George Kennan
Sibirien
George Kennan

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4. Meine Begegnung mit politischen Verbannten.

Unsere erste Begegnung mit politischen Verbannten erfolgte zufälliger Weise durch Vermittlung einer Amtsperson. Zu den vielen Beamten, die wir in Sibirien kennen lernten, zählte auch – begreiflicherweise folgt hier ein fingierter Name – ein Herr Pawlofski, ein recht intelligenter Mann, der lange Zeit eine bedeutende Stellung im russischen Staatsdienst einnahm und der uns als gründlicher Kenner sibirischer Verhältnisse geschildert wurde. Zwar machte Herr Pawlofski schon im ersten Augenblick unserer Bekanntschaft auf mich den Eindruck eines gebildeten, menschlich fühlenden und freisinnigen Mannes, aber ich zögerte doch, ihn über die Verhältnisse der politischen Verbannten auszufragen, denn man gab mir in Petersburg den Rat, in solchen Dingen sehr vorsichtig zu sein, da die Regierung derlei Forschungen sehr mißgünstig aufnehme. Ich beabsichtigte daher, heimlich meine Absichten zu verwirklichen. Es war mir eben unbekannt, daß russische Beamte oft mit den politischen Verbannten sympathisieren und nie hätte ich gedacht, daß mir einer aus ihrer Reihe die Bekanntschaft vermitteln werde. Ich vermied in meinen Gesprächen mit Herrn Pawlofski dieses Thema zu berühren, er hatte also keine Ursache anzunehmen, ich interessiere mich für die revolutionäre Bewegung Rußlands und die politischen Verbannten.

Eines Nachmittags, wir besprachen just amerikanische Verhältnisse, richtete Herr Pawlofski plötzlich die Frage an mich: »Haben Sie, Herr Kennan, hier dem Zuzug junger Leute einige Aufmerksamkeit gewidmet?«

Im ersten Augenblick wußte ich nicht, was diese Frage zu bedeuten habe und antwortete auch in dieser Weise.

»Ich meine,« sprach er, »die vielen jungen Männer und Frauen, die jetzt aus dem europäischen Rußland hierher geschickt werden; ich dachte, die Sache hätte Ihr Interesse erregt?« Er sah mich dabei ernst und bedeutungsvoll an, als wollte er mein Innerstes erforschen und ich merkte, daß er auf die74 politischen Verbannten anspiele. Trotzdem ließ ich nicht außer Acht, daß ich einen russischen Beamten vor mir habe und antwortete recht vorsichtig, ich hätte davon manches wohl gehört, aber noch nichts selbst beobachtet.

»Mir scheint,« setzte er die Rede, mit denselben vielsagenden Blicken wie vorher, fort, »diese Bewegung ist eine sehr merkwürdige sociale Erscheinung, ganz danach angethan, das Interesse eines fremden Reisenden zu erwecken.«

Ich bemerkte, daß mich alle socialen Erscheinungen Rußlands ganz besonders interessieren und daß ich sicherlich dieser Bewegung die größte Aufmerksamkeit widmen würde, wäre mir nur erst mehr als bisher davon bekannt.

»Viele dieser Leute sind von reicher Begabung: Männer mit akademischer Bildung und Frauen von beachtungswerten Charakter,« sprach er wieder.

»Ich hörte davon. Es mag interessant sein, diese Leute näher kennen zu lernen.«

»Gewiß. Es sind Männer und Frauen, die unter andern Umständen dem Vaterlande sehr nützlich sein könnten. Ich staune, daß diese Leute Ihr Interesse noch nicht erweckt haben.«

In dieser Weise sondierten wir einander eine gute Weile, jeder bemüht, die aufrichtige Meinung des andern zu erforschen, ohne seine eigene unvorsichtig preiszugeben. Immerhin konnte ich aus seinen Worten und Mienen entnehmen, daß er selbst den »jungen Männern und Frauen, die jetzt aus dem europäischen Rußland hierhergeschickt werden,« ein sympathisches Interesse widmete, daß er es aber nicht wage, offen sich zu äußern, ehe er meiner Vertrauenswürdigkeit sicher sei. Ich wieder war sehr vorsichtig, weil ich fürchtete, diese Äußerungen eines russischen Beamten mögen eine Finte sein, um mir ein Geständnis über den eigentlichen Zweck unserer sibirischen Reise zu entlocken. Daß ein russischer Beamter über die verbannten Feinde der Regierung derart freundlich sich äußern könne, schien mir zu unglaublich, als daß ich nicht mißtrauisch hätte sein müssen.

75 Müde dieses Versteckspiels sprach ich endlich ganz offen:

»Meinen Sie vielleicht die politischen Verbannten? Sind das die jungen Leute auf die Sie anspielten?«

»Jawohl!« antwortete er, »ich glaubte Sie verständen mich. Meiner Ansicht nach ist die Verbannung nach Sibirien so vieler junger Leute eine Erscheinung, die die Aufmerksamkeit eines Reisenden beanspruchen kann.«

»Sicherlich. Aber wie erfährt man da Näheres? Ich weiß nicht wo die politischen Verbannten sich aufhalten und wie ich ihre Bekanntschaft mache. Auch hörte ich, daß die Regierung dem Verkehr Fremder mit politischen Verbannten nicht sehr gewogen ist.«

»Die politischen Verbannten sind leicht zu finden,« erwiderte Herr Pawlofski, »es giebt hier deren genug und nichts hindert Sie, mit ihnen in Verbindung zu treten, wenn es Ihnen gefällt. In Semipalatinsk allein sind 30 bis 40,Diese Schätzung war zu hoch; es befanden sich dort nur 22, darunter vier Frauen. sie gehen auf der Straße wie andere Leute, warum sollten Sie nicht zufällig mit ihnen zusammentreffen können?«

Nachdem das gegenseitige Mißtrauen verschwunden war, wurden wir bald vertraut. Ich überzeugte mich, daß seine sympathischen Worte keine Finte gewesen und er schien der Meinung zu sein, daß ich Vernunft und Takt genug besäße, seine Äußerungen verschwiegen zu halten. Offenherzig gab ich ihm meine Antipathie gegen die Nihilisten zu erkennen, erklärte ihm, daß ich sie für Fanatiker halte, deren wildes Sinnen jedem Staat gefährlich werden müsse.

