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Nachdem wir das düstere Bergwerk und das halbverfallene Gefängnis zu Kadaja in Augenschein genommen hatten, fuhren wir über eine kahle, schneebedeckte Hügelreihe nach der Bergwerksniederlassung Gorni-Zerentui. die in einem großen, 158 unfruchtbaren Thale liegt, etwa 60 Kilometer von Kadaja und 50 Kilometer von der Grenze der Mongolei entfernt.
In später Nachtstunde langten wir dort an, weckten die Bewohner des »Zemski-Kwartirs«, um hier Unterkunft zu finden, nahmen Thee ein und legten uns dann auf die mit Ungeziefer besäete Erde.
Am Montag morgen besuchten wir Hauptmann Demidoff, den Kommandanten des Ortes, der unser Ersuchen, das Gefängnis besichtigen zu dürfen, ohne weiteres gleich bewilligte. Es bestand aus zwei alten Holzhäusern, ähnelte vielen in Sibirien und zeigte nichts, was unser Interesse auch nur einigermaßen hätte wachrufen können. Es waren hier 180 Gefangene untergebracht und ebensoviel mögen es gewesen sein, die bereits im »freien Kommando« lebten. In einer geringen Entfernung bemerkten wir einen neuen, unvollendeten Ziegelbau von drei Stockwerken, an dem die Arbeit eingestellt war. Zehn Jahre lang baute man schon an diesem neuen GefängnisSiehe Seite 148. und es war vorauszusehen, daß bei diesem nachlässigen und unrechtschaffenen Gebahren noch fünf oder sechs Jahre vergehen würden, bis der Bau vollendet sei; damals war noch nicht der Dachstuhl aufgesetzt. Unterdessen mußten 180 Gefangene in einem ungesunden Holzbau zusammengedrängt leben.
Im folgenden Frühjahr, bei meiner Rückkehr nach Petersburg, hatte ich eine Besprechung mit Herrn Galkin Wraskoi, dem Chef der russischen Gefängnisverwaltung, und ich erlaubte mir da seine Aufmerksamkeit auf die Gefängnisse des Bezirks Nertschinsk hinzulenken, besonders auch auf den unvollendeten Bau von Gorni-Zerentui.
Er bemerkte, daß sich die Notwendigkeit neuer Gefängnisse schon im Jahre 1872 ergeben habe und zwei Jahre später dafür auch eine eigene Bauabteilung errichtet worden sei. Als er sieben Jahre später eine Inspektionsreise in Sibirien machte, 159 stellte sich heraus, daß diese Bauabteilung für die Errichtung zweier Holzhäuser und einiger geringfügiger Reperaturen 74 318 Rubel verausgabt habe und für Spesen und Gehälter 61 090 Rubel in Rechnung brachte, ohne auch nur einen einzigen Plan oder Kostenanschlag ausgearbeitet zu haben.
»Und was geschah infolge dessen?« fragte ich.
»Ich schlug vor, die Bauabteilung aufzulösen.«
»Geschah es?«
»Jawohl.«
»Ich konnte im Bezirk Nertschinsk nichts bemerken«, sagte ich, »was auf die Verwendung von 74 000 Rubel hingedeutet hätte. Höchstens ein kleiner Holzbau in Pokrofski und das unvollendete Gebäude von Gorni-Zerentui, das nun schon zehn Jahre im Werk ist.«
»Das Letztere erklärt der Umstand, daß die Pläne wiederholt abgeändert wurden,« bemerkte er. »Wir wollten auch von einem Ziegelbau ganz absehen; wir berechneten, daß ein solcher für 300 Personen auf 160 000 Rubel zu stehen komme, während er sich von Holz um 52 000 Rubel herstellen ließ. Die größere Dauerhaftigkeit des Steinbaus ist hier nicht von Bedeutung, denn wenn das Bergwerk ausgebeutet ist, so werden auch die Gefängnisse, die sich dort befinden, aufgegeben.
Als ich die Leitung übernahm, war der Bau schon zu sehr entwickelt, um ihn einzustellen.«
Was die vielen vorkommenden Irrtümer und sonstige Fehler betrifft, die ein charakteristisches Zeichen der Gefängnisse in Transbaikalien bilden, so konnten mir weder der Chef der Gefängnisverwaltung, noch sein Sekretär eine befriedigende Aufklärung geben. Sie begnügten sich mit der Versicherung, daß sie alles, was in ihrer Macht sei thäten, um die Übel verschwinden zu lassen, die sie größtenteils von ihren Vorgängern übernommen hätten. Um alles zu verbessern, dazu wären sie noch nicht lange genug im Amt.
Möglich, daß sie im Rechte sind, und daß ich die Schwierigkeiten, die ihnen entgegengestellt sind, nicht genug zu schätzen 160 weiß. Aber ich kann mich doch nicht der Ansicht verschließen, daß die meisten Übel des Verschickungssystems und besonders der Gefängnisleitung aus der Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit entstehen, mit der sie behandelt werden und auch aus der schwerfälligen, bureaukratischen Erledigung . . . .
Einem Amerikaner ist die kraftlose Art und Weise, die im Bezirk von Nertschinsk überall sich zu erkennen giebt, ganz unbegreiflich. Der ganze Betrieb ist nicht ausreichend; die Mehrheit der Häftlinge, die zur Zwangsarbeit verurteilt wurden, liegen monatelang unthätig in schmutzigen, überfüllten Zellen; Pläne und Kostenanschläge von Neubauten wandern jahrelang hin und her und wenn es endlich doch noch zum Bau kommt, wird die Vollendung ohne vernünftigen Grund wieder viele Jahre lang verzögert. Zu dem Bergingenieur in Kutomarski-Zawod bemerkte ich: »Warum schaffen Sie nicht geeignete eiserne Maschinen an, versehen die Arbeiter mit richtigem Werkzeug und stellen Dampfpumpe, Fördermaschinen, Ventilationsapparate auf, um den Bergbau fachmännischer zu betreiben?«
»Wissen Sie, Verehrtester, was hier das Eisen kostet?« antwortete er. »Wir müssen es von Petrofski-Zawod, also 600 Werst weit, mittelst Wagen hierher führen und ein Pud kommt dann auf 5½ Rubel zu stehen. Eiserne Maschinen sind zu teuer für uns.«
»Giebt es denn hier kein Eisenerz?« fragte ich wieder.
»Gewiß! Aber es wird nicht gefördert.«
»Warum fördern Sie es nicht? Errichten Sie einige Hochöfen und Sie haben dann mehr als Sie brauchen. An Arbeitskräften ist kein Mangel, denn mehr als die Hälfte der Zahl der Häftlinge ist unbeschäftigt.«
»Ohne Erlaubnis von Petersburg können wir nichts thun.«
»So versuchen Sie doch diese Erlaubnis zu erhalten; warum sollte man sie Ihnen verwehren? Bei dem jetzigen Betrieb der Bergwerke können sie kaum einen Gewinn schaffen.«
161 Er zuckte mit den Schultern und schwieg . . .
Von den Gefängnissen zu Gorni-Zerentui fuhren wir im Wagen des Hauptmanns Demidoff nach dem Bergwerk Sawenski, das ungefähr 3 Kilometer entfernt, am Fuße eines schneebedeckten Berges lag. Die Gebäude bei dem Eingang zum Schacht glichen so ziemlich den früher von uns besichtigten, nur in einem befand sich eine kleine Dampfmaschine, die erste und einzige, die wir in ganz Transbaikalien vorfanden,
Während Frost die öde, eisige Landschaft skizzierte, betrachtete ich das Bergwerk näher und kam zu dem Schluß, daß es nicht der Mühe wert war, auf den beeisten Leitern hinabzuklettern. Der Schacht war nicht tief, kaum 35 Meter, die Atmosphäre feucht und kalt, die Gänge so niedrig, daß ich nicht aufrecht stehen konnte und Decke und Wände waren mit Eis bedeckt. Es waren hier nur 35 Sträflinge beschäftigt. Sie trugen in kleinen Körben das Erz zum Förderschacht, wo sie es in kleine viereckige Kästen entleerten, die mittelst einer alten, plumpen Winde einzeln hinaufbefördert wurden. Einfacher mochten vor Jahrhunderten die Eingeborenen den Bergbau nicht betrieben haben.
