George Kennan
Sibirien
George Kennan

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Der russische Strafkodex.

Für den Charakter eines Volkes und für die Beschaffenheit einer Regierung, ist nichts charakteristischer, nichts was für die Beurteilung schwerer ins Gewicht fällt, als die Verbrechen, die begangen werden und die Strafen, die dafür bestimmt sind. Der Strafkodex eines Staates bildet gewissermaßen einen Wegweiser durch das Leben des Volkes. Er zeigt nicht nur die Übel an denen die Gesellschaft krankt und die von der Regierung angewendeten Heilmittel, sondern er gewährt auch einen Einblick in die Moral und Aufklärung des Volkes, zeigt welchen Einfluß, guter oder schlechter Art, die Regierenden ausüben.

Ich will daher in diesem Aufsatze einige charakteristische Züge des russischen Strafkodex kurz und klar erörtern, zeigen, in wiefern meiner Ansicht nach die socialen Verhältnisse Rußlands, die bemerkenswertesten Eigentümlichkeiten seine 87 Regierung und die Ursachen der dort vorhandenen Unzufriedenheit und Unordnung auf diesen Strafkodex zurückzuführen sind.

Der russische Strafkodex bildet in der revidierten und verbesserten Ausgabe von St. Petersburg des Jahres 1885 einen etwa 700 Seiten starken Oktavband, die Verbrechen und Vergehen, die hier in Betracht kommen sind in zwölf Hauptabteilungen oder »Titel« geteilt. Jeder Titel besteht aus zwei bis vierzehn »Abschnitten« und jeder dieser aus Paragraphen, die ohne Rücksicht auf die höheren Abteilungen fortlaufend numeriert sind. Der Inhalt des Kodex, die Einteilung der Verbrechen und der Raum den jede besondere Abteilung der Vergehen und der Strafen einnimmt, im Verhältnis zum Ganzen, läßt sich aus folgendem Auszug erkennen:

Titel I. Von den Verbrechen und Vergehen im allgemeinen und von den Graden der Schuld (nimmt 175 §§ in Anspruch).

Titel II. Verbrechen gegen die Religion und Verletzung ihrer Vorschriften (nimmt 65 §§ in Anspruch).

Titel III. Staatsverbrechen, wie: Hochverrat, Aufruhr, Beleidigung der geheiligten Person des allerhöchsten Herrschers oder der Mitglieder des kaiserlichen Hauses (nimmt 23 §§ in Anspruch).

Titel IV. Verbrechen und Vergehen gegen die Regierung (67 §§).

Titel V. Verbrechen und Vergehen, die von Staatsbeamten begangen werden (178 §§).

Titel VI. Verletzung der Vorschriften über die Pflichten und Verbindlichkeiten, die Private gegen kaiserliche oder lokale Behörden haben (43 §§).

Titel VII. Verbrechen gegen das Eigentum und Einkommen des Staates (283 §§).

Titel VIII. Verbrechen gegen die Ordnung und Sicherheit der Gesellschaft (574 §§). Dieser Teil befaßt sich nicht mit den Verbrechen, die einzelne gegen andere begehen können, wie Überfall, Raub, Mord und dergleichen; sondern nur mit 88 jenen die einen Ungehorsam gegen gewisse Vorschriften über die öffentliche Sicherheit bekunden.

Titel IX. Verletzung der Gesetze über Beruf, Rang, Titel &c. (44 §§). Dieser Teil befaßt sich mit Vergehen wie: betrügerische Verhehlung des Namens und Rangangehörigkeit eines Kindes, Anmaßung von Orden, Titeln und dergleichen.

Titel X. Verbrechen gegen das Leben, Sicherheit, Freiheit und Ehre von Privatpersonen (263 §§).

Titel XI. Verbrechen gegen die Familie und das Hausrecht (57 §§). Dieser Teil befaßt sich mit allen Gesetzüberschreitungen die sich in der Ehe, Ehescheidungen, bei den gegenseitigen Beziehungen von Eltern und Kindern, Vormünder und Mündel ergeben.

Titel XII. Verbrechen und Vergehen wider das Eigentum der Privatpersonen (111 §§).