»Nicht doch!« meinte er; »es sind vernünftige und besonnene Leute, die uns gar keine Schwierigkeiten machen; der Gouverneur behandelt sie auch recht freundlich.«

Aus der Folge unseres Gespräches erfuhr ich dann, daß alle politischen Verbannten von Semipalatinsk ohne gerichtliches Urteil, auf Befehl des Zaren und auf Verfügung des 76 Ministers des Innern hin verschickt wurden. Ihre Verbannungszeit war zwischen zwei bis fünf Jahren festgesetzt, nach deren Verlauf durften sie, falls die sibirischen Behörden mit ihrem Betragen zufrieden sind, auf eigene Kosten wieder nach der Heimat zurückkehren. Einige hatten in Semipalatinsk Beschäftigung gefunden und verdienten dadurch ihren Lebensbedarf, andere wieder erhielten von Verwandten oder Freunden in der Heimat Unterstützungen und die übrigen bekamen vom Staate den für Verbannte bestimmten Betrag: Leute von den privilegierten Gesellschaftsklassen sechs Rubel, die andern zwei Rubel siebzig Kopeken monatlich.

»Natürlich,« meinte Herr Pawlofski, »sind solche Beträge für den Lebensbedarf zu gering. Mit neun Kopeken für den Tag kann keiner leben und wenn die Vermögenderen sie nicht unterstützen würden, so wäre die Not noch ärger, als sie bereits ist. Die meisten sind recht intelligent und der Gouverneur Tseklinski erlaubt ihnen, Unterricht zu erteilen, obgleich das laut Gesetz den Verbannten nicht gestattet ist. Die Frauen beschäftigen sich auch mit Nähen und Stricken und verdienen derart etwas Geld. Alle dürfen Briefe absenden und empfangen, erlaubte Bücher und Zeitschriften lesen und besitzen ein großes Maß persönlicher Freiheit, trotzdem sie unter Polizeiaufsicht stehen.«

»Welcher Art war das Verbrechen dieser Leute?« fragte ich. »Waren sie Verschwörer?«

»O nein,« entgegnete Herr Pawlofski lächelnd, »sie waren nur »neblagonadezhni« (unzuverlässig). Einige gehörten verbotenen Vereinen an, andere besaßen oder führten verbotene Bücher, wieder andere waren mit Leuten befreundet, die als politische Verbrecher galten, oder hatten an Studentenunruhen teilgenommen. Die meisten sind eben administrativ Verschickte, das heißt Leute, bei welchen es die Regierung für gut findet, sie aus der Heimat zu entfernen und in irgend einem Teil des Reiches unter Polizeiaufsicht zu stellen. Eigentliche Verschwörer, Männer und Frauen, die bei aufrührerischen 77 Handlungen thätig waren, werden in entlegenere Gegenden Sibiriens verschickt und müssen dort Zwangsarbeit verrichten. Nach den Steppenprovinzen verbannt zu werden, gilt als leichte Strafe, die gewöhnlich nur den auf administrativem Wege Verschickten wird.«

Ich fragte nach den Charakter der politischen Verbannten.

»Ich könnte Ihnen da nichts Nachteiliges berichten. Übrigens, wenn Sie sich für diese Leute interessieren, so will ich Sie mit ihnen bekannt machen. Sie können sich dann leicht ein Urteil bilden.«

Ich erklärte, diese Bekanntschaft wäre mir recht lieb und er schlug vor, wir sollten nun gleich einen jungen Verbannten, Namens Lobonofski aufsuchen, der jetzt einen Vorhang für das kleine Stadttheater male. »Er ist eine Art Künstler,« fügte Herr Pawlofski dazu, »und hat einige Skizzen aus Sibirien gezeichnet. Sie zeichnen ja auch und sammeln derlei Skizzen, was Wunder, wenn Sie nun die seinigen zu sehen wünschen!«

»Gewiß! Skizzen lieb' ich über alles und auch Theatervorhänge interessieren mich, mag auch der Maler Nihilist sein.«

Sein Wagen stand vor der Thür, wir fuhren nach dem Hause, wo der Erwähnte den Theatervorhang herstellte.

Heute, nachdem ich ein volles Jahr mit politischen Verbannten verkehrte, ist es mir kaum mehr möglich, mich in jene Begriffe wieder hinein zu finden, die ich vor dieser Zeit von jenen Leuten hatte. Ich hielt diese Nihilisten für verdrossene, halbgebildete Starrköpfe, für Fanatiker, stets bereit sich aufzuopfern, aber auch für Personen mit den tollsten Begriffen von Staat und Gesellschaft und nur mit dem Geringsten dessen versehen, was wir gesunden Menschenverstand nennen. Selbst nach dem, was Herr Pawlofski mir gesagt, wähnte ich doch nur in dem Vorhangmaler einen langhaarigen, wild umher blickenden Gesellen zu finden, der sich in Verwünschungen gegen jede Regierung ergehen durfte und mir vielleicht auch zumuten könnte, die Ermordung des Zaren Alexanders II. gutzuheißen.

78 Das Blockhaus, in dem sich Herrn Lobonofskis Kunstwerkstätte befand, hatte sonst keine Bewohner; wir traten unangemeldet ein. Als ich und mein Begleiter eintraten, sah ich ein großes Stück Leinwand, das eine ganze Wand bedeckte, einen blonden, etwa 30jährigen Mann, gekleidet in braunen Leinen, in den Händen Pinsel und Palette. Seine stämmige Gestalt war ebenmäßig, seine Umgangsformen zeigten den gebildeten Mann. Er hatte klare Blauaugen, ein dichtes Blondhaar, das in die hohe Stirne hing. Der volle blonde Bart gab dem schön geformten Kopf einen Ausdruck würdiger Männlichkeit. Sein offenes, gutmütiges Gesicht bekundete eine leicht erregbare Feinfühligkeit, aber zugleich auch Kraft und Selbstbeherrschung.

Herr Pawlofski stellte mich als einen amerikanischen Reisenden vor, der ein lebhaftes Interesse hege für sibirische Landschaften und der auch seine Skizzen besichtigen möchte.

Herr Lobonofski begrüßte mich mit gelassener Freundlichkeit; dann brachte er seine Zeichnungen herbei, deren Mängel entschuldigend. Er habe sie im Gefängnis auf grobem Papier gezeichnet und mußte sich auf Abbildungen von Gegenden beschränken, die er vom Fenster seines Gefängnisses erblicken konnte.

Die Skizzen zeigten eine ungeübte Hand, obgleich sie nicht ohne Talent angefertigt waren. Sie stellten das Innere von Gefängnissen, Porträts der Gefangenen und eine Reihe Landschaftsbilder dar.