Ich bemerkte zum Aufseher: »Warum stellen Sie nicht mehr Leute zur Arbeit? Ich komme soeben aus dem Gefängnis, wo mindestens 150 Sträflinge müßig verweilen.«
»Wir haben in den Gängen nur für 35 bis 40 Arbeiter Raum,« bemerkte er.
»Warum erweitern Sie nicht das Bergwerk? Mit Graben und Sprengungen könnten Sie sehr leicht für weitere Hunderte Platz schaffen. Erz ist ja genug vorhanden, erweitern Sie die Gänge, legen Sie Geleise an, verbessern Sie das Förderwerk!«
Er schwieg und sah mich so verwundert an, als hätte ich die unmöglichsten Vorschläge gemacht.
Zur Zeit unserer Anwesenheit befanden sich im Bergwerkbezirk von Nertschinsk 952 zur Zwangsarbeit verurteilte Sträflinge und zwar: in Alexandrofski-Zawod 188, in Algaschi 150, 162 Pokrofski 70, Kardainski und Smirnowo 184, Sawenski und Gorni-Zerentui 360. Von diesen dürften kaum mehr als der dritte Teil zur Arbeit verwendet worden sein; die anderen waren zum Müßiggang genötigt, obgleich es an Arbeit nicht fehlte.
Die Gründe, die mir dafür angegeben wurden, waren:
Erstens, Mangel an Raum in den Bergwerken; zweitens, Mangel an Truppen, um eine größere Zahl Gefangene nach den Minen oder Wäldern zu transportieren; drittens, die Sträflingsarbeit käme teuerer zu stehen, als wenn die Arbeit von Lieferanten besorgt wurde;Eine Begründung, die die Unehrlichkeit und Unfähigkeit der meisten Beamten in Sibirien kennzeichnet. Ich kenne Fälle, wo die sibirische Lokalbehörde den ganzen zur Errichtung eines staatlichen Gebäudes angewiesenen Betrag unterschlug und die Meldung machte, das Gebäude sei vollendet und in Benutzung. Ein derartiger Fall, das Etappenhaus von Ukirski betreffend, wurde in der Petersburger »Östlichen Rundschau« Nr. 2, vom Jahre 1884 erörtert. In Sibirien zeigte mir ein Photograph das Lichtbild eines erst vollendeten Staatsgebäudes, das laut Befehl von Petersburg aufgenommen werden mußte, um das Bild nach der Hauptstadt zu schicken. Die Regierung glaubte wenigstens in dieser Weise sich überzeugen zu müssen, daß der bewilligte und bezahlte Bau wirklich vorhanden sei und nach der Vorschrift ausgeführt wurde. viertens, die Gefangenen können ohne Befehl von Petersburg in dieser Weise nicht verwendet werden.
Ich halte keinen einzigen dieser Gründe für ausreichend. Ein mit der nötigen Erlaubnis und mit einem Kapitale von 10- bis 15 000 Dollars ausgerüsteter Amerikaner könnte in zwei Jahren mit den 950 im Distrikt Nertschinsk befindlichen Häftlingen bei jedem Bergwerk ein neues Gefängnis erbauen; er könnte in fünf Jahren den Ertrag der Bergwerke verdoppeln oder gar vervierfachen, ohne von Staatsmitteln einen Dollar Mehrausgabe zu fordern.
Das Bergwerk Sawenski war das letzte, das wir in Ostsibirien besuchten. Montag, am 23. November, fuhren wir nach Nertschinsk-Zawod, einem großen Dorfe, 15 Kilometer von Gorni-Zerentui entfernt, und am Dienstag in den 163 Morgenstunden unternahmen wir die Rückfahrt nach der Schilka und nach der Stadt Nertschinsk. Die Fahrt von mehr als 300 Kilometer währte wohl lang und war ermüdend, aber doch nicht interessant genug, als daß ich sie hier beschreiben sollte. Wir fuhren, kurz gesagt, durch ein ödes, schneebedecktes Hügelland, bei einer Temperatur, die zwischen 0 und 27 Grad Fahrenheit schwankte. Die Straßen waren im schlechten Zustande, die Wagen, die wir zur Benutzung mieteten, die schlechtesten, die in ganz Ostsibirien zu finden sein mochten. Wir litten neben dem Wagengerüttel unter Kälte, Hunger, Mangel an Schlaf und so manchen Entbehrungen, die uns in eine Stimmung versetzten, in der wir ein warmes Bad, ein gutes Essen und einen ungestörten Schlaf in einem reinen, warmen Bett für alle Güter der Welt hingegeben hätten.
Donnerstag in der frühsten Morgenstunde gelangten wir zur Poststation Biankinskaja, am Ufer der Schilka gelegen. Hier brachten wir unser Gepäck auf einen Schlitten und setzten auf dem gefrorenen Flusse, bei einer Temperatur von 20 Grad Fahrenheit, unsere Fahrt nach Nertschinsk fort. In den letzten Tagen bekamen wir nur wenig zu essen, ich versuchte daher den Mangel an Körperwärme durch das Einhüllen in drei Schafpelzröcke zu ersetzen, wodurch ich das Aussehen eines lebendigen Baumwollballens erhielt, aus dem eine Pelzmütze und ein unsauberes, unrasiertes und von Kälte blau angelaufenes Gesicht herausschaute. Allein ungeachtet der vielen Hüllen fror ich bis ans Knochenmark und Frost, der noch weniger vor der Kälte geschützt war als ich, litt noch mehr darunter. In später Nachmittagstunde kamen wir in Nertschinsk an und da kein Schnee in den Straßen lag und die schwachen Pferde den Schlitten auf der bloßen Erde nicht fortbringen konnten, stiegen wir ab und schwankten ganz erbärmlich hinter dem Fahrzeug der Stadt zu.