Bei Einteilung dieser Verbrechen und Vergehen scheinen die Gesetzgeber von dem Prinzip ausgegangen zu sein, sie nach dem Grade ihrer Schwere, nach ihrer Wichtigkeit zu ordnen. Die Verbrechen gegen Kirche und StaatIch gebrauche hier die Ausdrücke »Kirche« und »Staat« in einem engeren Sinne. Dort für die Hierarchie, hier für den Mechanismus, den das Beamtentum darstellt. Man kann unmöglich von der Kirche als einen Verein Gläubiger sprechen, wenn die Zugehörigkeit durch Kerkerhaft und Verbannung erzwungen wird. Und es ist ferner unmöglich das Volk zum »Staate« zu rechnen, wo schon der Versuch sich am öffentlichen Leben zu beteiligen mit Zwangsarbeit bestraft wird. stehen an erster Stelle; die sich auf Leben, Freiheit und Ehe von Privaten beziehen stehen zuletzt. Ferner nehmen die Verbrechen gegen die Herrschermacht von Kirche und Staat einen unverhältnismäßig großen Teil des Gesetzes ein, verglichen mit jenen, die sich nur mit Leben und Eigentum von Privatpersonen beschäftigen, als bildeten erstere die neuesten der begangenen Verbrechen. Alle Paragraphen der ersten sieben Titeln und die meisten des 8. und 9. beschäftigen sich mit der Sicherheit des Staates als politischer Organismus und haben den Zweck dessen Bestand zu sichern, seine Übermacht zu festigen und die Bande 89 fester zu knüpfen, die seine Unterthanen, das Volk, fesseln. Auch das Geringste was geeignet scheint die Staatsmacht zu schwächen, den Einfluß der Behörden zu verringern wird zum Verbrechen gestempelt und mit harter, oft barbarischer Strenge bestraft. Die Wahrheit dessen, läßt sich aus den Citaten ersehen, die ich nun anführen will:

Der erste Titel des russischen Strafkodex beschäftigt sich mit den sogenannten »Verbrechen wider die Religion« und die Härte der angedrohten Strafen zeugen am besten von der Wichtigkeit, die der Staat der Hauptstütze seiner Macht, der Kirche, zumißt. Der erste Paragraph dieses Teiles, der das Ganze trefflich kennzeichnet, besagt: § 176. »Wer absichtlich und öffentlich in der Kirche eine Lästerung ausspricht gegen die allerheiligste Dreifaltigkeit, oder gegen die unbefleckte Muttergottes, die heilige Jungfrau Maria, oder gegen das glorreiche Kreuz Jesu Christi unseres Heilands, Herrn und Meisters, oder gegen die körperlosen Himmelsmächte, oder gegen Gottes Heilige und ihre Abbildungen: dem sollen alle bürgerlichen Rechte entzogen und er soll auf Lebenszeit verbannt und mit Zwangsarbeit von nicht unter zwölf Jahren und nicht über fünfzehn Jahren bestraft werden. Wird ein solches Verbrechen nicht in der Kirche, sondern an einem anderen öffentlichen Orte, oder im Beisein einiger Personen begangen, sei deren Zahl groß oder klein, so sollen dem Verbrecher alle bürgerlichen Rechte entzogen werden und er soll auf Lebenszeit verbannt und mit Zwangsarbeit von nicht unter sechs Jahren und nicht über acht Jahren bestraft werden.«

Der folgende Paragraph behandelt dasselbe Verbrechen in anderer Form und lautet: »§ 177. Wird das im vorhergehenden Paragraph näher bestimmte Verbrechen nicht an einem öffentlichen Orte und nicht vor einer größeren Zahl Leuten begangen, aber dennoch in Gegenwart von Zeugen, mit der Absicht diese in ihrem Glauben zu erschüttern und sie irre zu führen, so sollen dem Verbrecher alle bürgerlichen 90 Rechte entzogen werden und er soll auf Lebenszeit nach dem entlegensten Teil Sibiriens verbannt werden.«

»§ 178. Wer absichtlich an einem öffentlichen Orte und im Beisein einer größeren oder einer geringeren Anzahl Menschen die christliche Religion, oder die rechtgläubige Kirche zu tadeln oder zu schmähen wagt, wer die heilige Schrift oder die heiligen Sakramente herabwürdigt: dem sollen alle bürgerlichen Rechte entzogen werden und er soll auf Lebenszeit verbannt und mit nicht unter acht Jahren Zwangsarbeit bestraft werden. Wird ein solches Verbrechen nicht an einem öffentlichen Orte und nicht vor einer größeren Anzahl Leuten begangen, aber dennoch in Gegenwart von Zeugen mit der Absicht diese in ihrem Glauben zu erschüttern und sie irre zu führen, so sollen dem Verbrecher alle bürgerlichen Rechte entzogen werden und er soll auf Lebenszeit nach dem entlegensten Teil Sibiriens verbannt werden.«

Paragraph 179 bestimmt, daß jeder, der Zeuge eines in den §§ 175–178 festgestellten Verbrechens war, oder davon erfahren hat und es unterläßt die Behörde davon in Kenntnis zu setzen, mit Gefängnishaft von vier bis acht Monaten bestraft werden soll.