Unser Gespräch beschränkte sich hauptsächlich auf die vorliegenden Gegenstände, politische Fragen wurden nicht erörtert. Er erzählte von seiner Fahrt nach Sibirien in einer Weise, als ob es eine freiwillige gewesen wäre; nichts von seiner Erzählung ließ erkennen, daß er ein Nihilist, ein Verbannter sei, außer es kam just die Rede auf ein Gefängnis oder Etappenhaus. Er war ruhig, bescheiden, offenherzig und wußte sich taktvoll in jede Wendung des Gespräches hineinzufinden. – Ich beobachtete ihn genau, konnte jedoch keine Spur von 79 Überspanntheit an ihm finden. Er mochte meine kritischprüfenden Blicke bemerken, ich sah ihn an, wie man eine bisher unbekannte Art von Verbrechern anzusehen pflegt – aber er zeigte dabei weder Verlegenheit noch Selbstbewußtsein, sondern benahm sich mit der würdigen Ruhe eines wohlerzogenen Gentlemans. Nach einer halbstündigen Unterhaltung verließ ich ihn und er lud mich dabei ein, ihn abends in Gesellschaft des Herrn Frost zu besuchen; er erwähnte dabei, daß er einige Freunde einladen werde, um sie mit uns bekannt zu machen. Ich dankte und versprach zu kommen.

»Nun,« frug mich Herr Pawlofski, als wir fortgegangen waren, »wie gefällt Ihnen dieser politische Verbannte?«

»Er machte auf mich einen sehr günstigen Eindruck. Sind alle so?«

»Das möchte ich nicht behaupten, aber es sind keine bösen Menschen. Es befindet sich hier in der Stadt noch ein interessanter Verbannter, den Sie kennen lernen müssen, ein Herr Leontieff. Er ist in der Schreibstube des Friedensrichter beschäftigt, wo er mit ihm anthropologische Studien über die Kirgisen vornimmt. Mir scheint, sie arbeiten jetzt an einer Monographie über die Bräuche der Kirgisen. Besuchen Sie doch den Friedensrichter Herrn Makowetski! Er wird Ihnen dann wahrscheinlich Herrn Leontieff vorstellen; Sie werden in beiden recht vernünftige und intelligente Männer finden.«

Ich besuchte den Friedensrichter unter dem Vorwand, seine Erlaubnis zum Abzeichnen kirgisischer Geräte in der Stadtbibliothek zu erbitten, zu deren Direktion er gehörte. Herr Makowetski schien von meinem Wunsche sehr erfreut zu sein und stellte mir wirklich auch seinen Sekretär Herrn Leontieff vor, der mir die nötigen Auskünfte über den kirgisischen Volksstamm geben sollte. Leontieff war ein junger Mann mit sympathischen Zügen, etwa 25 Jahre alt, etwas unter Mittelgröße; Bart und Haar waren hellbraun, die Augen grau, die Nase ein wenig gebogen und das Kinn gerundet. Er machte den Eindruck eines denkenden, den Wissenschaften ganz 80 ergebenen Mannes. Später erfuhr ich, daß er der Sohn eines Offiziers sei, der früher die Kosakengarnison von Semipalatinsk kommandierte. Als Knabe wurde er in der kaiserlichen Pagenschule zu Petersburg erzogen, etwa 18 Jahre alt kam er an die Universität, wo er nach vierjährigen Studien unter der Beschuldigung verhaftet wurde, mit den politischen Gefangenen der Petropawlowskfestung in geheimer Verbindung zu stehen. Auf administrativem Wege wurde er dann für die Dauer von fünf Jahren nach Westsibirien verschickt.

Obgleich er sich reservierter verhielt als Herr Lobonofski, machte er doch keinen minder günstigen Eindruck auf mich, und als ich nach einer halbstündigen Unterhaltung mit ihm heimkehrte, dachte ich mir, daß ich meine Meinung über Nihilisten stark ändern müsse, wenn alle diesen beiden glichen.

Um acht Uhr abends klopften wir, Herr Frost und ich, an der Thür Lobonofskis, der uns freundlichst willkommen hieß. Er bewohnte in einem kleinen Holzhaus unweit unseres Hotels ein einziges Stübchen, dessen Holzwände getüncht waren und auf dessen ungehobelten Dielen kein Teppich lag. Rechts von der Thür befand sich eine einfache, angestrichene Bettstelle, im Winkel dahinter ein dreieckiges Tischchen, worauf einige Bücher lagen, darunter Herbert Spencers »Moralische, politische und ästhetische Untersuchungen« und seine »Grundzüge der Psychologie«. Gegenüber befand sich ein einfaches Gestell, worauf auch etliche Bücher lagen, darunter das Neue Testament in englischer Sprache, ein Herbarium aus grobem Packpapier und ein Opernglas. Zwischen zwei Fensterchen, die in den Hof mündeten, stand ein großer unangestrichener Holztisch ohne Decktuch, und darauf lag eine französische Übersetzung von Balfours »Erhaltung der Kraft«, die Lobonofski bei unserm Eintritt just las. Außer noch einigen Holzstühlen wies das Stübchen keine weiteren Gegenstände auf. Diese ganze ärmliche, aber sauber gehaltene Einrichtung zeigte, daß deren Besitzer nur das allernötigste sich gewähren konnte.

Er richtete verschiedene unsere sibirische Reise betreffende 81 Fragen an uns, drückte seine Freude aus, in seinem Heim Amerikaner begrüßen zu können, und sprach dann lächelnd zu mir:

»Sie haben wahrscheinlich in Amerika Entsetzliches über die Nihilisten gehört.«

»Jawohl,« antwortete ich, »wir hörten von ihnen nie anders als in Verbindung mit Verschwörungen oder Mordversuchen; ich muß gestehen, daß ich eine recht schlechte Meinung von ihnen hatte. Das Wort Nihilist ist bei uns die Bezeichnung für eine Person, die alles Bestehende zu vernichten strebt.«

»Nihilist ist eine veraltete Bezeichnung,« erklärte er, »die heute nicht mehr für die revolutionäre Partei Rußlands paßt, wenn sie überhaupt je gepaßt hat. Ich glaube nicht, daß Sie in ganz Sibirien auch nur einen einzigen Nihilisten finden werden, der Ihren Vorstellungen entspricht. Natürlich giebt es unter den Gegnern der Regierung Leute verschiedenster Ansichten, auch einige, die ein Schreckenssystem für nötig finden und zum Sturz der Regierung selbst den politischen Mord für berechtigt halten, aber selbst diese Terroristen planen nicht die Vernichtung alles Bestehenden. Ich glaube, jeder würde gern die Waffen strecken, wenn in Rußland eine konstitutionelle Regierung, Rede- und Preßfreiheit eingeführt würden, wenn die willkürlichen Verhaftungen und Verschickungen ein Ende nähmen. Kennen Sie die Zuschrift, welche die russischen Revolutionäre an Zar Alexander III. bei seiner Thronbesteigung gerichtet haben?«

»Nein!« antwortete ich, »aber ich hörte davon.«

»Es drückt die Wünsche der Partei aus und das feierliche Versprechen, von allen Gewaltthaten künftig abzustehen, wenn der Zar Redefreiheit gewährt, wenn er eine Nationalversammlung einberufe: sie erklärten auch, dieser von der Nationalversammlung gebilligten Regierung keine Opposition machen zu wollen. Leute, die solche Bedingungen stellen, planen doch nicht die Zerstörung alles Bestehenden! Sie werden doch wissen, 82 daß bei Ermordung des Präsidenten der Union, Garfield, »Der Bote des Volkswillens«, das Organ der russischen Revolutionspartei mit einem Trauerrand erschien, daß dieses Blatt in einem beredten Leitartikel den politischen Mord entschieden mißbilligte, in einem Lande, wo die Presse frei ist, wo ein öffentliches Gerichtsverfahren besteht, wo die Regierungsbeamten vom Volke gewählt werden?«

»Das ist mir unbekannt,« antwortete ich.