In Nertschinsk kehrten wir, zum erstenmale seit einem Monate, in einem Hotel ein, das aber, was Reinlichkeit und Bequemlichkeit betrifft, von den »Zemski-Kwartirs« des 164 Bergwerkbezirkes noch übertroffen wurde. Es war das schlechteste Hotel, das uns in Sibirien vorgekommen war. Der Hofraum des einstöckigen Holzbaues war finster und schmutzig, die Stuben kahl, dumpfig und kalt, die Wandtapeten hingen in Fetzen herab, von Thür und Fensterrahmen, die dem Aussehen nach noch niemals gereinigt wurden, war der schmutzige Anstrich lose, der Fußboden schmutzig, eingesunken und voll Rattenlöcher und auf der schmierigen Decke, die auf dem Tische lag, kroch verschiedenes Ungeziefer herum. Kein Bett war zu sehen, wo wir unsere müden Glieder ausstrecken konnten, kein Spiegel, der uns das zweifelhafte Vergnügen gewährt hätte, unsere blauangelaufenen Gesichter zu betrachten. Ein junger Bursche, in hohen Schaftstiefeln und mit rotem Wollhemde bekleidet, brachte uns ein messingenes Waschgefäß, das dem Aussehen nach für minder reinliche Zwecke bestimmt war und noch nie gescheuert worden sein mochte. Obgleich wir an dergleichen Dinge schon gewöhnt waren und überdies unser körperlicher Zustand für solche Betrachtungen nicht sehr geeignet war, konnten wir den Ekel doch kaum überwinden. Aber wir waren zum Bleiben genötigt, da es das einzige Hotel des Städtchens war. Der Eigentümer hieß Klementowitsch und war ein verbannter Pole. Wenn er in seiner Heimat das gleiche Gewerbe betrieb und seine Gaststuben in einem ähnlichen Zustand waren, so war schon im Interesse der Reisenden seine Verschickung auf administrativem Wege nach dem fernsten Teile Sibiriens ein Gebot der Notwendigkeit.
Wir nahmen ein Frühessen, das aus Thee, sauerem Roggenbrot und fetten Pfannkuchen bestand, dann machten wir unter Zuhilfenahme eines Spiegelchens, das der Gasthofbesitzer weiß Gott wo aufgetrieben hatte, Toilette so gut wir das konnten; nachdem dies geschehen war, gingen wir aus, um das Städtchen zu betrachten und auch einige Empfehlungsbriefe abzugeben.
Nertschinsk, ein Städtchen mit etwa 4000 Einwohner, liegt an dem linken Ufer der Nertscha, ungefähr vier Kilometer 165 vor deren Mündung in die Schilka, mehr als 7000 Kilometer östlich von St. Petersburg. Was des Städtchens kulturelle und materielle Entwicklung betrifft, schien es mir alle gleichartigen Ortschaften Ostsibiriens zu übertreffen. Es besaß eine Bank, zwei oder gar drei Schulen, eine Bibliothek, ein Museum, ein Spital mit 20 Betten, einen öffentlichen Garten mit Springbrunnen und viele Geschäftsläden. Der Geschäftsverkehr ist recht rege, sein Handel, der vornehmlich mit Pelzen sich beschäftigt, dürfte einen Jahresumsatz von zwei Millionen Rubel erreichen. Von den Baulichkeiten ragt über alle hervor der Palast des reichen Bergwerkbesitzers Butin, der selbst in Petersburg nur wenige seines Gleichen finden könnte. Zur Zeit unserer Anwesenheit hatte die Firma eine finanzielle Krise zu überwinden und das Haus unterstand einem fremden Kurator. Aber nichtsdestoweniger öffnete uns das Empfehlungsschreiben des jüngeren Mitglieds der Firma des Hauses Thor. Aus der jämmerlichen Bude des Herrn Klementowitsch hierher versetzt, konnte ich mich vor Staunen kaum fassen und als mir in dem wundervollen Saale der größte aller existierenden Spiegel mein Ebenbild zeigte, hätte ich mir beinahe die Augen gerieben, um mich zu überzeugen, ob ich nicht träume.Dieser große Pfeilerspiegel wurde von Herrn Butin im Jahre 1878 auf der Pariser Weltausstellung gekauft; er galt damals als der größte. Er wurde auf weiten Umwegen, auf dem Meere nach der ostsibirischen Hafenstadt Nikolajefsk gebracht und dann auf einem für diesen Zweck errichteten Schiff auf den Flüssen Amur und Schilka nach Nertschinsk gebracht. Wer hatte auch in einer ostsibirischen Wildnis einen prächtigen Palast zu sehen erwartet, mit Parquetten, Seidenvorhängen, kostbaren Tapeten, Glasmalereien, prächtigen Kandelabern, persischen Teppichen, feinen Möbeln, Marmorfiguren, Bildern von dem bekannten Meister Makofski, einem Treibhaus voll Palmen und anderen tropischen Gewächsen. In großen europäischen Städten ist ein derartiger Luxus nicht gar zu selten, aber hier muß er den Reisenden in Staunen 166 versetzen. Das Haus, das damals seit einigen Monaten unbewohnt war, konnte sich deswegen nicht in seinem vollen Glanze zeigen, aber was wir zu sehen bekamen, bekundete nicht nur Reichtum, sondern auch einen geläuterten Geschmack. Den größten Raum bildete der Ballsaal, der etwa 20 Meter lang und 15 Meter breit war. Auf der Galerie, die einen Halbkreis bildete und zu der eine prachtvolle Treppe führte, befand sich ein Musikwerk, groß wie eine Kirchenorgel, das sechzig bis siebzig verschiedene Musikstücke spielte. Die Bibliothek enthielt eine treffliche Auswahl von Büchern und Zeitungen in verschiedenen Sprachen und überdies auch eine Sammlung sibirischer Minerale und Erze. In der Nähe des Hauses befanden sich die Geschäftsräume der Firma, die die ausgedehntesten Verbindungen besaß und viele hunderte Personen beschäftigte.
Nachmittag besuchten wir zwei politische Verschickte, Namens Tscharuschin und Kumetsoff, die nach vollendeter Zwangsarbeit in den Bergwerken hierher versetzt wurden, wo sie im Kreise ihrer Familie verhältnismäßig behaglich lebten. Sie waren recht intelligente Leute, angenehme Gesellschafter, mit welchen wir manche vergnügte Stunde in der Zeit unseres dreitägigen Aufenthalts verlebten. In Kara ist es ihnen recht übel ergangen, aber in Nertschinsk wurden sie schon rücksichtsvoller behandelt. Man gestattete ihnen sogar die Ausübung von Beschäftigungen, die politischen Verschickten eigentlich verboten sind, der eine war nämlich Lehrer und der andere Photograph. Ihr Briefwechsel stand zwar unter Polizeiaufsicht, aber sie erfuhren dabei nicht jene vielen Kränkungen, denen Verschickte in anderen Teilen Sibiriens ausgesetzt sind. Tscharuschin befand sich vor seiner Verschickung vierundeinhalb Jahr in Einzelhaft und zweiundeinhalb Jahr in der Petropawlofskifestung. Er wurde wegen revolutionärer Umtriebe unter der Fabrikbevölkerung Petersburg angeklagt. Als er im Jahre 1878 nach Sibirien verschickt wurde, begleitete ihn seine Frau freiwillig dahin und bewohnte eine erbärmliche Hütte der »Unteren 167 Goldwäscherei« von Kara, bis sie später wieder vereint wurden. Auch er gehörte zu den politischen Gefangenen des »freien Kommandos« die am 1. Januar 1881 wieder ins Gefängnis zurückkehren mußten und in seinem Hause geschah es, daß Eugen Semjonofski sich erschoßSiehe Seite 99..
Sonntag, am 29. November verabschiedeten wir uns von Tscharuschin und seiner Frau und fuhren mittelst Schlitten nach Tschita, der Hauptstadt Transbaikaliens.
