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Am begierigsten war ich, näheres über das Leben und Treiben jener Gefangenen zu erfahren, die politischer Vergehen wegen, zur Zwangsarbeit verurteilt wurden. Gemeine Verbrecher, Mörder, Diebe, Fälscher u. s. w., die zur Zwangsarbeit bestimmt waren, konnten wir endlich auch in anderen Teilen Sibiriens sehen, aber politische KatorzhnikiZur Zwangsarbeit verurteilte Sträflinge. Siehe 1. Teil, Seite 46. waren nur im Karagebiet zu finden, in den Gefängnissen und in den Holzhütten des »freien Kommandos«. Es galt uns nun vor allem, uns da und dort den Zutritt zu verschaffen und wir hofften, daß es uns gelingen werde, denn wir waren nicht mehr die harmlosen, unerfahrenen Reisenden, die mit ihren Empfehlungsbriefen und amtlichen Bewilligungen ihren Zweck vollends zu erreichen wähnten und ohne diese nichts zu unternehmen wagten. Wir hatten während eines halben Jahres genug erfahren und erprobt, um zu wissen, wie man mit mißtrauischen Polizeileuten und Gendarmen verkehren müsse und diese Erfahrungen wurden durch manchen nützlichen Wink, den uns politische Verschickte gaben, bereichert.
66 Hier schien mir das geeignetste, recht viel Verbindungen mit Amtspersonen anzuknüpfen, durch behutsames Fragen und Forschen über die hier herrschenden Verhältnisse ins klare zu kommen, mit nichts ein Interesse für die politischen Sträflinge erkennen zu geben und abzuwarten, bis sich der Zufall unserer Absicht günstig zeigt. Wir besichtigten daher vorerst nur die Gefängnisse der gemeinen Sträflinge und die Goldgruben, verkehrten freundlich mit den Beamten, ganz besonders mit dem Major Potuloff und seiner schönen Frau. In kurzer Zeit war mir klar, daß es ganz vergeblich wäre, die Erlaubnis zu erbitten, um mit den politischen Sträflingen zu verkehren, sondern wir dieses nur im geheimen bewerkstelligen könnten. Ganz unbekannt waren mir die Verhältnisse eigentlich nicht. Ihren Namen und ihren Schicksalen nach kannte ich die meisten politischen Sträflinge; an eine derselben, an Fräulein Natalie Armfeldt, hatte ich ein Empfehlungsschreiben mit; auch besaß ich eine Planskizze der »Unteren Goldwäscherei«, wo auch die Hütte, die sie mit ihrer Mutter im »freien Kommando« bewohnte, verzeichnet war. Allein ein heimlicher Besuch war nicht möglich, in diesem mit Kosaken und Gendarmen vollgestopften Nest, wo jede Bewegung des Fremden beobachtet und wo er neugierig begafft wurde, als wäre er ein Wundertier. Und noch ein zweiter Übelstand stellte sich unserer Absicht entgegen. Major Potuloff wich nicht von unserer Seite! Von der Stunde an, wo wir bei ihm einkehrten, widmete er sich mit Vernachlässigung alles anderen ganz uns; er blieb daheim, wenn wir daheim blieben, er ging mit uns aus, wenn wir dazu Lust zeigten. Ich brauchte nur nach Hut und Überrock zu schauen und er bemerkte schon: »Sie wollen ausgehen? Ich will Sie ein wenig begleiten.« – Uns blieb natürlich nichts anderes übrig, als gute Miene zu machen und diese Begleitung anzunehmen. Zweifellos wollte er, daß wir dort nicht selbständig nachforschen nach Dingen, die er unseren Blicken am liebsten entzogen wissen wollte. Ich konnte mich recht gut in seine Situation hineindenken und es 67 war mir gar nicht lieb, daß er zufolge unserer Anwesenheit eine gewisse Störung empfinden mußte, allein unserer Sache zuliebe, mußte ich es selbst darauf ankommen lassen, ihn zu täuschen, so weit dies ehrlicher und anständiger Weise zulässig war. Daß beides für uns, die seine Gäste waren, nur sehr schwer sich vereinigen läßt, wußte ich recht gut und das machte auch unsere Situation recht unbehaglich. Und doch wäre es uns nicht möglich gewesen, auf andere Art zum Ziel zu gelangen. Hätten wir ihm nun einfach gesagt, wir wollten die Bewohner des »freien Kommandos« besuchen, so hätte er uns zweifellos entschieden davon abgeraten und dann wäre es uns nicht mehr möglich gewesen, diesen Besuch ohne sein Wissen vorzunehmen; ich beschloß daher die Ausführung vorzunehmen, ehe er mich auf irgend eine Art daran verhindern konnte. Natürlich mußte das in einer Weise geschehen, die unserem freundlichen Wirt durchaus nicht zur Last werden durfte und die Folgen der Entdeckung dieses Verkehrs einzig nur uns treffen sollten. Auf unsere Absichten lieber zu verzichten, mochte ich doch nicht; endlich wurde uns diese Gastfreundschaft, die hier das Haupthindernis bildete, doch nur aufgenötigt.