»§ 181. Wer in einem Druckwerk, oder auch nur in einer Schrift, wenn er diese irgendwie in die Öffentlichkeit brachte, die Heiligen Gottes lästert, sie beschimpft, oder die Christliche Religion, oder die rechtgläubige Kirche schmäht, oder die Heilige Schrift, oder die heiligen Sakramente herabzuwürdigen versucht: dem sollen alle bürgerlichen Rechte entzogen werden, und er soll nach dem entlegensten Teil Sibiriens verbannt werden. Die gleiche Strafe soll jene Personen treffen, die derartige Druckwerke oder Schriften wissentlich verkaufen oder sie in irgend einer Weise wissentlich in Verkehr bringen.«

»§ 182. Alle Personen, die der sogenannten Religionsspötterei schuldig gefunden werden, d. h. jeder der durch höhnische oder spöttische Bemerkungen eine Mißachtung gegen die Vorschriften und Bräuche der rechtgläubigen Kirche, oder 91 des Christentums überhaupt, bekundet, soll mit Gefängnishaft von nicht unter vier Monaten und nicht über acht Monaten bestraft werden.«

Diese besonders strenge Gesetzgebung drängt unwillkürlich zur Frage: »Wie verhalten sich, nach der Anschauung der Gesetzgeber, die strengen Bestrafungen der erwähnten Verbrechen zu den für gemeine Verbrechen, wie schwere Körperverletzung, Raub, Mord?« Ein Blick auf Hauptabteilungen VIII. und X. des Strafkodex zeigen uns, daß eine spöttische Bemerkung über die rechtgläubige Kirche ein ebenso ruchloses Verbrechen wie eine Körperverletzung die den Tod zu Folge hat, falls die Tötung nicht beabsichtigt war (vergl. §§ 182 mit §§ 1464). Eine öffentliche Schmähung der orthodoxen Kirche zieht dieselbe Strafe nach sich wie die Errichtung einer Bande Falschmünzer, Räuber oder Brandstifter (vergl. § 178 mit § 924). Ferner ist die Strafe für eine öffentliche, in der Kirche erfolgte Schmähung der »körperlosen Himmelsmächte« oder der »Heiligen Gottes und ihrer Abbildungen«, ebenso groß wie die für vorsätzliche Tötung, und nur um weniges milder als die Strafe für einen vorsätzlichen Mord, der an einem schwangeren Weibe bei völliger Kenntnis ihres Zustandes begangen wird (vergl. § 176 mit § 1452 und § 1454).

Es liegt mir ganz ferne, die in den citierten Paragraphen des russischen Strafkodex genannten Verbrechen beschönigen oder entschuldigen zu wollen, oder auch nur das Recht der Bestrafung anzuzweifeln. Ich will jedoch die Aufmerksamkeit des Lesers auf die grausame Ungerechtigkeit lenken, die meines Erachtens begangen wird, wenn solche Vergehen mit Raub und Mord auf eine Stufe gestellt werden. Die russischen Kirchen sind überfüllt mit sogenannten wunderthätigen Gnadenbildern, mit Abbildungen der Madonna und des »heiligen Gottes.« Ich sah so oft ich in eine russische Kirche eintrat – sogar in der Kathedrale des Heiligen Isaks zu St. Petersburg – den Rahmen des Ikons (Gnadenbildes) der Madonna, der auf einigen Stufen erhöht rechts vom Ikonostas steht, 92 zahlreiche Kleidungsstücke, wie Kopftücher, Taschentücher, Schürzen aufgehängt, die von ihren Eigentümern dahingegeben wurden, in der Hoffnung, daß sie durch die Berührung mit dem Ikon irgend eine Wunderkraft gewönnen. Ich glaube es wäre nichts besonderes, wenn da ein intelligenter Mensch, der dabei ein loyaler Bürger und guter Christ sein könnte, respektwidrig oder geringschätzend von dem von Juwelen strotzenden Bildnis spräche; und es könnte da leicht auch geschehen, daß er eine tadelnde Bemerkung gegen eine Kirche laut werden ließe, die einen solchen Schwindel nicht nur duldet, sondern sogar dazu aneifert. Ein solcher Mensch könnte nach § 177 des Strafkodex für seine Bemerkungen mit Verbannung für Lebenszeit nach dem fernsten Teile Sibiriens bestraft werden.

Im Jahre 1886 besuchte ich mit meiner Frau eine der bedeutendsten Kirchen Moskaus und sah dort wie eine Menge unwissende russische Bauern einer nach dem andern etwa zwanzig bis dreißig schwarze, verwitterte Knochenstücke die schachbrettartig zusammengesetzt waren, fromm küßten. Diese Knochen waren angeblich Fingerglieder, Zehenglieder und sonstige Überreste verschiedener »Heiligen Gottes«. Manche der Bauern küßten jeden Knochen der Reihe nach. Ich konnte mich da nicht enthalten meiner Frau gegenüber eine Bemerkung zu äußern, die bei den kirchlichen Behörden sicherlich als Schmähung gegolten hätte, und die mir, wäre ich russischer Unterthan gewesen, eine Verbannung nach Sibirien für die Lebensdauer, wenn nicht gar noch Zwangsarbeit hätte einbringen können.