Die Eiszäpfchen, die von den Nüstern unserer mit Reif angelaufenen Pferde niederhingen, das klirrende Geräusch des hartgefrorenen Schnees unter unserem Schlitten, die violette Färbung der fernliegenden Berge und der hochaufsteigende dünne Rauch der Schornsteine waren genügende Zeichen der sehr niederen Temperatur und mein Thermometer zeigte auf 27 Grad Fahrenheit. Nachts nahm die Kälte noch zu, wir konnten uns kaum von einer Poststation zur andern fortbringen. Während jedes Pferdewechsels nahmen wir einige Tassen heißen Thee, was uns einigermaßen wärmte, doch in den Stunden von Mitternacht bis Morgens konnten wir uns gar nichts Warmes verschaffen und fühlten daher die Strenge der Kälte umso fürchterlicher. Johlende Burschen und Männer flogen mit ihren Schlitten an uns vorüber, buntgekleidete Bauernmädchen schritten singend Arm in Arm etwas unsicher durch die Straßen des Dorfes; das Posthaus war mit recht lebhaft sich gebärdenden Leuten gefüllt, die nun nach Hause wollten. Der Postmeister war nirgends zu sehen, ebensowenig ein Postkutscher. Der Starost (Gemeindevorstand), ein kleiner, dicker alter Herr war so betrunken, daß er sich kaum an seinem Stocke aufrecht halten konnte. Was die Ursache dieser allgemeinen Trunkenheit sei, konnten wir nicht gleich erfahren, denn keiner war nüchtern genug, um uns Aufklärung geben zu können; aber aus den lauten Gesprächen entnahm ich, daß selbst der Pope vollends berauscht war und ihn der 168 Nüchternste seiner Gemeindemitglieder auf einem Schlitten nach Hause bringen mußte.
Wenn der Postmeister, die Kutscher, der Starost, der Pope und alle andern Leute vollgetrunken waren, so hatten wir kaum die Aussicht, bald Pferde zu bekommen. Die Leute waren ja in einem Zustande, wo sie das Roß von dem Sattel nicht zu unterscheiden vermochten! Wir brachten daher unser Gepäck in das Posthaus, setzten uns da in die Ecke und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Ringsum war kein nüchternes Wesen zu sehen, wir ausgenommen und ein Wickelkind, das auf den Armen getragen wurde. Der Vater des Kindes, ein junger, hübscher Offizier schritt schwankend daher, wahrscheinlich in der Absicht sein Gepäck für die Abreise zusammen zu tragen. Aber was er hier erfaßte, ließ er dort wieder fallen; während dessen wechselte er mit seiner gleichfalls nicht ganz nüchternen Frau einige Reden, die auf die stattgefundene Feier sich beziehen mochten. Endlich schien ihm der Gedanke aufzublitzen, wie mit der Abfahrt am Besten der Anfang zu machen sei; er schwankte in eine Ecke der Stube, nahm von dort seinen Säbel, der an der Wand lehnte und übergab ihn seiner Frau mit der Bitte ihn hinaus auf den Schlitten zu legen. Sie war noch nüchtern genug um ihm die Antwort zu geben, sie habe das Kind auf den Armen, er möge es daher selber thun. Nun drückte der junge Offizier die Waffe zärtlich an seine Brust und erklärte pathetisch, dem Säbel sei er zuerst angetraut worden und darum sei es wirklich gebührlich, daß er ihn selbst hinaustrage. Aber gleich darauf ließ er die Waffe fallen und ohne Achtsamkeit seiner zweiten »Angetrauten« wäre die erste sicherlich im Posthaus liegen geblieben. Um die achte Stunde gelang es mir endlich den Starost zu Rede zu stellen und ihn mit einigen kräftigen Bemerkungen derart zu ernüchtern, daß er zu begreifen anfing, eine weitere Verzögerung unserer Fahrt dürfte für ihn unangenehme Folgen haben. Während ich bei ihm meine ganze Beredsamkeit aufwandte, verzeichnete er unsere Namen 169 in dem Stationsbuche: »Herr Kennan und Herr Frost aus den benachbarten Staaten.Im Russischen haben die Ausdrücke für »benachbart« und »vereinigt« eine gewisse Ähnlichkeit, jenes klang ihm vertrauter, denn der betrunkene Alte hatte wahrscheinlich in seinem Leben noch nicht die »Vereinigten Staaten« erwähnen gehört. Dann torkelte er nach der Vordertreppe und schrie so laut er nur konnte: »Andreas! Nikolaus! Sogleich Pferde!« Das Einzige was sich danach vernehmen ließ, war das Lärmen der Betrunkenen, die in ihren Schlitten fortfuhren. Mit einer komischen Gebärde der Verzweiflung reckte der Alte nun die Hände empor und jammerte: »Alle sind besoffen! Das ist Gottes Strafe!«
Nach und nach wurde es stiller. Der Postmeister, der jetzt erschien, versuchte seinen Rausch hinter der Amtsstrenge zu verbergen und fragte nun barsch, wo denn eigentlich die Kutscher wären, und was der Lärm eigentlich bedeuten soll. Der Rausch des erwähnten jungen Offiziers äußerte sich nun in liebevoller Weise; er küßte alle in der Stube anwesenden Frauen, bekreuzte sich fromm und torkelte dann zu seinem Schlitten hinaus, gefolgt von seiner Gattin, die das Kind und den Säbel trug. Zwei betrunkene Popen in langen Gewändern und hohen Hüten, die Cylinderhüten ohne Krämpe glichen, stiegen vor der Thüre aus einem Wagen. Nachdem ihnen die Umstehenden ehrfürchtig die Hände küßten, bestiegen sie einen Schlitten, dessen Kutscher sich nur mühevoll auf seinem Sitz halten konnte.
Wir hatten schon die Hoffnung aufgegeben, an diesem Tage von der Stelle zu kommen, als nun wirklich ein nüchterner Mensch hereintrat und meldete, die Pferde wären für uns eingespannt. Der betrunkene Postmeister wollte nun seinen Ärger und seine Autorität zur Geltung bringen. Er schalt den Kutscher derb aus und legte ihm schließlich sogar eine Ordnungsstrafe von 50 Kopeken auf, ob des Umstandes, daß er es gewagt, nüchtern zu bleiben oder daß er gebührlicher Weise die Pferde eingespannt, weiß ich nicht. Wir legten unser 170 Gepäck in den Schlitten, setzten uns hinein und fuhren fort. Als der ganze Lärm hinter uns war, wendete ich mich an den Kutscher mit der Frage:
»Was ist denn im Dorfe los? Alles ist ja betrunken!«
»Es wurde eine neue Kirche geweiht,« erklärte er ernst.
»Eine Kirche?« rief ich verwundert aus. »Weiht man denn bei euch so die Kirchen ein?«
»Ich weiß nicht,« gab er zur Antwort. »Oft wird getrunken. Nach der Messe war ›Gulajnia‹ (eine Art musikalische Unterhaltung), und da müssen etliche zu viel getrunken haben.«
»Etliche?« sprach ich. »Sie wollen wohl alle sagen? Sie sind der einzige nüchterne Mensch, den ich hier gefunden habe. Wie kommt es, daß auch Sie nicht ein Gläschen zu viel getrunken haben?«
»Ich bin kein Christ,« antwortete er ruhig, »ich bin BuriateDie Buriaten, Eingeborene Sibiriens, gehören meistens zu den Anhängern Buddhas..
Als Christ, wenn auch nicht Genosse der »heiligen russischen Kirche,« mußte ich verstummen vor der ihm unbewußten Ironie seiner Worte. Der einzig nüchterne Mensch in einem Dorfe mit 3- bis 400 Einwohnern war Heide und ein christlicher Beamter legte ihm eine Buße von 50 Kopeken auf, vielleicht nur, weil er sich nicht wie die anderen vollgetrunken hatte.