So wartete ich auf die günstige Gelegenheit zur Durchführung meiner Absicht, der sich anfangs eine Fülle von Schwierigkeiten boten. Am zweiten Tage nach unserer Ankunft in Kara besuchte uns der Gendarmeriehauptmann Nikolin. Er hatte von unserer Ankunft Kenntnis erhalten und wollte vermutlich nun selbst erfahren, was uns eigentlich hierhergeführt haben mochte. Obgleich er auf mich keinen sympathischen Eindruck machte, war ich doch erstaunt über die beleidigende Kälte mit der ihn der Major in seinem Hause aufnahm. Auf den ersten Blick hin konnte ich erkennen, daß die beiden Männer nicht die freundlichsten Gefühle für einander hegten und es machte mich nachdenklich, welch' wichtiger Umstand es eigentlich sein mag, der den Hauptmann veranlaßte, sich einer Behandlung auszusetzen, die jeder andere wie einen Schlag ins Gesicht empfunden hätte. Aber russische Gendarmerieoffiziere 68 können schon ziemlich viel vertragen, gilt es irgend einen Zweck zu erreichen! Hauptmann Nikolin wollte uns persönlich kennen lernen und da hielt ihn der frostigste Empfang des Majors nicht ab, freundlich wie ein Maientag zu scheinen. Ich hielt es für das geeignetste, ihm, soweit es den Hausherrn nicht verletzen konnte, eine freundliche Miene zu zeigen, ich dachte, das müsse ihm unter den gegebenen Verhältnissen ganz besonders schmeicheln und günstig für uns stimmen. Ich hatte auch später keinen Grund anzunehmen, daß ich mich bei dieser Annahme getäuscht. Hauptmann Nikolin mochte unser freundliches Benehmen recht angenehm empfinden und als er wieder fortgehen wollte, drückte er mir zum Abschied recht warm die Hand und gab der Hoffnung Ausdruck, uns recht bald wieder zu sehen. Eine direkte Einladung mochte er in der Anwesenheit des Majors nicht recht wagen, und auch wir vermieden es, einen Besuch zu bestimmen, obgleich wir diesen in Absicht hatten und ausführen wollten, sobald es uns nur gelänge, für einige Zeit unseres steten Begleiters los zu werden. Major Potuloff vermied es aus Zartgefühl oder Klugheit, auch nur ein Wort über den Hauptmann zu äußern, nachdem sich dieser entfernt hatte. Später konnte ich aus den Gesprächen mit anderen Offizieren erfahren, daß beide einander ziemlich feindlich gesinnt seien und daß der Hauptmann überhaupt von allen Offizieren der Garnison, als Angeber und Spion gehaßt und verachtet wurdeÜber die Organisation der russischen Gendarmerie s. 1. Teil, 10. Kapitel..
»Er berichtet über unser ganzes Thun nach Petersburg,« bemerkte mir einer der Offiziere, »aber mir ist nichts daran gelegen und ich fürchte ihn ganz und gar nicht. In den letzten drei Jahren haben wir nacheinander schon vier oder fünf Gendarmerieoffiziere als Kommandanten der politischen Gefangenen hier gehabt, aber der ist der ärgste von allen.«
Dergleichen Erfahrungen machten natürlich unsere Situation 69 noch schwieriger; ich wußte, daß Nikolin es sicherlich sofort erführe, wenn ich mit den politischen Gefangenen des »freien Kommandos« in Verbindung getreten wäre, daß er höchst wahrscheinlich sogleich davon Meldung in Petersburg machen und dies zweifellos ausnützen würde, um seinem Feinde, dem Major Potuloff zu schaden. Und so hätte ich dem Manne gegenüber, dessen Gastfreundschaft wir genossen, dies verschuldet. Und nicht nur das, noch ärgeres konnten die Folgen sein! Der Gendarmeriehauptmann war, wie ich vernommen hatte, ein Feind der Institution des »freien Kommandos« und er bemühte sich auch wiederholt, um dessen Aufhebung zu erreichen; mein heimlicher Verkehr mit jenen Leuten hätte ihm als Waffe zur Bekämpfung dieser Einrichtung dienen können, er wäre in der Lage gewesen dem Minister des Innern zu berichten: »Die Absicht der Regierung ist, den gefährlicheren Teil der Sträflinge von jedem gesellschaftlichen Verkehr fern zu halten, dies zu erreichen, ist mir unmöglich, wenn die politischen Sträflinge im »freien Kommando« wohnen und dort Besuche fremder Reisende erhalten können. Sibirien wird jetzt häufiger als früher bereist und das Karagebiet ist nun keineswegs mehr so fern von allem Verkehr, wie einst. Wenn selbst die kaiserlichen Offiziere, wie Major Potuloff z. B. fremden Reisenden den Verkehr mit den politischen Sträflingen erleichtern, so muß die Regierung die Absicht der Isolierung aufgeben, oder das »freie Kommando« als schädlich beseitigen und die Verbrecher wieder in den Gefängnissen einschließen.«
Was nach einem derartigen Bericht erfolgen kann, läßt sich sehr leicht erraten. Mein heimlicher Besuch hätte nicht nur den Major Potuloff geschädigt, sondern auch jene, die im »freien Kommando« wohnen; ich wäre die Ursache, daß sie wieder in das Gefängnis zurückkehren müßten. Der Gedanke, daß ich dazu beitragen könnte, das Unglück dieser Armen noch zu vergrößern statt zu verringern, schuf mir eine bange, schlaflose Nacht, in der ich die Sache auch nach jeder Richtung hin in Erwägung zog, und dabei mußte ich immer 70 wieder zu dem Schlusse kommen, daß ich die Bekanntschaft der politischen Gefangenen im Karagebiet machen müsse und, daß dies in einer anderen Weise kaum möglich werden könne, als in jener, die ich ursprünglich in Absicht hatte. Es galt daher abwarten, um im gegebenen Augenblick mich der Aufmerksamkeit des ebenso freundlichen wie wachsamen Majors zu entziehen.
