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Va banque

»Aus den Stürmen der Zeit ist eine Partei entsprossen, deren Kühnheit, wenn nicht durch Entgegenkommen, so doch durch Nachgiebigkeit bis zum Übermut gestiegen ist. Jede Autorität anfeindend, weil sie selbst sich zur Herrschaft berufen wähnt, unterhält sie mitten im allgemeinen politischen Frieden einen inneren Krieg, vergiftet den Geist und das Gemüt des Volkes, verführt die Jugend, betört selbst das reifere Alter, trübt und verstimmt alle öffentlichen und Privatverhältnisse, stachelt mit voller Überlegung die Völker zu systematischem Mißtrauen gegen ihre rechtmäßigen Herrscher auf und predigt Zerstörung und Vernichtung gegen alles, was besteht.«

Mit diesen Sätzen beginnt das Schlußprotokoll der Wiener Ministerialkonferenz vom 12. Juni 1834. Fürst von Metternich gab vor dem Auseinandergehen dieser Konferenz der Hoffnung Ausdruck, daß dem antimonarchischen Unfug für die Zukunft vorgesorgt sei und daß die irregeleiteten Stände auf den Pfad der Tugend zurückgeführt werden könnten. Er beschränkte sich nicht darauf, solche frommen Wünsche auszusprechen. Unter seiner Führung begann eine Epoche, die nach ihrem geistigen Vater die Ära Metternich genannt und die von der bürgerlichen Revolution des Jahres 1848 nur unterbrochen wurde, um desto eifriger fortgesetzt zu werden.

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Die bürgerlichen Revolutionen hatten überall dasselbe Gesicht, ob sie nun in Berlin, Wien, Mailand oder Paris stattfanden. Sie entzündeten sich wie Raketen, funkelten eine Weile und mit viel Spektakel und fielen dann ausgebrannt zu Boden. Der Katzenjammer hielt länger an als der Johannistrieb der Bourgeoisie, und das Ende vom Lied war das »Vive le roi!«

Frankreich, das mit den Sturm- und Drangjahren des bürgerlichen Zeitalters allen Nachbarn des Kontinents um ein beträchtliches Stück voraus war, dessen Revolutionen die umstürzlerischen Versuche in den anderen Staaten hinter sich herzogen wie der Komet seinen feurigen Schweif, ging auch mit der bürgerlichen Klassenherrschaft voran. Es war im Zeitalter des Feudalismus dessen stärkste Hochburg gewesen, hatte die Staatsform einer Monarchie mit starkem zentralistischem Willen, als in Deutschland noch jeder Raubritter auf eigene Faust Politik machte, und es hatte auch zuerst die Voraussetzungen geschaffen, die der Mutterboden des kapitalistischen Zeitalters wurden.

Die proletarische Erhebung des Jahres 1848 kam zu früh mit ihrer Absicht, die kapitalistische Wirtschaft abzulösen. Damals begann die kapitalistische Entwicklung erst. Der nach St. Helena verbannte Napoleon hat es in seinen Aufzeichnungen ausgesprochen, wie jung dieser Kapitalismus war; er zählt auf, was während der kriegerischen Ouvertüre des neuen Zeitalters für den Kapitalismus getan worden ist: »Die Häfen von Antwerpen und von Vlissingen, die die größten Flotten aufnehmen und nie gefrieren, die hydraulischen Werke bei Dünkirchen, Le Havre und Nizza, das Riesendock von Cherbourg, der Hafen von Venedig, die Chausseen von Antwerpen nach Amsterdam, von Mainz nach Metz, von Bordeaux nach Bayonne, die Pässe über Simplon, Mont Cenis, Corniche und Mont Genèvre, die die Alpen in vier Richtungen eröffnen und alle Bauten der Römer übertreffen, dann die Straßen von den Pyrenäen zu den Alpen, von Parma nach Spezia, von Savonne nach Piemont, die Pariser Brücken, die Brücken von Savre, Tours, Lyon ... Der Rhein-Rhône-Kanal ... Die Schaffung neuer Industrien, die Bahnen, die Wasserzufuhr nach Paris, die Kais ...« Alles das lag kaum ein halbes Jahrhundert zurück. Gerade jetzt begann er ja erst, der Industriekapitalismus. Und nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen europäischen Staaten, die ihren Vorläufer bald überflügeln sollten.