Manche der Bräuche sind auch sehr gesundheitswidrig, besonders das Küssen der Heiligenbilder und Knochen. Dies mag vielleicht dazu beigetragen haben, unter den unwissenden Bauern des Zarenreiches die ansteckenden Krankheiten zu verbreiten und die entsetzlichen Verwüstungen, die die Diphtheritis in manchen Gegenden des europäischen Rußland angerichtet hat, mehr zu fördern. Ein poröser, teilweise morscher Knochen eines »Heiligen Gottes«, der von tausenden von Männern, Weibern, Kindern angehaucht und geküßt wird, muß mit 93 der Zeit zu einem Ansteckungsherd ärgster Art werden. Und der von der Geistlichkeit geförderte Glauben, daß das Küssen eines solchen Knochens ein gottgefälliges Werk sei und dem Menschen Heil bringe, scheint mir ganz besonders verächtlich und unsittlich zu sein. Wäre ich Russe und lebte ich in Rußland, ich würde sicherlich die erst beste Gelegenheit benutzen, um da meine Meinung kräftigst zum Ausdruck zu bringen. Dann würde ich wohl nach § 177 als Gotteslästerer verurteilt werden und mit Ketten beladen nach dem fernsten Teil Sibiriens verschickt werden.

Indes sind Schmähungen heiliger Personen oder Bräuche nicht alle Verbrechen, die nach Titel II als »Verbrechen gegen die Religion« gelten. Ein beträchtlicher Teil ist der Haeresia und dem Schisma gewidmet. Die grausamsten Strafen gelten da für Abschwörung des orthodoxen Bekenntnisses, Lostrennung von der rechtgläubigen Kirche, öffentliche Äußerung ketzerischer Anschauungen.

So bestimmt z. B. § 184, daß ein Jude oder Mohammedaner, der durch List oder Überredung einen rechtgläubigen Christen veranlaßt, die wahre Kirche zu verleugnen und den jüdischen oder mohammedanischen Glauben anzunehmen, alle bürgerlichen Rechte verlieren und für seine Lebenszeit nach Sibirien verbannt und zu Zwangsarbeit von nicht unter acht Jahren und nicht über zehn Jahre verurteilt werden soll.

Nach § 187 wird jeder, der einen Bekenner der orthodoxen Kirche überredet, oder zu überreden versucht, sie zu verlassen und einem anderen christlichen Bekenntnis sich anzuschließen, für die Lebensdauer nach Sibirien verschickt.

Im § 188 heißt es: »Wenn jemand die orthodoxe Kirche verläßt und sich einer anderen christlichen Kirche anschließt, so soll er der Kirchenbehörde zur Belehrung und Ermahnung zugewiesen werden. Seine minderjährigen Kinder sollen unter Vormundschaft der Regierung gestellt werden, sein Vermögen soll unter Kuratel kommen und er soll das Recht freier 94 Verfügung über beide erst dann wieder erhalten, wenn er seine Irrtümer abgeschworen hat.«

Eltern, welche verpflichtet sind ihre Kinder im »wahren Glauben« zu erziehen, die jedoch ihre Kinder nach den Lehren und Bräuchen einer anderen christlichen Kirche taufen oder erziehen lassen, sollen mit Gefängnishaft von nicht unter acht und nicht über sechzehn Monate bestraft werden. Während dieser Zeit sollen die Kinder »rechtgläubigen« Verwandten oder einem von der Regierung ernannten Vormund übergeben werden (§ 190).

Heiratet ein Jude oder ein Mohammedaner eine rechtgläubige Christin und werden die aus einer solchen Ehe hervorgegangenen Kinder nicht im orthodoxen Glauben erzogen, oder werden ihnen in der Ausübung der Lehren und Bräuche der orthodoxen Kirche Hindernisse gestellt, so soll die Ehe für ungültig erklärt werden, und der Verbrecher für lebenslang nach dem fernsten Teil Sibiriens verschickt werden (§ 186).

Wer zur Ausbreitung bestehender Sekten beiträgt, oder zur Gründung neuer, die der orthodoxen Kirche feindlich oder nachteilig sind, der verliert alle bürgerlichen Rechte und wird für seine Lebenszeit nach Sibirien oder Transkaukasien verbannt (§ 196).