Fünf Tage verstrichen, ohne daß es mir gelang nur ein einziges Mal unbegleitet das Haus verlassen zu können. Am sechsten Tag bot sich endlich die Gelegenheit, da Potuloff genötigt war nach Ustj-Kara sich zu begeben um hier die Untersuchung einer Feuersbrunst vorzunehmen, die vor kurzer Zeit ein großes Mehlmagazin der Regierung zerstörte.
Die Geschichte dieser Feuersbrunst giebt übrigens einen Beweis der Entsittlichung, der Bestechlichkeit russischer Beamter, was in Sibirien noch viel deutlicher als anderwärts zu erkennen ist. Das Magazin sollte zur Zeit, als es niederbrannte, 20 000 Pud Mehl enthalten, doch nach dem Brande stellte es sich heraus, daß kaum mehr als 20 Pud vorhanden waren und diese gehörten einem Privatmann, der sie nur zufällig in dem leerstehenden Magazin eingelegt hatte. Von den 20 000 Pud war keine Spur zu finden und es stellte sich denn heraus, daß das Mehl von irgend einer Seite unterschlagen wurde und das Gebäude in Brand gesteckt, um den Diebstahl zu verhüllen. Einige Monate später hörten wir. daß auch Major Potuloffs Haus, wo sämtliche Akten der Untersuchung dieses Falles aufbewahrt wurden, plötzlich ein Raub der Flammen geworden, was zweifellos von jenen veranlaßt wurde, die guten Grund hatten, die Angelegenheit zu beseitigen.
Kaum eine Stunde nach der Abfahrt des Majors machte ich mich auf den Weg, die politischen Gefangenen des »freien Kommandos« aufzusuchen; einige Geschenke, die für sie bestimmt waren, verbarg ich zwischen Futter und Oberstoff meines Pelzrockes, ebenso die Schriften, die ich bei mir hatte.
71 Es war die zweite Nachmittagsstunde. Major Potuloff äußerte sich, er werde erst am folgenden Nachmittag zurückkehren, ich war daher 24 Stunden ohne Aufsicht, was ich nach Möglichkeit benützen wollte. Vor allem beschloß ich, Hauptmann Nikolin aufzusuchen um dort die günstige Meinung, die er von uns haben könnte, noch zu befestigen. Abends wollte ich mich dann von seiner Wohnung aus direkt zu dem erwähnten Fräulein Armfeldt begeben. Ich dachte, es würde Nikolin schmeicheln, wenn ich die erste Stunde, wo es mir möglich geworden, benützte, um ihn zu besuchen, und dann meinte ich auch, mein Besuch bei dem Fräulein würde weniger auffallend sein, wenn mich dabei die Leute vom Hause des Kommandanten kommen sähen. Sie würden vielleicht glauben, es geschähe mit Wissen des Hauptmanns, dem es daher nicht gemeldet werden müsse.
Hauptmann Nikolin, ein Mann in den fünfziger Jahren mit Kahlkopf, grauem Vollbart, schmalen, festgeschlossenen Lippen und kaltem Gesichtsausdruck, war einer der schlausten und erfahrensten Gendarmerieoffiziere; er hatte unter General Murawieff, dem »Henker Polens«, seine Schule genossen und stand schon dreißig Jahre im Dienst.
Auch er besaß jene geschmeidigen, höflichen Umgangsformen, die bei russischen Gendarmerieoffizieren gewöhnlich zu finden sind, was jedoch nicht hinderte, daß die ungünstige Meinung, die ich von ihm schon bei der ersten Begegnung gefaßt hatte, jetzt noch verstärkt wurde. Wie sehr er sich auch bemühte freundlich zu erscheinen, wie herzlich er mich auch begrüßte – es lag in seinem Blick etwas Lauerndes, was deutlich zu erkennen gab, daß all die schönen Worte und das Lächeln nichts anderes als Maske sei, hinter der sich sein eigentlicher Charakter verstecke. So viel ich von diesem zu erkennen glaubte, besaß er nur eine einzige Schwäche: die Eitelkeit ob der Wichtigkeit und Bedeutung seiner hiesigen Stellung. Es galt ihm für keine Kleinigkeit auf diesen Posten gestellt zu sein, wo er die Aufsicht über das bedeutendste Gefängnis Sibiriens hatte und 72 dabei keinem anderen untergeordnet war, als dem Minister des Innern in St. Petersburg, mit dem er auch direkt verkehrte, eine Ehre, die jener des direkten Verkehrs mit dem Zaren gleich gilt. Diese Eitelkeit wollte ich nun nach Möglichkeit benützen, um ihn günstig für mich zu stimmen. Ich entschuldigte mich, daß ich ihn nicht schon früher besucht, es wäre mir leider nicht möglich gewesen unter den bestehenden Verhältnissen. Er verneigte sich und bemerkte, daß er die Situation in der ich mich befinde, wohl zu würdigen wisse; dann lud er mich zu einer Tasse Thee ein.
Ein dampfender Samowar wurde herbeigebracht, die Tassen gefüllt, die Cigaretten angesteckt und dann begann ein lebhaftes Gespräch.