»So ist es,« fuhr er in seiner Rede fort. »Die Ermordung Garfields galt als politisches Verbrechen und wurde doch selbst von den entschiedensten russischen Terroristen mißbilligt.«

Das Erscheinen dreier junger Männer und einer Dame unterbrach unser Gespräch. Herr Lobonofski stellte sie uns als mit ihm befreundete Verbannte vor. Das äußere Erscheinen dieser Leute bot nichts Auffallendes. Einer von ihnen schien ein flotter Student, im Alter von ungefähr 25 Jahren zu sein, die andern zwei hatten das Aussehen gebildeter Bauern oder Handwerker von echt russischem Typus. In ihren Gesichtern lag Schwermut und auch etwas Apathie; das Leben und die Verbannung mochten sie vergrämt und verbittert haben. Die Dame, Frau Dicheskula, zeigte dagegen ein heiteres Temperament. Sie war ungefähr 30 Jahre alt, hatte eine schlanke, wohlgeformte, aber etwas zarte Gestalt, gekürztes braunes Haar, das in geschmeidigen Locken auf den Nacken fiel; das intelligente Gesicht zeigte Spuren vergangener Schönheit, die wohl von Wind und Wetter, vom Aufenthalt in den Gefängnissen und Etappenhäusern vernichtet wurde. Sie trug ein nettes Kleid von dunklem Stoff, an Hals und Ärmel mit weißen Spitzen verziert. Ihr Benehmen zeigte nichts von jener Härte und Excentricität, die ich bei Frauen dieser Art zu finden glaubte. Sie sprach gut und geläufig, lachte zuweilen recht heiter, wenn sie von ihrer Reise nach Sibirien erzählte und entschuldigte die auffallende kurze Haartracht mit dem Umstand, daß sie ihr im Gefängnis abgeschnitten wurden. Recht humoristisch wußte sie die Abenteuer zu schildern, die sie in der 83 Kirgisensteppe zwischen Akmola und Semipalatinsk erlebte. Daß sie neben ihrem Frohsinn auch ein tiefsinniges Gemüt besaß, zeigte sich in der Weise, wie sie uns einige Erlebnisse in Sibirien mitteilte. Sie war z. B. gerührt von der Teilnahme, welche die Bauern von Kamitschlowo, ein Dorf, das sie auf dem Wege zwischen Jekatarinenburg und Tjumen passierte, für die Verbannten bekundeten, jene hatten nämlich das dort befindliche Etappengefängnis gründlich gereinigt und mit Blumen geschmückt.

Nach der achten Stunde brachte Herr Lobonofski einen dampfenden Samowar herbei; Frau Dicheskula bereitete Thee und wir saßen dann den ganzen Abend an dem großen Tisch gesellig beisammen, als wären wir alte Bekannte, und sprachen über die revolutionäre Bewegung Rußlands, das Verbannungssystem, Kunst, Wissenschaft und auch über amerikanische Verhältnisse. Die vernünftige, ruhige Art, mit der diese Verbannten alles besprachen, machte den besten Eindruck auf mich; da war nichts von jener Leidenschaftlichkeit und Verbitterung zu merken, die ich bei ihnen vorausgesetzt hatte, nicht die mindeste Absicht durch Klagen und Übertreibungen ein Mitgefühl für ihre Leiden zu erwecken.

Der Dame wurde bei ihrer Verhaftung der größte Teil ihrer Effekten fortgenommen, sie mußte ein Jahr im Etappengefängnis zu Moskau in Einzelhaft verbringen, um dann ohne Urteil nach einem öden Ort der sibirischen Provinz Akmolinsk verschickt zu werden, und endlich von dort mitten im Winter nach Semipalatinsk. Und das alles besprach sie ohne jeden Nachdruck. Um die elfte Stunde verabschiedeten wir uns; wir hatten einen recht interessanten und angenehmen Abend gehabt.

Am nächsten Morgen fuhren wir mit Herrn Lobonofski und Frau Dicheskula am rechten Ufer des Irtisch entlang nach einem nur wenige Meilen entfernten Pappel- und Espengehölz, wo sechs bis acht politische Verbannte die Sommerzeit in Zelten verbrachten. Da waren im Schatten der Bäume ein großes Kirgisenzelt und einige kleinere Zelte aus 84 Baumwollenstoff aufgeschlagen, in denen einige Männer und Frauen lebten, welche der Hitze und dem Staub der Stadt auf diese Weise zu entrinnen suchten. Es waren darunter zwei junge Mädchen, etwa siebzehn Jahre alt, die noch in eine Schule zur Vollendung ihrer Erziehung gehörten. Ich konnte nicht fassen, warum man diese verbannt hatte, staatsgefährlich konnten sie doch nicht geworden sein. Als ich ihnen die Hand reichte und die mädchenhafte Scheu und Verlegenheit bemerkte, die flüchtige Röte ihrer Wangen, wenn ich das Wort an sie richtete – da empfand ich zum erstenmal ein Gefühl der Verachtung gegen die russische Regierung. »Wenn ich Zar wäre,« sagte ich zu Mister Frost, »mit einem Heer von Soldaten und Polizisten zu Befehl, und ich müßte mich vor Schulmädchen derart ängstigen, daß ich nicht ruhig schlafen könnte, ehe sie verbannt sind – ich würde lieber zu gunsten eines stärkeren und mutigeren Mannes auf den Thron verzichten.« Der Gedanke, daß die mächtige russische Regierung sich nicht anders vor jungen halbwüchsigen Mädchen zu schützen wisse, als sie ihren Familien zu entziehen und nach einer asiatischen Einöde zu versetzen, kam mir geradezu läppisch vor.

In diesem schattigen Lager verbrachten wir den ganzen heißen Sommertag. Mister Frost skizzierte und ich plauderte mit den jungen Leuten, las einem, der just das Englische lernte, aus Irving vor, beantwortete ihre Fragen über Amerika und richtete auch an sie Fragen über Rußland und Sibirien.

