushalten konnte. Die Festfreude des bourgeoisen Paris mußte vor den Proletarierquartieren haltmachen. Paris im Licht – um so finsterer hoben sich die Außenviertel ab. Die Boulevards im Vergnügungstaumel – um so düsterer schwiegen die Wohnkasernen des vierten Standes.
Gegen neun Uhr abends zog ein Trupp Arbeiter mit Fackeln die aufhorchenden Boulevards entlang. Dieser Zug, der einem Instinkt folgte – eigentlich wollte er dem abgesetzten Minister »nur ein Abschiedsständchen« bringen –, sollte eine historische Bedeutung erhalten. Als er am Gebäude eines bürgerlich-oppositionellen Blattes vorüberkam und aus der Stimmung der Stunde heraus eine Portion Hochrufe auf die Redaktion dieses Blattes verteilte, rief einer dieser braven Herren den Arbeitern zu, was die gesamte Bourgeoisie dachte: »Bürger, wir haben einen schönen Tag gehabt, verderben wir ihn nicht!«
Doch der Zug wurde immer stärker, und als er nach dem Ministerium des Auswärtigen marschierte, stieß er auf ein Bataillon Infanterie. Aus dem Volkswitz der mehr einen Rummel als eine Revolte suchenden Proletarier wurde angesichts der Uniformen und Bajonette der Volkszorn, und das Ende war eine Salve in den Menschenknäuel: 66 Verwundete und 16 Tote. Diese Salve traf den Gemeinschaftstaumel der Pariser mitten in das Herz.
Die Arbeiter hoben ihre Toten auf und fuhren sie fackelschwingend und racheschreiend durch die Stadt. Wo sie hinkamen, wuchsen Rächer aus der Nacht, die Glocken von ganz Paris riefen zu den Waffen, und als der Morgen graute, war die Monarchie bereits verloren.
Thiers wollte sie noch retten, indem er den König aufforderte, die Truppen zurückzuziehen und die Ankündigung der Wahlreform an die Mauern schlagen zu lassen. Thiers hatte die Opposition geführt, um ihr die Spitze abzubrechen. Er roch die Revolution, das große Übel, er war bereit, jedes kleinere Übel vorzuziehen, und er redete Louis Philipp zu, abzudanken – zugunsten seines Enkels.
Der Bürgerkönig mußte wie ein Dieb aus dem Schloß schleichen und verkleidet und eilig den französischen Boden verlassen. Es war höchste Zeit! Das Volk flutete heran, überschwemmte die Truppen vor den Tuilerien und besetzte diese historische Stätte der Monarchie Frankreichs unter Geschrei und Gelächter.
Daumier, der auf diesen Tag gewartet hatte wie ein Dunkelarrestant auf die Stunde des Lichts, zeichnete den Freudenausbruch des in die Tuilerien eingedrungenen Volkes: Bewaffnete Arbeiter und Gardisten füllen alle Räume, über dem Gebrüll tanzen geschwungene Säbel und Bajonette, und ein Straßenjunge, eine erbeutete Uniform übergezogen, wirft sich auf den Thron der reichsten Monarchie der Welt: »Verdammt, wie tief man hier einsinkt!«
Inzwischen hielt Thiers den Anwärter auf diesen Thron bereit. Die Herzogin von Orleans erschien in der Versammlung der Deputierten, ihren und Louis Philipps Sohn an der Hand. Und siehe da, alle Abgeordneten erhoben sich von ihren Sitzen! Im Augenblick der siegreichen Umwälzung machten sich die Vertreter der Bourgeoisie, die Erben der großen französischen Revolution, zu elenden Kreaturen. Thiers schien den Sieg seiner verräterischen Demagogie bereits in der Hand zu halten, da krachten draußen Schüsse, und die revolutionären Arbeiter strömten herein, eine mißtrauische, strenge Versammlung, die sich um die »Volksvertreter« gruppierte, bis die Republik proklamiert war. Am 24. Februar 1848 war Frankreich zum zweiten Male Republik geworden.
Daumier zeichnete damals die Lithographie »Die letzte Ministerratssitzung«. Die Revolution, eine Frau mit roter Mütze und flatterndem Gewand, reißt die Tür des Kabinetts auf, und schon stürzen die Minister wie vom Blitz getroffen durcheinander. Diese Steinzeichnung ist eine der schönsten, die Daumier gemacht hat. Wie mag der Künstler alle die Jahre auf diesen Augenblick gewartet haben! Eine jauchzende Freude spricht aus diesem Blatt. Die jämmerlichen und niederträchtigen Kabinettsmitglieder verknüllen sich unter der ekstatisch bewegten Hand Daumiers zu einem flüchtenden, stolpernden Haufen – man erkennt deutlich Thiers' grimmig-entsetzte Larve –, Stühle stürzen um, Papier flattert vom grünen Tisch zu Boden.
Und durch die aufgerissene Tür flutet das Licht herein, das Licht, wie es Daumier nie zuvor gezeichnet hatte: ein zauberhafter Glanz, der so stark ist, daß er die Gestalt der Freiheit zu durchdringen scheint.