Ich gab in recht flotter Weise einige unserer Abenteuer in Sibirien zum Besten, und vergaß nicht zu erwähnen, daß ich Mitglied der geographischen Gesellschaft in Amerika sei, erzählte von meiner früheren Verbindung mit der russisch-amerikanischen Telegraphengesellschaft, von meinem Zeltleben in Kamtschatka, von meinem Verkehr mit Herrn Wlangalli, dem Sekretär des auswärtigen Amtes in Petersburg, letzteres um ihm anzudeuten, daß ich mit Wissen und Empfehlung der höchsten russischen Behörden nach Sibirien gereist wäre.
Er schien mir gerne zuzuhören und ich hatte bald meine ganze Lebensgeschichte erzählt. Nun fragte er mich, ob ich meine Reise durch Sibirien schriftstellerisch verarbeiten wollte, was ich mit dem Hinweis auf meine Stellung beim »Century Magazine« bejahte. Ich erwähnte, daß ich schon früher einiges über Sibirien veröffentlicht habe, was ihn interessierte. Ich lud ihn ein uns zu besuchen und die Skizzen meines Freundes Frost zu betrachten und ich bedauerte schließlich auch, daß er nicht Englisch verstehe, somit auch nicht in der Lage wäre, meine Aufsätze lesen zu können. Er meinte, sie dürften wohl auch ins Russische übertragen werden. Die Möglichkeit gab ich zu, zumal mein erstes Buch zweimal ins Russische übersetzt wurde. Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich sonst noch schwatzte, gewiß 73 ist, daß ich noch mit keinem Menschen der Welt so viel von mir selbst und meinen Angelegenheiten gesprochen habe, wie mit diesem Gendarmeriehauptmann.
Meine Offenheit und meine Plauderhaftigkeit schienen die von mir erwünschte Wirkung hervorzurufen: er wurde wärmer in der Rede, füllte meine Tasse wiederholt und als er dann merkte, daß ich nicht nur erzählen, sondern auch zuhören kann, erzählte er mir seine Lebensgeschichte, von seinem Avancement, seinen Orden, seinen Bezügen, wie lange er noch brauche, um pensionsberechtigt zu sein und erwähnte auch mit Stolz, er sei in ganz Sibirien der einzige Offizier mit Hauptmannsrang, der mit dem Minister des Innern direkt verkehre. Im Laufe des Gespräches kamen wir auf das Verbannungssystem zu sprechen und da mußte ich mich doch nicht wenig wundern, als er den Etappenhäusern alles üble nachsagte, und das Leben der Verschickten während des Transportes für ganz erbärmlich fand, ja überhaupt das ganze Verschickungssystem für verwerflich hielt.
Solche Äußerungen hatte ich an dieser Stelle sicherlich nicht erwartet. Doch gleich bedachte ich, ob das nicht alles eine Finte sei, ob er nicht mit derlei Worten meine Meinung herauslocken wolle. Ich ging immerhin auf das Gespräch ein, ohne erkennen zu lassen, wie wohlbekannt mir alle Verhältnisse wären; und ich unterließ es nicht, dabei auf die wenigen besseren Gefängnisse, die ich gesehen hatte, nachdrücklichst hinzuweisen. Ich erwähnte das neue Gefängnis zu Werkhin-Udinsk und stellte es als Beweis hin, daß die Regierung bemüht sei, das Gefängniswesen in Sibirien zu verbessern.
Nun kam er plötzlich auf die politischen Gefangenen des Karagebietes zu sprechen. Er versicherte, sie befänden sich in einer viel günstigeren Lage, als da häufig geglaubt wird. Sie wohnten in großen, hellen Zellen, müßten keine Zwangsarbeit verrichten, hätten Bücher zur Verfügung, dürften Gelder in Empfang nehmen und kämen endlich nach Ablauf einer 74 gewissen Zeit ins »freie Kommando«, wo sie ihr eigenes Haus bewohnen und ein Gärtchen dabei haben.
Ich drückte mein Staunen über diese milde Behandlungsweise aus und fragte, ob die politischen Gefangenen nicht in den Goldgruben arbeiten müßten.
»Gewiß nicht!« antwortete er. »Sie befinden sich in ihren bequemen Räumlichkeiten, lesen oder studieren dort, das ist alles.«
»Und dürfen sie mit ihren Bekannten und Verwandten im europäischen Rußland brieflich verkehren?« fragte ich.
»Warum nicht? Daß sie ungehindert schreiben können, darauf hab' ich, nachdem ich hierher kam, ganz besonders Rücksicht genommen. Natürlich lese ich die Briefe oder Postkarten, die sie absenden wollen, aber sie können schreiben so viel ihnen gefällt.«
»Bei uns in Amerika glaubt man,« bemerkte ich, »daß politische Verbrecher in Sibirien oft auch, an den Karren gefesselt, in den Gruben arbeiten müssen, wo sie ihre Tage im größten Elend verleben.«
Er sah mich an und lächelte überlegen, dann sprach er:
»Auch ich war früher ähnlicher Meinung und war ganz überrascht, als ich hier die Verhältnisse so günstig vorfand. Könnten Sie jetzt in die Zellen blicken, Sie würden dort die Gefangenen an einem großen Tisch sitzen sehen, mit Lesen oder Schreiben beschäftigt und Sie würden glauben, es wäre ein Bibliothekzimmer.«
Ich bemerkte, daß mich dieser Anblick freuen würde, es sei ein recht interessanter Gegenstand für einen Aufsatz, und ich fragte ihn, ob er mir erlauben wollte, das Gefängnis zu besuchen.