Gegen Abend kehrten wir in die Stadt zurück und begaben uns zu Herrn Leontieff, der den größten Teil der Verbannten, die ich noch nicht kannte, zu sich geladen hatte. Er empfing uns in einer Stube, die größer und besser eingerichtet war als jene Lobonofskis, aber ich bemerkte auch hier nichts, was meine Aufmerksamkeit hätte erregen können, ausgenommen vielleicht das Porträt Spencers, das an der Wand hing. Es waren mehr als ein Dutzend Verbannte anwesend, darunter Herr Lobonofski, Frau Dicheskula, Dr. Bogomolets, ein 85 junger Arzt, dessen Gattin zu Zwangsarbeit in den Bergwerken von Kara verurteilt war, und zwei Geschwister Prisedeski.

Die Unterhaltung, die nun folgte, war lebhaft und ungezwungen. Auf meine Fragen hin erzählte Leontieff manches von der Stadtbibliothek, welche Annehmlichkeiten sie den Verbannten böte und wie nützlich sie auch für die geistige Entwicklung der Bewohner sei. »Selbst die Kirgisen,« erzählte er, »machen von ihr Gebrauch. Ich kenne hier einen alten Kirgisen der Buckle, Mill und Drapper liest.«

»Ein Kirgise?« rief ein Student verwundert fragend aus.

»Jawohl!« antwortete Leontieff. »Bei unserer ersten Begegnung mußte ich staunen, als er mich bat, ihm den Unterschied von Induktion und Deduktion zu erklären. Später kam ich dahinter, daß er die englischen Philosophen studierte und die Werke aller der erwähnten Autoren in russischer Übersetzung gelesen hatte.«

»Glauben Sie, daß er sie verstanden hat?« fragte der Student wieder.

»Ich habe ihn an zwei Abenden über Drappers »Die geistige Entwickelung Europas« ausgefragt und ich merkte, daß er das Gelesene begriffen hat,« antwortete Leontieff.

»Ich bemerke,« sprach ich, »daß manche Bücher, hauptsächlich englische Autoren, dem allgemeinen Gebrauch entzogen sind, trotzdem sie doch von der Censur geprüft wurden. Wie kommt's, daß Bücher erst erlaubt und dann verboten werden?«

»Unsere Censur ist sehr wunderlich,« bemerkte einer der Anwesenden. »Wie erklärt sich, daß Adam Smiths »Reichtum der Nationen« verboten ist, während Darwins Werke frei sind. Diese sind doch sicherlich gefährlicher, als jene.«

»Man erklärt sich die Sache folgendermaßen,« begann da ein anderer, »die Liste der verbotenen Bücher wird aufgestellt, indem die Polizei alle Titel der Bücher notiert, die bei Personen, welche aus politischen Gründen verhaftet werden, gefunden wurden. Zufällig war auch das erwähnte Buch darunter, folglich mußte der Inhalt staatsgefährlich sein.«

86 »Als ich verhaftet wurde,« erzählte Lobonofski, »nahm die Polizei sogar ein französisches Geschichtswerk in Beschlag, das ich der öffentlichen Bibliothek entnommen hatte. Sie entdeckte nämlich bei flüchtiger Durchsicht, daß das Wort Revolution zuweilen vorkomme und das genügte. Vergeblich suchte ich, ihr begreiflich zu machen, daß in der Geschichte Frankreichs notwendigerweise auch die französische Revolution besprochen werden müsse. Mein Brüderchen hatte eine kleine Dampfmaschine recht plump nachzuahmen versucht – es wurde als Höllenmaschine konfisziert.«

Unter allgemeiner Heiterkeit wurden noch einige Anekdoten erzählt, die das Vorgehen der russischen Polizei kennzeichneten, dann kamen andere Dinge zum Gespräch. Dieses bekundete den hohen Grad Intelligenz der anwesenden Verbannten. Shakespeare, Mill, Spencer, Buckle, Balfour, Steward, Heine, Hegel, Lange, Irving, Cooper, Longfellow, Bret Harte und Harriet Beecher-Stowe wurden besprochen oder citiert. Sie kannten die amerikanischen Verhältnisse besser, als man es von jemandem in Europa, geschweige gar in Sibirien, erwarten konnte. Nach einem einfachen, aber schmackhaften Abendessen, wobei ein vorzüglicher Thee nicht fehlte, sangen sie uns einige der schwermutsvollen russischen Volkslieder vor, wonach wir etliche amerikanische Kriegs- und Studentenlieder, ja sogar Negersang zum Besten gaben.

Es fehlte nicht viel von Mitternacht, als wir uns verabschiedeten und ins »Hotel Sibir« zurückkehrten.

Es ist mir natürlich nicht möglich, den Inhalt meiner Unterhaltungen mit den politischen Verbannten in Semipalatinsk auch nur auszugsweise wiederzugeben; ich will nur den Eindruck äußern, den sie auch auf mich machten:

Es sind wirklich, wie Herr Pawlofski sagte, Leute, die ihrer Heimat unter anderen Verhältnissen sehr nützlich werden könnten. Wenn sie in der Verbannung leben, so ist es nicht, weil ihnen Lust und Liebe fehlt, dem Vaterlande zu dienen, sondern weil die Regierung, die sich das Recht anmaßt, für das 87 russische Volk zu denken und zu handeln und zwar gänzlich im Widerspruche mit dem Geist der Zeit.

Samstag, am 18. Juli besichtigten wir das Stadtgefängnis, suchten noch über das Verbannungssystem so viel wie möglich zu erfahren, nahmen von unseren Freunden Abschied, besorgten uns neue Padorozhnaja und verließen dann mit drei Postpferden die Stadt, um einen Ausflug ins Altaigebirge zu machen. Dieses wilde Alpengebiet liegt an der Grenze der Mongolei, mehr als 500 Kilometer östlich von Semipalatinsk und etwa 1000 Kilometer südlich von Tomsk. Die deutschen Reisenden Finsch und Brehm erreichten im Jahre 1876 den Rand dieses Gebirges; aber die hohen Schneekuppen der Katunski- und Chuiskialpen waren bisher noch nie von Fremden, sondern nur von wenigen Russen bestiegen worden.