Der Juni-Aufstand der Pariser Arbeiter hatte die Bourgeoisie darüber belehrt, daß sie im Schoße ihrer Gesellschaftsordnung ein Wesen nährte, das dazu berufen war, sie abzulösen. Diese Erkenntnis hatte Cavaignac den Säbel in die Faust gedrückt. Die Bourgeoisie regierte mit der Diktatur.

Es war ihr klar, daß sie va banque spielte. Für diesmal hatte sie gewonnen, aber das Spiel begann erst. Die Situation war günstig für einen Mann, der sich auf das Mischen der Karten verstand und auf die Kniffe des Riccaut de la Marlinière (corriger la fortune), und der frech genug war, die Existenz einer ganzen Nation auf eine Karte zu setzen. Er kam, sah und siegte. Mit demselben Belagerungszustand, den die republikanische Fraktion der Bourgeoisie gebraucht hatte, um ihre Herrschaft zu beginnen, schlug der Mann, der »das Glück korrigieren« konnte, der bourgeoisen Republik aufs Maul. Der Mann hieß Louis Napoleon Bonaparte.

Seine Zeit kam, bevor ein Jahr nach dem Sturz des Bürgerkönigs vergangen war. O Ironie der Weltgeschichte! Die Bourgeoisie war verdammt, in den Zeiten der Monarchie Opposition zu machen oder mindestens zu unterstützen, und in den Zeiten der Republik brauchte sie einen Popanz, hinter dessen Rücken sie herrschende Klasse spielen konnte, ohne der beherrschten Klasse dabei ins Gesicht blicken zu müssen.

Mit dem Belagerungszustand läßt sich nicht ewig regieren. Also her mit einer Verfassung, die die Klassenherrschaft fortsetzt, nur etwas verschleiert. Diese pfiffige Verfassung wimmelte von Freiheiten und Rechten. Bei näherem Zusehen hatte aber jede Sache ihren Haken. Zwei Beispiele: »Die Bürger haben das Recht, sich zu assoziieren, sich friedlich und unbewaffnet zu versammeln, zu petitionieren und ihre Meinung durch die Presse oder wie sonst auszudrücken. Der Genuß dieser Rechte hat keine andere Schranke, als die gleichen Rechte anderer und die öffentliche Sicherheit.« Oder: »Die Wohnung jedes Bürgers ist unverletzlich außer in den vom Gesetz vorgeschriebenen Formen.«

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Thiers und die Seinen bei der Ernte

Die Klasse, die eine solche famose Verfassung ausgeheckt hatte, verfolgte und verurteilte und massakrierte die Junikämpfer, sie lehnte es ab, das Kapital zu besteuern, sie schob auch den Bundesgenossen vom Juni, den Kleinbürger, beiseite. Ah, der Kleinbürger hatte geglaubt, seine Existenz zu retten, als er half, den Arbeiter zur Ader zu lassen – und jetzt bekam er die Quittung. Nicht der Kommunismus erdrosselte ihn, sondern der Kapitalismus. Der Bankerott trieb den Kleinbürger in das Lager der revolutionären Arbeiter zurück.

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Thiers spielt auf

Um so mehr beschleunigte die regierende Fraktion der Bourgeoisie die Wahl eines Präsidenten. Am 10. Dezember 1848 erlitt sie eine Niederlage. Ihr Kandidat unterlag. Für Louis Napoleon Bonaparte stimmte die Mehrheit der Wähler: der Teil der Bourgeoisie, der sich von der Republik als Resultat immerhin einer Revolution abwandte, die Bauern, die gegen die Steuerpolitik der Republik stimmten, und auch Arbeiter, die lieber einem Bonaparte die Stimme gaben als einem Cavaignac.