»Dazu bin ich nicht ermächtigt,« antwortete er zögernd, »aber einige Bücher können Sie sehen, wenn Sie wollen. Es sind sogar englische dabei.«
Er rief einen Soldaten herbei und gab ihm den Befehl 75 aus dem Gefängnis einige englische Bücher oder Zeitungen zu bringen.
Der Soldat folgte der Weisung und kam bald wieder mit einem Band Shelleys Gedichte und einer Nummer des Londoner Witzblattes »Punch«. Mit dem Lächeln eines Siegers überreichte sie mir der Hauptmann, dann sprach er wieder:
»Vor kurzem veranstalteten sie sogar eine Theatervorstellung in einer der Zellen und eine Zeitlang gaben sie auch eine geschriebene Zeitung heraus.«
Und nun brachte er seine Bücher herbei, um mir zu zeigen, wie viel Geld die Gefangenen im Laufe des Jahres von ihren Angehörigen erhalten haben. Nach seiner Berechnung waren es 6044 RubelAls ich auf der Rückreise wieder nach Irkutsk kam, lernte ich einen Beamten der Rechnungsabteilung kennen und fragte ihn gelegentlich, da ihm alle Berichte zugänglich waren, wieviel Geld die politischen Gefangenen im Karagebiet während der ersten zehn Monate des Jahre 1885 von ihren Angehörigen erhalten haben. Er prüfte die Belege und gab mir dann den Betrag von etwa 700 Rubeln an. Hauptmann Nikolin hatte mir daher falsche Zahlen angegeben, um in mir den Glauben zu erwecken, die politischen Gefangenen hätten die Mitteln, in verhältnismäßiger Behaglichkeit zu verleben. Ich zweifle nicht im geringsten, daß die mir von dem Beamten angegebene Ziffer die richtige war..
»Haben die Gefangenen freies Verfügungsrecht über diese Beträge?« war nun meine Frage.
»Sie haben es, aber sie bekommen das Geld nicht, sondern können nur verfügen, was dafür angekauft werden soll; und das geschieht auch, wenn es nicht Gegenstände betrifft, die nach den Vorschriften nicht zugelassen werden dürfen.«
Ich nahm diese Eröffnungen mit frohem Staunen entgegen; ich war ganz entzückt von dem Anblick des lieblichen Bildes, das der edelgesinnte Gendarmeriehauptmann vor meinen Blicken erstehen ließ: die glücklich-frohen Gefangenen, die in prächtigen Räumlichkeiten sitzen und zur Unterhaltung den »Punch« lesen, die wöchentlich eine Zeitung herausgeben und wenn sie guter Laune sind, Komödie spielen. Und ich war 76 dann wieder empört, daß die Gefangenen so viel Güte und Milde der väterlichen Regierung mit so viel Undank und niederträchtiger Empörung erwidern.
»Sie können sich gar nicht vorstellen,« sprach Nikolin zu mir, »wie verschmitzt diese Gefangenen sind und welche List sie zu ersinnen wissen, um Briefe in das Gefängnis oder aus dem Gefängnis zu schmuggeln. Wie würden Sie es z. B. anfangen, wenn Sie einen politischen Gefangenen genau durchsuchen müßten.
»Ich müßte ihn entkleiden lassen und sein ganzes Gewand durchsuchen.«
»Und dann?«
»Ich wüßte augenblicklich nicht, was noch?« antwortete ich.
»Würden Sie seine Ohren prüfen?«
»Nein, daran hätte ich kaum gedacht.«
»Würden Sie im Mund Nachschau halten.«
»Nein.«
»Den hohlen Zahn untersuchen?«
Ich bemerkte, daß mir nie der Gedanke gekommen wäre, in einem hohlen Zahn das Vorhandensein von Briefen anzunehmen.
»Nun sehen Sie!« rief er überlegen lächelnd aus. »Ich habe Gefangenen dünne Papierchen aus Ohren und Mund genommen, ich fand auch in einem hohlen Zahne eine Giftdosis verborgen.
»Ah! die Kerle sind schlau,« fügte er, die Hände reibend, dazu, »aber mich täuschen sie doch nicht!«
Ich erschrak, als mir da plötzlich einfiel, daß ich in meinem Rock manches verborgen habe, was nicht für den Anblick des Hauptmanns bestimmt war. Ich hatte den Rock im Vorzimmer abgelegt und vielleicht hatte der mißtrauische Offizier, der selbst hohle Zähne durchsucht, auch Auftrag gegeben, mein Kleidungsstück näher zu prüfen. Es wurde mir recht unbehaglich zu Mute; so oft die Thüre geöffnet wurde, schaute ich unwillkürlich hin, ob jetzt nicht der Inhalt meines Rockes 77 herbeigebracht werde. Doch zum Glück waren all diese Besorgnisse unnötig.
Hauptmann Nikolin erzählte mir noch manches von dem Leben und Treiben der politischen Gefangenen im Karagebiet. Vieles, was er da zum Besten gab, war Wahrheit; aber diese Wahrheit war so künstlich entstellt, daß er mich wahrscheinlich getäuscht hätte, wäre ich der harmlose Reisende gewesen, für den er mich zweifellos hielt.