Wir fuhren am rechten Ufer des Irtisch etwa 200 Werst über eine weite gewellte Steppe, die mit dürrem Gras bedeckt war; nur an einzelnen Stellen, dort wo die Steppe von kleinen dem Irtisch zueilenden Flüßchen bewässert wurde, gab es ein üppiges Grün. Die Kosakendörfer unterwegs unterschieden sich nicht wesentlich von jenen, die wir früher erblickten, nur die Häuser waren in besserem Zustande und ließen daher auf eine wohlhabendere Bevölkerung schließen. Die Vorliebe der Russen für bunte Farben gab auch hier die Kleidung zu erkennen; es war ein hübscher Anblick, wenn die Kosaken Sonntags in ihrer Festtracht durch die Dorfstraßen schritten, oder wenn sie plaudernd, scherzend und Melonen essend im Schatten der Häuser saßen, oder wenn sie nach Sonnenuntergang bei Geigenstrich und Guitarrenklang einen Tanz aufführten.

Je weiter wir aufwärts des Irtisch kamen, je heißer wurde es auch, je kahler zeigte sich die Steppe, so daß wir in einer Wüste Arabiens oder Nordafrikas zu sein wähnten. Das Thermometer zeigte täglich 90 bis 100 Grad Fahrenheit im Schatten. 30 bis 50 Meter hohe Sandhosen zogen langsam und majestätisch über die sonnenverbrannte Ebene. Wir 88 konnten die Spur eines kirgisischen Reiters an dem Staub, den sein Pferd aufwirbelte, acht Kilometer weit verfolgen. Hitze und Durst quälten mich entsetzlich. Um mich vor den Sonnenstrahlen zu schützen, wickelte ich mich in eine vierfach zusammengelegte Decke und legte ein Federkissen auf meine Beine, was mir ein wenig Kühle bot. Ich saß jedoch an der Sonnenseite und wurde endlich so erschöpft, daß ich meinen Genossen bitten mußte, seinen Platz mit dem meinigen zu vertauschen; er wickelte sich dann in derselben Weise ein, wie ich es früher gethan und vermochte es nun bis abends auszuhalten.

Ein russischer Offizier erzählte mir früher von der Hitze, die im Sommer im Irtischthal herrsche, daß sie Ohnmacht und Erbrechen verursache; er riet mir zwischen elf Uhr morgens und drei Uhr nachmittags nicht zu reisen, was ich als scherzhafte Übertreibung lächelnd aufnehmen wollte. Er versicherte mir jedoch, das sei vollkommener Ernst und erklärte, daß Soldaten während des Marsches oft solche Anfälle bekamen. Er meinte damit den Sonnenstich, dessen Art ihm ganz unbekannt zu sein schien und dessen Folgen er für eine Eigentümlichkeit der Sommerhitze im Irtischthal hielt.

Bei der Station Veroninskaja, mitten in dieser durchglühten Steppe, und bei einem Thermometerstand von 103 Grad wehte uns ein heißer Sandsturm aus Südosten an. Der Sand und der feine heiße Staub wurden mehr als 30 Meter hoch aufgewirbelt und fegten in dichten Wolken, die den Atem beklemmten, an uns vorüber, so daß auch jeder Ausblick unmöglich war. Obgleich wir in der Richtung des Sturmes und nicht dagegen fuhren, war es uns fast zwei Stunden lang kaum möglich zu atmen und als wir endlich in Cheremschanska anlangten, konnte man nach unserem Aussehen kaum unterscheiden, ob wir Kirgisen oder Amerikaner sind, ob Schwarze oder Weiße. Ich trank ein großes Gefäß voll kalter Milch, womit aber mein Durst noch nicht gelöscht war. Frost wusch sich den Staub aus den Augen, stürzte dann sieben Becher Milch hinunter und that schließlich den Ausspruch: »Glaubt 89 da Einer, daß es in Sibirien nicht heiß ist, so soll er nur mich fragen!«

Bei der Station Malo-Krasnojarkaja ließen wir den Irtisch rechts liegen und bekamen ihn nicht wieder zu Gesicht. Nachmittags erreichten wir die ersten Berge des Altaigebirges und begannen langsam den Aufstieg zur Station.

Am nächsten Tag in den Abendstunden fuhren wir über kühle Bergwiesen, deren frisches Gras mit bunten Blumen durchsetzt war, über uns schneebedeckte Berggipfel. Der Übergang von der dürren, sonnendurchglühten Steppe in diese prachtvolle »sibirische Schweiz« war so verblüffend, daß wir unsern Augen kaum trauten. »Träumte ich gestern nur von dieser entsetzlichen Wüste mit ihren Sandhosen und gebleichten Totengerippen, oder ist ein derartiger Wechsel in 24 Stunden wirklich möglich?« fragte ich mich selbst.

Meine von der Steppe ermüdeten Augen erquickten sich an dem Anblick der landschaftlichen Schönheit, die sich immer mehr offenbarte, je näher wir der Altaistation kamen. Links sahen wir eine Hügelkette, die im Wiederschein geröteter Wolken strahlte, und auf deren sanftem Abhang eine Fülle Blumen wuchs; rechts, fast unmittelbar an der Straße, erhob sich eine Kette hoher, kühngeformter Berge, deren bis 3000 Meter hohe Gipfel mit frisch gefallenem Schnee bedeckt waren und die ein breiter Gürtel immergrünen Waldes umgab. Unten ein parkähnliches Thal, durch welches im Schatten der Bäume unsere Straße führte, über klare Gebirgsflüsse, die kaskadenartig niederplätscherten, über grüne Wiesen, wo Blumen und Früchte wuchsen. Nach einer Fahrt von 4800 Kilometer fast nur in der Steppe machte dieses Landschaftsbild einen überwältigenden Eindruck auf mich.

Wir erreichten die Altaistation – die Kirgisen nennen sie Koton Karaghai – um sechs Uhr nachmittags. Nie werde ich das Entzücken vergessen, das mich ergriff, als ich vor der Einfahrt ins Dorf zurückschaute. Noch nie sah ich eine Berglandschaft, die dieser an Schönheit glich, obgleich ich die Sierra 90 Nevada, das Gebirge von Nicaragua, von Kamtschatka und den Kaukasus nach allen Richtungen durchzogen hatte. Giebt es irgendwo in der Welt ein schöner liegendes Dorf als diese Altaistation, so will ich das Weltmeer durchschiffen, um es aufzusuchen.

Die Station selbst war kaum mehr als ein Kosakenvorposten; sie bestand aus 70 bis 80 Blockhäusern, hatte breite, saubere Straßen und eine hübsche kleine Kirche aus Holz. Vor jedem Haus befand sich ein Vorgärtchen, das mit Birken, Silberpappeln und Gesträuch bepflanzt war; auf beiden Seiten der Straße wurden diese Gärtchen von klaren, eiskalten Gebirgsbächen durchrieselt. Überall ist das Murmeln des niederrieselnden Wassers zu vernehmen; um zu erkennen, wie lieblich das klingt, muß man erst einen Monat lang durch die dürren, staubigen Steppen des Irtisch gefahren sein. Diese kleinen, lebhaften Wässerchen scheinen auch etwas von der frischen Luft der Bergeshöhen, wo sie entsprangen, mitsprudeln zu lassen, denn wie hoch immer auch das Thermometer steigt – seine Behauptung wird wiederlegt von dem Rauschen der Wasser, die so munter von Schnee und Gletscherhöhen schwatzen, daß man, die Wahrheit vergessend, dem plätschernden Schwätzer willig Glauben schenkt.