Am Dienstag früh, am 1. Dezember, gelangten wir nach Tscheta und nahmen im »Hotel Wladiwostok« Quartier. Es war ein einstöckiger, kleiner Holzbau, dessen Eigentümer Biatschinski hieß.
In Tschita befand sich, was ich schon früher bemerkte, eine Anzahl recht interessanter, politischer Verschickter. Schon während unseres ersten Aufenthalts hatten wir sie kennen gelernt. Allerdings war dieser Verkehr nur ein flüchtiger, da wir noch vor Beginn der strengen Winterszeit das Karagebiet erreichen wollten und demnach kurzen Aufenthalt nahmen. Jetzt aber 171 beabsichtigten wir etwa zwei Wochen hier zu bleiben. Die meisten dieser Verschickten waren Zwangskolonisten, die früher Zwangsarbeit in den Minen verrichten mußten und die für recht arge Verbrecher gehalten wurden. Dieser Umstand, vereint mit jenem, daß wir in Kara den Verdacht der Behörden bereits erweckt hatten, nötigte uns im Verkehr mit politischen Verschickten vorsichtiger als je zu sein und mit den Behörden freundlicher noch als früher zu verkehren. Es wäre nicht so unwahrscheinlich gewesen, daß Hauptmann Nikolin den Gouverneur in Tschita von den Vorfällen Kenntnis gegeben hätte und wir nun eifrig beobachtet worden wären.
Vor allem besuchte ich Oberst Swetschin, der den abwesenden Gouverneur Barabasch vertrat und erzählte ihm von unserem Aufenthalt im Karagebiet, den Verkehr mit den politischen Gefangenen natürlich ausgenommen. Dann erklärte ich ihm, was wir nun zu thun beabsichtigten. Er war recht höflich und richtete keine Fragen an uns, die uns in Verlegenheit hätten bringen können; und als ich ihn verließ, da war ich ziemlich beruhigt: entweder hatte er von unserem Verkehr mit den politischen Gefangenen überhaupt nichts vernommen, oder er legte dem keine Bedeutung bei.
Einige Tage nach unserer Ankunft wurden wir von dem reichen Kaufmann Nemeroff, den wir zufällig kennen lernten, eingeladen, mit ihm eine von Dilettanten zu wohlthätigen Zwecken veranstaltete Theatervorstellung beizuwohnen. Wir nahmen die Einladung an, hoffend, einige zweckmäßige Bekanntschaften zu machen und auch in der Absicht, uns so oft es möglich ist, in zuverlässiger Gesellschaft zu bewegen. Die Vorstellung war nicht übel. In den Zwischenakten schritten wir im Vorsaal auf und nieder, wurden hier mehreren Civil- und Militärpersonen vorgestellt, vom Gouverneurstellvertreter freundlich begrüßt, und erregten als »vornehme Amerikaner«, die mit den ersten Beamten freundschaftlich verkehrten, allgemeine Aufmerksamkeit. Wir hofften, keiner durfte auf die Vermutung kommen, daß diese »vornehmen Amerikaner« einzig 172 nur darum in Tschita verweilten, um mit Nihilisten und Terroristen in näheren Verkehr zu kommen.
Zu den Offizieren, die ich dort kennen lernte, gehörte auch Oberst Nowikoff, der mit mehreren Kameraden im Saale auf- und niederschritt. Nachdem er meinen Namen vernommen, richtete er die Frage an mich:
»Sie waren im Karagebiet?«
»Jawohl!« antwortete ich ein wenig überrascht von dieser plötzlichen Bemerkung. »Wir kommen jetzt von dorther.«
»Was haben Sie dort Gutes gefunden?« fragte er wieder mit beobachtenden Blicken.
Ich wußte nicht recht, was ich antworten sollte, meinte jedoch von den dortigen Beamten, soweit das ohne Lügen möglich war, das Günstige erwähnen zu sollen. Ich bemerkte daher, daß ich Major Potuloff als einen wackeren Mann kennen gelernt habe.
»Hm!« meinte er höhnisch. »Der wird ihnen wohl alles im günstigsten Licht dargestellt haben.«
»Es giebt dort manches, was in dieser Weise einmal nicht dargestellt werden kann,« antwortete ich. Mir war es ob dieser Fragen nicht besonders wohl zu Mute und ich beschloß bald herauszubekommen, was hinter diesen Fragen stecken mag.
»Haben Sie die Gefängnisse besichtigt?« fragte er wieder.
»Jawohl, die meisten.«
»Haben Sie auch das »nackte Kommando« gesehen?«
»Nein. Ich weiß gar nicht was das bedeuten soll.«
»Das bedeutet die Zelle in der die unbekleideten Gefangenen sich befinden. Als ich das erste Mal die Gefängnisse von Kara von Amtswegen besuchte, sah ich in einer Zelle gegen 25 gänzlich unbekleidete Personen. Diese Zelle wird »Das nackte Kommando« genannt.«
»Was sollte das bedeuten?« fragte ich erstaunt.
»Das weiß ich nicht. Die Leute hatten eben keine Kleider zum AnziehenSpäter brachte ich in Erfahrung, daß im »nackten Kommando« jene Gefangenen sich befanden, die ihre Kleider verkauft hatten, um das Geld zum Spiel oder Trunk zu verwenden. Zur Strafe wurden sie in eine Zelle gesperrt und ohne jede Bekleidung gelassen. Natürlich konnten die Gefangenen ohne Einverständnis und Wissen der Aufseher die Kleider nicht verkaufen. Das »nackte Kommando« war daher eher ein Beweis der Bestechlichkeit russischer Beamter, als ein Zeichen der Grausamkeit.. – Hat Ihnen der »wackere Mann« auch die Zellen für Einzelhaft im Gefängnis von Mittel-Kara gezeigt?«
»Nein, das geschah nicht. Was ist's mit diesen?«
»Nichts besonderes,« antwortete der Oberst mit erkünstelter Gleichgültigkeit. »Sie sind nur zum Stehen nicht hoch genug, zum Liegen nicht lang genug. – Sie haben wahrscheinlich nur das zu Gesicht bekommen, was man Ihnen zeigen wollte; wäre ich dort gewesen, dann hätten Sie ganz merkwürdige Dinge zu Gesicht bekommen, Dinge, wie sie wirklich sind und nicht wie man sie Ihnen scheinen lassen wollte.«
Ich war sprachlos vor Betroffenheit. War das die aufrichtige Meinung des Obersten Nowikoff, oder sollte er nur eine Finte gebrauchen, um meine Ansicht über die Verhältnisse in Kara zu erfahren?
Er schien eine Bemerkung von mir gar nicht zu erwarten, sondern fuhr in der Rede fort:
»Dreiundeinhalb Jahr war ich Kommandant der Kosaken in Kara und als ich vor etlichen Monaten hierher versetzt wurde, war ich so froh, daß ich eine Dankmesse lesen ließ. – Sehen Sie meinen Bart hier,« begann er wieder nach einer Pause, »er ist ganz ergraut infolge des Kummers, den mir der Anblick von so viel menschlichem Elend verschaffte. Als ich nach Kara kam, hatte ich noch kein graues Haar. Wie hoch schätzen Sie mein Alter?«
Ich bemerkte, er dürfte 55 Jahre zählen.
»Ich bin um zehn Jahre jünger,« bemerkte er nicht ohne 174 Bitterkeit, »und als ich nach Kara versetzt wurde, sah ich nicht älter aus, als Sie.«
Er schwieg nachdenklich.