Im Kaukasus, wie in allen Teilen Sibiriens fand ich zahlreiche Leute, die nach diesem Paragraphen verurteilt wurden. Die Zeugnisse der Civilbehörden und Militärbehörden stimmen überein, daß diese andersgläubigen Christen den ehrenhaftesten, mäßigsten und fleißigten Teil der Bevölkerung jener Gegend bilden, in die sie verbannt wurden. Der Isprawnik von Werkni Udinsk, Ostsibirien, meinte, als er mit mir von drei oder vier Ansiedelungen Andersgläubiger seines »Okrugs« (Bezirks) sprach: »Wenn nur die ganze Bevölkerung meines Bezirkes aus verbannten Ketzern bestände! Dann könnte ich das Gefängnis schließen und hätte damit nichts weiter zu thun. Sie sind die besten Leute in meinem Amtsbereich.« Es ist wohl unnötig auch nur ein Wort anzuwenden um auf 95 die grausame Ungerechtigkeit hinzuweisen, die darin liegt, daß man so nützliche Bürger nach der entlegensten Gegend Sibiriens verbannt, weil sie keine Gnadenbilder verehren, keine Knochenreste küssen, oder weil sie sich mit zwei Fingern bekreuzten, statt mit dreien.

Leicht wäre es noch viele Seiten mit Beispielen der Ungerechtigkeit und der Willkür anzufüllen, die charakteristisch sind für die Bestimmungen für religiöse Verbrecher im russischen Strafkodex. Jeder Paragraph ist mit Drohungen von »Kerker«, »Verbannung«, »Zwangsarbeit« angefüllt und das Ganze scheint vom Geist der Frömmelei und Unduldsamkeit durchsetzt zu sein. Solche Gesetze mögen vielleicht in einem Strafkodex des Mittelalters natürlich scheinen; allein in einem Gesetzbuch, das im Jahre des Heils 1885 in der Hauptstadt eines sogenannten »Christlichen Staates« »revidiert und verbessert« wurde, stehen sie im sonderbarsten Widerspruch mit dem Zeitgeist.


Der kürzeste Teil des russischen Strafkodex ist der, der sich mit den »Verbrechen gegen den Staat« beschäftigt, oder, genauer gesagt: mit dem »Verbrechen gegen den Selbstherrscher des Reiches und sein Ansehn.« Dieser Teil enthält nur dreiundzwanzig Paragraphen und nimmt von den siebenhundert Seiten des Werkes nur zehn ein. Allein dieser geringe Umfang wird durch die Strenge der Strafen mehr als ausgeglichen. Er beginnt mit einer kurzen aber sehr deutlichen Bestimmung:

»Jeder arge Anschlag und jeder verbrecherische Angriff auf das Leben, das Wohl oder die Ehre des Zaren, jede Absicht ihn zu entthronen oder seine allerhöchste Gewalt in ihrer freien Ausübung zu hindern oder einzuschränken, jede Gewaltthat gegen seine geheiligte Person soll für den Verbrecher mit Verlust aller bürgerlichen Rechte und mit der Todesstrafe verbunden sein.«

Um kurzweg zu Tod verurteilt zu werden ist es also gar nicht nötig, daß der Verbrecher seiner That überführt werde; 96 und selbst wenn dies erfolgt, so muß sie just nicht gegen des Zaren Wohl oder Leben gerichtet sein. Es genügt um zu Tode verurteilt zu werden, daß jemand nur plane, nur die Absicht habe des Zaren »allerhöchste Gewalt einzuschränken«, nicht seine »geheiligte Person« anzutasten. Das bekundet auch § 242 wo es heißt:

»Ein arger Anschlag . . . soll als wirkliches Verbrechen gelten, nicht nur wenn der Verbrecher versucht hat einen solchen Anschlag auszuführen, sondern auch in allen Fällen . . . wo er einen solchen Gedanken oder Anschlag in Wort oder Schrift zum Ausdruck gebracht hat.«

In den §§ 243 und 244 wird die Todesstrafe für Personen bestimmt, die an argen Anschlägen oder erwiesenen verbrecherischen Thaten wider den Zaren Anteil nahmen. Ferner für alle Personen, die den Mißgesinnten oder Missethätern Zuflucht gewähren, für alle die von so argen Plänen oder Thaten Kenntnis haben und es unterlassen, die Behörde davon zu verständigen, endlich für alle, die eine Gewaltthat gegen einen Soldaten oder eine Schildwache anwenden, die zum Schutze des Zaren oder eines Mitglieds des kaiserlichen Hauses bestimmt ist. Das ganze erworbene oder ererbte Vermögen solcher Leute wird vom Staate konfisziert.