Wir blieben einige Tage in der Station, machten mit dem russischen Kommandanten Ausflüge in die benachbarten Gebirge, photographierten Kirgisen, die in des Dorfes Nähe lagerten, und erkundigten uns über die im Osten liegenden Berge, die wir zu besteigen beabsichtigten. Montag am 27. Juli wollten wir einen Ritt in die Katunski-Alpen oder »Beilki«, die höchsten Gipfel des Altaigebirges, machen. An diesem Tage war auch der Namenstag des russischen Kommandanten, und um diese Feier zu begehen und dabei auch uns ein Stück Weges zu begleiten, lud er eine Gesellschaft zu einem Picknick an die Stromschnellen des Bukhtarma ein, die ungefähr 15 Werst entfernt waren.

In Gesellschaft des Kommandanten, seiner Frau und seiner Tochter, des Kosakenhetmans, eines politischen Verbannten 91 und seiner Frau und noch einiger Damen und Offiziere ritten wir dahin. Der Zug, von 15 Kirgisenreitern in bunten Beschmets mit Silbergürteln begleitet, bot uns ein ungewöhnlich schönes Bild.

Der Kommandant hatte schon in den Morgenstunden zwei kirgisische Zelte, Teppiche, Kissen, Kochgeräte und Lebensmittel vorausgeschickt; wir fanden daher bei unserer Ankunft bei den Stromschnellen aufgerichtete Zelte, Teppiche und Kissen für die Damen ausgebreitet, ein loderndes Feuer und einen duftigen Thee. Nach der Mahlzeit wurde botanisiert, gefischt, nach Schmetterlingen gejagt, gesungen und noch manches Spiel zum Zeitvertreib vorgenommen. Als Mister Frost und ich abends Abschied nahmen, wären wir beide wohl lieber eine Woche hier unter diesen Zelten geblieben, als uns in den Katunski-Alpen herumzutreiben.

Die Nacht verbrachten wir auf dem Kosakenposten Singistei, zwei neuerbaute Blockhäuser in Bukhtarmathale. Dienstag kamen wir durch das malerisch gelegene Dorf Arul und erreichten den Kosakenposten Berel, den eigentlichen Ausgangspunkt unserer Gebirgstour. Mittwoch früh brachen wir von hier auf, mit zwei Kosaken als Führer, fünf Kirgisenpferden und Lebensmitteln, die für eine Woche ausreichten. Zwei Stunden kletterten wir an einem steilen Kirgisenpfad, der in Serpentinen aufwärts führte, empor. Nachdem wir im Kirgisenlager, auf dem Gipfel, in einer Höhe von tausend Metern über dem Ufer des Bukhtarma eine kurze Rast hielten, ritten wir gegen Norden in die wilde Gebirgslandschaft. Nach einem mühevollen Ritt von dreißig Werst auf dem steilen, gefährlichen Pfad, gelangten wir in das Thal der heißen Quellen von Rakhmanofski. Von hohen Bergen umschlossen, fanden wir da einen kleinen klaren Bergsee und an dessen Rand eine verlassene Hütte; wir beschlossen hier zu übernachten.

Ein heftiger Regen verhinderte uns am nächsten Tage unsere Reife fortzusetzen, das konnten wir erst am dritten Tag, nachdem das Wetter wieder günstiger geworden. Die letzten 92 sechzig Werst unseres Ritts boten uns manche Gefahren und Schwierigkeiten. Der Weg führte über riesige, steile Höhen, über tiefe Thäler, in welche wir hinabgelangten, indem wir den Lauf der ungestümen Bergflüsse folgten, über Gletschermoränen, Steingeröll, über Sümpfe, durch Gestrüpp und zwischen niedergeschmetterte Bäume, durch steile Schluchten, wo es uns nur mit Mühe gelang, das Gleichgewicht zu erhalten und im Sattel zu bleiben. Unsere Pferde glitten die Hälfte des Weges auf allen Vieren, wobei sich Steinblöcke loslösten, die in die Tiefe stürzten und dort zerschellten. Mir waren Gebirgstouren nichts neues; ich habe Kamtschatka reitend durchstreift, und habe den Kaukasus dreimal überschritten, einmal sogar in einer Höhe von mehr als 4000 Meter, aber ich muß gestehen, daß mir hier beim Abstieg in die Thäler des Rakhmanofski, des schwarzen Berel, des weißen Berel, des Katun, unheimlich zu Mute wurde. Ein solcher Abstieg ist auch nur mit Kirgisenpferden möglich; einmal stürzte mein Roß mit mir, aber ich blieb unverletzt.

Die Gegend, die wir bereisten, war Urwald, der einen Wildreichtum aufwies und nur von den »Kirgisen der wilden Berge« durchschritten wurde. Wir sahen »Marals« (der sibirische Elch), Wölfe, wilde Schafe und auch manche frische Bärenspur im Grase. Wir verscheuchten wilde Ziegen und hätten Hunderte von Rebhühnern, Wildenten, Wildgänsen, Adler und Kraniche schießen können.

Die Flora der niedrigen Thäler war sehr mannigfaltig; wir erblickten schöne, wilde Stiefmütterchen in verschiedenen Variationen, Nelken, Spireen, zwei Arten Enzian und noch gar viele Arten, darunter solche, die ich bisher noch nie gesehen. Auch fand ich hier manches wild wachsen, was bei uns nur Kulturpflanze ist, so: Rhabarber, Sellerie, Johannis- und Stachelbeeren, Himbeeren, Erdbeeren, Heidelbeeren, Kirschen, Aprikosen und noch manches andere. Die meisten Beeren waren gereift, die Johannisbeeren so groß und in so üppiger Fülle wie es nur sorgsame Pflege hervorzubringen 93 vermag. Es war ein großartiges Bild wilder Schönheit, das alles übertraf, was ich im Kaukasus erblickte.