Dann fragte ich ihn, welcher Art dieses Elend gewesen, dessen er Augenzeuge war.
»Elend gar mancher Art,« war seine Antwort. »Die unglücklichen Gefangenen werden mit Ruten und mit der Peitsche gezüchtigt, sie müssen übermäßig arbeiten, damit sich die Aufseher bereichern können. Ich will Ihnen nur ein Beispiel anführen, damit Sie erkennen, was da alles vorkam: Während meiner Anwesenheit kam die Frau eines der Gefängnisleiter dahinter, daß ihr Liebhaber, ein im »freien Kommando« wohnender Sträfling mit ihrer Magd, einem hübschen Mädchen, das gleichfalls zu den Verschickten zählte, ein Liebesverhältnis habe. Im eifersüchtigen Zorn beklagte sie sich bei ihrem Gatten und wußte die Sache so geschickt darzustellen, daß er das Mädchen prügeln ließ. Sie erhielt 150 Stockstreiche auf den bloßen Körper und als sie sich später bei der vorgesetzten Behörde beklagte, wurden ihr noch 90 Peitschenhiebe zuerkannt. Und ich mußte dabei stehen und die Strafvollziehung überwachen. Glauben Sie, das ist angenehm? – Ich habe nicht viel Haare auf dem Kopfe,« fügte er dazu, indem er sich mit der Hand über den Kopf strich, »aber diese wenigen Haare sträubten sich vor Entsetzen, wenn ich Zeuge dieser grausamen Vorkommnisse in den verfluchten Minen war. Wer dort leben will, braucht eiserne Nerven.«
Ich glaube seine Worte ziemlich getreu wiedergegeben zu haben. Sie machten einen mächtigen Eindruck auf mich und ich schrieb sie gleich nach der Heimkunft von der Vorstellung nieder. Es mag da manches in diesen Äußerungen eine Folge persönlicher Voreingenommenheit sein. Nowikoff stand zweifellos mit Potuloff und den anderen Offizieren in Kara nicht auf gutem Fuß und da mochte er vielleicht geneigt sein, manches ungünstiger zu sehen, als es in Wirklichkeit war.
Es glaube keiner, daß diese Mitteilungen in vertraulicher 175 Stille erfolgten. Es geschah mitten im Saale, wo wir in Gesellschaft mit noch einigen Offizieren auf- und niederschritten und der Oberst sprach dabei so erregt, daß nicht nur unsere nächste Nachbarschaft, sondern alle im Saale Anwesenden seine Worte hören konnten. Befremdlich ist es immerhin, daß ein höherer Offizier öffentlich derart nachteilig über russische Staatseinrichtungen sich äußern konnte. Doch ich hatte noch mehr Gelegenheit, über derartige freimütige Reden zu staunen. An demselben Abend stellte sich mir nämlich ein russischer Offizier vor und erkundigte sich dann um unsere Erlebnisse im Karagebiet. In wenigen Augenblicken hatte er dieselben Fragen an uns gerichtet wie der Oberst und erhielt auch hier dieselben Mitteilungen. Er erzählte mir von diesen Geheimzellen unter anderem auch, daß dort zuweilen politische Gefangene, selbst Frauen, eingeschlossen werden. So mußte eine Frau Rossikowa darin verweilen bis der Gefängnisarzt erklärte, daß sie im Sterben läge. Er lud mich ein ihn zu besuchen und bemerkte, daß er mir, wenn ich mich für das sibirische Gefängniswesen interessiere, so manches brauchbare Schriftmaterial geben könne. Ich kann den Namen und den Rang dieses Mannes hier nicht nennen, aber ich kann ohne eine Indiskretion zu begehen, sagen, daß ich ihn besuchte und daß ich ihm manche wertvolle Mitteilungen verdanke, die in den vorhergegangenen Aufsätzen verwendet wurden. Seine Worte bestätigen das Meiste dessen, was ich von den politischen Gefangenen in Kara selbst erfahren habe und er berichtete mir auch von dem erwähnten Mordversuch an General Iliaschewitsch und auch diese Mitteilungen stimmten mit jenen, die ich von dem Verschickten erhalten hatte völlig überein; er gewährte mir endlich einen Einblick in Amtsschriften, die für meine Zwecke von großer Wichtigkeit waren. Und das alles zweifellos in keiner anderen Absicht als in der, der Wahrheit zu dienen.
In der Zeit unseres zweiwöchentlichen Aufenthalts in Tschita verbrachte ich die Tagesstunden größtenteils im Verkehr mit Beamten und »wohlgesinnten« Bürgern, um jeden 176 Verdacht von uns abzulenken; nachts dagegen kamen wir mit den politischen Verschickten zusammen. Wir fanden sie gewöhnlich in dem von ihnen zu Tischlerarbeiten benützten Holzbau, der – wie bei unserem ersten Besuch in Tschita schon erwähnt wurde – seinerzeit von den Dezembristen bewohnt wurde. Es fanden sich ihrer zehn bis fünfzehn dort ein. Unter diesen befanden sich Männer und Frauen von bedeutender Bildung. Ich hatte sie recht liebgewonnen und mit einem Mischgefühl von Freude und Trauer gedenke ich der Stunden, die ich in ihrer Mitte verbrachte. Immer sprachen wir da nicht von den ernsten und trüben Verhältnissen russischen Lebens. Ein oder der andere nahm zuweilen eine alte Guitarre hervor und begleitete damit seinen Sang russischer Volkslieder. Auch wir pflegten manchmal eines unserer heimischen Liedchen anzustimmen. Und dann kam es auch vor, daß wir im Chor revolutionäre Lieder sangen. Aber immer wieder kamen wir auf die Hauptgegenstände unserer Gespräche zurück, auf die Lage Rußlands, die revolutionäre Bewegung und auf das Leben der Verschickten. Hier vernahm ich manches dessen, was ich früher mitgeteilt habe, oft gräßliche und herzzerbrechende Geschichten, die mir nach der Heimkehr jeden Schlummer raubten. Es ist eben etwas anderes, dergleichen in nüchternen Buchstaben vor sich zu sehen, etwa in der Weise wie ich es hier gebe, ein anderes wieder, es von den Lippen jener Menschen zu vernehmen, die selbst dabei gelitten hatten. Ich schäme mich nicht, es zu gestehen: beim Anhören dieser Schrecklichkeiten ballten sich oft unwillkürlich krampfhaft meine Hände und die Thränen füllten mein Auge. Alle Mühseligkeiten der Reise sind leichter zu ertragen als seelische Aufregungen dieser Art. Überdies waren wir auch von der Angst nicht frei, verhaftet und durchsucht zu werden. Wir bemerkten zwar nicht, daß wir streng beobachtet wurden, aber wir hatten einen anderen Grund der Befürchtung. Die Nachbarstube in unserem Hotel wurde von vier Offizieren bewohnt, darunter ein Hauptmann und ein Oberst der Gendarmerie. Frost hörte 177 nun durch die dünne Scheidewand, wie sie unsere Reise in Sibirien erörterten und dabei auch mit dem Gedanken sich beschäftigten ob es nicht nützlich wäre, unsere Papiere sich anzueignen, doch wenigstens einer Durchsicht zu unterziehen.