Paragraph 246 stellt fest, daß jeder, der beleidigende Worte gegen den Zaren gebraucht, oder absichtlich dessen Bild, Statue, Büste, oder eine anderartige öffentliche Darstellung seiner geheiligten Person beschmutzt oder zerstört als Majestätsverbrecher zum Verlust aller bürgerlichen Rechte, zur Verbannung für die Lebensdauer und zu Zwangsarbeit von nicht unter sechs Jahren und nicht über acht Jahren verurteilt werden soll.

Paragraph 249, der von den politischen Verbannten wegen seiner Dehnbarkeit »Omnibusparagraph« genannt wird (vom lateinischen omnibus = mit allen) verhängt über Aufruhrstifter, Helfer, Hehler und Mitwisser die Todesstrafe.

Laut § 266 soll jeder, der eine schriftliche oder gedruckte Aufforderung verfaßt, die geeignet ist zu Aufruhr oder 97 Ungehorsam zu verleiten, zum Verlust aller bürgerlichen Rechte, zur Verbannung für die Lebensdauer und zu Zwangsarbeit von nicht weniger als acht Jahren und nicht mehr als zehn Jahren verurteilt werden.

§ 252. Wer ein Druckwerk oder ein Schriftstück verfaßt oder verbreitet, oder eine öffentliche Rede hält, das zwar nichts unmittelbar und deutlich zum Aufruhr gegen die allerhöchste Gewalt verleiten will, aber dennoch die Unverletzlichkeit dieser allerhöchsten Gewalt anzuzweifeln oder zu bestreiten versucht, oder die laut Staatsgrundgesetze bestehende Regierungsform, oder die bestimmte Thronfolge zu verdammen sich erkühnt, der soll verurteilt werden, zum Verlust aller bürgerlichen Rechte, zur Verbannung für die Lebensdauer und zu Zwangsarbeit von nicht unter vier Jahren und nicht über sechs Jahren. Jeder der im Besitze eines solchen Druckwerks oder Schriftstücks betroffen wird, ohne von der Behörde dazu die Erlaubnis zu haben, soll mit Gefängnishaft von nicht unter sieben Tagen und nicht über drei Monaten bestraft werden und dann für die Zeit von nicht unter ein Jahr und nicht über drei Jahre unter Polizeiaufsicht gestellt werden.

Der Betroffene kann in letzterwähntem Falle entweder in seinem Wohnorte unter Polizeiaufsicht gestellt werden, oder auch in einem etliche tausend Kilometer entfernten sibirischen Dorf, wohin er »auf administrativem Wege« verschickt wird.

Man braucht nur diese Gesetze zum Schutz der geheiligten Person des Zaren, seiner Würde und allerhöchsten Gewalt, mit jenen zu vergleichen, die im »Titel« X enthalten sind und den Schutz der persönlichen Rechte von Privaten behandeln, um deren besondere Strenge recht zu erkennen. Ein Vergleich wird zeigen, daß die Beschimpfung eines öffentlich aufgestellten Bildnisses des Zaren, ein größeres Verbrechen ist, als wenn man eine Privatperson anfällt und ihr die Augen, die Zunge, einen Arm, ein Bein oder das Gehör vernichtet.

Wer einen Verein gründet, oder einer Verbindung 98 angehört, wo eine Änderung der Regierungsform erstrebt wird, sei dies auch ohne Gewaltmittel und ohne direkte That, der begeht ein ärgeres Verbrechen, als wenn er eine Person derart mißhandelt, daß sie dadurch teilweise ihre Geisteskraft verliert. (Vergl. § 250 mit § 1490.) Eine Rede halten, oder ein Buch schreiben, worin die Rechte oder Vorrechte der allerhöchsten Gewalt auch nur bezweifelt wird, ist kein geringeres Verbrechen als die Schändung eines Weibes (vergl. § 252 mit § 1525). Wer eine Person verbirgt, die Böses gegen des Zaren Leben, Wohl oder Ehre plant; wer einer Person Unterkunft giebt, die die Rechte und Vorrechte der »allerhöchsten Gewalt« einzuschränken strebt – der begeht ein größeres Verbrechen als der Muttermord ist (vergl. § 243 mit § 1449). Und wenn einer eine Karikatur des Zaren zeichnet oder verbreitet, die bestimmt, die Achtung vor ihm und seiner Regierung zu verringern, so verübt er eine ruchlosere That als der Kerkermeister, der in einer Zelle ein gefangenes hilfloses Mädchen von fünfzehn Jahren so lange notzüchtet bis es stirbt. (Vergl. § 245 mit §§ 1525–1527).

Wenn die intelligenten und freiheitsliebenden Klassen des russischen Volkes, trotz der erwähnten schrecklichen Strafen, doch nicht unterlassen, sich zu verbinden, um eine Änderung des herrschenden Regierungssystems herbeizuführen; wenn sie trotzdem die »Unverletzlichkeit« der von der allerhöchsten Gewalt ausgeübten Rechte und Vorrechte bezweifeln oder bestreiten – so müssen sie sicherlich nicht weniger Mut als Gesinnungstreue haben.