Eine wunderliche Komödie, die sich zwischen uns abspielte!
Das Gefängnis der »Politischen« war mir fast so genau bekannt, wie dem Hauptmann selbst, unter den Schriften, die ich im Gürtel trug, befand sich auch ein genau gezeichneter Plan des Gefängnisses und ein Namensverzeichnis aller Insassen. Ich hätte Nikolin jeden Gegenstand, der sich in den Zellen befand, schildern können; ich wußte, was die Sträflinge als Nahrung und Kleidung bekamen und in welcher Weise sie die Zeit zubrachten; ich wußte auch, daß vier der Gefangenen an die Karren gefesselt waren, daß einige vor Leid wahnsinnig geworden – ich wußte alles, was sich in den letzten fünf Jahren hier ereignet hatte und konnte jede Behauptung Nikolins auf ihre wahre Bedeutung zurückführen. Nichtsdestoweniger saß ich als aufmerksamer Zuhörer da, heuchelte Empfindungen, die mir völlig fremd waren und gab mir den Anschein eines harmlosen, flotten Reisenden, der nichts verheimlichen kann und auch nichts zu verheimlichen braucht, der ganz verwundert ist, daß die Gefangenen nicht in feuchten Gruben an den Karren gefesselt, frohnden müssen, der recht erfreut ist, daß ihnen ein liebenswürdiger, edeldenkender Offizier vorgesetzt ist, der sie mit Güte und Milde behandelt.
Welche Meinung Hauptmann Nikolin von mir gewonnen hat, ist mir unbekannt geblieben, aber ich glaube, daß es mir gelungen ist, den geriebensten und rücksichtslosesten aller Gendarmerieoffiziere in Ostsibirien gründlich zu täuschen; und wenn es vielleicht doch nicht so ist, er hat mich wenigstens nicht zu hintergehen vermocht. Vom Standpunkt der Moral 78 läßt sich mein Vorgehen in diesem Falle freilich nicht recht günstig betrachten, allein ich konnte nicht anders, für mich stand alles auf dem Spiele. Bei meinem Gepäck, auf meinem Leibe befanden sich zahlreiche revolutionäre Schriften, Pläne der Gefängnisse, Abschriften amtlicher Dokumente, Briefe von politischen Sträflingen, ein ganzes Dutzend Taschenbücher mit Aufzeichnungen; nicht nur viele politische Verschickte, sondern auch zahlreiche wackere Beamte wären durch den Inhalt kompromittiert worden. Hätte ich nun Verdacht erregt und dadurch Anlaß gegeben, daß meine Sachen durchsucht wurden, so wäre nicht nur das ganze mühevoll gesammelte Material für mich verloren gewesen, sondern es wäre auch zur entgegengesetzten Absicht benutzt und dadurch jene Leute ins Verderben gestürzt worden. Diese Umstände mögen wohl mein listiges Vorgehen entschuldigen; die Existenz vieler war von meiner Sicherheit abhängig.
Gegen Abend verließ ich Hauptmann Nikolin und begab mich zu Fräulein Armfeldt, deren Hütte zwischen dem Gefängnis der Politischen und dem Hause des Majors Potuloff sich befand, nahe der Grenze der Unteren Goldwäscherei.
Fräulein Armfeldts Lebenslauf war mir einigermaßen bekannt. Sie war die Tochter eines bekannten russischen Generals und die Schwester der Schriftstellerin Frau Fedschenko, der Gattin eines bedeutenden russischen Gelehrten. Die Familie war reich, vom Adel und hatte bedeutende Verbindungen; das Fräulein und auch ihre Mutter waren unter anderem auch mit dem russischen Dichter Grafen Leo Tolstoi befreundet. Sie sprach französisch, deutsch, englisch, zeichnete, malte, sie war kurz gesagt, eine durchaus gebildete Dame.
Am 11. Februar 1879 wurde sie in einer revolutionären geheimen Verbindung in Kiew verhaftet. Die Polizei überfiel die Gesellschaft in der Nacht; die Männer leisteten Widerstand und schossen mit ihren Revolvern auf die eindringenden Polizisten und Gendarmen, diese schossen zurück, wobei denn auf beiden Seiten Tote und Verwundete vorkamen. Endlich 79 wurden sie überwältigt und abgeführt. Fräulein Armfeldt wurde wegen Teilnahme an einer revolutionären Verbindung und wegen Widerstand gegen die gesetzliche Gewalt verurteilt – woran sie eigentlich gar nicht Anteil genommen hatte – zu Zwangsarbeit von vierzehn Jahren und zehn Monaten, Entziehung aller bürgerlichen Rechte und, nach Abbüßung der Zwangsarbeit, auf lebenslängliche Verbannung nach Sibirien.
Es war schon dunkel geworden, als ich die kleine, weißgetünchte Hütte erreichte, welche der Beschreibung nach, ihre Wohnung sein mußte. Ich pochte an, die massive Holzthüre wurde von einer jungen Person geöffnet.
»Wohnt hier Fräulein Armfeldt?« war meine Frage.
»Das bin ich,« antwortete sie.