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Thiers hat noch nicht genug

Am 20. Dezember 1848 leistete Louis Napoleon den Eid, »der demokratischen Republik treu zu bleiben und die Verfassung zu verteidigen«. Die Nationalversammlung hörte mit ahnungsvollem Schweigen zu. Und die Hellsichtigen glaubten zu bemerken, wie aus dem schwarzen Frack des Vereidigten, der das Großkreuz der Ehrenlegion trug, die Epauletten und goldenen Tressen traten. Einige Minuten später gab er den Arbeitern, die ihn mitgewählt, zu wissen, was sie von ihm zu erwarten hatten. Er ging auf Cavaignac zu und bot ihm die Hand: »General, ich bin stolz darauf, der Nachfolger eines Mannes zu sein wie Sie.«

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Thiers als Amor

Der Sturz Daumiers aus der Freude über die siegreiche Revolution in die Verzweiflung nach der Junischlächterei und über die grauenhafte Komödie einer Republik, die mit dem Belagerungszustand gegen die Revolution regierte, war furchtbar. Seine Zeichnungen aus diesen entsetzlichen Monaten beweisen es.

1848 hatte Daumier noch das überlegene Gelächter des revolutionären Citoyen über den Kleinmut des verkalkten Bürgers gehabt. Er verspottete die Angst des Bürgers vor den Ereignissen der Straße, den ganzen Jammer einer Schicht, die nicht kämpfen kann und die nur mit dabei sein will, wenn es zu ernten gibt. Ein köstliches Blatt: Ein Trupp Kinder zieht vorbei, die Kleinen spielen Nationalgarde mit Trommeln und kindlicher Nachäfferei, und sie erschrecken ein braves bürgerliches Paar: Um Gottes willen, schnell fort!

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Thiers' süßes Geheimnis

Noch schlagender ist eine berühmt gewordene Lithographie: Es ist Nacht. Der Aufruhr wirft einen Lichtschein durch die Gardine. Eine verängstigte Frau stemmt sich mit aller Kraft ihrem Mann entgegen, der im Hemd und mit einer Schlafmütze auf dem Kopf aus dem Bett gesprungen ist, ein Nationalgardist, den der Alarm ruft. »Geh nicht!«, jammert die Frau, und sie beschwört ihn, an die Kinder zu denken, die er ihr noch schuldig ist.

Aber dann kommt die Erkenntnis, daß auch die »neuen Männer« elende Stümper sind, lächerliche und gefährliche Marionetten der herrschenden Clique. Das erste republikanische Kabinett ist keinen Dreck besser als die Mamelucken Louis Philipps, und die Männer der Konstitution haben so wenig Anrecht auf Schonung wie die korrupte Herde des Bürgerkönigs. Doch Daumier scheint verwirrt und verlegen zu sein. Es ist, als müsse er sich erst orientieren in diesem Chaos, das die Befreier vom Februar so plötzlich in wütende Gruppen trennte.

Die Porträtkarikaturen dieser Monate unterscheiden sich nur wenig von der Schablone, mit der sich Daumiers unbedeutende Kollegen zufrieden gaben. Das ist der alte Daumier nicht mehr mit seinen schonungslos realistischen Porträts, das sind jetzt leblose Fratzen, große Köpfe auf Liliputanerkörpern, Karnevalsmasken aus Pappmaché, Puppen mit steifen Bewegungen. Der Witz fehlt, oder er ist zu plump, um noch zünden zu können.

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›Geh nicht! Im Namen deiner Kinder, die du mir noch schuldig bist!‹

Vollgefressene Interessenpolitiker, Aasgeier der Freiheit, gleichgültige Handlanger der Reaktion, intrigante Abenteurer, impertinente Militärs – aber den Zeichnungen fehlt die Leidenschaft und die Schärfe. Daumier mußte sich erst wieder in dem Durcheinander der Parteien zurechtfinden. Er sollte nicht mehr lange dazu brauchen. Die Republik entlarvte sich selbst. Aus dem Nebel der Konstitution trat die Physiognomie Louis Napoleons heraus.

Daumier sah die gegnerische Front wieder scharf vor sich. Louis Philipp oder Louis Napoleon, ganz gleich – ein Louis der Reaktion!

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