Die russische Regierung sagt zu ihrer Verteidigung, daß sie die Gesetze nicht buchstäblich deute, daß sie auch nicht mit unerbittlicher, ausnahmsloser Strenge diese Gesetze gegen alle politischen Verbrecher in Anwendung bringe, aber dies ändert einmal nichts an der Thatsache, daß diese Strafbestimmungen auf den Blättern eines erst 1885 erschienenen Gesetzbuches stehen.

Es ist unnötig hier auch die Einzelheiten der Gesetzgebung in erörtern, die von den Verbrechen und Vergehen gegen die 99 Regierungsgewalt und gegen kaiserliche und lokale Behörden handeln. Ihre Form und ihr Geist kennzeichnen sich in dem citierten Paragraphen des dritten Hauptabschnittes. Es dürfte daher genügen, wenn ich nur bemerke, daß wahrscheinlich noch nie Gesetze erklügelt wurden, die geeigneter wären, die persönlichen Rechte, oder das Selbstbestimmungsrecht des Volkes zu unterdrücken. Sie machen nicht nur jede Vereinigung unmöglich, die einzelne Bürger beabsichtigen, um die Tyrannei einzuschränken – sie bestrafen schon eine einfache Kritik eines Gesetzes oder einer Thätigkeit der Behörden mit Verbannung und Kerker. So heißt es § 281: »Wer schuldig befunden wird, Schriftstücke verfaßt oder verbreitet zu haben, die sich in unerlaubter Kritik der Verordnungen und Maßregeln der Behörden ergeht, soll mit Gefängnis von nicht unter sechzehn Monaten und nicht über zwei Jahre bestraft werden.«

§ 1035. Alle Personen, die . . . Bemerkungen drucken lassen, welche geeignet sind, den Glauben oder das Vertrauen des Volkes an die Reichsgesetze zu erschüttern; oder die sich erlauben die bindende Kraft solcher Gesetze zu bezweifeln oder zu bestreiten, ferner die Handlungen billigen, welche durch diese Gesetze verboten sind, mit der Absicht diese Gesetze in Mißachtung zu bringen – sollen verurteilt werden zu einer Gefängnishaft von nicht unter zwei Monaten und nicht über sechzehn Monaten.«

Ein Amerikaner kann sich einen Staat kaum vorstellen, in dem es »nicht erlaubt« ist eine persönliche Meinung über die Maßregeln der Regierung öffentlich zum Ausdruck zu bringen; oder in dem es einigen Bürgern Gefahr bringen kann, wenn sie sich in einem Privathause friedlich versammeln, um öffentliche Angelegenheiten zu besprechen.

»§ 320. Wer einer Verbindung angehört, die in irgendeiner Weise der Regierung ihre Existenz zu verheimlichen sucht, oder die ihr Wesen, ihre Zwecke, ihre Versammlungen, ihre Beratungsgegenstände, oder die gegenseitigen Beziehungen ihrer Mitglieder verheimlicht; wer heimlich Tendenzen irgendeiner 100 Art verbreitet – der soll verurteilt werden zur Festungshaft von nicht unter vier Monaten und nicht über acht Monaten; oder je nach den Umständen, zu Gefängnishaft von nicht unter einer Woche und nicht über drei Wochen.«

Natürlich unterliegen alle Personen, die sich zu irgendeinem Zwecke regelmäßig in einem Privathause versammeln, der Anklage laut dieses Paragraphens. Wenn ihre Versammlungen die Aufmerksamkeit der Geheimpolizei auf sich gezogen haben, so werden sie überwacht, was immer mehr oder minder mit Unannehmlichkeiten verbunden ist. Ich kenne eine Herrengesellschaft in St. Petersburg, die in bestimmten Zeiten zusammenkommt um öffentliche Angelegenheiten zu besprechen und die keineswegs Revolutionäre oder sonstige Verschwörer sind. Um weder der Dienerschaft noch der Polizei Anlaß zu geben, sie für verdächtig zu halten, gelten diese Abende als Spielpartien gewidmet. Ein Spielklub ist der Regierung etwas Unschuldiges, Ungefährliches; eine Privatgesellschaft jedoch, die sich mit öffentlichen Angelegenheiten beschäftigt, ist eine gefährliche Bedrohung der Gesellschaftsordnung, der Rechte und Vorrechte allerhöchster Gewalt.