»Ich heiße Georg Kennan und bin Reisender aus Amerika. Ich kam nach Sibirien um das Verschickungssystem kennen zu lernen. Ich machte die Bekanntschaft vieler Ihrer Freunde und bringe Ihnen auch einen Brief von Frau X.«
Einen Augenblick lang betrachtete sie mich in schweigender Überraschung, dann faßte sie sich und ersuchte mich näher zu treten. Ich schritt durch eine kleine dunkle Flur und gelangte in ein Stübchen, dessen Fußboden ohne Bretter war, dessen niedrige Decke aus rohem Holz bestand; aus demselben Material waren auch die kärglich getünchten Wände, in welchen sich zwei Fensterchen befanden. Die Stubeneinrichtung bestand aus einem einfachen Holztisch ohne Decke, drei Holzstühle und eine schmale Bettstelle mit einer grauen Wolldecke. Außerdem befanden sich noch an beiden Seiten der Thüre Gestelle, worauf Eßgeräte sich befanden: Teller, Tassen, Messer, Gabeln und eine Theekanne; ferner ein Korb und ein einfacher Holzkoffer unter der Bettstatt. Trotz der ersichtlichen Dürftigkeit herrschte im ganzen Raume die vollständigste Reinlichkeit. Ich legte meinen Überrock ab und war eben daran, den Brief hervorzunehmen, als sie mich am Arm faßte und sprach: »Warten Sie lieber! Ich will zuvor die Fensterladen schließen und die Thüre verriegeln.« – Mit zitternder Hand machte sie Licht 80 und eilte dann hinaus um die Laden zu verschließen. Nachdem sie wieder hereingekommen war und auch die Thüre verriegelt hatte, sprach Sie zu mir: »Sie sind wohl nicht an die Atmosphäre von Furcht und Schrecken gewöhnt, in der wir uns befinden. Wie leicht hätte man durch das Fenster beobachten können, wie Sie mir den Brief gaben.«
Sie nahm das Schreiben entgegen und starrte es eine Weile uneröffnet an, denn noch immer war von ihrem Antlitz nicht das Staunen der Überraschung gewichen, das sich im ersten Augenblick schon zu erkennen gab. Endlich meinte sie: »Wie ist es Ihnen nur möglich geworden, hierherzukommen?«
Ich bemerkte, daß ich von Stratinsk aus hierher geritten wäre.
»Aber wer gab Ihnen die Erlaubnis?«
»Ich habe keine Erlaubnis. Eine Woche schon befinde ich mich hier, fand aber erst jetzt die Gelegenheit Sie aufzusuchen.«
Und nun erzählte ich ihr, daß ich nach Sibirien gekommen wäre, um das Leben der politischen Verschickten kennen zu lernen und teilte ihr in aller Kürze mit, was ich davon zu beobachten Gelegenheit hatte. Nachdem Sie sich langsam von ihrer Überraschung erholte, richtete sie in englischer Sprache das Wort an mich:
»Verzeihen Sie, daß ich Sie so verwundert anstarre, daß ich Sie nicht herzlicher aufnahm, indes, Ihr Besuch kommt mir wie ein Traum vor. Ich bin so erregt, daß ich nicht weiß, was ich thue und sage. Sie sind der erste Fremde, den ich hier zu Gesicht bekomme, Ihr plötzliches Erscheinen wirkt so außergewöhnlich auf mich ein, daß ich mich kaum fassen kann. So mag es Levingstone gefühlt haben, als er in Afrika plötzlich mit Stanley zusammen kam. Was brachte Sie zu dem merkwürdigen Entschluß nach Sibirien zu reisen, um hier das Verschickungssystem kennen zu lernen?«
Während ich ihre Fragen beantwortete, tönte fragend eine schwache Stimme hinter dem Ofen her: »Wer ist hier, Natalie? Mit wem sprichst du?«
81 »Ein Reisender aus Amerika, Mutter, der uns selbst bei den Gruben von Kara aufzufinden vermochte.«
Frau Armfeldt, die bei meinem Eintritte hinter dem Ofen schlief und nun von unserem Gespräch geweckt wurde, trat jetzt hervor und begrüßte mich. Sie war eine hagere, kränklich aussehende Frau, die ungefähr über sechzig Jahre alt zu sein schien und deren edles Gesicht deutlich die Spuren all der Sorgen und Entbehrungen zeigte, die sie erdulden mußte. Ihre dunkelumringten, angelaufenen Augenränder ließen erkennen, daß sie gar manche bange Nacht schlaflos durchweint hat. Ein Gefühl von Wehmut und Mitleid ergriff mich; noch nie hatte ich auf einem Menschenantlitz so deutlich die Spuren trostlosen Leides erblickt.
Ich blieb eine halbe Stunde dort, dann ging ich fort mit dem Versprechen, später wieder zurückzukehren. Fräulein Armfeldt bemerkte mir dabei, daß ich dann auch die übrigen politischen Gefangenen des »freien Kommandos« bei ihr finden soll.
Ganz erregt eilte ich nach Hause, wo man mit dem Essen auf mich wartete. Frau Potuloff betrachtete mich zuweilen mit forschendem Blick, als wollte sie erkunden, was ich die ganze Nachmittagszeit angefangen habe, doch sie richtete deswegen keine Frage an mich und so blieb es mir erspart, irgend einen Vorwand gebrauchen zu müssen.