Dieses Blatt erschien im März 1848. Es waren die Tage des allgemeinen Rausches. Eine Regierung war gebildet worden, mehr die Improvisation einer Regierung, in der nunmehr die Vertreter aller bürgerlichen Schichten und auch zwei Arbeitervertreter saßen. Aber die Arbeiter gaben sich nicht mehr mit dem bloßen Schein zufrieden. Sie waren zu oft betrogen worden. Ihr Instinkt sagte ihnen, daß es nicht darum ging, eine Monarchie abzuschaffen und dafür eine Republik einzusetzen, die an dem Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit nichts ändert. Sie hatten ihre Waffen noch und benutzten diese, die Regierung unter Druck zu halten. Diese erließ eine Proklamation, in der sie sich »verpflichtete«, die Existenz des Arbeiters durch die Arbeit zu garantieren, und in der sie anerkannte, daß die Arbeiter sich assoziieren müssen, um den rechtmäßigen Ertrag ihrer Arbeit zu genießen ...
Wunderhübsche Worte, aber eben nichts als Worte.
Unterdessen sorgte die Bourgeoisie dafür, daß sie die Macht wieder in die Hände bekam. Sie schuf die sogenannten Nationalwerkstätten und brachte mit diesen lächerlichen Vorläufern der »kommunalisierten« und »sozialisierten« Betriebe die Kleinbürger gegen die Arbeiter auf. Diese Werkstätten wurden absichtlich zu Mißgeburten gemacht, damit die in ihnen beschäftigten Arbeiter von selbst die Freude an der Arbeit verloren, was wieder zur Folge hatte, daß dem Kleinbürger »die wahre Seite des Sozialismus« demonstriert werden konnte.
Die Regierung ging noch weiter. Sie manövrierte die Arbeitervertreter aus dem Regierungsgebäude hinaus, sie entwertete die Sparkassenbücher der kleinen Leute, sie stützte die Bank und rettete damit den eingeschworenen Feind der sozialen Republik, die Finanzaristokratie, die herrschende Schicht von gestern.
Außer dem Kleinbürger mußte auch noch der Bauer gegen die Arbeiterklasse aufgebracht werden. Das war sehr einfach. Man legte ihm eine Sondersteuer auf und bezeichnete diese als ein Ergebnis der Revolution. Das wirkte.
Aber die bürgerliche Regierung war vorsichtig. Sie scharte das junge, abenteuerlustige und unpolitische Volk der Arbeitervorstädte um sich als Mobilgarde. Für eineinhalb Frank täglich pro Mann kaufte sich die Bourgeoisie eine neue Schutztruppe, machte sie aus dem käuflichen Lumpenproletariat ein Instrument zur Befestigung ihrer Herrschaft über die klassenbewußten Proletarier. Diese Mobilgarde sollte die Nationalgarde ergänzen, der käufliche Lumpenproletarier den gegen die Arbeiter mobilisierten bewaffneten Kleinbürger.
Anfang Mai war die Bourgeoisie so weit, daß sie die Schlacht gegen die Arbeiter schlagen und die Februarrevolution korrigieren konnte. Die Wahlen hatten ihr die Mehrheit gesichert. Die neue Nationalversammlung klatschte dem Minister Beifall, der die Erklärung abgab, »es handle sich nur noch darum, die Arbeit auf ihre alten Bedingungen zurückzuführen«. Mit anderen Worten: Die Ausbeutung wird ohne Einschränkung fortgesetzt.
Darauf antworteten die Proletarier am 15. Mai mit einem Sturm auf das Stadthaus. Die Nationalgarde und die Mobilgarde warfen die Arbeiter wieder zurück und bemächtigten sich ihrer Führer.
Jetzt regierten alle bürgerlichen Klassen in heiliger Eintracht gegen das Proletariat. Sie taten alles, die Republik zur Hure zu machen. Sie malten den Kommunistenschreck an die Wand und riefen damit selbst unter den Arbeitern Verwirrung hervor. Am 21. Juni wurde ein Dekret erlassen, nach dem die Auflösung der Nationalwerkstätten (dieser in den Augen vieler Arbeiter letzten Errungenschaft der Revolution) angekündigt und die entlassenen Arbeiter mit dreißig Francs abgespeist wurden. Mit Recht verglich Proudhon diese dreißig Francs mit den bekannten dreißig Silberlingen des Judas. Die Proletarier nahmen die freche Herausforderung an, und so entstand die Junischlacht.
Die Arbeiterfeinde hatten sich seit langem auf die erste große Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit vorbereitet. Nationalgarde, Mobilgarde, republikanische Garde, Linientruppen – eine Riesenarmee gegen die Arbeiter. Cavaignac war der Organisator dieser Armee, der Kriegsminister, der Oberbefehlshaber. Er verdiente sich den Ehrennamen »Der Arbeiterschlächter«.
Aber das Proletariat ließ sich nicht kampflos zur Schlachtbank führen. Es kämpfte gegen eine furchtbare Übermacht, gegen eine organisierte Armee, gegen Artillerie, es kämpfte, bis seine letzte Bastion in Klumpen geschossen war.
Auf einem Haufen von fünftausend Leichen triumphierte die bürgerliche Republik über die Arbeiter. Sie rief den Sieger Cavaignac zu ihrem Häuptling aus, sie pflanzte den mit Arbeiterblut befleckten Säbel als Zepter auf, sie bereitete ihren nächsten Sturz vor.