In einer der letzten Nächte unserer Anwesenheit in Tschita kam ich einmal vom Besuche der politischen Verschickten erst gegen die zweite Stunde heim. Die Straßen waren still; die Fenster unseres Gasthofes dunkel; der Hausknecht, der mir öffnete, sah verschlafen drein. Frost schlief fest in unserer gemeinschaftlichen Stube. Ich war von den Erzählungen der Verschickten zu sehr aufgeregt, als daß ich Ruhe hätte finden können, ich zündete daher die Kerze an und legte mich auf die Erde, den Kopf nach der dünnen Wand gerichtet, die unsere Stube von jener der Offiziere trennte. Überdies war da noch eine Verbindungsthüre vorhanden, die wohl verschlossen war, die aber einen klaffenden Spalt aufwies, durch welchen man jedes Wort hören konnte und fast alles auch wahrnehmen, was in der Nachbarstube vorging. Doch ich hörte nichts als die regelmäßigen Atemzüge Frosts. Plötzlich aber wurde die Stille von dem lauten Knall eines Revolverschusses unterbrochen, der just über meinem Haupte auf der anderen Seite die Mauer einschlug. Ich fuhr auf und horchte. Nichts wurde lauter als das Losbröckeln des Maueranwurfs an der Schußstelle. Frost wurde wach und fragte:
»Was war das?«
»Jemand hat einen Revolver gegen die Wand abgefeuert,« antwortete ich leise.
»Wieviel Uhr ist?«
»Etwa halb drei. Doch ruhig! Horchen wir!«
Einige Minuten lauschten wir aufmerksam. Aber nichts ließ sich vernehmen, tiefste Stille herrschte im ganzen Hause.
Und doch wußte ich, daß nebenan vier Männer sich befanden. Sollte einer von ihnen einen Selbstmord verübt haben? Doch da wären wohl die anderen aufgefahren und hätten auch Licht gemacht. Der Knall war so laut, daß er 178 im ganzen Hause gehört werden mußte und die Ruhe, die dem folgte, war noch auffälliger als der Schuß selbst.
»Wir wollen fragen, was das zu bedeuten habe,« flüsterte Frost.
»Nein!« antwortete ich in derselben Weise. »Was kümmert das uns. Wir sind ja nicht verletzt worden.«
Ich fürchtete hier in eine dunkle Angelegenheit hineingezogen zu werden, die der Polizei einen Vorwand bieten könnte unsere Sachen zu durchsuchen. Es schien mir daher am besten »stiller als Wasser und niedriger als Gras« – wie ein russisches Sprichwort sagt – zu bleiben, und zu warten, was da noch kommen mag. Daß der Schuß mit böser Absicht nach uns gerichtet war, konnte ich nicht annehmen.
Nach einigen Minuten vernahm ich wieder ein Geräusch, als ob jemand Vorkehrungen zum Schießen getroffen hätte, dann wieder ein Geflüster, wovon ich nur die Frage verstehen konnte, die einer dahin lautend richtete, wieviel Patronen noch vorrätig wären. Dann wurde alles wieder still und wir vernahmen die ganze Nacht keinen Laut mehr von drüben her.
Was dieser Schuß in später Nacht in einem dunkeln Zimmer eigentlich bedeuten sollte, habe ich nie erfahren. Ich vermute, es galt da einen Scherz sich mit uns zu machen. Hätte man mich am anderen Tag über den Vorfall befragt, so wäre meine Antwort gewesen: Pistolenschüsse in der Nacht wären in amerikanischen Hotels nichts Neues; ich staunte nur, daß man am andern Morgen keine Leichen fortgeschafft habe.
Ob die Polizei von unserem Verkehr mit den politischen Verschickten zu Tschita gleich Kenntnis hatte, weiß ich nicht, später hat sie es zweifellos erfahren; das schloß ich aus dem Umstande, daß der einzige Brief, den ich von dort erhielt, einige harmlose Bemerkungen von dem Kaufmann Nemeroff, aufgeschnitten mir zukam.
Die wichtigsten Papiere hatte ich bisher in einem Ledergürtel um den Leib getragen; aber nun wurde dieser doch zu 179 umfangreich und zu schwer und ich mußte für eine andere Versorgung der Schriftstücke Vorkehrungen treffen, besonders vorsichtig, da die Möglichkeit einer polizeilichen Durchsuchung, wie aus dem Vorstehenden zu entnehmen ist, nicht sehr unwahrscheinlich dünkte. Ich verbarg den größten Teil in einem geheimen Hohlraum meines Koffers, wo es kaum entdeckt werden konnte. Die andern Schriftstücke verbarg ich in den Büchern. Wir hatten davon zwar nur wenig mitgebracht, allein die Verschickten in Tschita gaben mir einige Bände. Einen besonders wichtigen Brief verbarg ich zwischen einem Bilderrahmen.
Mittwoch am 9. Dezember nahmen wir von den Verschickten Abschied, verteilten einige Kleinigkeiten als Angedenken und einige Stunden später fuhren wir im Galopp nach der Richtung von Irkutsk. Fünf Tage und fünf Nächte fuhren wir ohne nennenswerte Unterbrechung dahin. Der Baikalsee war noch offen, aber die Schifffahrt war eingestellt, wir mußten daher die hohe, schön gelegene Straße wählen, die an dem südlichen Ende der See sich erstreckte.
Montag abends, am 14. Dezember, kaum 100 Kilometer von unserem Ziele entfernt, bot sich uns ein Hindernis, es waren nämlich keine Postpferde zu haben. Seit drei Monaten von jedem Verkehr mit der civilisierten Welt abgeschnitten, seit zehn Wochen ohne Nachrichten von der Heimat, waren wir umso begieriger schon die Hauptstadt Ostsibiriens zu erreichen. Wir mieteten daher einen Schlitten, um darauf zur nächsten Poststation zu fahren; dabei ahnte uns nicht, was wir da alles ausstehen sollten.
Es herrschte eine fürchterliche Kälte. Der Weg führte über einen hohen bewaldeten Berg. Die ausgehungerten Bauernpferde wollten nach einigen Kilometern den Wagen nicht mehr bergauf ziehen, wir waren daher genötigt abzusteigen und bei 20 Grad Fahrenheit einen Teil des Weges zu Fuß zurückzulegen. Halbtot langten wir um zwei Uhr morgens im Posthause an, nachdem ich auf dem letzten Hügel 180 den wir überschreiten mußten, mehr als ein Dutzendmal hinfiel.
Dienstag kamen wir nach Irkutsk, fuhren zur Post, bevor wir noch im »Hotel Moskau« Unterkunft genommen und lasen vor allem die für uns indes eingelaufenen Briefe, etwa ein halbes Hundert.
Trotz der großen Kälte war die Angara noch nicht ganz zugefroren und da die Fähre eingestellt und auch keine Brücke vorhanden war, konnten wir nicht hinüber. Drei Wochen warteten wir voll Ungeduld, daß der Fluß eine feste Decke bilde und als das nicht erfolgte, beschlossen wir, etwa 150 Kilometer aufwärts zu fahren wo, wie die Bauern uns sagten, eine feste Eisdecke schon vorhanden wäre. Wir verkauften unsern alten Wagen, der hier zurückgeblieben war, schafften uns einen Schlitten an und fuhren am 8. Januar mit einem Dreigespann von Postpferden dahin.
Während des Weges, etwa 60 Kilometer unterhalb Irkutsk, befand sich das Alexandrofski-Gefängnis, das für eines der größten und besten gilt und ursprünglich eine Spiritusfabrik war. Wir besichtigten es. Der Gouverneur-Stellvertreter von Irkutsk hatte mir es als eine Art Mustergefängnis geschildert und da ich dergleichen in Sibirien noch nicht zu Gesicht bekam, war ich umso neugieriger.