Samstag, am ersten August erreichten wir den Abhang jenes Bergrückens, der die Wasserscheide bildete und uns von der Hauptkette der Katunskialpen noch schied. Wir lagerten nachts in einem Bergthale, am Ufer des weißen Berel, der einige Kilometer höher aus einem großen Gletscher schäumend hervorbrach. Die Luft war kalt, aber klar; wir zündeten ein Lagerfeuer an, um das wir die Nacht verhältnismäßig gut verbrachten. Am nächsten Morgen bestiegen wir den bei 700 Meter hohen Gipfel und blickten nun hinab in das wilde Thal des Katun, aus dem die »Katunski-Pfeiler«, die höchsten Spitzen des russischen Altai, emporragen. Einigermaßen war ich auf das Großartige dieses Ausblicks vorbereitet, da ich diese Höhen aus einer weiteren oder näheren Entfernung wiederholt schon sah; aber was ich hier erschaute, übertraf alle Erwartungen. Ich war sprachlos; nur ein einziges Wort rang sich fast unwillkürlich von meinen Lippen los: »Furchtbar!« Der Ausblick bot nichts Malerisches, nichts, was man eigentlich schön nennen könnte, er war überwältigend schrecklich. Uns zu Füßen lag die Schlucht des Kasans, gegenüber, in weiter Ferne, ragte die in Schnee gehüllte Kette der gewaltigen Katunskialpen empor, deren unerstiegene Gipfel bis über 5000 Meter sich erhoben und deren Gletscher fast bis 1500 Meter Länge sich erstreckten. Die Gletscher zu unserer Rechten bildete eine fast senkrecht stehende Eismasse von ungefähr 500 Meter Höhe, jenen zu unserer Linken entsprang ein Fluß, der sich brausend in die Tiefe stürzte. Drei Moränen teilten diese der Länge nach, was von unserem Standpunkt aus den Eindruck machte, als sähen wir auf einer weißen Fläche aus Kohlenstaub oder Schlacke gebildete Streifen; aber in Wirklichkeit waren es Felsblöcke in der Größe eines Kopfes bis zu der eines Frachtwagens und sie breiteten sich mehr als 100 Meter aus und hatten eine Länge von einigen Kilometern. Die beiden höchsten Gipfel waren in Wolken gehüllt, 94 was die Großartigkeit dieser Wildnis noch vermehrte, denn es schien, als wären sie aus jener unbekannten, von den Wolken verborgenen Höhe niedergestürzt. Das Brausen des Katarakts vermischte sich mit dem donnernden Schall der von den Gletschern unmerkbar sich verschiebenden Eismassen.

Eine halbe Stunde lang mögen wir wohl diesen überwältigenden Anblick genossen haben, dann wendeten wir unsere Aufmerksamkeit der Schlucht des Katun zu und prüften, ob es möglich wäre, hier hinabzusteigen und den Fuß jenes Gletschers zu erreichen, von dem der Fluß entspringt. Mein Genosse erklärte, dieser Abstieg sei nicht möglich und er wurde fast unwillig, als ich darauf bestand, unser Führer möge ihn immerhin versuchen. »Man sieht,« meinte Mister Frost, »daß dieser Abhang in einem tiefen Abgrund endet und wenn wir mit unseren Pferden auch hinabkämen, herauf brächten wir sie nimmer. Es ist Unsinn, daran nur zu denken.« Gefährlich schien auch mir diese Ausführung, doch hatte ich so großes Vertrauen zu der Kletterkunst der Kirgisenpferde, daß ich die Ausführung für recht gut möglich hielt. Während wir nun diese Frage erörterten, machte unser Führer einen Versuch, sie praktisch zu beantworten. Er ritt hinab und wir sahen ihn nicht mehr, nur das durch die Hufbewegung hervorgebrachte Poltern abstürzender Steine gab uns seine Spur. Aber plötzlich kam er aus einem Felsenvorsprung wieder zum Vorschein und rief uns zu: »Es ist nichts, kommen Sie nur. Mit einer Telega könnte man hinabfahren.« Gar so günstig schien mir die Sache doch nicht, zumal mir schon schwindlig wurde, als ich hinabsah, aber die Möglichkeit schien doch gegeben, was nun auch Mister Frost einräumte. Sein Roß am Zügel führend, folgte er mir vorsichtig dem Zickzackpfad nach; ich hielt mich, so weit ich's konnte, in der Spur unseres Führers, der uns an dem Felsenvorsprung erwartete. Hier zog er meinen Sattelgurt fester und wir setzten den Weg fort. Mich dünkte es besser, hinabzureiten, als das Pferd an dem Zügel zu führen, weil es da im Ausgleiten auf mich stürzen 95 konnte, oder auch durch das im Traben zugeworfene Geröll zum Fall und Absturz bringen konnte.

Anfangs war der Abstieg sehr gefährlich. Kaum vermochte ich mich im Sattel zu halten, aber bald erreichten wir eine begraste Stelle, von wo aus der Weg zwar ziemlich steil und unbequem, aber doch ohne Gefahr serpentinenartig hinabführte. Am Fuß dieser mächtigen Berge angelangt, ließen wir die Pferde zurück und versuchten den größten Gletscher zu erklettern. Hier sah ich erst, wie sehr ich von unserem früheren Standpunkt aus Entfernung und Größenverhältnisse unterschätzt hatte. Der Katun, der uns ein schmales Wässerchen schien, das jedes Kind durchwaten konnte, zeigte sich als ein breiter, reißender Fluß; der Hauptgletscher, den ich auf 100 Meter breit schätzte, erwies fast das dreifache und die mittlere Moräne, die einem dünnen, schwarzen Streifen glich, war gegen 150 Meter breit, sechs Kilometer lang und mit riesigen Felsblöcken bedeckt.

Ich nahm den photographischen Apparat auf und kletterte mit den andern anderthalb Stunden lang bis zur mittleren Moräne empor, wodurch wir uns dem großen Eisfeld um beiläufig drei Kilometer näherten.

Wir skizzierten und photographierten nun, kletterten über Berg und Thal und kehrten gegen Abend in unser Nachtquartier am Weißen Berel zurück Diese Nacht des 2. August war noch kälter als die vorhergegangene, das Wasser in unserm Theekessel hatte eine dicke Eiskruste und als ich morgens aufstand, fand ich mein Kissen mit Reif bedeckt.

Montags machten wir einen Ausflug nach einem Berge, von dessen Gipfel wir das schmale Katunthal überblickten; es gelang uns, eine gute Photographie der gegenüberliegenden hohen Berggipfel mit wolkenlosem Himmel als Hintergrund zu gewinnen. Unser kleiner Apparat konnte allerdings nur ein Geringes dieser großartigen Gebirgsgegend wiedergeben, und das in so kleinem Maßstab, daß ihre Erhabenheit nicht zur Geltung gelangte; aber es freute uns doch, wenigstens 96 etwas zu besitzen, was uns in späterer Zeit diese wundervolle Gegend lebhafter in Erinnerung bringen konnte.

Nachmittags kehrten wir zu den heißen Quellen des Rakhmanofski zurück und am 5. August, nach zehntägiger Abwesenheit, langten wir wieder auf der Altaistation an.

 


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