Um die siebente Stunde trat ich wieder in die Hütte des Fräulein Armfeldt und fand hier auch einen politischen Gefangenen Namens Kurtejeff und eine schmächtige, junge Frau mit Namen Kolenkina. Ich hatte von letzterer schon manches gehört, sie war eine jener Revolutionärinnen, die, als Mitschuldige an der, gegen das Leben des Generals Mezzentscheff gerichteten Verschwörung nach dem Karagebiet verschickt wurde. Wie in ähnlichen Fällen früher, war ich auch jetzt überrascht, in dieser bekannten Revolutionärin eine junge, fast mädchenhafte Gestalt zu sehen. Es ist merkwürdig, daß alle jene Frauen, die in den letzten fünfzehn Jahren an den 82 fürchterlichen Vorfällen von Petersburg, Moskau, Kiew und Odessa beteiligt waren, die eine Kraft und Entschlossenheit bekundeten, wie sie sich in diesem Maße selbst bei Männern selten erkennen läßt, daß diese Frauen junge, zarte Geschöpfe von 18 bis 20 Jahren sind, nach deren harmlosen, fast schüchternen Mienen man vermuten könnte, sie wären Kinderlehrerinnen oder gar noch Zöglinge einer weiblichen Lehranstalt.
Nach und nach erschienen alle politischen Gefangenen, die im »freien Kommando« lebten. Sie kündeten sich mit leisem Pochen an den Fensterläden an, wonach Fräulein Armfeldt zur Thüre ging und ehe sie öffnete, vorsichtig nach dem Namen des Besuchers fragte.
Das halbdunkle Stübchen, die ängstliche Stille, das geheimnisvolle Pochen an den Läden, die im Flüstertone geführte rege Besprechung, die nun folgte, geführt von fahlen Männern und Frauen, die mich erstaunt betrachteten, als wäre ich vom Schattenreich gekommen – das alles wirkte ganz eigenartig auf mich ein.
Nichts in diesem Raume erinnerte an die Außenwelt mit ihrem bunten Treiben. Und als nun die Gefangenen mir die entsetzlichsten Geschichten des Jammers, der Brutalität, des Wahnsinns und des Selbstmordes erzählten, die im Karagebiet sich ereigneten, da war es mir, als hätte ich Einkehr gehalten durch jene düstere Pforte, über der Dante die Schreckensworte las: »Lasciate ogni speranza voi ch'entrate« (Laßt alle Hoffnungen zurück, ihr, die ihr hier eintretet.)
Es mochte neun Uhr gewesen sein, just hatte ich mein Taschenbuch vorgenommen, um Verschiedenes anzumerken, als an den Fensterläden kräftig gepocht wurde. Frau Kolenkina flüsterte: »Die Gendarmen! Laßt sie nicht herein. Sagt ihnen wer von uns hier ist und sie werden sich vielleicht damit begnügen.«
Tiefe Stille herrschte und mein Herz schlug rascher, als sonst, da Fräulein Armfeldt die Thüre öffnete und den draußenstehenden Gendarmen mit erkünstelter Sicherheit zurief:
83 »Wir sind alle hier: Die Mutter, ich, Kurtejeff, Kolenkina« – sie gab ferner die Namen der anderen Anwesenden an, was ich jedoch nicht mehr deutlich vernahm.
Nach einigen Wechselreden entfernten sich die Gendarmen. Fräulein Armfeldt verschloß wieder die Thüre und meinte dann lächelnd: »Sie begnügten sich, sie bestanden nicht darauf hereinzukommen.« Dann wandte sie sich an mich und fügte in englischer Sprache dazu: »Die Gendarmen halten täglich dreimal Nachschau, um zu sehen, ob wir nicht entflohen sind. Jetzt geschieht es mehr, nur um der Form zu genügen, sie treten nicht immer ein.«
Die Unterhaltung wurde nun fortgesetzt.
Mehr als zwei Stunden hörte ich ihren Erzählungen zu und beantwortete so weit ich's vermochte, ihre hastig an mich gerichteten Fragen über die russischen Verhältnisse, die Entwicklung der revolutionären Bewegung. Im Laufe des Gespräches erregte ein Mann, der mir nicht vorgestellt wurde und der bisher auch nichts bemerkt hatte, plötzlich meine Aufmerksamkeit. Er mochte in den dreißiger Jahren stehen, hatte ein bleiches, geistloses Gesicht, große blaue Augen, womit er mich fortwährend anstarrte, vor mir auf einem Schemel sitzend, seinen Kopf mittelst Hände und Arme auf die Kniee gestützt. Während der Pause, die entstand, begann er plötzlich in tonloser, langsamer Weise zu mir zu sprechen: »Wir – haben – hier – unseren – eigenen Friedhof. – Wollen – Sie – ihn – sehen?«
Was er sagte und wie er es sagte, wirkte so überraschend auf mich, daß ich keine Erwiderung fand. Aber da fiel mir ein, daß er einer jener Unglücklichen sein müsse, die ihren Verstand verloren haben. Und diese wunderliche Frage, die mir Wahnsinn und Tod deutlicher vor Augen stellte, ließ mir alles, was ich hier vernahm, noch grauenhafter erscheinen und vermehrte noch die Aufregung, die sich meiner bemächtigt hatte.
Erst nach Mitternacht schied ich von den politischen Gefangenen und eilte nach Hause. Selbst diese kalte Luft draußen 84 konnte mein fieberndes Blut nicht beruhigen. Alles schlief schon, Frost ausgenommen, der besorgt meiner Heimkehr harrte. Ich warf mich aufs Bett und versuchte zu schlafen, allein all das, was ich gehört und gesehen, wirkte zu mächtig in mir, als daß ich Ruhe hätte finden können. Erst in den Morgenstunden schlief ich ein.