Nach den Reformgesetzen Alexanders III. müssen gewisse Versammlungen wie die des Adels, des Stadtrates, des Provinzialrates anerkannt und geduldet werden. Es wird jedoch die möglichste Vorsicht angewendet, um zu verhindern, daß da Regierungsangelegenheiten besprochen werden, daß ferner in den Sitzungsprotokollen etwas Platz finde, was die »öffentliche Ordnung« stören könnte. Titel VIII § 1038 enthält der Strafkodex die Bestimmung: »Wer ohne Erlaubnis des Ortsgouverneurs das Protokoll der Sitzung irgendeiner Adels- oder Provinzial- oder Stadtrats-Versammlung drucken läßt und veröffentlicht, soll zu einer Geldstrafe von 300 Rubel, oder zu drei Wochen Gefängnishaft, oder zu beiden Strafen verurteilt werden.

Erwägt man nun, daß der russische Beamte alles nach einem gleichen System ordnen will und mit seinen Verfügungen 101 und Maßregeln an vielen Stellen ins Privatleben eingreift und das Gehaben des einzelnen überall bevormundet, so läßt sich leicht begreifen, wie es Leuten zu Mute sein muß, deren Angelegenheiten derart »geregelt« werden, und denen das Recht freier Äußerung völlig unterdrückt wird. Und das Opfer einer thörichten Tyrannei kann nicht einmal einen Widerspruch wagen: es muß schweigen, sich drücken und dulden.

Oft wurde ich in Amerika gefragt: »Warum verlassen denn die intelligenten, freiheitlich gesinnten Russen ein derartiges Land nicht?« Dafür mag es so manche Antwort geben, die deutlichste dürfte wohl die §§ 325–328 des russischen Strafkodex sein:

»§ 325. Wer das Vaterland verläßt und ohne Erlaubnis der eigenen Regierung in einen fremden Staatsdienst tritt, oder Unterthan eines andern Staates wird, der soll wegen Verletzung der Unterthanentreue und des Huldigungseides alle bürgerlichen Rechte verlieren und für ewige Zeiten Landes verwiesen werden. Kehrt er zurück, so soll er für die Lebensdauer nach Sibirien verbannt werden.«

»§ 326. Wer das Vaterland verläßt und trotz Aufforderung der Regierung nicht heimkehrt, soll für diesen Ungehorsam alle bürgerlichen Rechte verlieren und für ewig Landes verwiesen werden, wenn er nicht innerhalb einer, vom Gerichtshof nach bestem Ermessen bestimmten Frist beweist, daß sein Ungehorsam durch Umstände veranlaßt wurde, die er nicht überwinden konnte, oder die sein Verschulden mildern. Solange er diesen Beweis nicht erbringt, soll er als vermißt gelten und sein Besitztum unter Staatskuratel gestellt werden.«

»§ 327. Wer ohne Bewilligung der Regierung und ohne triftigen Grund länger im Auslande lebt, als es Personen seines Standes gesetzlich erlaubt ist, der soll gleichfalls als vermißt gelten und sein Besitztum unter Staatskuratel gestellt werden.«

»§ 328. Wer einen Unterthan des Reiches zur Auswanderung nach einem anderen Staat verleitet, der soll zur 102 Zwangsarbeit in einer Strafabteilung für die Dauer von nicht unter 12 Monaten und nicht über 18 Monaten verurteilt, oder für die Lebenszeit nach Sibirien verschickt werden.«

Auf Grund des citierten § 326 wurde der Dichter Turgenjeff, als er 1863 in Paris lebte nach St. Petersburg berufen, um sich vor dem Appellsenat für irgendeine seiner schriftlichen oder mündlichen Äußerungen zu verantworten. Aus einem Briefe, den er seinem Freunde Annenkoff schrieb, läßt sich erkennen wie schwer ihm das Gehorchen fiel und in welcher demütigenden Form er dazu aufgefordert wurde. Aber er gehorchte.

Die Regierung gestattet ihren Unterthanen nicht, ohne ihre Erlaubnis ins Ausland zu gehen, oder im Auslande zu leben. Wenn daher ein Russe in einem freien Lande Zuflucht gegen die Bedrückung sucht, so muß er darauf gefaßt sein, als Landesverwiesener zu gelten, beraubt und nach Sibirien verschickt zu werden wenn er je heimkehrt. Nur wenige wollen sich für die Lebenszeit von allen Verwandten und Bekannten trennen, von allem was ihnen teuer ist. Was kann er also thun, wenn er das Joch zu arg fühlt? Sich fügen oder kämpfen! Und wenn sie sich nicht fügen wollen und durch den Strafkodex verhindert werden der Tyrannei einen friedlichen, vereinten Widerstand zu bieten, so bleibt ihnen nichts übrig als Gewalt anzuwenden, einzeln oder in kleinen Gruppen zu kämpfen, wie es jetzt geschieht, zu kämpfen – bis sie gefesselt nach Sibirien ziehen, oder einen schimpflichen Tod am Galgen erleiden.

 

Ende.

 


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