Der Gefängnisdirektor Schipagin, ein angenehmer, gebildeter Offizier von etwa 40 Jahren war von unserer Ankunft schon verständigt worden. Er bestand vor allem darauf, daß wir mit ihm frühstückten und nachdem dies geschehen war, führte er uns ins Gefängnis.
Es war ein Ziegelbau von zwei Stockwerken mit Blechdach und stand in einem umfangreichen Hof, der von Mauern umgeben war. Der etwas unregelmäßig errichtete Bau war ungefähr 100 Meter lang, 30 breit und enthielt 75 Zellen für gemeinschaftliche Häftlinge, zehn für Einzelhaft und fünf Geheimzellen für ganz besondere Verbrecher. Es befanden sich 181 992 Gefangene darin und 99 lebten bereits im »freien Kommando«.
Der Direktor zeigte uns erst die Mühle, wo von etwa 100 Sträflingen der Mehlbedarf des Gefängnisses hergestellt wurde. Die Luft war hier frisch, die Arbeit zwar sehr anstrengend aber doch nicht gar zu erschöpfend. Die Männer, die die Schwungräder drehten, wurden, sobald sie müde waren, von anderen abgelöst. Der Direktor meinte, das wäre hier die anstrengendste Arbeit und diese wurde nur täglich drei bis vier Stunden verrichtet.
Wir besuchten dann die Zellen, die in ihrer Größe sehr verschieden waren, aber überall genug Raum für die Vorhandenen bot; überall herrschte auch die vollkommenste Sauberkeit. Das Einzige, was hier vielleicht zu tadeln war, das ist der Mangel an Bettzeug. Alle Zellen waren auch mit Ventilationsapparaten versehen, wovon freilich einige von den Gefangenen selbst verstopft wurden. Auch in den Korridoren herrschte Ordnung und Reinlichkeit.
Wir gingen dann in die Küche, wo täglich für mehr als tausend Personen gekocht wird. Auch hier fand ich nichts zu tadeln. Ich kostete Brot und Suppe der Gefangenen, beides war recht schmackhaft. Der Direktor erklärte mir, die Gefangenen erhalten täglich drei Pfund Brot, sieben Unzen Fleisch und drei Unzen Graupen; zuweilen auch etwas Kartoffel und Gemüse. Thee und Zucker erhalten die Häftlinge nicht, doch ist es ihnen nicht verwehrt, solches für ihr eigenes Geld zu kaufen.
Herr Schipagin fragte nun, ob wir auch die Schulstube besichtigen wollten. Ich sagte selbstverständlich nicht nein und bemerkte, ich hätte bisher keine Ahnung gehabt, daß dergleichen in russischen Gefängnissen zu finden sei.
Es war eine helle, reine Stube im zweiten Stockwerk, ausgestattet mit einfachen Pulten, die von den Häftlingen selbst angefertigt wurden und verschiedene Landkarten, Globen und Bilder. Es war damals gerade keine Unterrichtszeit, doch 182 der Direktor bemerkte mir, daß die Gefangenen zuweilen auch herkämen um Gesangsstunden zu halten oder Predigten des Geistlichen anzuhören. An Büchern sei freilich Mangel.
In den Werkstätten waren ungefähr dreißig mit Schneider-, Schuster- und Tischlerarbeiten beschäftigt; auch hier war alles in größter Ordnung. Der Direktor erklärte mir, die Häftlinge können jede Arbeit, die ihnen geläufig ist, verrichten und zwei Drittel des verdienten Lohnes sei ihr Eigentum. Davon könnten sie über die Hälfte gebührlich verfügen, während die andere Hälfte erst zur Zeit ihres Austrittes aus dem Gefängnis ihnen übergeben wird.
Die Krankenabteilung hatte nur 42 Kranke. Die Luft war hier ebenfalls frisch und auch sonst herrschte dieselbe Ordnung wie überall.
Der Direktor war nicht wenig erfreut, als ich für sein Gefängnis nur Worte vollsten Lobes hatte. Ein »Mustergefängnis« im allgemeinen war es wohl nicht, aber es konnte immerhin dem ganzen sibirischen Gefängniswesen als Muster dienen.
Sonntag Abend besuchten wir noch einmal das Gefängnis, um zu sehen, in welchem Zustande es sich befinde, nachdem die Gefangenen schlafen gegangen. Sie schliefen reihenweise auf ihren Pritschen, ohne irgend welche Unterlage und fuhren bei unserem Eintritt erschreckt empor, allein sie machten keine Bemerkung und auch wir schritten wortlos dahin. Wir besichtigten sechs oder sieben Zellen. Überall standen die Unratkübel, die Luft war auch nicht so rein wie am Tage, aber keineswegs so arg wie die in anderen Gefängnissen. Im großen und ganzen läßt sich das Alexandrofskigefängnis nur loben, was ich ausdrücklich bemerken will, da ich zu derartigem Lob bisher nicht den geringsten Anlaß gefunden hatte.
Montag setzten wir unsere Reise fort. Die Straße war überschwemmt gewesen und wir kamen auf der beeisten Straße nur schwerfällig vorwärts. Endlich mußten wir sogar, da der Weg immer abschüssiger wurde, unseren Schlitten der 183 schwachen Eisdecke des Flusses anvertrauen und brachen bei dem Dorfe Olon auch wirklich ein. Glücklicherweise war unser Schlitten breit, er sank daher nicht so leicht und mit Mühe gelang es uns herauszukommen. Dann schnitten wir das Geschirr durch, befreiten die Pferde, zogen mit anderen Pferden unseren Schlitten heraus und kehrten nach Olon zurück, um den Schaden auszubessern.
Dem Rat der Dorfbewohner folgend, gaben wir den Plan auf, auf dem Flusse unsere Fahrt fortzusetzen, denn es dunkelte bereits und ein wiederholter Eisbruch hätte dann wahrscheinlich einen minder günstigen Verlauf genommen.
Abends bot sich uns ein junger Bauer an – von dem Versprechen einer Bezahlung von 15 Rubel verlockt – um uns auf einem Umweg über die Berge ins nächste Dorf stromabwärts zu bringen. Der Schnee war nicht hoch, er hoffte, daß wir durchkämen und wir fuhren auch nachts ab.
Während unserer ganzen Fahrt in Ostsibirien haben wir keine schrecklichere Nacht verbracht, als diese. Es war bitter kalt und überdies erhob sich noch ein Schneesturm. Wir stürzten, verloren den Weg, gerieten in tiefen Schnee und mußten oft den schweren Schlitten ziehen helfen, bis wir ganz erschöpft waren.
Gegen Morgen fühlte ich ein Stechen in der Lunge und bald darauf konnte ich nicht mehr auf den Füßen stehen. Ich überließ Frost und dem Kutscher alle Sorgen des Weges und kroch in den Schlitten, wo ich bald darauf die Besinnung verlor. Was sich da noch bis zur Morgenstunde ereignete, davon hatte ich keine Ahnung.
Morgens weckte mich Hundegebell und ich bemerkte freudig den aufsteigenden Rauch der nahen Holzhäuser. Es war dies das Dörfchen Paschka. Und nachdem wir uns gewärmt und gekräftet hatten, fuhren wir weiter, um in später Nachmittagsstunde die festgefrorene Angara zu übersetzen.
Ende des zweiten Teiles.